Fall Colours von Rainblue (Verfärbende Dunkelheit) ================================================================================ Prolog: Schwindende Resonanz ---------------------------- Ich falle. Schon so lange. Immer tiefer und tiefer. Sodass ich längst keine Furcht mehr davor empfinde, beim Aufkommen zu sterben. Nichts und alles wäre mir lieber, als aufzuschlagen. Am dunklen Grund dieses „Bewusstseins“. Ich bin im Netz der Finsternis gefangen. Mit jeder Bewegung ziehen sich die Fäden enger. Die Luft wird knapp. Sie verfärbt mich, lässt meine Erinnerungen verblassen. Und die letzten Lichtfunken drohen zu ersticken. Fahl und abgestorben. Herabsinkend. Ein Herbstblatt im klirrenden Wind des Winters. Aber ich bin hier. Immer noch. Ich schreie deinen Namen. Die Hoffnung, dass du mich hören könntest lässt mich den Verstand verlieren. Ich kann nicht zulassen, dass dein Licht erfriert. Dass die Dunkelheit auch dich verfärbt. Ich falle. Kapitel 1: Befreit aus der Stille --------------------------------- Xemnas „Und eh man sich’s versieht werden aus acht zehn…“, summte Xigbar vor sich hin und warf Xemnas einen kaum merklichen Blick zu, in dem seine Züge eine Frage durchscheinen ließen. Keiner der Anwesenden nahm diesen kurzen Austausch wahr. Und selbst wenn, hätte er mehr als genug Worte gefunden, um jegliche Zweifel an Irgendwas auszuräumen. Er versuchte, sich zu entspannen, aber der Ausdruck des Scharfschützen hatte ihn in Alarmbereitschaft versetzt. In welche Angelegenheit, die ihn nichts anging, hatte er seine Nase jetzt wieder gesteckt? „Zehn sind immer noch zu wenig“, merkte Vexen nüchtern an, die Augen auf einen Bericht geheftet, den er mit Sicherheit nicht einmal richtig ansah. Aber der Mut war ihm anzurechnen, sonst kam der Wissenschaftler nicht mal auf den Gedanken zu sprechen, ehe Xemnas seine Meinung zum Stand der Dinge bekannt gegeben hatte. In dieser Hinsicht war er das genaue Gegenteil von Xigbar, welcher ihm prompt ein höhnisches Grinsen schenkte. „Das ist richtig“, erwiderte Xemnas ruhig. Seine Augen trafen für eine Sekunde die des Schützen. Daran, dass er wie aus Streitlust das Kinn etwas hob, konnte erkannt werden, dass er den stummen Befehl verstanden hatte. „Ihr dürft gehen.“ Vexen klaubte hastig die Berichte auf dem Tisch zusammen; anscheinend hatte er die Beendigung der Versammlung von allen am meisten herbeigesehnt. Zexion sagte wie üblich kein Wort. Er schlug sein Buch auf und durchmaß mit schlafwandlerischer Prägnanz den Raum und nachfolgenden Korridor. Xaldin und Lexaeus neigten jeweils einmal respektvoll das Haupt und folgten den beiden anderen. Xigbar ließ sich ungeniert in einen der Sessel fallen und nahm die Augenklappe ab, als wäre er allein hier. Reine Provokation. Ständig probierte dieser Kerl seine Grenzen aus. Suchte den Punkt, an dem er zu weit ging. Warum er das tat? Wahrscheinlich wusste er das selbst nicht. Die Antwort hatte sein alter Ego mitgenommen, als die Dunkelheit sein Herz verschlungen hatte. „Raus mit der Sprache“, sagte Xemnas in die andauernde Stille hinein. Es hatte keinen Sinn, darauf zu warten, dass der Schütze von sich aus sprach. Vorher würde es Schlüsselschwerter regnen. „Meiner Meinung nach, hast du mit diesem Demyx einen Fehlschuss abgegeben“, erwiderte er sinnierend und strich betont langsam über die grobe Narbe, die sein Auge zuzog. Xemnas warf ihm von unten her einen Blick entgegen, den er mit einem herausfordernden Schmunzeln quittierte. „Du weißt, was ich meinte.“ „Nein“, höhnte er und erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung. „Vielleicht kannst du es mir buchstabieren, Lord Xemnas.“ Und schon hatte er die letzte Barriere gefunden. Hätte er nur den Titel verspottet, hätte Xemnas es womöglich durchgehen lassen, aber dadurch, dass er auch den Namen unterstrich… Der Superior war mit zwei Schritten bei ihm, packte den Saum seines Mantels und stieß ihn rückwärts gegen die Glasfront. Er kam näher, bis er direkt in die eine schmutzig gelbe Iris des Schützen blickte, in der längst nichts mehr von der Feigheit seines früheren Ichs verborgen lag. „Wo auch immer du wieder herumgeschnüffelt hast, nimm deine dreckigen Hände daraus und vergiss es. Haben wir uns da verstanden?“ Das vernarbte Auge zuckte. Auf den Lippen der Nummer II erschien das altbekannte sarkastische Lächeln. „Wenn du so aus der Fassung gerätst, erinnerst du mich glatt an jemanden…“ Sätze wie präzise Schüsse. Er war nicht umsonst ein Scharfschütze. Xemnas löste den Griff um seinen Mantel, trat einen Schritt zurück, holte aus und schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er ein paar Schritte zur Seite taumelte. „Deine Missionen beschränken sich weiterhin ausschließlich auf das Suchen neuer Mitglieder. Morgen früh wirst du allein aufbrechen und erst wiederkommen, wenn du jemanden gefunden hast.“ Er hatte ihm den Rücken zugedreht, um die aufkommende Wut unter Kontrolle zu bringen. Xigbars raues Lachen hallte von den Wänden wider und kurz darauf trat er um seinen Vorgesetzten herum. „Damit ich nicht weiter herumschnüffeln kann, was?“ Demonstrativ zog der die Augenklappe über und rückte sie an die richtige Stelle zurrecht. „Du wärst überrascht, wie ähnlich wir uns eigentlich sind.