Zum Inhalt der Seite

Vierzehn

Sommerwichtel '11
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ernte

"Noch ein Fuß, gut, und jetzt den nächsten. Schön, gleich hast du es geschafft. Nur noch zwei Stufen."

Die Treppen zur Veranda knarrten wie ein großes Tier, das man aus seinem Schlaf geweckt hatte und das sich nun unwirsch grummelnd von einer auf die andere Seite wälzte. Wenn man wusste, auf welche der alten Dielen man seinen Fuß geräuschlos setzen konnte, dann schaffte man es auch auf leisem Weg ins Haus hinein, ohne sämtliche Bewohner zu wecken.

Josh wusste das. Er hatte sich schon einige Male von zu Hause weggeschlichen, um mit seinen Freunden den Unfug anzustellen, den man mit Vierzehn eben so anstellte. Aber das war schon einige Jahre her. Damals war noch alles in Ordnung gewesen.

Damals brachten noch keine fremden Männer die sturzbetrunkene Abby morgens um Vier nach Hause.

Damals wäre es Abby überhaupt nicht in den Sinn gekommen, so viel zu trinken, dass sie ohne fremde Hilfe keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte.

Damals war Birdie noch ein Baby gewesen, das selbst gerade laufen und sprechen lernte, statt seiner Mutter zusehen zu müssen, wie sie den Weg zu ihrem Häuschen entlang getorkelt kam und kein einziges verständliches Wort mehr über die Lippen bekam.

Damals, als es noch Mama, Josh und Birdie gegeben hatte.

Das Fliegengitter vor der Haustür wurde so rücksichtslos aufgerissen, dass es scheppernd gegen die Hauswand schlug. Dunkles Lachen erklang und dann Abbys helle Stimme, die lallend irgendetwas darauf erwiderte.

Hoffentlich brach sie nicht wieder den Schlüssel im Schloss ab wie beim letzten Mal vor drei Tagen. Das neue Schloss war so teuer gewesen, dass er dafür an seine eiserne Reserve hatte gehen müssen, weil ihr normales monatliches Budget bereits überschritten war. Jetzt fehlte einer der sorgsam zusammengerollten Fünfziger, die Josh von dem Bisschen, das er im Drugstore verdiente, abgezweigt hatte. Bis jetzt hatte er das Geld erfolgreich vor Abby verstecken können, so dass es auf eine für ihn stolze Summe angewachsen war. Doch das lag auch daran, dass er sich nicht mehr von Abbys Weinen und Betteln beeindrucken ließ, wenn sie kein Geld mehr hatte, um es in irgendeiner Bar zu versaufen. Die Zeit war – ebenso wie die schöne – endgültig vorbei.

Gepolter, das vermutlich von umgestoßenen Stühlen herrührte, drang zu Josh hinauf in den ersten Stock. Danach wurde es ruhig im Haus. Und so lange Abby nicht wieder austickte und herum tobte, würde auch für den Rest des Tages weiter Ruhe herrschen, während sie sich den Rausch ausschlief.

Müde schloss Josh die Augen und wartete darauf, dass er selbst wieder einschlief.
 

Beobachtet von einem aufmerksamen Augenpaar, dessen Besitzerin noch zu klein war, um die tatsächliche Szene zu erkennen, die sich vor seinen neugierigen Blicken abspielte, wankten die beiden Gestalten den schmalen Flur entlang und auf die Küche zu.

So weit es sein eigener angetrunkener Zustand zuließ, stützte der Mann die neben ihm gehende Frau, die den Kopf gesenkt hielt, als suche sie den Fußboden nach etwas Verlorenem ab. Beide blieben kurz im Türrahmen stehen, wo die Hand des Mannes suchend über die Wand strich. Ein Fluch kam über seine Lippen, als er wohl das, was er gesucht hatte, nicht finden konnte.

Das Mädchen am Esstisch hielt sich schnell die Ohren zu. Wer fluchte, beschwor damit böse Geister, hatte ihre Mutter ihr einmal eingeschärft. Und böse Geister hatten sie schon genug, obwohl sie selbst ehrlich nie fluchte. Aber jetzt waren sie da und sie hatten ihre Mutter krank gemacht - und Josh auch. Nur dass Josh, anders als ihre Mutter, noch alleine gehen konnte und nicht wütend wurde, wenn Birdie draußen spielte und dabei mal Krach machte.

Josh weinte stattdessen manchmal. Und auch wenn er es nur tat, wenn er dachte, dass ihn niemand dabei sehen konnte, wusste Birdie davon. Schon ein paar Mal hatte sie ihm sagen wollen, dass es eigentlich gar nicht schlimm war, zu weinen, doch Josh wischte sich immer nur schnell die Augen ab und tat, als wäre nichts gewesen. Er nahm sie dann mit in den Drugstore, wo er ihr ein Eis und ein Malbuch mit Stiften gab, mit dem sie sich dann auf die Treppe setzen und warten musste, bis er mit arbeiten fertig war.

Vielleicht hatte all das auch etwas mit den Pfirsichen zu tun, die ihrem kleinen Haus den Namen gegeben hatten, und vor denen sich die Leute fürchteten. Niemand wollte sie kaufen und so fielen die meisten einfach von den Bäumen, sobald sie so reif waren, dass ihre Stängel in dem weichen Fleisch keinen Halt mehr fanden, und faulten im Gras so lange vor sich hin, bis Josh genug Zeit hatte, um sie wegzuräumen.

Birdie mochte diese Zeit im Spätsommer nicht, wenn es draußen heiß war und dieser süßlich-saure Geruch wie eine Regenwolke, die zu schwer zum Weiterziehen war, über ihrem Garten hing. Und sie mochte es nicht, wenn Josh so müde von der ganzen Arbeit war, dass er abends einschlief, ohne ihr erst das Essen warm gemacht zu haben.
 

Artig wartete Birdie, bis der Mann den Weg durch die dunkle Küche zum Esstisch am Fenster hin geschafft hatte. Im Dunkeln war das nicht leicht. Zwar schien der Mond von draußen durch das Fenster hinein und beleuchtete mit seinem kühlen weißen Licht die beiden Erwachsenen, von denen nur einer noch einigermaßen Geradeaus gehen konnte, dennoch lauerten einige Stolperfallen auf dem Küchenboden, welche die beiden erstaunlicherweise alle überwanden.

Mit der schwankenden Vorsicht eines Betrunkenen half der Mann ihrer weitaus betrunkeneren Mutter auf den Stuhl, wo sie gleich nach vorne sackte. Nur knapp schaffte er es, sie festzuhalten, ehe ihr Kopf auf die Tischplatte schlagen konnte. Umständlich nahm er ihren linken Arm, der wie nutzlos an ihrer Seite baumelte, und legte ihn auf die Tischplatte.

Ihre Mutter war wohl auch sehr müde, dachte Birdie, denn sie legte gleich den Kopf auf ihren Arm und schnarchte kurz darauf leise vor sich hin. Der Mann stand noch einen Augenblick wankend da, als überlege er, was er jetzt tun sollte.

Birdie fand, dass er nicht aussah, als hätte er noch viel zu tun.

"Ich habe Hunger", sagte Birdie leise zu dem Mann, der erschrocken auffuhr und das kleine Mädchen, das in seinem zerknitterten Nachthemd am Esstisch saß, ansah, als wäre es ein Geist. Der Mond beschien ihre eine Körperhälfte, während die andere in Dunkelheit lag. Sie sah aus wie eine gespenstische Version eines Harlekins, von dem nur die traurige Gesichtshälfte zu sehen war.

"Verdammt noch mal, Kleines, hast du mich erschreckt!" Der Mann griff sich mit der Linken an die Brust, während seine Rechte haltsuchend nach dem Rückenteil eines Stuhles tastete.

"Josh hat Essen in der Migiowelle stehen, aber das ist jetzt alt und das mag ich nicht mehr essen." Birdie hatte den Kopf etwas schief gelegt und beobachtete den Fremden gespannt, der sie mit weitaufgerissenen, wässrigen Augen ansah.

"Was... was willst du denn... sonst essen?", brachte der Mann nach einigem Überlegen stockend hervor.

Birdie schob ihm die Obstschale hin, die zwischen ihr und ihrer Mutter auf dem Tisch stand.

Der Fremde beugte sich vor, als könne er so besser sehen, was in der Schale war. "Dafür brauche ich aber ein Messer – und Licht."

So elegant wie eine Katze glitt Birdie von ihrem Sitzplatz. Ihre nackten Füße tappten leise über den abgewetzten Kunststoffboden zu der Wand neben der Tür hin. Birdie musste sich zwar ein wenig strecken, aber sicherer als die Hand des Fremden, fand ihre den Lichtschalter auf der Stelle. Gleich darauf flammte die Lampe in der Mitte der Decke auf.

Der Mann schlug sich die Hände vor die Augen und fluchte wieder.

Birdie zog die Augenbrauen verärgert zusammen, so dass sich dazwischen eine steile Falte auf ihrer Stirn bildete. Diese Leute, die ihre Mutter ständig mitbrachte, beschworen all die bösen Geister, die nun in sämtlichen dunklen Ecken ihres Hauses wohnten und sie alle krank machten. Josh hatte Recht gehabt, als er das einmal ihrer Mutter entgegen schrie, als sie sich stritten und nicht merkten, dass Birdie sie beobachtete. Das war das erste Mal, dass sie Josh so böse gesehen hatte. Seitdem sprach er nicht mehr viel mit ihrer Mutter und nannte sie nur noch 'Abby'.
 

"Die Messer darf ich nicht anfassen. Zu gefährlich", belehrte Birdie den Mann altklug und setzte sich wieder an den Tisch. Sie streckte die Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf den Küchenschrank.

"Aha", sagte der Mann tonlos, als er verstand. "Sehr vernünftig." Er atmete tief ein und ging dann mit sichtlich beherrschten Schritten zu dem Schrank, wo er eine Schublade nach der anderen aufzog, bis er schließlich in der äußersten die Messer fand. Er setzte sich zu Birdie an den Tisch und nahm einen Pfirsich aus der Obstschale.

"Als ob ich nichts besseres zu tun hätte, als fremden Bälgern den Fraß zuzubereiten", murmelte er vor sich hin und verstummte, als er Birdies fragende Blicke bemerkte. Er seufzte und schüttelte den Kopf.

"Duhu", begann Birdie und wurde gleich darauf von ihrem übelgelaunten Sitznachbarn unterbrochen.