“ „Geh mir aus den Augen.“ Für die Worte, die jedes andere Mitglied sofort die Beine in die Hand hätten nehmen lassen, hatte er nur ein weiteres Lachen übrig. „Von wegen“, knurrte er und spuckte ihm vor die Füße. Es war Blut zu erkennen. Damit wandte er sich ab und verließ in aller Ruhe den Raum. Xemnas sah angewidert vom Boden auf, löste die geballten Fäuste und trat hinüber in einen anderen Gang, als den, den Xigbar genommen hatte. Ob er seine Drohung ernst nehmen würde? Unwahrscheinlich. Die Nummer II hatte nichts zu verlieren. Vermutlich würde er nicht eher locker lassen, bis er auch noch das kleinste Detail in Erfahrung gebracht hatte. Er konnte sich nur darauf verlassen, dass er, wie üblich, alles Herausgefundene für sich behielt. Es wurde dennoch höchste Zeit, sich nach einem neuen Vertrauten umzusehen. Wie aufs Stichwort erklang von weiter unten, in der Halle der leeren Melodien, Gelächter. Lautlos trat der Superior aus dem Schatten auf das Geländer und vollkommen unbemerkt beobachtete er die zwei noch relativ neuen Mitglieder seiner Organisation. Lea, der nun Axel hieß, und Isa, der nun Saix hieß… „Was ist das nur für ein verflucht großes Schloss?“, rief Axel und sah atemlos zur Erhöhung hinauf. Xemnas wich wieder in den Schatten zurück, unsichtbar für die Augen der beiden. „Du willst nicht andeuten, dass du dich schon wieder verlaufen hast?“, erwiderte Saix mit einem halben Lächeln. Der Rotschopf schnaubte. „Unsinn! Ich weiß genau, wo wir sind!“ „Ach ja? Und wie kommen wir zurück zum Gemeinschaftsraum?“ Axel öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Stattdessen kratzte er sich ratlos am Hinterkopf. „Die Treppe hoch, dem Pfad folgen, geradeaus weiter bis zu den Treppen, dann links, zweimal rechts, im Schlaftrakt noch mal links und dann, nicht zu verfehlen, wieder geradeaus. Kannst du dir das merken?“ „Das ist mein Text!“, fauchte er und gab seinem Freund einen Stoß gegen die Schulter. „Du bist ja nur neidisch, weil mir dieser Mantel besser steht als dir!“ „Dann hast du ein schlechtes Einschätzungsvermögen“, erwiderte Saix mit schräg gelegtem Kopf und beide brachen erneut in dieses merkwürdige Lachen aus. Es klang, als hätten sie Herzen. Xemnas konnte das nicht nachvollziehen. Es lag womöglich daran, dass die zwei noch nicht allzu lange als Niemande herumliefen. Ihre Erinnerungen an Gefühle waren noch sehr frisch. „Was meinst du, ob wir auch so verschrobene Freaks werden, wenn wir nicht aufpassen?“, fragte Axel plötzlich. „Den ganzen Tag im Keller hocken und zum Wohle der Forschung irgendwelche armen Schweine sezieren? Oder nur noch Bücher mit Titeln wie ‚Zehn Dinge, die es beim Erschaffen von Illusionen zu beachten gibt’ wälzen?“ „Du und Bücher?“, antwortete Saix mit verkniffenem Grinsen. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du auch nicht gerade Klassenbester!“ „Zwei Worte, Lea: schlechter Einfluss. Kannst du dir das merken?“ „Sag das noch einmal…!“ Xemnas trat wieder ein paar Schritte näher, fixierte den Rotschopf mit den Augen, bis er jedes Detail, angefangen bei der Haltung, über die Züge und hin zur Art und Weise der Bewegung, genauestens erfasst hatte. Nein, die Nummer VIII kam nicht in Frage. Und doch konnte er sich mit blinder Sicherheit noch als äußerst nützlich erweisen, aber nur wenn… Sein kalter Adlerblick traf auf den anderen, die Nummer VII, und nur Sekunden später zog Zufriedenheit seine Mundwinkel nach oben. Terra Aqua… Ven… Eines Tages bringe ich alles in Ordnung. Es war lange Zeit still geblieben. Und schwarz. Gefühllos. Stumm. Aber lebendig. Terra lebte. Und das war das vielleicht Wichtigste. Denn als die Finsternis ihn umfangen hatte, war er der festen Überzeugung gewesen, sie würde ihn auslöschen. Die Schatten hatten ihn berührt, hatten ihn verfärbt, aber nicht mitgenommen. Das konnte ein anderes „Bewusstsein“ nicht von sich behaupten. Er war allein. Seit dem Tag, an dem alles in der Dunkelheit verschwommen war, hörte er die Stimme des alten Mannes nicht mehr, sah nicht länger seine glühenden, abscheulichen Augen oder spürte die widerliche Finsternis, die von ihm ausging. Die Schatten hatten nach nur einem von ihnen verlangt. Und damit war Xehanort seine hoch angepriesene Dunkelheit zum Verhängnis geworden. Denn die Schatten hatten sich für sein Herz entschieden… Aber was war danach geschehen? Die lange Zeit der Stille, gegen die er angekämpft hatte und nun…? Er fühlte noch immer nichts. Sah nur Schwärze um sich herum, vernahm keinen Laut. Und doch war es anders. Etwas hatte sich verändert. Stück für Stück, zäh, begann es sich in ihm zu regen. Es wurde klarer und Terra musste sich zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren und dieses schmale Seil entgleiten zu lassen. Da! Da war ein Gefühl. Schwach nur, aber er konnte sich nicht irren. Etwas Hartes, Kaltes, unter den Fingerspitzen. Er musste alle Konzentration aufbringen, um seine Hand dazu zu bewegen, noch einen Moment daran zu verweilen, ehe sie sich löste. Ein Geräusch erklang. Ein Zischen, allerdings undefinierbarer Natur. Und dann, noch bevor er die Stimme vernahm, schlug er die Augen auf. Die Helligkeit des weißen Raumes blendete ihn, aber umso mehr fiel sein Blick auf das dunkle Metall, das einige Meter vor ihm auf dem Boden lag. Er erkannte es sofort, ohne den leisesten Zweifel. Der silbrigblaue, glänzende Körperpanzer und daneben das Schlüsselschwert. „Es ist lange her… mein Freund.