"Mein Name ist nicht Duhu", herrschte der Mann sie unwirsch an, "ich heiße Tom."

Birdie schloss den Mund und sah Tom stumm dabei zu, wie der sich daran machte, den Pfirsich zu zerteilen.

Widerstandslos versank die Klinge in dem weichen Fleisch der reifen Frucht. Klarer, süßer Saft quoll aus dem glänzenden Schnitt und tropfte an der spiegelnden Klinge herab. Die Pfirsiche waren wohl schon sehr reif, dachte Tom noch. Jetzt wusste er auch, woher der säuerliche Geruch gekommen war, als er mit Abby im Arm den schmalen Weg zu ihrem Haus entlang gegangen war. Er erinnerte sich auch an das, was man sich von der ehemaligen Farm erzählte, von der nur noch das Haus und einige Hektar Land übrig geblieben waren, auf denen ein Dutzend Pfirsichbäume standen. Das Haus hieß wohl nicht zu Unrecht 'Sonnige-Pfirsich-Farm'.

"Es sollte wohl eher die 'Faulende-Pfirsich-Farm' heißen..." Tom lachte leise vor sich hin. Er setzte das Messer zum nächsten Schnitt an, um den Pfirsich in Spalten zu teilen, hielt jedoch abrupt inne, noch ehe die Klinge die haarige Haut durchbrechen konnte. Der bis eben noch klare Fruchtsaft, der ihm den Arm bis zu seinem Ellenbogen hinablief, hatte sich getrübt. Mit jedem Tropfen, der aus dem Pfirsich rann, wurde der Saft dunkler und dunkler, bis er schließlich rot, ja, rot wie Blut war.

"Oh-oh", entfuhr es Tom. Er legte den angeschnittenen Pfirsich auf den Tisch und hielt sich seine Hand, die die Frucht gehalten hatte, kontrollierend vor die Augen. Doch die Handfläche war unverletzt, statt wie von Tom erwartet, einen Schnitt quer darüber aufzuweisen.

Toms Blicke gingen wieder zu dem Pfirsich, aus dem der Saft noch immer in diesem bedrohlichen Rot herauslief. "Was ist denn das für eine gottverdammte Scheiße?"

"Das passiert immer", erklärte Birdie Tom treuherzig, der kreidebleich geworden war und mit wildem Blick die rote Pfütze anstarrte, die sich unter der gelben Frucht gebildet hatte.

Tom hob den Kopf und begegnete Birdies großen Kulleraugen, die ihn genau betrachteten. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Ein feiner klebriger Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet und es schien ihm, als wäre er augenblicklich nüchtern geworden. So etwas irres hatte er noch nie erlebt. Und auf dieses eine Mal hätte er auch verzichten können.

Das Messer rutschte aus Toms schwieliger Hand und fiel klirrend zu Boden. Die Kleine verfolgte jede Bewegung, die er tat. Das passierte immer? Ja? Ja, womöglich hatte sie Recht. So etwas passierte immer – in Horrorfilmen!

Tom sprang auf und riss dabei seinen Stuhl mit, der nach hinten kippte und neben dem Messer aufschlug.

"Mama wird böse, wenn sie das Messer da unten findet."

"Deine Mama kann mich mal am-" Tom verstummte. Kapierte dieses Gör denn nicht, dass das, was mit diesem verfickten Pfirsich passierte, eben nicht normal war? Anscheinend nicht, beantwortete er sich gleich darauf seine stumme Frage selbst. "Weißt du was", sagte er leise zu dem Mädchen, das ihm gebannt zuhörte. "Sag deiner Mutter einfach, dass sie mich bloß nie wieder anrufen soll."

Schweigend sah Birdie zu, wie Tom die Küche verließ, allerdings nicht, ohne sich nicht noch ein paar Mal umzudrehen, als befürchte er, dass sie ihm folgen könne.
 

Die Haustür fiel hart hinter dem flüchtenden Tom ins Schloss.

Birdie griff nach dem angeschnittenen Pfirsich und hielt ihn sich vors Gesicht. "Ich mag die aber nicht so essen", murrte sie und verzog den Mund. Sie hasste die haarige Haut der Pfirsiche. Und sie hasste den doofen Tom, der wie die anderen Leute Angst vor dem roten Saft gehabt hatte. Widerstrebend biss die hungrige Birdie in den Pfirsich und schüttelte sich.

Als ihre Mutter hustete, sah Birdie auf. Abbys Schultern hoben sich wie von einem Krampf geschüttelt und ein Schwall grünlich-gelben Erbrochenem verteilte sich vor ihr auf der Tischplatte und vermischte sich dort mit dem roten Fruchtsaft.

Unbeeindruckt aß Birdie ihren Pfirsich.
 


 

"Wieso bist du denn schon wach?"

"Ich hatte Hunger." Trotzig schob Birdie die Unterlippe vor und warf ihrem Bruder, der mit vom Schlafen zerzausten Haaren im Türrahmen stand und gähnte, ein paar ihrer besten beleidigten Blicke zu. Josh stellte manchmal so dumme Fragen, wie alle Erwachsenen. "Du bist gestern eingeschlafen, ohne mir was zu Essen zu machen", hielt sie ihm streng vor.

Erschrocken sah Josh seine kleine Schwester an, die am Tisch saß und einen halb aufgegessenen Pfirsich in der Hand hielt. Das musste aufhören, dachte er bei sich. Es reichte, wenn einer der beiden einzigen hier noch lebenden erwachsenen Menschen ihrer Familie nicht mehr wusste, was Verantwortung bedeutete...

Josh ging neben Birdie in die Hocke. "Tut mir leid, Schatz", entschuldigte er sich bei dem kleinen Mädchen, das ihn traurig ansah. Er strich seiner Schwester ein paar Haare aus der Stirn und lächelte ihr aufmunternd zu. "Ich tu's nie wieder, versprochen. Und wenn doch, dann weckst du mich auf, okay?"

"O-Kay!" Birdie schlang die Arme um den Nacken ihres Bruders und drückte ihr rundes Gesicht an seinen Hals. "Schau mal, was Mama hat", flüsterte sie mit bebender Stimme.

Josh hob den Blick. Seine erste Besorgnis wich Verachtung, als er seine Mutter sah, die, den Kopf auf der zerkratzten Resopalplatte liegend, am Esstisch saß und nicht einmal mehr mitbekam, dass ihre Haare in einer Pfütze ihres eigenen getrockneten Erbrochenen lagen.

"Hör zu, Birdie, ich bringe dich jetzt nach oben und dann wäschst du dich und ziehst dich an." Josh stand auf und hob dabei seine kleine Schwester mit hoch. Mit Birdie auf dem Arm verließ er die Küche. Hinter ihnen schnarchte ihre Mutter röchelnd vor sich hin.

"Und was machen wir dann?"

Josh spürte wie Birdies kleiner Körper in seinen Armen zitterte. Wie lange hatte sie bloß schon dagesessen und wie groß musste ihre Angst gewesen sein. Er fühlte sich selbst so elend, als wäre er es gewesen, der betrunken heimgekommen war und auf den Tisch gekotzt hatte, an dem Birdie gesessen hatte. "Dann gehen wir was richtiges essen, ja?!"

Birdie nickte stumm und klammerte sich noch ein bisschen fester an ihren Bruder.
 

Angeekelt wischte Josh den Esstisch ab. Er hatte Abby auf die Couch geholfen. Mehr würde er nicht für sie tun. Nicht, so lange sie Birdie ständig so in Angst versetzte. Das scheinheilige Argument, es sei doch eine Krankheit, bei der man ihr helfen musste, zog nicht mehr. Sollte sie schlafen, so lange sie wollte, dabei von der Couch fallen und sich die Nase brechen, oder wieder über das Pfirsichfeld irren und von den Bienen gestochen werden, die die am Boden liegenden Früchte verteidigten; er würde sich nicht weiter um sie kümmern. So langsam hatte er genug davon, Abbys widerliche Hinterlassenschaften wegzuwischen oder Dinge zu reparieren, die sie in ihrem Zustand kaputt machte.

Josh kippte das grün verfärbte Waschwasser in den Abfluss. Er spülte den Eimer aus, warf den Lappen in den Müll und wusch sich sorgsam die Hände. Schnell kontrollierte er, ob seine sauberen Kleider etwas abbekommen hatten.

"Kommst du? Kommst du endlich?" Birdie stand mit falsch zugeknöpftem Kleidchen und schief in den Haaren sitzenden Klammern im Türrahmen und schwang die Sandalen in ihren Händen wie Windmühlenflügel durch die Luft.

Josh lachte bei diesem Anblick und nicht einmal der Gedanke, dass eigentlich Abby hier stehen und über ihre kleine Tochter lachen müsste, konnte ihm etwas von seiner gerade erwachenden guten Laune nehmen. Flink knöpfte er Birdies Kleid richtig herum zu und half ihr dabei, ihre Sandalen an die richtigen Füße zu ziehen und zu schließen.

"Wie groß ist dein Hunger, Birdie?"

"Soooo groß." Birdie beschrieb mit ihren Armen einen großen Kreis in der Luft und lachte hell auf als Josh sie unter den Armen kitzelte.

"Dann muss ich erst mal nachsehen, ob ich überhaupt so viel Geld habe."

"Ich habe auch noch was", rief das kleine Mädchen eifrig und kramte aus ihrer Tasche eine kleine Geldbörse in Erdbeerform. Mühsam bog sie die beiden ineinander verschlungenen Bügel auf und hielt die geöffnete Geldbörse vor Josh.

Josh verzog den Mund nachdenklich und tat als rechne er den Inhalt des Geldbeutels durch. "Ich weiß nicht, ob fünf Käferflügel reichen..."

Erschrocken riss Birdie die Augen auf. "Nur fünf?" Sie sah in den Geldbeutel und zählte dabei leise in falscher Reihenfolge bis Fünf vor sich hin. "Ich habe welche verloren", jammerte sie kurz darauf kläglich. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen und ihr kleiner Mund wurde zu einem Halbmond mit nach unten gebogenen Spitzen.

"Ist doch nicht schlimm", beschwichtigte Josh das kleine Mädchen, das kurz davor war, zu weinen. "Ich habe sicher noch genug Käferflügel, dass es für uns beide reicht." Er hob seine Schwester auf den Arm und nahm die Autoschlüssel aus der Schale neben der Haustür.
 