“ Es gab genau zwei Möglichkeiten: Sehen oder wegsehen. Xehanort war verschwunden und war doch immer noch da. Und das, was von Terras Herz übrig geblieben war, war hier eingeschlossen. Wie ein Fremdkörper. Nicht als Herz des Mannes, durch dessen Augen er sah, dessen Handlungen er mitverfolgte, dessen Gedanken er aber nicht lesen konnte. Er war ein ungebetener Gast in dieser leeren Hülle, die nur vom fadenscheinigen Widerhall einstiger Ambitionen aufrecht gehalten wurde. Ambitionen, die er vielleicht nicht einmal richtig verstand; aber ihm war nichts anderes geblieben. In einer anderen Situation hätte Terra womöglich sogar Mitleid mit diesem hohlen Gefäß von einem Mann gehabt. In dieser Situation konnte er nicht anders, als ihn zu hassen. Zumal der Hass seine Gedanken bewahrte. Als er die Gegebenheiten zusammengesetzt und halbwegs verstanden hatte, was vor sich ging und was geschehen war, hatte er mit Schrecken feststellen müssen, dass er angefangen hatte, zu vergessen. Die Finsternis hatte ihn nicht nur gestreift, er war darin versunken und nur um Haaresbreite wieder hinausgekommen. So etwas hinterließ Spuren. Aber apropos Erinnerungen. Der Mann, der Xemnas hieß, erinnerte sich nach wie vor nicht an all jenes, was vor der Übernahme von Terras Körper geschehen war. Diesbezüglich hatte sich nichts verändert. Xehanorts Seele hauchte ihm Leben ein; klare Bilder an die Ereignisse in Radiant Garden, aber alle Ahnungen auf das vorherige zog er aus den Fetzen von Terras Gedanken, die von Zeit zu Zeit zu ihm durchdrangen. Ob es ihm jemals gelingen würde diese Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen? Vermutlich wollte er das gar nicht… Ihm genügten die Echos, die in seinem unbeschriebenen Inneren trieben. Kingdom Hearts… Immer wieder dieses Wort. Und alles, was es mit sich zog. Und daneben Terra. Ein kleiner rebellischer Funke, der genau einen Vorteil hatte: das hier war trotz aller Widrigkeiten immer noch sein Körper. Selbst der Schlaf, in den er nach dem Auftauchen der Finsternis gefallen war, hatte nichts an seinem Einfluss ändern können. Auch wenn Xemnas deutlich mehr Macht hatte als das angeschlagene Herz des Schlüsselschwertträgers – der wahre Fremdkörper hier war Xehanorts Seele. „Ich darf nicht vergessen…“, flüsterte er, damit Xemnas nicht auf ihn aufmerksam wurde. Seine Gedanken konnte er eigentlich nicht lesen, aber seine Stimme hörte er – Terra konnte nicht sagen, warum er da so sicher war. Und es war wahrscheinlich besser, wenn er vorerst nichts davon erfuhr, dass das schwach leuchtende Herz in seinem Körper aus der Stille erwacht war. Aber wie war das überhaupt passiert? Warum war er genau jetzt aufgetaucht? Eine… Stimme…? Hatte da nicht jemand zu ihm gesprochen? „Erinnere dich.“ Erinnern. Das war das Wichtigste. Wenn er vergaß, hatte er keine Chance mehr, von hier zu entkommen. Dann würde er verblassen. Sich selbst verlieren. Allmählich absterben. Erinnern… Kingdom Hearts… „Erinnere dich…“ Xemnas Manchmal fragte er sich, ob alles was er tat, nur im Traum geschah. Ob er nur ein Schlafwandler zwischen den vielen Welten war, die Augen weit aufgerissen und doch blind… Diesen Gedanken hatte er erneut, als sein Blick über die scheinbar kreuz und quer aneinander gebauten Teile des Schlosses fuhr, über die sich scharf zuspitzenden Zinnen, den dunklen rostbraunen Stein oder das kleine Fenster in einem der Türme. Ein Buntglasfenster, wie ein Mosaik, durch das die Lichtstrahlen fielen, in aberhunderte Splitter zerbrochen. Und dann ein Gesicht…? Das genau davor stand und ihn ansah… Ihn? Oder jemand anderen? Er stützte sich mit einem Arm an der Außenwand ab. Wie gut, dass kein anderes Mitglied hier war. Nun, mitten in der Nacht war das auch eher unwahrscheinlich. Zumal Xemnas sich selbst das Verbot auferlegt hatte, diesen Ort jemals in Begleitung zu betreten. Für einen Moment schloss er die Augen, ließ die Hand in seine Manteltasche gleiten und zog jenen verwünschenswerten Trost heraus, den er nicht benennen konnte. Einen Glücksbringer aus orangefarbenem Glas. Ohne Bedeutung und trotzdem trug er ihn stets bei sich. Vor allem damit kein anderer – zum Beispiel ein viel zu forscher Schütze – darauf stieß. Er hätte ihn auch vernichten können. Aber… Wie von selbst schlossen sich seine Finger zur Faust, sodass das Leder der Handschuhe unschön zu quietschen begann und schlugen einmal gegen das robuste Gemäuer. Genau das war hier doch die große Frage. Warum eigentlich „aber“…? Das dürfte es nicht geben. Das war paradox. Langsam richtete er sich wieder auf und sah über die Schulter auf den gewundenen Pfad, der sich in der Ferne verlor. Irgendwas an dem Bild kam ihm verkehrt vor, genauso wie an dem des Schlosses. Diese Widersprüchlichkeiten erinnerten ihn an die Träume, gegen die er sich nicht wehren konnte. Weshalb er auch gerade nur so viel schlief, wie nötig und sich oftmals des Nachts nicht in seinen Räumlichkeiten aufhielt, so wie die anderen Mitglieder es glaubten. Er suchte alle möglichen Orte