"Oh, Josh, schau mal, wie schön." Birdies Hände umfassten das Gesicht ihres Bruders, der die Haustür hinter sich zuzog, und zwangen ihn dazu, seinen Kopf in Richtung Einfahrt zu drehen.

Unbewusst tat Josh das gleiche wie seine Schwester. Er stand mit offenem Mund da und verfolgte ungläubig die Szene, die sich in der Auffahrt zu ihrem Haus abspielte. Langsam ließ er Birdie hinunter, die ungeduldig auf seinem Arm zappelte und gleich loslief, als ihre Füße den Boden berührten.

Josh folgte ihr in einigem Abstand.

"Josh! Josh, guck mal!"

"Toll, Birdie", erwiderte Josh geistesabwesend und umrundete die antiken Möbel, die jemand mitten in der Einfahrt aufgebaut hatte.

"Du guckst ja gar nicht!", beschwerte sich Birdie, die lachend auf einem wertvoll aussehenden Ohrensessel saß und mit den Beinen baumelte.

"Komm da runter, Birdie, die Möbel gehören uns nicht." Josh überhörte das prompte Gejammer seiner Schwester und machte sich daran, den Verursacher des plötzlichen Möbelsegens zu suchen. Wieso in aller Welt standen hier Sessel, Tische und Schränke in der Gegend herum. Es sah aus, als ob jemand vorhatte, bei ihnen einzuziehen. Was mehr als nur absurd war. Außer Abby hätte... Josh verdrängte diesen Gedanken schnell.
 

Als er um die Kurve kam, sah Josh die Quelle der Möbel vor sich: ein Laster irgendeiner Umzugsfirma stand in ihrer Auffahrt und an dem Rumpeln zu schließen, das aus dem Inneren des Wagens nach Außen drang, war man wohl gerade dabei, die Einrichtung draußen noch zu vergrößern.

"He, hallo!" Josh winkte einem Mann zu, der von der Laderampe sprang und Josh entgegen kam.

"Tut mir leid, dass wir die Möbel hier abstellen mussten, aber wir kommen mit dem Truck nicht um die Kurve." Der Mann machte eine Handbewegung, die alle Möbel einschloss. "Wir tragen natürlich alles rein."

"Warum?"

Der Mann sah Josh befremdlich an. "Wieso 'Warum'? Sollen die Sachen etwa hier draußen stehen bleiben?"

"Nein, sollen sie nicht." Josh strich sich nervös durch seine Haare. "Die Frage ist eher, warum sind sie überhaupt hier?" Der Mann vor ihm schien nur langsam zu verstehen und Josh sah sich genötigt, noch eine Erklärung hinzuzufügen. "Ich glaube, Sie haben sich in der Adresse geirrt."

Einen Augenblick lang herrschte nachdenkliche Stille, in der der Mann Josh zuerst eine Weile mit fragend zusammengezogenen Augen ansah. Er öffnete die Fahrertür des Lasters, nahm ein Klemmbrett vom Fahrersitz und las schnell die eingehefteten Blätter durch.

"Ist das hier nicht die Nummer 2561?"

Josh schüttelte den Kopf. "2561 ist noch ein Stück die Straße rauf." Er zeigte in die Richtung, in der die Straße hinter einem Hügel verschwand. "Es ist das einzige Haus dort oben, Sie können es gar nicht verfehlen."

"Entschuldigen Sie bitte. Wir sind schon so gut wie weg." Der Mann tippte sich mit seinem Zeigefinger an den Schirm seiner Baseballmütze und drehte sich zur Laderampe um. "Fred!", schrie er. "Pack alles wieder ein, wir sind hier falsch!"

Josh griff nach Birdies Hand und zog sie von der Babywiege weg, an der sie, ein Schlaflied singend, gestanden und das Oberteil des leeren Möbels hin und her geschwungen hatte, als läge tatsächlich ein Baby darin, das einschlafen sollte.

"Bekommen wir ein Baby?" Birdie ging neben Josh her und sah ihn mit großen Augen gespannt an.

"Nein, Birdie-Schatz."

"Warum nicht?"

Ein letztes Mal sah sich Josh zu den Möbelpackern um, die gerade die Wiege in den Laster trugen. Die Männer wussten es vermutlich nicht, dachte Josh und spürte einen kurzen Anflug von Wehmut. Eigentlich wussten es nur die Leute, die schon länger hier lebten, aber das gesuchte Haus hatte in der Tat einmal zu ihrer Farm gehört. Es war das Haupthaus gewesen, in dem Generationen ihrer Familie gelebt hatten, in dem Kinder geboren, Alte gestorben und in dem es unzählige schöne Momente gegeben hatte. Aber heute war es auch nur noch eines dieser vielen 'Damals', die es mittlerweile hier gab.

"Waruhum nicht?" Birdie zupfte ungeduldig am Saum von Joshs T-Shirt. Es machte ihr Angst, wenn ihr Bruder so drein sah, wie gerade jetzt. Bleich und mit den Gedanken weit weg. "Warum bekommen wir kein Baby?"

"Weil du selbst noch ein Baby bist, Birdie."

"Bin ich nicht", protestierte Birdie lautstark. Sie hüpfte neben Josh die Einfahrt zu ihrem Haus hoch und kniff ihn in den Rücken. "Bin ich nicht, bin ich nicht, bin ich nicht..."

"Doch, bist du. Jede Familie will nur ein einziges Baby, weil zwei oder drei auf einmal viel zu viel Arbeit machen und alles weg essen, was sie finden können", erwiderte Josh. "Und du machst schon Arbeit für Vier und isst für Fünf. Welche Familie könnte das denn bezahlen?" Er öffnete die Beifahrertür seines roten Pick-Up und half seiner Schwester beim Einsteigen.

Birdies beleidigte Erklärung, es gäbe sehr wohl Familien mit mehr als einem Baby, ging im Lärm des aufheulenden Motors unter.

Das Pfirsichmädchen

Birdie schlief bereits seit zwei Stunden und Josh fand endlich die Zeit, die Wiese unter den Pfirsichbäumen von den verrottenden Früchten zu säubern. Er wollte damit fertig sein, so lange es draußen noch hell war.

Mit der Harke in einer Hand ging er vorsichtig über die Wiese und gab dabei sorgsam acht, nicht auf den glitschigen Pfirsichen auszurutschen. Er tat das nicht alleine wegen des faulenden Gestanks, den die Früchte von sich gaben oder wegen den Insekten, die es bevölkerten und von denen die meisten gnadenlos zustachen, wenn man sich ihnen näherte, sondern vor allem wegen dieser grauenvollen Farbe, die die Pfirsiche selbst in ihrem verrotteten Zustand noch hatten und die an allem haften blieb, was mit ihr in Kontakt kam. Blutrot.

Von Außen sahen die Früchte aus, wie jede andere Pfirsichsorte auch. Die Farbe ihrer behaarten Schale reichte von Honiggelb bis hin zu einem satten Rot, das dem der untergehenden Sonne glich. Und auch ihr Geschmack war ohne Zweifel fantastisch. Süß, ohne dass das Fleisch zu weich wäre. Doch die meisten Leute, die einen Pfirsich probieren wollten, kamen erst gar nicht dazu, den Geschmack zu testen, denn sobald man eine der Früchte aufschnitt, begann sie zu 'bluten'.

Josh hatte keine Ahnung, wie es ausgerechnet bei ihren Pfirsichen zu so einem unerklärlichen Phänomen kommen konnte. Die Bäume waren von keiner besonders exotischen Sorte. Seine Ur-Ur-Ur-Großeltern hatten sie einst hier gepflanzt, weil damals Pfirsiche in ihrer Gegend noch etwas besonderes waren und man die Farm statt nur mit Vieh und Getreide auch mit etwas Ungewöhnlichem bewirtschaften wollte, mit dem man zusätzlich Geld verdienen konnte. Und das waren zu jener Zeit eben diese Pfirsiche gewesen. Ein Drittel des Farmlandes hatte man mit Pfirsichbäumen bepflanzt, die dank des warmen Klimas auch recht schnell reichlich Früchte trugen.

Nur zu gut konnte sich Josh vorstellen, wie man die erste Ernte voller Vorfreude auf die vielen Früchte begangen haben musste. So ging es schließlich jedem, der das erste Mal sah, wie sich die Äste der Pfirsichbäume am Ende des Sommers unter ihrer schweren Last gen Erde beugten. Alleine die Pfirsichblüte im Frühjahr war schon eine Sensation, die die Leute aus den Städten ringsum zu ihrer Farm lockten. Das satte Pink der Blüten leuchtete gut sichtbar über alle anderen Felder hinweg, so dass man sie einfach nicht übersehen konnte. Wenn sich dann auch noch die grüne Wiese darunter in einen Teppich aus gelben und blauen Blumen verwandelte, war der Anblick schier überwältigend.

Josh hatte schon ein paar schöne Fotografien der Pfirsichblüte auf Postkarten gesehen, die es in den umliegenden Souvenir-Shops zu kaufen gab, und auch in ihrem Haus hingen einige Ölgemälde, die Gäste und Bekannte ihrer Familie vor über hundert Jahren gemalt und ihnen als Geschenke überlassen hatten. Ob sie überhaupt einen Wert hatten, wusste Josh nicht. Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätte Abby sie schon längst zu Geld gemacht.

Und jetzt?

Jetzt musste man nur eins und eins zusammenzählen, und man wusste, was aus all der einstigen Pracht der Farm geworden war. Von den vielen Pfirsichbäumen waren nur noch vierzehn übrig geblieben. Alle anderen hatte man nach einigen Jahren, in denen man immer noch gehofft hatte, dass das Phänomen der blutenden Pfirsiche lediglich eine Ausnahme gewesen war, schließlich gefällt und an ihrer Stelle wieder Getreide angebaut.

Den Gnadenstoß aber hatten sein Vater und Abby, die beide weder Talent noch Interesse an der Farm gehabt hatten, eben jener versetzt, als sie das große Haus verkauft und selbst in das weitaus kleinere Wirtschaftsgebäude umgezogen waren. Es schien, als hätten sie damit das Schicksal der Farm endgültig besiegelt, denn von da an ging alles schief, was sie angepackt hatten. Und so sehr sich seine Eltern auch weiter bemüht hatten, nicht alles Land an ihre Gläubiger zu verlieren, war doch der wirtschaftlichste Teil davon unwiederbringlich fort.