auf, ohne Ziel, aber mit der unbestimmten Gewissheit von Sinn. Vielleicht sogar um nicht an die Gefangenschaft der Träume zu denken, die ihn früher oder später einholen würde. Aber es war nicht das gleiche. Er war kein Gefangener, das hier kein Käfig. Es war vertrautes Land, das er als Fremder betrat. Zumindest das musste er sich eingestehen. Kapitel 2: Erdfarbene Erinnerungen ---------------------------------- Terra Die erste Erinnerung, die er sein Eigen nannte, setzte sich aus vielen kleinen Bruchstücken zusammen. Eines nebliger und bitterer vertraut als das andere. Aber nur eines davon hatte sich ihm so sehr ins Herz eingebrannt, dass es zum Ausgangspunkt seines Ichs geworden war. Ein Lied. I will remember you Er konnte nichts sehen und nichts Wörtliches denken, weil er noch zu klein war. Es heißt, die Menschen vergessen alles, was in den ersten zwei Jahren ihres Lebens geschehen ist. Terra war es nicht anders ergangen, keineswegs. Aber dieser Moment, der Gesang und die Relikte der Wahrnehmungen, das war geblieben. Jede Zeile des Liedes kannte er noch. When the storms black the forests In the smell of dying leaves, they fall, Sink in the cold embrace of mists You will hear the melody’s call. Sanft wurde er hin und her gewogen. Weiche Arme schmiegten sich um seinen winzigen Körper. Der Wind war schneidend kalt, aber in der Umarmung jener Sängerin fühlte er sich geborgen. Ihre blütenfragile und doch volle Stimme machte aus der Stille des Waldes eine Klangschale. I will protect you, my dear And be there on your side. I’ll conquer all your fear You find me everytime inside Unter ihren leichten Schritten raschelte es. Und als er für wenige Augenblicke die Augen öffnete, erkannte er nichts als Farben. Überall leuchtendes rot, orange und gelb… The voices of the autumn rain. If you shiver by the first frost My love will take away the pain And make sure, you no longer be lost. Verschiedene Gerüche umgaben ihn. Erst viel später war es ihm gelungen, sich ihrer zu entsinnen und sie zu bestimmen. Da war einmal feuchte Erde und Laub. Auch Sonnenlicht, trotz des kühlen Windes. Und dann war noch dieser undefinierbare Duft, der von den Armen und dem warmen Körper ausging, der ihn wie eine Kostbarkeit an sich drückte. Look at the falling leaf Warm yourself in his redgolden shade Dreamy pictures it could weave Your heart’s loneliness will be fade. Er schloss die Augen wieder. Das war ein schöner Ort. Ein Ort, an dem man bleiben mochte, für immer sogar. Er lauschte dem Lied der Frau, die ihm mehr bedeutete, als er mit seinem einst so kleinen Herz fassen konnte. Einfach hier bleiben und ihr weiterhin zuhören. War das zu viel verlangt? Taste the last colouring sunbeams Until the light is gone asleep In the eternity of season streams. Yes, I will my promise keep. Sie blieb stehen, jedoch ohne den Gesang zu unterbrechen. Wiegte ihn noch ein wenig und plötzlich landete ein warmer Tropfen auf seiner Wange. Als er die Augen wieder aufschlug, um zu erfahren, worum es handelte, sah er ein Gesicht. Darkness of winter always come But I know you will look through. Das war der verschwommenste Teil der gesamten Erinnerung. Jedes Mal, wenn er ihn erreichte, konzentrierte er sich darauf, mehr hervorzurufen. Aber dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Auch jetzt. Außer dichten braunen Locken, von denen einige sein Gesicht kitzelten, als sie sich herabbeugte, um ihn auf die Stirn zu küssen, außer der Ahnung von tiefbraunen Augen, die voller Tränen waren oder den Empfindungen, die ihn bei ihrem nebelhaften Anblick überkamen, konnte er nichts fassen. A proud man you’ll someday become Sie sang die letzten Zeilen des Liedes, während sie ihn aus dem wohligen Kokon ihrer Arme schälte und behutsam auf ein Laubbett sinken ließ. Sie entledigte sich dem Umhang und breitete den blauen Samt, an dem noch Duft und Wärme hafteten, über ihn. Die Kleider sorgten dafür, dass keine Kälte zu ihm durchdrang und doch lernte Terra an jenem Tag die wohl schmerzvollste Kälte dieser Welt kennen. Die Frau weinte noch immer, wodurch ihre Worte etwas brachen. Trotzdem sang sie das Lied zu Ende und ihre weiche Hand streichelte ihm liebevoll durchs Haar. Eine Liebe, die ein Mensch nur von einer einzigen Person auf dieser Welt erfahren kann. Darkness of winter always come But I know you will look through. A proud man you’ll someday become I surely will remember you. Es war die Liebe einer Mutter. Und Terras Mutter verließ ihn an jenem Tag und kehrte nie wieder. Die wenigen Dinge, an die er sich danach noch erinnern konnte, verschmolzen mit den Farben der Blätter, der Herbstsonne und dem Lied – ein Wirbel aus zusammenhangslosen Bildern und ein Name. Irgendwo dazwischen trat er so klar hervor wie eine Perle unter Kieselsteinen. Und blieb ihm im Gedächtnis wie die Strophen und die Melodie des Liedes. Terra Es schien kein bloßer Zufall zu sein, dass Eraqus ihn damals gefunden hatte. Mitten im Wald, in einem Meer von abgestorbenen Blättern. Wer würde dort schon einen verwaisten Säugling vermuten? Der Meister hatte ihm erzählt, dass er das Schloss an jenem Tag verlassen hatte, um zu einer erneuten Reise für das Wohl der Welten aufzubrechen, als er das Weinen des Kindes gehört hatte. Aber selbst ohne die Rufe wäre er auf Terra aufmerksam geworden, da ein auffällig starker Schutzzauber um ihn gezogen worden war. Dennoch war die Wunde tief gegraben worden, besonders als Terra heranwuchs und allmählich begriff, was seine Mutter ihm angetan hatte. Er konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar er Meister Eraqus war; immerhin ist das Großziehen eines Kindes kein Zuckerschlecken, wenn kein nennenswertes Vorwissen besteht. Und für ihn hatte er auch seine Reise in den Wind geschossen. Terra schämte sich deswegen manchmal, aber wann immer er zu einer Entschuldigung ansetzte, lächelte Eraqus nur und erklärte ihm, dass jede Erfahrung wertvoll sei. In der Vorstellung seines jüngeren Ichs mochte es die Rolle eines Ersatzvaters nie gegeben haben, aber nun, wo es geschehen war, wollte er die Erinnerungen nicht mehr missen. Ihn aufzuziehen war eines der kostbarsten Abenteuer in seinem Leben gewesen, so sagte er. Auch wenn an Terras zwölftem Geburtstag nicht plötzlich ein schlüsselförmiges Schwert in seiner Hand erschienen wäre. Aber mit zunehmendem Alter und Verständnis wuchs die ungefüllte Stelle in seinem Herzen, wurde größer, tiefer und schmerzvoller. Wie eine Leere, die alles um sich herum hineinsaugt und in weißes Nichts verwandelt. Er war Eraqus dankbar, mehr noch; er liebte ihn wie den Vater, den er nie kennen gelernt hatte. Aber das reichte nicht aus um das dumpfe Loch zu schließen. Es reichte nicht aus, um ihn davon abzuhalten, immer wieder die Lichtung im Wald aufzusuchen, nicht um ihn nicht stundenlang in Einsamkeit dort verharren zu lassen, nicht um das Singen zu unterbinden, die Worte und die Melodie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Ein Lied, das von Hoffnung und Trost erzählte, die er nicht darin finden konnte. Terra wusste selbst, wie armselig das war. Wie er sich verzweifelt an die blassen Erinnerungsfetzen klammerte und sie immer wieder hervorrief, aus Angst auch nur ein Detail vergessen zu können. Er hasste sich für diese Schwäche. Sehnte sich danach, stärker zu werden und diese unsichtbare Grenze zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit einzureißen. Und umso mehr hasste er sich, weil es ihm nicht gelang. In dieser Endlosschleife gefangen, sah er letztendlich nur einen Ausweg, oder zumindest ein Ziel, dass es ihm erleichterte nachts den Kopf frei zu bekommen: Schlüsselschwertmeister zu werden. Und mit den Jahren, mit der Zeit, in der das Gefühl des machtvollen Schwertes in seiner Hand, ihn umgab, konnte er nicht nur vergessen, sondern auch eigene Entschlüsse fassen. Aus der Sehnsucht nach Taubheit wurde ein Wunsch. Ein funkelndes Licht im Meer des Mannes, der sich nur mit einem Lied wahrhaftig identifizieren zu können glaubte. Er wollte den Meistertitel. Natürlich wollte er es auch für Eraqus, um ihn stolz zu sehen. Aber mehr noch war es sein ganz eigenes Verlangen, etwas, das er sich selbst geschaffen hatte. Das musste einfach etwas wert sein. Und doch; auch die Zeit kann einen Einriss nicht ungeschehen machen. Jeder findet andere Taktiken, sich vor der Qual einer solchen seelischen Last zu schützen. Und Terra entschied sich für die des Schweigens. Eine Maske aufzusetzen und dafür zu sorgen, dass niemand sie ihm je abreißen würde, aus Angst, wieder verletzt, wieder allein im Wald zurückgelassen zu werden… „Hallo.“ Das war das Wort gewesen. Einer der Ausgangspunkte, die die Veränderung herbeigerufen hatten. Einen Wandel, den er nicht hatte kommen sehen und nach dem er sich doch tief drinnen gesehnt hatte. Wir wissen nie vorher, was uns heilen wird, ja nicht einmal, dass es zu uns kommen wird, um die Wunden zu flicken. Früher oder später. Das zweite war ein Geschöpf in menschlicher Gestalt gewesen, wie aus dem Regen heraus geboren. Mit Augen, die nicht auswichen – niemals – obgleich der vielen Sorgen und Erfahrungen, die sie gezeichnet hatten. Und dabei waren die Augen noch so jung. So etwas sollte nicht sein, aber sie und er waren lebendige Beweise dafür, dass es die Welten nicht kümmerte, wer zu früh erwachsen wurde und wer nicht. Nicht im Geringsten. War es das, was ihn so sehr an diesem wasserfarbenen Wesen faszinierte, vom ersten Moment an in ihren Bann schlug? Eine Seelenverwandtschaft? Ein „sich kennen“, ohne sich jemals zuvor begegnet zu sein? Galten derlei Märchenfloskeln denn, wenn zwei geschundene Geister wie sie aufeinander trafen? Die Antwort konnte er nicht finden und im Grunde… war es ihm auch egal. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Und wir alle bleiben in unseren Hamsterrädern gefangen, die von der Zeit angekurbelt werden. Auch wenn wir fallen, werden sie sich mit uns weiterdrehen. Die Zeit wartet auf niemanden. Aber uns ist selbst überlassen, ob wir stur auf die Speichen starren oder auch mal den Kopf heben, um die Umgebung zu genießen. „Bist du auch ein Schüler von Meister Eraqus?“ Terra entschied sich an jenem Tag. Und vielleicht – vielleicht auch nicht – erging es dem Mädchen namens Aqua ebenso. „Keine Chance! Ich habe mich so sehr darauf gefreut, euch beide zu Meistern aufsteigen zu sehen.“ „Lass mich doch. Ihr zwei würdet echt großartige Brüder abgeben.“ „Du bist noch zu jung, um es zu wissen.