Geblieben waren am Ende nur noch das kleine Haus, die paar nutzlosen Pfirsichbäume und sie Drei – die damals noch winzige Birdie, Josh und Abby, die begann, ihre Sorgen im Alkohol zu konservieren, statt sie anzupacken.

Josh streckte sein schmerzendes Kreuz und besah zufrieden das Ergebnis seiner Arbeit. Am Rande der Wiese befanden sich nun ein halbes Dutzend aufgehäufte Hügel, deren blutrote Farbe in der untergehenden Sonne zum Glück nicht zu erkennen war.

Den Rest würde er morgen machen, dachte Josh müde und verließ die Wiese, auf der nur noch ein paar Zikaden zwischen den gärenden Früchten zirpten.

 

٭

 

"Kann ich Ihnen helfen?", sprach Josh die Frau an, die bereits seit zehn Minuten vor dem Regal mit den Vitaminen stand und sich wohl nicht entscheiden konnte, welche sie denn nun nehmen sollte.

Die Frau drehte sich zu Josh um, der sich zusammenreißen musste, damit ihm nicht das überraschte 'Oh' über die Lippen kam, das sich bei dem Anblick der Frau unwillkürlich aufdrängte. Josh hatte sie zwar noch nie zuvor gesehen, aber ihr weit nach vorne gewölbter Bauch, der unbestritten der Bauch einer Hochschwangeren war, ließ gleich ein paar Rädchen in seiner Erinnerung ineinander greifen.

"Gerne!" Die Frau lächelte freundlich und hielt Josh ein leeres Päckchen eines Vitaminpräparates entgegen, das sie offensichtlich mitgebracht hatte, um es mit dem Angebot hier zu vergleichen. "Ich suche die hier."

Schnell las Josh den Namen auf dem Päckchen. "Die führen wir leider nicht", erklärte er der Frau, die diese Nachricht mit einem bedauernden Seufzen entgegen nahm.

"Das konnte ich mir schon denken", sagte sie mit leiser melodischer Stimme. "Wissen Sie, wir wohnen erst seit zwei Tagen hier und normalerweise habe ich immer genug davon zu Hause, aber irgendwie läuft mit dem Umzug alles schief..."

"Ich könnte sie Ihnen natürlich bestellen, wenn Sie das möchten", bot Josh hilfsbereit an. "In etwa zwei Tagen wären sie hier."

"Das wäre perfekt."

"Sollen wir sie Ihnen auch liefern?" Josh konnte sich den Blick auf den Bauch der Frau nicht verkneifen.

Die Frau, der der etwas besorgte Blick des jungen Mannes nicht entgangen war, lachte auf. "Nein, das geht schon. Ich habe noch so viele Besorgungen zu machen, dass ich die nächste Zeit noch öfter hierher kaufen kommen werde."

"Gut, dann bestellen wir sie und informieren Sie, sobald sie bei uns im Laden sind." Josh ging zur Kasse und nahm einen Notizblock. "Auf welchen Namen läuft die Bestellung?"

"Auf-"

"Joshie-Josh!" Die Tür des Drugstore flog auf, dass das Glöckchen darüber panisch klingelte. Mit roten Wangen kam Birdie auf den Tresen zu gestürmt, hinter dem Josh gerade dabei gewesen war, die Bestellung der Frau aufzunehmen.

"Birdie, ich bediene gerade eine Kundin", versuchte er den Redestrom seiner kleinen Schwester zu unterbrechen, der unbeeindruckt von seinen Worten weiter auf ihn niederprasselte.

"Bitte, bitte hör mir zu, Joshie!" Birdie tanzte um Josh herum, der die Augen wegen des 'Joshie' verdrehte. Birdies Stimme überschlug sich fast und ihre Augen glänzten aufgeregt, als sie ihrem Bruder die große Neuigkeit verkündete. "Ich weiß, wer im alten Farmhaus wohnt!"

Josh legte den Finger auf seinen Mund. "Erzähl es mir doch später, ich bin gleich fertig."

"Nein, nein, so lange kann ich nicht warten", Birdie plapperte einfach weiter. "Weißt du, dort wohnt jetzt ein Mädchen, das – das – das genauso groß ist, wie ich! Sie heißt-"

"Schluss, Birdie!"

Joshs scharfer Tonfall ließ das kleine Mädchen augenblicklich verstummen.

"Ich habe hier noch eine Kundin, und danach darfst du mir so viel erzählen, wie du möchtest, Okay?"

Birdie nickte stumm.

"Entschuldigen Sie bitte", wandte sich Josh an die Frau, die geduldig gewartet hatte.

"Macht doch nichts", entgegnete sie lächelnd. Sie sah zu Birdie hin, die sich schüchtern gegen Josh drückte. "Ich schätze, sie hat Mae kennengelernt."

"Ja, Mae heißt das Mädchen!", rief Birdie prompt, schwieg aber sofort wieder unter den strengen Blicken ihres Bruders.

"Mae ist meine Tochter", erklärte die junge Frau Josh, der sie staunend ansah. "Und sie hat Recht, wir wohnen oben in dem Farmhaus auf dem Hügel."

"Dann kenne ich Ihre Möbel", sagte Josh und errötete unwillkürlich unter dem Lachen der jungen Frau.

"Unsere Möbel?"

"Ja." Josh schob den Notizblock vor sich unnötigerweise gerade, um ihn gleich darauf wieder in die vorherige schiefe Position zu bringen. Er kam sich selten dämlich vor. "Sie wurden zu uns geliefert."

"Na, wenn Sie schon unsere Möbel kennen, sollten wir uns auch vorstellen, oder nicht?" Die Frau hielt Josh begrüßend die Hand hin. "Ich heiße Molly und das Mädchen, das irgendwo draußen herum flitzt, ist meine Tochter Mae. Sie wird demnächst große Schwester sein, wie man hoffentlich sieht."

Auf Joshs Gesicht breitete sich ein herzliches Lächeln aus. "Mein Name ist Josh und das hier ist meine kleine Schwester Birdie. Herzlich Willkommen."
 

Den Rest des Tages war Birdie kaum noch ruhig zu bekommen. Noch nicht einmal beim Essen stand ihr Mund still, so dass Josh unter dem andauernden Redestrom irgendwann einfach abschaltete und, von gelegentlichem Nicken abgesehen, seinen eigenen Gedanken nachhing.

Jetzt hatte das Haus auf dem Hügel also wieder den Besitzer gewechselt. Josh wusste nicht einmal, was mit den vorherigen passiert war. Waren sie ausgezogen oder sogar verstorben? Jedenfalls hatte es sie nicht lange hier gehalten.

Abwesend schippte Josh eine Schaufel mit verdorbenen Pfirsichen nach der anderen in eine Schubkarre. Birdie wuselte um ihn herum, sammelte mit spitzen Fingern irgendwelche Sachen vom Boden auf und kannte dabei nur ein Gesprächsthema: Mae.

Josh wünschte sich, es wäre heute heiß, denn dann hätte er zumindest bei dieser ungeliebten Arbeit seine Ruhe vor seiner plappernden Schwester gehabt, weil diese dann einen großen Bogen um die gärenden Früchte machen würde. Doch ausgerechnet heute hatte sich das Wetter anders entschieden. Es war recht kühl geworden und von einer Seite des Tals zogen bereits dunkle Unwetterwolken zu ihnen hinüber. Wenn er die ganzen Pfirsiche heute nicht noch vor dem Regen wegbekam, dann musste er sie morgen als eine ekelhafte rot-braune matschige Masse von der Wiese scharren, was noch schlimmer war, als es ohnehin schon war.

"Sie mag sie auch", erklärte Birdie Josh gerade.

Josh, der nicht zugehört hatte, hielt kurz inne. "Wer mag was?"

"Mae", Birdie blickte ihren unaufmerksamen Bruder strafend an. "Mae mag auch Käferflügel", fuhr sie fort und riss einem kleinen Mistkäfer, den sie in einer Hand hielt, die schwarz-blau schillernden Flügel aus.

"Oh, Birdie, hör auf damit!", schalt Josh das Mädchen vor sich, das ihn erschrocken ansah. Er nahm ihr den malträtierten Käfer aus der Hand. "Du kannst dem armen Tier doch nicht einfach so die Flügel ausreißen! Jetzt wird er sterben müssen."

"Aber-aber-aber-", begann Birdie schluchzend. "Er war doch schon to-ho-hoot..."

Zweifelnd sah Josh auf Birdie hinab, aus deren Augen die Tränen nur so strömten. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie noch immer den ausgerissenen Flügel. Josh öffnete seine Hand und besah sich das kleine Insekt, das mit angezogenen Beinchen in seiner Handfläche umher kullerte. Der Käfer war zweifelsohne tot.

"Tut mir leid", entschuldigte er sich geknickt bei seiner weinenden Schwester, die sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen wischte. Er nahm Birdie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die erhitzte Stirn. Langsam verstummte Birdies Weinen und Josh kämpfte nun gegen seine eigenen Tränen an, die in seinen Augen brannten.

Er musste unbedingt wieder ruhiger werden, dachte er stumm bei sich. Birdie zuliebe. In der letzten Zeit passierte es ihm immer öfter, dass er sie so anfuhr wie eben und sei es auch nur wegen einer Kleinigkeit. Dabei hatte er selbst keine Ahnung, warum er das tat. Er schob es auf den Stress, den er hatte, oder: den Stress, den er sich machte. Irgendetwas musste sich ändern.

"Was hast du gesagt?", flüsterte Birdie mit tränenerstickter Stimme.

"Nichts, Kleines."

"Bist du noch böse auf mich?"

Josh biss sich auf die Lippe. Birdies, in sein Ohr geflüsterter Satz war wie eine heiß glühende Messerklinge, die sich tief in sein Herz hinein bohrte. Etwas musste sich schnellstens ändern.

 

 

 

"Ich hoffe, ihr habt genug Mineralwasser da, ich werde es nämlich bis auf die letzte Flasche aufkaufen."

Amüsiert sah Josh zu, wie Molly vier Flaschen Wasser vor ihn auf den Tresen stellte. "Keine Sorge, wir haben noch genug im Lager."

"Gut für euch." Molly zählte das Geld ab und gab es Josh. "Wir mussten uns ja ausgerechnet die heißeste Zeit im Sommer aussuchen, um umzuziehen und das Baby zu bekommen..."

"Wann ist es denn soweit?", erkundigte sich Josh und kam sich im ersten Moment komisch vor. Bis jetzt war es ihm noch nie in den Sinn gekommen, einer Schwangeren so eine Frage zu stellen, doch Molly machte es ihm mit ihrer freundschaftlichen Art einfach.