“ „Hör dich doch nur mal reden, Aqua! Als ob Terra sich jemals der Dunkelheit…“ „Aber Wut und Hass, genau das ist doch die Dunkelheit.“ „Ich lasse nicht zu, dass er euch Schaden zufügt.“ Plötzlich rissen die Erinnerungen ab. Terra war es beinahe gelungen, auch den Rest wieder hervorzurufen, aber die erschreckende Gewissheit, dass sein Erwachen bemerkt worden war, ließ ihn innehalten. „Dann bist du also Terra…“ Es war sinnlos, weiterhin so zu tun, als wäre er nicht hier. Xemnas mochte ein farbloses Gefäß sein, aber er war nicht dumm. Auf kurz oder lang hätte er das fremde Herz in seinem Inneren sowieso als das erkannt, was es war. „Bin ich“, sagte er kalt. Überaschenderweise begann der Mann ob seiner Erwiderung zu lachen. Aber die Art und Weise des Impulses, den man bei etwas Lustigem empfindet, war darin nicht enthalten. Sein Lachen klang weder fröhlich noch süffisant. Es klang tot. Wie die perfekt einstudierte Imitation von echtem Gelächter… Xemnas „Dir verdanke ich dann wohl die Träume“, murmelte Xemnas und zog die Kapuze auf, bevor er den dunklen Korridor betrat, den er vorsorglich in seinem Zimmer hatte entstehen lassen. Es kam keine Antwort, aber er spürte die mühsam unterdrückte Wut des Jungen. Das entlockte seiner emotionslosen Stimme glatt ein weiteres Lachen. „Wenn du mich so gern loswerden willst, warum lässt du mich dann nicht raus?“ Die irisierenden Wirbel der Gasse zum Dazwischen rauschten an ihm vorbei wie Wände aus Bedeutungslosigkeit, während er nach einer passenden Antwort suchte. „Du kannst mir eines glauben, Junge; wenn ich eine Möglichkeit finde, dich auszulöschen, bist du der erste, der es erfährt.“ Er unterdrückte einen Laut, als etwas von innen gegen seine Brust schlug. Nicht körperhaft. Eher wie ein lähmendes Stechen in dem Herz, das außer Schlagen und Blut durch die Adern pumpen nichts zu tun hatte. Aber es war ein unbesonnener Angriff gewesen. Mühelos konnte Xemnas ihn packen und ihm die Rechnung für seine Unverschämtheit beibringen. „Du bist nichts weiter als ein Herz“, knurrte er. „Verkümmert und morsch von der Dunkelheit und dem erbärmlichen Nachhall falscher Hoffnungen, dass nicht einmal Kingdom Hearts Verwertung für dich hätte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich eine Möglichkeit finde, dich auszuradieren.“ Wieder vernahm er das Aufbegehren in seiner Brust, aber der Junge war übermütig, aufgehetzt von Wut und Hass, die er nicht im Zaum halten konnte. Es fiel dem Superior beinahe zu leicht, seinen Widerstand abzuwehren. Ein Schmerzensschrei ertönte in seinem Inneren – aber das konnte er ausblenden. Nichts davon würde einen Einfluss auf ihn nehmen. Vor ihm bildete sich das nächste Portal, dessen schwarze Zungen sich wie Schlangenleiber wanden und zuckten. „Ich rate dir, hinzusehen“, flüsterte Xemnas, einen knappen Meter vom Durchgang entfernt. „Das hier dürfte dich nämlich interessieren.“ Er konnte das Misstrauen des Jungen wahrnehmen, der noch dabei war seinen Schutzschild wieder aufzurichten. Das Wissen um das Bevorstehende amüsierte den Niemand, sodass sich das kurze Lächeln auf seinen Lippen eine Sekunde lang sogar echt anfühlte, bevor er in die dunkle Nebelwand trat. Kaum hatten seine Füße den glatten Boden des Nichts verlassen und Gras betreten, hörte er schon die Stimme des Jungen in seinem Inneren. Er spürte die Aufgelöstheit, Überraschung und auch Hoffnung, die ihn beim Anblick des herzlosen Wesens überkamen, das einige Meter entfernt stand und leeren Blickes zu Boden starrte. Und Xemnas selbst brachte es Genugtuung, weil er sich dadurch einen neuen Zugang auf dem Weg zur Vernichtung von Terras Herzen erworben hatte… „Ven…?!“ _____________________________________________________ Willkommen im Land der Absätze! Um den Eindruck zu untermauern, dass Terras Erinnerungen in „Bruchstücken“ zurückkommen, habe ich es hier mit den Absätzen mal nicht untertrieben. Zu dem Lied: Die Lyriks obliegen mir, nichts ist geklaut. (Auch die paar, aus künstlerischer Freiheit entstandenen, Rechtschreibfehler zählen dazu XD). Wer der englischen Sprache nicht so mächtig ist, kann in meinem Weblog die deutsche Übersetzung finden. Und wer ihr sehr wohl mächtig ist und dem eventuelle Fehler in den Augen schmerzen, darf sich frei fühlen, mir das mitzuteilen; ich beiße nicht. ^-^ Alles, was hier geklaut ist, ist die Melodie, auf die ich das Lied gesungen habe, um mich besser hineinzuversetzen. Wen das interessiert, der darf auch mal beim Blog reinschnuppern. Ansonsten gefällt euch hoffentlich, was ich mit Terra angestellt habe. ^-^ Und wegen des Cliffhängers… Ich weiß, ich bin böse. :3 Tausend Dank fürs Lesen! Rainblue Kapitel 3: Gefühle gegen Gedanken --------------------------------- Terra Kontrolle ist subjektiv. Besonders wenn man ein Herz im Körper einer starren Figur ist. Xemnas hatte viel Macht über ihn, daran bestand kein Zweifel. Aber ihm fehlte etwas, das Terra hatte: Gefühle. Und Gefühle können stärker sein als Gedanken. Unvorhersehbarer. Unbändig. Überwältigend. Niemals gelang es ihm die Fäden zu durchtrennen, aber oftmals ließen seine puren Empfindungen das Fadenkreuz erzittern. Nicht aus der Hand reißen, aber verwackeln. Er brachte den Niemand zu Taten, ohne sie bewusst zu verlangen. Terras aufkommende Sehnsucht zwang Xemnas dazu, den Raum des Schlafes aufzusuchen, immer und immer wieder. Seine rastlose Sorge um Aqua und Ven trieben ihn dazu, sich von den anderen Mitgliedern dieser rätselhaften Organisation zurückzuziehen. Seine Wut trug seine Beine des Nachts ruhelos im Weltenwandel umher. Und manchmal, in Momenten besonders starker Traurigkeit, begann der Superior sogar leise zu singen. I will remember you When the storms black the forests Empfindungen lassen sich unterdrücken, aber nicht lenken. Und darum ist Kontrolle subjektiv. Trotzdem bleibt die Frage: Gedanken oder Gefühle – was ist auf Dauer stärker? „Ven! Ventus! Hörst du mich?“ Der Junge reagierte nicht. Auch nach Tagen, Wochen, gab es keine Veränderung. Terra war längst klar geworden, dass er seine Stimme nicht hören konnte und doch versuchte er es jedes Mal aufs Neue. „Ven! Antworte!“ „Narr“, hatte Xemnas ihm zugeflüstert. Irgendwo in den Erinnerungsscherben, die während Terras „Schlaf“ in sein Bewusstsein gelangt waren, musste er Ventus’ Gesicht entdeckt haben. Immerhin schien er genau gewusst zu haben, welche Reaktion der blonde Junge mit den leeren Augen bei Terra hervorrufen würde. „Was ist mit ihm geschehen?! Sag schon!“ Xemnas hatte sich wie üblich viel Zeit für eine Erwiderung gelassen. „Zwischen dem, was du siehst und dem, was wirklich ist, gibt es einen tiefen Krater, Junge. Und diese Kreatur, die du Ventus nennst, ist dort hineingestürzt.“ „Hör auf in Rätseln zu sprechen!“ Er hatte gelacht, jeden gekünstelten Atemzug herausgezögert und Terras Geduld damit erneut einer harten Probe unterzogen. Das war ein unverkennbarer Zug von Meister Xehanort; den Triumph voll auszukosten. Eine Antwort hatte er jedoch nicht erhalten. Inzwischen wusste Terra, was um ihn herum geschah. Er begriff die Funktion der Organisation und verstand sie doch nicht. Er sprach nur selten mit Xemnas. Die meiste Zeit ignorierten sie einander. Aber langsam keimte Verzweiflung in ihm auf. Die Tage und Nächte verstrichen unaufhaltsam und anstatt endlich einen Ausweg aus dieser Stagnation zu finden, war alles, was er wahrnahm, dass er schwächer wurde. Und noch immer vergaß. Die Lücken wurden tiefer, löschten in kurzen Abständen ganze Vergangenheiten aus, ließen sich immer schwerer füllen. Jede Erinnerung kostete ihn höchste Konzentration, die Xemnas ihm nicht selten nicht gestattete. Zwischen abstrakter Hoffnung und schierer Ausweglosigkeit zerrissen, krallte Terra sich an den Bildern fest, versuchte alles, um sein Ich zu bewahren. Wenn ihm das nicht gelang, hatte der Niemand gewonnen… Es konnte so nicht weitergehen. Er musste etwas unternehmen. Und sprichwörtlich wie aus dem Nichts erschien dieser lautlos wabernde Glanz von einem Halt. Er zögerte nicht, ihn zu ergreifen. Und tat alles, damit er ihm nicht wieder entglitt. Nur noch ein Jahr trennte sie von der Meisterprüfung. Und Terra trainierte nahezu ununterbrochen; zum einen, damit er ausreichend vorbereitet war und zum anderen, um die Zweifel, die Gedanken an ein Versagen, zum schweigen zu bringen. Aber an diesem Tag schien einfach gar nichts gelingen zu wollen. „Das ist doch zwecklos!“, rief er und verpasste dem Trainingsgerät einen nicht besonders schonenden Tritt. Er spürte Aquas und Ventus’ Blicke auf sich, erwiderte aber keinen, sondern drehte mürrisch den Kopf zur Seite. Das ging nun schon seit einer Woche so. Nicht zum aushalten! Wieso musste sein Fokus auf das Wesentliche sich gerade jetzt verabschieden? „Ich muss kurz allein sein“, sagte er leise, wandte sich um und ging, ohne sich davon zu überzeugen, ob sie ihn gehört hatten. Es gab nur einen Ort, den er aufsuchen konnte und die Armseligkeit, die diese Tat begleitete, brachte ihn dazu, über sich selbst zu lachen; hart und trist. Seufzend schloss er die Augen und legte eine Hand an die kühle Rinde des Baumes, der damals seine schützenden Äste über ihn gehalten hatte. Kaum noch ein Jahr und dann war es soweit. Der Schnittpunkt alledem, auf das er sich solange vorbereitet hatte. Ihm war selbst klar, wie verwundbar ihn der Gedanke an eine mögliche Niederlage machte, aber manche Dinge lassen sich nur schwer einstellen. Und ein Jahr… das konnte in nur einem Blinzeln vorüber sein. Was wäre, wenn er genau am Tag der Prüfung wieder brechbar werden würde? Dann würde er nicht in den Wald fliehen können, bis der Druck in seiner Brust verflog. Während er, ohne etwas zu sehen, den Blick auf den Fleck richtete, auf dem Eraqus ihn damals gefunden hatte, schien eine Stimme in seinem Inneren beschwörend zu flüstern… Du willst stärker sein… Er zog die Brauen soweit zusammen, dass es schmerzte und nickte abwesend vor sich hin. Du willst dich von alldem lösen… Genau. Er wollte diesen Ort nicht länger brauchen. Er wollte sich von den Gefühlen befreien, die ihn an den Wald ketteten. Jedes davon machte ihn schwach. Und wer schwach war, den setzte man aus… Was hatte Terra sich bei all den Malen erhofft, in denen er die Lichtung aufgesucht hatte? Antworten? Eine hätte ihm schon genügt. Nur eine Bestätigung, mehr nicht. „Warum hast du mich zurückgelassen?