"In fünf langen Wochen", seufzte sie und legte noch einen Schokoriegel zu den Wasserflaschen.

"Und so lange sind Sie ganz alleine da oben?"

Molly zuckte mit den Schultern. "Warum denn nicht? So lange ich noch hinter's Lenkrad passe, um von Zeit zu Zeit hier in der Stadt unsere Vorräte aufzufrischen, ist alles in Ordnung."

Josh grinste. "Sind denn alle Möbel gut angekommen?"

Molly lachte trocken auf. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Hast du mal versucht, hochschwanger eine Wohnung und fünf Gästezimmer einzurichten?"

"Nein, bis jetzt noch nicht", entgegnete Josh wahrheitsgetreu. "Gästezimmer?"

"Hör nur auf, mich daran zu erinnern..." Molly verdrehte die Augen gen Decke. "Eigentlich wollten wir erst nächstes Jahr das Haus kaufen und dann die Pension in Ruhe planen, aber wie du vermutlich weißt, hapert es bei uns mit der Organisation. Außerdem war das Angebot für das Haus zu verlockend. Kennst du es?"

"Ja." Josh versuchte, nicht allzu bedrückt zu klingen. Natürlich kannte er das Haus. Jedes einzelne Zimmer darin kannte er bis in die letzte Ecke. Nahezu seine gesamte Kindheit hatte sich dort abgespielt, bis sein Vater und Abby es nicht mehr halten konnten. "Ist es überhaupt noch bewohnbar? So weit ich weiß, hat es zwischenzeitlich mal eine Weile leergestanden."

"Das Renovieren war die wenigste Arbeit, die wir damit hatten. Das konnten wir alles schön der Reihe nach machen. Und ich muss auch zugeben, dass unsere Wohnung auch schon fast vollständig eingerichtet war, als Mae und ich herkamen, aber ausgerechnet gestern mussten die Möbel für die Gästezimmer drei Wochen zu früh geliefert werden, wo mein Mann noch nicht hier sein kann. Und jetzt stapelt sich alles, was man sich an Einrichtungsgegenständen so vorstellen kann, in jedem Winkel des Hauses. Und das Haus ist riesig. Ich komme mir vor, als lebe ich in einem Möbellager."

Geduldig hatte Josh gewartet, bis Molly ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte. Sie war ja mindestens genauso beschäftigt wie er, wohingegen er nicht auch noch Rücksicht auf ein ungeborenes Kind nehmen musste.

"Ich könnte gerne helfen", bot Josh der verzweifelt aussehenden Molly an, deren Miene sich auf der Stelle erhellte.

"Ist das ein Witz? Wenn ja, dann bekommst du hoffentlich ein so schlechtes Gewissen, dass es noch deine Enkel verfolgen wird!" Molly sah Josh über die Wasserflaschen hinweg aufmerksam an, doch Josh schüttelte nur leicht den Kopf.

"Du wärst mein persönlicher Held, wenn du das wirklich schaffen könntest", rief Molly begeistert. Sie sah aus, als wollte sie Josh hinter dem Tresen hervorziehen, um ihn lachend durch die Luft zu wirbeln. So, wie sie sich freute, hätte sie es wahrscheinlich auch getan, oder zumindest versucht, wenn nicht ihr kugelrunder Bauch sie daran gehindert hätte. Aber so gab sie sich damit zufrieden, nach Joshs Hand zu greifen und diese fest zu drücken. "Wann hättest du denn Zeit?"

"Jeden Nachmittag ab Fünf." Josh musste nicht lange nachdenken. Es passt einfach alles so perfekt zusammen, dass er es kaum fassen konnte. Und auch wenn er sich wieder zusätzlich Arbeit aufgehalst hatte, hatte er zumindest das Problem mit Birdie gelöst, die sich mit Mae gut zu verstehen schien. Laut lachend tobten die beiden draußen vor dem Drugstore den Bürgersteig hoch und runter.

 

٭

 

"Na, ihr Beiden", begrüßte Molly Josh und Birdie fröhlich, als sie ihnen die Tür öffnete. "Mae ist im Garten und wartet schon auf dich, Birdie."

Ohne ein unnötiges Wort zu verlieren, flitzte Birdie in Richtung Garten los.

Molly lachte und ließ Josh ins Haus.

"Wow", entfuhr es Josh, als er die Berge von Möbeln sah, die sich am Rande des Eingangsbereichs stapelten. Molly hatte in der Tat nicht übertrieben, was ihr Gefühl anging, in einem Möbellager zu wohnen, und Josh konnte es ihr gut nachempfinden.

"Warte mal, bis du im ersten Stock warst." Molly lächelte schief.

"So schlimm kann's schon nicht werden", erwiderte Josh, wobei sein Satz ein klein wenig wie eine Frage klang, deren Antwort ihm Molly vorerst schuldig blieb.

Ganz so schlimm wie von Molly prophezeit, war es dann doch nicht. Die Möbelpacker hatten schon alles einigermaßen auf die Zimmer verteilt und Josh musste nur, von Molly angeleitet, die Möbel an ihre vorgesehenen Plätze schieben, was relativ schnell ging, da die meisten Schränke nur niedrige Kommoden waren. Die wenigen Möbel, die noch zusammengebaut werden mussten, schaffte Josh mit links.

Das einzige, das Joshs Arbeit verlangsamte, war die Tatsache, dass es sich hier um ihr ehemaliges Haus handelte und dass es sich nicht vermeiden ließ, dass ihm während der Arbeit immer mehr Details von früher einfielen. Das Zimmer, das Josh am meisten zu schaffen machen würde, hob er sich deshalb auch bis zum Schluss auf.

Josh war froh, dass die Räume bereits renoviert waren – ob von Molly und ihrer Familie oder von den Vorbesitzern. Er hätte es nur schwer ertragen können, seine alte Kinderzimmertapete hier wiederzufinden. Doch das Automotiv war zum Glück einem modernen Blumenmuster gewichen, das das Zimmer freundlich wirken ließ.

Josh setzte sich auf die niedrige gepolsterte Fensterbank und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er schloss die Augen und dachte wehmütig über die Vergangenheit nach.

Der Wind, der durch das leicht geöffnete Fenster wehte, trug bekannte Gerüche mit sich. Hier oben auf dem Hügel roch es nach blühenden Wiesen, die in der Sommersonne ihren angenehmen Duft ausatmeten, und nicht nach verrottenden Pfirsichen, wie den Weg runter bei ihrem Haus.

Einzig die Geräusche aus dem Garten unterschieden sich zu damals. Statt dem lauten Jungengebrüll von Josh und seinen lärmenden Freunden, sangen Birdie und Mae Kinderreime und schütteten sich dabei vor Lachen aus.

Immer mehr stürzte auf Josh ein. Manche der Erinnerungen waren noch so lebhaft, dass er darauf wartete, gleich seine Mutter von unten rufen zu hören, dass das Essen fertig sei und nicht die brüllende Abby, die ihm wegen eines falsch weggeräumten Tellers eine heftige Ohrfeige gab.

Wie von sehr weit entfernt drang Mollys Stimme, die den Mädchen im Garten etwas zurief, in sein Bewusstsein, doch Josh schaffte es, sie noch einen Moment auszublenden.

Er ließ seine Augen geschlossen in der Hoffnung, noch ein bisschen in der schönen Zeit bleiben zu können. Er wusste, dass alles wieder so war, wie es nun mal eben jetzt war, sobald er die Augen wieder öffnete.
 

"Das Haus gehörte früher deiner Familie?" Molly sah Josh mit großen Augen neugierig an.

Josh nickte langsam. Er hatte die Blicke an Molly vorbei dem Garten zugewandt und schwieg.

"Warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt? Jetzt komme ich mir richtig mies vor, dass ich dich dazu genötigt habe, mir hier zu helfen..." Die Eiswürfel in Mollys Glas klirrten leise vor sich hin, während sie mit dem Strohhalm Kreise in der Limonade zog.

"Es macht mir ja nichts aus, hier zu sein", versuchte Josh Mollys Bedenken wegzuschaffen. "Eigentlich war ich viel zu neugierig darauf, was aus dem Haus geworden ist." Er versuchte ein Lächeln, das Molly skeptisch betrachtete.

"Und Birdie? Weiß sie davon noch was?"

"Nein, nichts", verneinte Josh, "wir wohnten schon längst unten im Haus, als sie auf die Welt kam."

Molly trank einen Schluck Limonade, ehe sie weitersprach. "Wie kommt sie überhaupt zu diesem Namen?"

Joshs Mundwinkel bogen sich zu einem Lächeln. "Sie hatte, als sie geboren wurde, dunkles Haar, das ihr in sämtlichen Himmelsrichtungen vom Kopf abstand. Wie das Gefieder eines frisch geschlüpften Kükens eben."

Molly lachte wieder ihr heiteres helles Lachen, das sie um Jahre jünger wirken ließ und Josh sich wünschen ließ, eine ältere Schwester zu haben, die einen Teil der ganzen Verantwortung übernehmen könnte, die alleine auf ihm als einzigem älteren Bruder lastete.

"Was für eine niedliche Geschichte."

"Na ja, niedlich..." Josh trank das erste Mal von seiner Limonade. "Ich weiß ja nicht, wie sie sich fühlen wird, wenn sie ihren Führerschein unterschreiben muss, aber in ihrer Haut möchte ich nicht stecken, wenn sie ihren Namen jedes Mal erklären muss und dass er absolut nichts mit Golf zu tun hat..."

"Er ist doch hübsch!"

Das war er und das wusste Josh. Birdie war sowieso schon etwas Besonderes für ihn und wahrscheinlich auch für jeden, der sie kennenlernte, weil man einfach nicht anders konnte, als sie gern zu haben. Sie würde ihren Namen später sicher gerne jedem erklären, der dachte, sich verhört zu haben.
 

"Welchen Namen bekommt das Baby überhaupt?"

"Gute Frage." Molly füllte Joshs erst halbleeres Glas mit frischer Limonade auf. "Wenn es endlich mal zeigen würde, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, fiele uns das Aussuchen sicher leichter. Bis jetzt haben wir noch keine Ahnung. Wir entscheiden das wohl spontan, wenn es soweit ist."

"Das waren lange Wochen", sinnierte Josh gedankenverloren vor sich hin.

"Du sagst es. Und das Meiste davon geht zu Lasten dieses widerlich heißen Sommers." Mollys Augenbrauen hoben sich, als sie die Sonne über sich strafend anblickte, die unbeeindruckt von dieser Geste weiter schien. Und dann schien Molly etwas einzufallen, das sie Josh noch unbedingt fragen wollte, denn sie setzte sich gerade hin und lehnte ihren Oberkörper etwas weiter zu Josh hinüber, der ihr gegenüber saß. "Stehen hier irgendwo Obstbäume? Vielleicht ist es auch nur Wunschdenken, aber ich meine, Obst gerochen zu haben, als ich am ersten Tag hier hinauf fuhr. Ich hatte das Fenster am Auto offen und als ich den Weg hoch fuhr, roch es nach reifen Früchten. Josh, sag mir bitte, dass ich mich nicht irre."

"Ich wünschte, es wäre ein Irrtum, aber es stimmt." Josh wusste genau, auf was Molly anspielte. In den vergangenen Wochen war es mit einer Ausnahme immer recht heiß gewesen, was die Pfirsiche in diesem Jahr noch hatte schneller reifen lassen. "Der Duft kam wohl von den Pfirsichen in unserem Garten."

Die Frau schien Joshs ersten Satz nicht richtig gehört zu haben, oder sie wollte sich nicht einfach so abspeisen lassen. "Wo stehen denn die Bäume? Meinst du, ich kann mir ein paar Pfirsiche pflücken? Obst ist das, was ich im Moment noch am liebsten esse." Molly sah in der Tat aus, als könnte sie sich in der nächsten Sekunde auf den nächstbesten Pfirsichbaum stürzen und die Früchte alle auf einmal essen. Sie hatte keine Ahnung von deren Innenleben.

"Diese Pfirsiche möchte ungelogen niemand essen. Wirklich niemand."

Molly lächelte keck. "Du hast ja keine Ahnung, mein lieber Josh. Versuch mal, einer Schwangeren mit Heißhunger etwas auszureden. Daran sind schon Generationen von Männern vor dir gescheitert und du wirst auch keine Ausnahme sein..."

Ungewollt musste Josh über Mollys Ausführung lachen. "Die Pfirsiche sind ehrlich nicht dazu geeignet, gegessen zu werden."

"Warum nicht? Sag mir einen Grund. Aber ich warne dich", Mollys Zeigefinger richtete sich auf Josh, "lass es einen guten Grund sein - vielleicht, dass sie vergiftet sind -, ansonsten stehe ich auf und pflücke mir das Obst selbst."

Das belustigte Lächeln auf Joshs Gesicht, legte sich. "Vergiftet sind sie nicht direkt, aber – sie haben eine seltsame Eigenschaft an sich."

"Das war kein guter Grund!" Molly sah betont ernst aus. Sie tat, als stünde sie auf und Josh machte eine schnelle, aufhaltende Handbewegung. Siegessicher ließ sich Molly wieder auf ihrem Platz nieder. "Also, nächster Versuch. Und gib dir dieses Mal mehr Mühe."

Die Gedanken wirbelten in Joshs Kopf umher wie ein verwirrter Bienenschwarm, der den Ausgang aus dem Stock nicht finden konnte. Er konnte Molly doch nicht sagen, dass die Pfirsiche beim Aufschneiden bluteten. "Ihr Fruchtfleisch ist so rot, dass es nicht besonders appetitlich aussieht."

Irritiert sah Molly zu Josh, bis sie begriff, dass er es ernst meinte. "Verstehe ich nicht. Rote Bete ist auch rot. Und Kirschen auch. Was soll das ausgerechnet bei Pfirsichen noch einen Unterschied machen?"

Josh hob die Schultern. "Es sieht nicht schön aus, wenn der Fruchtsaft aus den Pfirsichen läuft. Die meisten Leute assoziieren damit-"

"Blut." Molly nickte langsam. Diese Information musste sie erst mal sacken lassen. Sie ließ Josh nicht aus den Augen, der etwas zusammengesackt vor ihr in dem hochlehnigen Verandastuhl saß.

Schließlich, als Josh schon die Hoffnung hatte, dass Molly das Thema rote Pfirsiche endlich ruhen lassen würde, fing sie wieder zu sprechen an.

"Bring mir bitte ein paar von den Pfirsichen, ich möchte das gerne selbst sehen."

 

Mama

Mit Magenschmerzen hatte Josh die Früchte gepflückt. Jetzt saß er vor Molly an deren Küchentisch und sah der jungen Frau mit dem gleichen Bauchweh dabei zu, wie diese begann, den Pfirsich zu zerteilen. Gleich nachdem die Klinge den ersten Schnitt getan hatte, lief der rote Saft aus dem Pfirsich. Er rann über Mollys Hand und tropfte von dort aus auf den Tisch.

Doch Molly sah keinen Moment so aus, als wolle sie aufspringen und das rot tropfende Obst von sich werfen. Fasziniert sah sie dem aus dem Pfirsich laufenden Saft zu, der bald schon eine nass glänzende Pfütze auf dem Holztisch bildete.

Josh konnte es kaum glauben, aber Molly setzte wirklich zum nächsten Schnitt an. Noch mehr blutroter Saft lief, doch Molly teilte den Pfirsich unbeeindruckt in mehrere Spalten auf, die sie vom Kern löste. Als sie den ersten Pfirsichschnitz zum Mund führen wollte, um ihn zu probieren, löste sich endlich Joshs fassungslose Lähmung.

"Sie schmecken echt gut."

Molly lachte erheitert auf. "Ich habe nichts anderes erwartet. Sie riechen auch unglaublich gut." Sie biss ein Stück ab und kaute nachdenklich.

Atemlos verfolgte Josh jede Regung im Gesicht der Frau vor sich. Noch nie zuvor hatte er jemanden gesehen, der beim Essen so glücklich aussah, wie Molly gerade.

"Oh, Josh, diese dummen Menschen wissen nicht, was sie verpassen!" Mollys Stimme war nur ein leises Hauchen. "Diese Pfirsiche schmecken göttlich."

"Ich weiß." Josh seufzte kaum hörbar. "Aber niemand versucht einen Pfirsich, der blutet..."

"Das lässt sich ändern!" Unwirsch wischte Molly Joshs Befürchtung weg. Sie aß noch ein Stück und danach noch eines. Dann hatte sie offensichtlich eine Idee. "Ich weiß, wie man die Leute dazu bekommt, diese Pfirsiche zu essen und zu lieben."

Josh horchte auf. "Wie denn?"

"Marmelade", entgegnete Molly fröhlich. "Man kocht Marmelade aus ihnen. Und Chutney. Und Soße. Und Kompott. Josh, es gibt so viele unendliche Möglichkeiten!"

Josh schwirrte der Kopf von Mollys Begeisterungssturm. Er hatte ja schon viele Reaktionen von Menschen gesehen, die einen Pfirsich probieren wollten, aber niemand hatte sich über die blutenden Früchte jemals so ausgelassen gefreut, wie Molly. Und es wirkte prompt ansteckend auf Josh.

"Bring mir noch mehr Pfirsiche, Josh, wenn es geht, zwei große Körbe. Wir werden mal sehen, ob die Leute euch nicht die Pfirsiche aus den Händen reißen werden!"
 

Noch am gleichen Abend stand Josh auf dem Pfirsichfeld und pflückte Frucht um Frucht von den Bäumen, die unter den Lasten zu zerbrechen drohten. Und noch nie in seinem Leben hatte er es mit solcher Freude getan. Endlich schien es, als hätte sich sein Wunsch erfüllt, dass sich etwas in ihrem Leben ändern musste. Es begann gerade und ausgerechnet mit dem Teil, der wie ein Fluch seit Jahrzehnten auf seiner Familie lastete und von dem er es nie erwartet hätte.
 

٭

"Na, wie sieht es aus?"

Sprachlos starrte Josh das Glas an, das ihm Molly vor die Nase hielt. Die Sonne, die durch das große Frontfenster des Drugstore schien, brach sich in dem rubinroten Fruchtmus, mit dem das Glas bis zum Rand gefüllt war. Die rote Marmelade sah so lecker aus, dass man direkt Lust bekam, sie zu probieren. Niemand würde bei dem Anblick mehr auf den Gedanken kommen, dass es wie Blut aussehe. In dem Glas war für jeden gut sichtbar ganz normale Marmelade.

"Warte mal." Molly drehte den Deckel des Glases, der sich mit einem leisen Plopp öffnete.

Sofort verbreitete die Marmelade einen unwiderstehlichen Duft. Süß und schwer hing er über dem Glas. Josh atmete den Duft tief ein. Er hatte schon ganz vergessen, wie gut die Pfirsiche rochen, wenn sie nicht gerade faulend am Boden lagen. Doch diese hier dufteten nach Früchten, die den Sommer in jeder ihrer Fasern gespeichert hatten, und nach exotischen Gewürzen, mit denen Molly die Marmelade verfeinert hatte und von denen Josh vermutlich nicht einmal die Hälfte kannte.

"Mir ist noch etwas eingefallen. Ich sag es dir, während du die Marmelade kostest." Molly reichte Josh das Glas und drückte ihm einen Löffel in die Hand, den sie von zu Hause mitgebracht haben musste. Zufrieden sah sie Joshs begeistertes Gesicht, nachdem er den ersten Löffel Marmelade probiert hatte. "Ich würde gerne die Pfirsiche mit unserer Pension in Verbindung bringen. Eine Arte Thema, wenn man das so nennen kann. Was hältst du davon?"

Josh schluckte die Marmelade schnell hinunter. Was sollte er davon halten? Er wusste, was Molly meinte, aber warum sie ausgerechnet ihn danach fragte, war ihm absolut schleierhaft. Hilflos zuckte Josh mit den Schultern.

"Langweilige Pensionen gibt es doch wie Sand am Meer", holte Molly zu einer weiteren Erklärung aus. "Stell dir mal vor, wenn wir die Zimmer hier entsprechend dekorieren, oder die verschiedenen saisonalen Feste feiern. Die Pfirsichblüte muss doch fantastisch sein! Und dann zur Ernte gibt es die nächsten Aktionen. Was meinst du, Josh? Sag was!"
 

Josh sagte nichts. Ihm fiel nichts passendes ein. Molly musste sich lange Gedanken wegen dieser Sache gemacht haben. Und wenn er ehrlich war, gefiel sie ihm auch. Die Pfirsiche dürften auch kein Problem sein, sie waren unauffällig, bis man sie anschnitt; und diesen Punkt hatte Molly mit ihrer Idee von der Marmelade grandios gelöst.

"Ich muss das zuerst mit Abby besprechen." Josh lächelte entschuldigend.

"Abby?" Zum ersten Mal hörte Molly diesen Namen. "Gehören ihr die Pfirsichbäume?"

"Nun, im Grunde schon", druckste Josh herum. "Sie ist unsere Mutter."

'Und du nennst sie Abby' hatte Molly sagen wollen, doch Joshs bedrücktes Gesicht ließ sie dazu schweigen. Sie nickte langsam. "Ja, frag sie. Und dann sagst du mir Bescheid. Oder ich komme vorbei und spreche persönlich mit ihr."

"Das ist keine gute Idee", lehnte Josh den Vorschlag der jungen Frau höflich ab. "Abby geht es im Moment nicht so gut."

"Verstehe." Molly schien ihre Gedanken zu sortieren. "Hör zu, Josh, ich möchte mich nicht in eure Angelegenheiten einmischen, aber ist das der Grund, weshalb du Birdie immer mit zur Arbeit nimmst?"

Normalerweise umging Josh dieses unangenehme Thema gerne, doch Molly, zu der er in den letzten Tagen immer mehr Vertrauen gefasst hatte, hatte eine Antwort verdient. Allerdings kam ihm Molly zuvor.

"Wenn du möchtest, kannst du Birdie gerne zu mir bringen, so lange du arbeiten musst."

Josh sah Molly an, wie einen Geist. Wie kam sie dazu, so etwas vorzuschlagen? Er war nur jemand aus der Nachbarschaft, der ihr einfach nur beim Umzug geholfen hatte. Sonst nichts. Was wusste sie von ihnen? Dass sie vierzehn Pfirsichbäume hatten, deren Früchte bisher ungenießbar gewesen waren. Nein, Moment, sie wusste noch gar nicht, dass es vierzehn Bäume waren.

"Ich hole sie abends wieder ab, wenn das in Ordnung ist", antwortete Josh auf Mollys Vorschlag.

Mollys unsicher dreinblickende Augen bekamen einen freudigen Glanz. "Dann sehen wir uns heute Abend."
 

Josh lud die insgesamt fünf Obstkörbe von der Ladefläche seines Pick-Up und trug sie die Veranda zu Mollys Haustür hoch. Das Küchenfenster stand offen und Josh lauschte einen Moment, bevor er an die Tür klopfte.

Von drinnen hörte Josh Mae und Birdie, die die lachende Molly mit tausenden Fragen bestürmten. Es war schon lange her, dass man solche Geräusche aus ihrem eigenen Haus zu hören bekommen hatte. Dort war es die meiste Zeit still - außer Abby kam nach Hause... Es roch nach Marmelade und nach anderem Essen und erinnerte Josh wieder einmal schmerzhaft daran, dass man auch gerne nach Hause kommen konnte.
 

"Wir haben schon auf dich gewartet", empfing Molly Josh gut gelaunt. Sie hatte ihr dichtes langes Haar zu einem Dutt zusammengesteckt und eine Kochschürze umgebunden, auf der unzählige rote Flecken prangten. Diese ganze Blutsache schien Molly absolut nichts auszumachen, wunderte sich Josh.

"Hier ist noch Nachschub." Josh hob die Hand, in der er einen der Obstkörbe hielt, der randvoll mit Pfirsichen gepackt war.

Mit großen Augen bestaunte Molly die Menge an Pfirsichen. "Wie viele Bäume habt ihr denn?"

"Vierzehn", entgegnete Josh. "Von ehemals sechzig."

"Sechzig." Molly sagte dieses eine Wort sehr langsam vor sich hin, als könne sie es nur so in seiner ganzen Bedeutung begreifen.

"Josh!" Birdie kam aus der Küche gestürzt und fiel ihrem Bruder um den Hals, der sie gleich auf den Arm nahm und an sich drückte. "Josh, ich hatte so viel Spaß hier!"

"Das freut mich", erwiderte Josh ehrlich. "Warst du auch lieb zu Molly und Mae?"

Birdie nickte eifrig. Ihre Wangen glühten vor Eifer und ihr Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht. "Wir haben Marmelade gekocht und noch viel mehr. Und dann haben wir den Tisch gedeckt. Komm mit!"

Josh ließ die strampelnde Birdie zu Boden, die ihn an der Hand packte und in die Küche zog.

Birdie hatte nicht gelogen. Überall standen gefüllte Marmeladengläser und es duftete unglaublich gut. Der Küchentisch, der in der Mitte des großen Raumes stand, war mit Tellern und Besteck eingedeckt. Für vier Personen.

"Setzt euch hin." Molly zeigte zum Tisch.

"Ich weiß nicht", murmelte Josh schüchtern.

"Ich hoffe, das 'Ich weiß nicht' bezog sich darauf, dass du nicht weißt, was es zu Essen gibt..." Molly hatte die Arme in die Seiten gestemmt und blickte Josh herausfordernd an. Sie lächelte triumphierend, als sich Josh endlich unter ihren Blicken hinsetzte und die Hände im Schoß faltete.

Molly, Mae und Birdie brachten Schüsseln mit dampfendem Gemüse und einen großen Teller mit gebratenem Fleisch und stellten alles in die Mitte des Tischs.

Mit Entsetzen sah Josh Birdies Blicke, mit denen sie das Essen bedachte, nachdem sie neben ihm Platz genommen hatte. Das kleine Mädchen sah staunend den gefüllten Tisch an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, als befürchte sie, dass alles verschwand, sobald sie einmal nicht hinsah. Sie tat das so ungeniert, dass sich Josh an ihrer Stelle dafür zu schämen begann.
 

"Vielen Dank für alles." Josh, der die schlafende Birdie auf dem Arm trug, lächelte Molly an, die grinsend abwinkte.

"Birdie ist ein kleiner Schatz", sagte sie und wischte dem Mädchen ein paar Haare aus dem Gesicht.

"Ich weiß", erwiderte Josh leise.

Seine Augenbrauen zogen sich wieder zusammen, wie es Molly schon öfter an ihm beobachtet hatte, wenn das Thema auf etwas kam, das ihm offensichtlich Probleme bereitete. Und Josh schien einige wunde Punkte zu haben. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihn wieder auf ihre Mutter anzusprechen, aber dann doch beschlossen, dass es bessere Tage dafür gab, um ihn das zu fragen, was ihr seit einiger Zeit schon auf der Zunge brannte.

"Und du bist ihr Ein und Alles", sagte Molly stattdessen.

Josh lächelte schief. Er wünschte, es wäre nicht so. Er wünschte sich, Abby wäre das erste Ein und Alles für Birdie und er käme danach. Doch so war es nicht.

"Bis morgen früh", sagte Molly zum Abschied.
 

Nachdem Josh sich fürs Bett fertig gemacht hatte und müde über den Flur zu seinem Zimmer hin schlurfte, sah er, dass Abbys Schlafzimmertür einen Spalt weit offen stand. Mattes Licht fiel auf den Flur und Josh konnte sich nicht verkneifen, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Was er sah, ließ ihn erschrocken die Luft anhalten.

An Abbys Bett kniete Molly. Sie hatte die angewinkelten Ellenbogen auf die Matratze gestützt und ihr Kopf ruhte auf ihren Händen. Stumm betrachtete sie sich die schlafende Abby. Dann sagte sie etwas, das Josh die Knie weich werden ließ.

"Kannst du Josh bitte sagen, dass er mich bei Molly und Mae lässt?" Birdie wartete kurz auf eine Antwort, die sie nicht bekam. "Dann müsstest du dich nicht mehr ärgern, wenn ich laut bin", fügte sie hinzu und wartete wieder vergeblich darauf, dass ihre Mutter etwas darauf erwiderte. "Josh könnte auch bei uns bleiben und müsste nicht immer so viel weinen." Birdie beugte sich vor und küsste Abbys verschwitzte Stirn. "Ich habe dich lieb, Mama."

Josh ging. Er konnte nicht länger zusehen oder zuhören. Morgen früh würde er mit Abby sprechen. Oder morgen Mittag, wenn es ihr besser ging. Er würde sich das erste Mal seit Jahren mit ihr hinsetzen und ihr erklären, dass sie das alle nicht mehr schafften. Dass es nur ging, wenn sie ihnen half. Wenn sie wieder gesund wurde. Wenn sie endlich wieder zu Birdies Mama wurde. Und vielleicht auch zu seiner.

Mit diesem Vorsatz schlief Josh ein.
 

Ungeduldig sah Josh zur Uhr auf der Kasse, deren digitale Zahlen sich einfach nicht schneller abwechseln wollten. Selten hatte er sich den Feierabend so sehnlich herbei gewünscht, wie heute.

Abby hatte heute morgen noch tief geschlafen, als er und Birdie das Haus verließen. Bis nachher würde sie allerdings wach genug sein, so dass er endlich mit ihr sprechen konnte. Er hatte ihr auch ein paar gefüllte Donuts eingepackt, von denen er noch wusste, dass sie sie einmal gerne gegessen hatte.

Kurz vor Fünf klingelte das altmodische Glöckchen über der Tür des Drugstore. Begleitet von Mae und Birdie, betrat Molly den Laden und steuerte zielsicher auf den Kassenbereich zu.

"Hey, Josh."

Birdie und Mae standen an dem Postkartenständer und besahen sich die Karten.

"Hallo." Josh strahlte über das ganze Gesicht.

"Dir geht’s gut, habe ich recht?", freute sich die junge Frau, worauf Josh glücklich nickte. "Dann geht es auch gleich mit den guten Nachrichten weiter. Ich habe etwas über eure Pfirsichbäume herausgefunden", platzte es schließlich aus Molly hervor.

Mollys Stimmlage klang tatsächlich freudig, doch gute Nachrichten waren in seinem Leben mittlerweile so selten geworden, dass Josh im ersten Moment etwas überfordert war. Was wollte Molly über die Bäume mit den blutenden Früchten herausgefunden haben?

"Ihr habt da einen echten Schatz in eurem Garten." Molly betonte jedes Wort, als wolle sie sicher gehen, dass Josh auch deren unglaublich wichtige Bedeutung verstand. Doch Josh verstand immer weniger.
 

"Eure Pfirsiche sind alles andere als schlecht", fuhr Molly hastig fort. Sie konnte nicht so schnell reden, wie sie Josh die Neuigkeiten am liebsten mitgeteilt hätte und ihre Stimme überschlug sich mehrmals, so dass sie eine kurze Pause machen musste, um sich wieder zu sammeln.

Josh lächelte die Frau mit den vor Aufregung roten Wangen hilflos an.

"Eure Bäume sind wirklich was Besonderes. Wer immer sie auch pflanzte, hatte vermutlich keine Ahnung, wie selten diese Sorte tatsächlich ist und dass die Farbe der Früchte genau richtig ist." Molly erwiderte Joshs Lächeln, das langsam schwand und dem gleichen Entsetzen wich, das Molly selbst empfunden hatte, nachdem sie die Herkunft der roten Pfirsiche entdeckt hatte.
 

"Die Leute, die die Gerüchte über eure Pfirsiche verbreitet haben, waren so furchtbar dumm."

Josh hörte kaum, was Molly sagte. Er sah an ihr vorbei zu seiner kleinen Schwester hin und spürte, wie die Wut in ihm hochzukriechen begann. Die Wut darüber, was ein paar lächerliche Gerüchte mit ihrer Familie angestellt hatten. Jeder einzelne, der jemals behauptet hatte, ihre Pfirsiche seien verflucht, hatte Schuld an jedem Tag, den er und seine Familie darunter hatte leiden müssen. An jedem Schluck Alkohol, den Abby zu sich genommen hatte. An jeder Ohrfeige, die sie Josh in einem ihrer Wutanfälle gegeben hatte. An dem herausgeschlagenen Zahn, der Josh nächtelange Schmerzen bereitet hatte. An jeder einzelnen Träne, die ihre Mama an den Morgen nach einem solchen Abend voller Alkohol, Wut und Geschrei, geweint hatte.

Mollys kühle Hand riss Josh aus seinen düsteren Gedanken. Als sie sich seiner Afmerksamkeit wieder sicher war, kramte sie in ihrer Handtasche und förderte eine längliche Geldbörse daraus hervor, die sie öffnete und ein paar Scheine hervorzog, die sie vor Josh auf den Tresen legte. "Das ist für die Pfirsiche." Sie zählte noch ein paar Scheine ab, die sich zu den anderen auf die Theke gesellten. "Und das ist die Anzahlung für die nächste Ladung."

Verblüfft sah Josh auf das Geld.

"Weißt du, was das heißt?"

Josh schüttelte den Kopf.

"Ich habe mit meinem Mann über die Pension und die Pfirsiche gesprochen und genau wie ich ist er der Meinung, dass das gut laufen könnte." Molly schien um eine Kopflänge gewachsen zu sein. "Wenn das ganze dann erst mal richtig anläuft und die Marmelade gut weggeht, dann wird sich euer Gewinn natürlich entsprechend erhöhen. Er will dich übrigens kennenlernen."

"Wer?" Joshs Hände wurden kalt. Das alles waren zu viele Informationen auf einmal.

"Mein Mann. Er kommt dieses Wochenende nach Hause." Molly sah auf ihre Armbanduhr. "Du hast gleich Schluss, oder?"

"In einer viertel Stunde."

"Ich warte draußen auf dich." Molly winkte ihm schnell zu und verließ mit den beiden Mädchen das Geschäft.
 

"Bekommst du die noch gefüllt?" Molly sah Josh zu, der ihr die leeren Obstkörbe abnahm und sie auf die Ladefläche seines Pick-Up stellte.

"Vermutlich sogar zweimal. Dieses Jahr gibt es viele Pfirsiche", lachte Josh.

"Das ist gut." Molly gab Josh den letzten Korb. "Weißt du, das einzige, das ich gerade noch tun kann, bis das Baby endlich kommt, ist, Pfirsiche zu schneiden und einzukochen." Sie strich sich über ihren gewölbten Bauch.

"Ich habe auch noch etwas", sagte Josh, nachdem er alle Körbe gut verstaut hatte. Er ging um seinen Wagen herum zur Beifahrerseite, öffnete die Tür und kam gleich darauf mit einem großen flachen, in Papier eingewickelten Gegenstand zu Molly zurück. Mit roten Wangen überreichte er ihn Molly, die gleich das Papier aufriss.

"Oh, Josh, wo hast du das denn her?" Molly verschlug es den Atem. Sie hielt ein Ölgemälde in den Händen, das einige pinkfarben blühende Bäume zeigte, die unter strahlend blauem Himmel in einem Meer aus Blumen standen.

"Ich dachte, dass es sich sicher gut in der zukünftigen Pension machen würde."

Molly ließ das Bild auf der Motorhaube ihres Autos liegen und wandte sich an Josh. Schneller, als der reagieren konnte, hatte ihn die junge Frau in den Arm gezogen und ihm einen beherzten Kuss auf die Wange gedrückt.

"Schon gut." Josh lachte auf. "Das ist nichts im Gegensatz zu dem, was ihr die ganze Zeit schon für uns tut."

"Mach dich nicht über mich lustig!" Molly wischte sich über ihre nassgewordenen Augenwinkel. Sie wartete, bis Josh das Bild auf die Rückbank gestellt und die Tür geschlossen hatte.

"Morgen bringe ich die nächsten Pfirsiche, wenn das in Ordnung ist."

"Und ob!" Molly rief nach Mae und beide stiegen in ihren Wagen. Durch das herunter gekurbelte Fenster sah sie Josh noch einmal glücklich an. "Das kostet dich noch ein Abendessen, das weißt du hoffentlich."

"Ich habe fast damit gerechnet." Josh nahm Birdie an die Hand und half ihr in den Pick-Up. Er stieg ein und ließ den Motor an.
 

Molly, die neben Josh geparkt hatte, ließ ihn vorfahren und folgte dem roten Pick-Up in kurzem Abstand zur Kreuzung.

Fröhlich winkte Mae Birdie zu, die ihnen mit beiden Armen aus dem Rückfenster des Pick-Up zuwinkte. Molly hatte gerade ihre Hand gehoben und die Finger gekrümmt, um dem kleinen Mädchen ebenfalls einen Gruß zukommen zu lassen, da verschwanden sie auch schon aus ihrem Blickfeld. Wie eine große Hand, die eine Fliege vom Tisch vertrieb, wurde Joshs Pick-Up vor ihren Augen von einem Truck von der Straße gewischt, so dass Molly nicht einmal die Zeit blieb, vor den kreischend bremsenden Autoreifen und dem Geräusch zusammengepressten Metalls zu erschrecken. Ein Obstkorb, der aus dem angefahrenen Pick-Up geschleudert worden war, polterte auf Mollys Motorhaube.

Schockiert schaute Molly vor sich auf die nun leere Straße. Sie hatte freie Sicht bis zur gegenüberliegenden Kreuzung, obwohl gerade noch Josh und Birdie dazwischen gestanden hatten.

Mae, die ihre bleich gewordene Mutter sah, begann leise zu weinen.
 

Müde saß Abby am Küchentisch. Schon seit Stunden starrte sie die Obstschale vor sich an. Sie streckte die Hand danach aus und nahm den letzten Pfirsich aus der gleichen Schale, aus der vor vierzehn Tagen ihre kleine Birdie früh am Morgen Tom den Pfirsich gereicht hatte, damit dieser ihn ihr schälen und schneiden konnte.

Von alledem wusste Abby nichts. Ihre zitternden Hände konnten den Pfirsich und das Messer kaum halten. Wie in Trance schnitt sie die Frucht auf. Der Saft, der aus dem Schnitt quoll war bis auf einen leichten Gelbton klar. Die Pfirsiche, die sie seit Jahrzehnten kannte und die ihrer Familie schon so viel Leid gebracht hatten, bluteten plötzlich nicht mehr.

Abbys Mund bebte unter dem aufsteigenden Kummer. Lautlose Worte schlichen über ihre spröden Lippen, während sie ihre Blicke nicht von dem Pfirsich lösen konnte, dessen Fruchtfleisch auf einmal goldgelb glänzte, statt blutrot.

Abby schrie auf. Sie warf den Pfirsich so weit von sich, wie sie konnte. Er prallte gegen den Küchenschrank und rollte über den alten Küchenboden, bis er genau an der Stelle liegen blieb, an der der weinende Josh ihr vor etlichen Wochen erklärt hatte, dass sie nie mehr seine Mutter sein werde.

Abby sank über der Tischplatte zusammen und weinte.
 

Molly hielt den Pfirsich in ihrer Hand und verwünschte ihn aus tiefster Seele. Dieses verdammte Ding! Wo war das Blut?

Die Augen weit aufgerissen, stach Molly das Messer erneut in den Pfirsich, aus dem der klare Fruchtsaft lief, als wäre es nie anders gewesen. Sie stach noch einmal zu. Und noch einmal. Und noch einmal. Und endlich verfärbte sich der Fruchtsaft rosa. Und dann rot. Und dann noch roter.

Molly lachte.

"Schatz?" Die leise Frage kam von ihrem Mann, der mit besorgtem Blick in der Tür stand. Aus dem besorgten Blick wurde ein schockierter, als er die blutende Hand seiner Frau sah, die einen Pfirsich hielt. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und nahm sie in den Arm. Ihre Hände ließen den Pfirsich und das Messer fallen und krallten sich fest in seinen Rücken.

Mollys Körper bebte unter dem Weinkrampf, der sie erfasst hatte. "Liebling", flüsterte sie mit nahezu tonloser Stimme.

"Was ist?"

"Ich glaube, das Baby kommt."
 


 

٭ Ende ٭
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Poolee
2011-11-02T19:14:53+00:00 02.11.2011 20:14
Es ist, wie ich dir schon gesagt hatte: der Charme, den deine Geschichten durch dein Erzählen haben, ist geblieben.

Du bringst sofort Leben in dein Erzählen, in dem du das Drumherum lebendig machst! Ich höre das Holz der Veranda knarren und ich rieche die Pfirsische. Ich spüre den Saft der Frucht auf meinen Fingern. Es scheinen banale Dinge zu sein, doch sie machen das Ganze wichtig und geben allem die Stimmung und Atmosphäre, die es braucht.

Die Figuren kommen nicht überspitzt oder klischeehaft rüber und da man sich die ganze Zeit mit dem Gedanken beschäftigt, was es denn mit den blutenden Pfirsischen auf sich hat, ist man ganz und gar nicht auf das Ende gefasst!

Ich mag es sehr und auch bei mir ist das Auge nicht ganz trocken geblieben.


Zurück