“ Aber außer dem Rauschen des Windes im Blattwerk der Bäume war nichts zu hören. Nicht einmal die Vögel sangen ihre Lieder. Unvermittelt hielt er inne und blickte mit starren Augen in die Ferne zwischen den Bäumen. Dann drang ein kaltes, raues Lachen aus seiner Kehle hervor, wurde lauter und zerbrach die Stille des Waldes. Terra hob eine Hand und legte sie auf Stirn und Augen, als könnte er die Gedanken dadurch zurückdrängen. Aber das blieb eine ewig unerreichbare Lösung. Er wollte nicht mehr abhängig sein, nicht mehr von der Erinnerung und nicht mehr von dem Licht, das die Frau an jenem Tag mitgenommen hatte. Die Dunkelheit, in der er zurückgeblieben war; damit hatte er nun zu leben. Hätte er eine Antwort erhalten, einen Grund, dann wäre ihm das womöglich sogar gelungen. Und da kam der springende Punkt. Er war stark genug, um in der Finsternis auszuharren, aber nach wie vor zu schwach, um einen Ausgang zu suchen. Aus Angst, einen zu finden, der ihn in nur noch tiefere Schwärze führte. Er wollte keine Antwort auf die Frage: Warum. Wenn sie ihm jemand gegeben hätte, hätte er sich die Ohren zugehalten. Terra fürchtete sich vor nichts sonst, aber diese simple Antwort kostete ihn den Verstand. So sehr erschreckte ihn die Vorstellung, zu erfahren, dass er hier ausgesetzt worden war, weil niemand ihn gewollt hatte. Abhängig von einer Antwort, die er nicht hören wollte… „Jämmerlich.“ Träge richtete er sich wieder gerade auf und trat mit einem unterdrückten Seufzen den Rückweg an. Ven und Aqua machten sich bestimmt schon Sorgen. Er log nicht, wenn er sagte, dass ihn das rührte, aber er hätte es vorgezogen, wenn sie ihre Gedanken nicht an ihn verschwenden würden. Mitleid kann tröstlich sein. Aber auch bedrückend. Besonders dann, wenn es sich nur in Blicken spiegelt, statt in Worten. Daran kann erkannt werden, wann es ehrlich gemeint ist. Und gerade weil die Augen von Schlüsselschwertträgern meistens ehrlich sind, konnte Terra es nicht ertragen. Selbstvergessen wie ein Traumwandler ließ er das bewaldete Schweigen hinter sich und folgte dem Bergpfad Richtung Trainingsplatz, als ein, fast mit dem Wind verschmelzendes, Geräusch seine Ohren streifte. Taste the last colouring sunbeams Until the light is gone asleep Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mehrmals krampfte, während er mit dem Blick in alle Richtungen herumfuhr, ohne die Herkunft des Gesangs ausmachen zu können. Es kam offenbar nicht aus dem Wald – was ihm ein diffuses Gefühl in der Magengegend aufwarf. Er lauschte und lokalisierte die Melodie schließlich am Trainingsplatz. Unter all dem Aufruhr in seinem Kopf, fiel ihm gar nicht auf, dass er die Stimme kannte, jedenfalls nicht, bis er angespannt auf der weißen Brücke zum stehen kam. Am Rand der Klippe saß Aqua, die Beine überschlagen, die Augen geschlossen und sang. Sang sein Lied und verwandelte allein dadurch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. In the smell of dying leaves, they fall, Sink in the cold embrace of mists. Zunächst blieb er wie angewurzelt stehen, beobachtete ihre Lippen, die eine Zeile nach der anderen formten, nahm den Widerhall ihrer unbewölkten Stimme in sich auf und hätte diesen Moment am liebsten in die Ewigkeit hinausgezögert. Aber es erschien ihm schamlos, sie noch weiter, ohne ihr Wissen, anzustarren. Als nur noch wenige Schritte zwischen ihnen lagen, bemerkte sie ihn und beendete den Gesang abrupt. „Terra!“, stieß sie hervor, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Schnell ballte er die Hand zur Faust, die drauf und dran gewesen war, ihr gespielt tadelnd übers Haar zu streichen. Wenn es etwas gab, was Aqua gänzlich zu fehlen schien, dann war das Egoismus. Sie versuchte immer, es allen und jedem Recht zu machen. „Woher kennst du dieses Lied?“, fragte er verwirrt. Seine Augen wollten und wollten sich nicht von ihren Lippen lösen, weshalb er deutlich das kleine verlegende Lächeln sah, das sie verzog. „Ich bitte dich. Du singst es so oft vor dich hin, dass Ven und ich schon längst alles auswendig können.“ „So?“ Das überraschte ihn. Natürlich wusste er, dass er sich von Zeit zu Zeit nicht unterstehen konnte und die Melodie laut ins Leben rief. Aber er war davon ausgegangen, zu jeder Zeit allein gewesen zu sein. Zumindest so allein, dass ihn niemand hören konnte. Er trat noch ein wenig näher, bis er genau neben ihr stand und ließ sich dann nieder, nicht ohne noch schnell einen verwunderten Blick über die Schulter zu werfen. „Ven ist zum Schloss zurückgegangen“, erklärte Aqua, die mit seiner Körpersprache bereits besser vertraut war, als mit der wörtlichen. „Er hat nichts gesagt, aber ich glaube, er trainiert lieber mit seinem ‚großen Bruder’, als nur mit mir.“ Sie lachte bei den letzten Worten und schon wieder hatte er das Bedürfnis ihr – zumindest – Worte der Aufmunterung zu schenken. Warum er es nicht einfach tat? Wenn er es doch bei Ven ohne groß nachzudenken getan hätte? Genau das war die Frage, die er sich stellte, als sie ihre unerschütterlichen Augen abwandte und sein Blick an der feinen Linie ihres Kinns hängen blieb. „Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?“ Etwas verblüfft von dem sprunghaften Themawechsel, sah sie ihn wieder an und nickte. „Ich habe dich… halb angelogen, was meine Eltern angeht. Ich weiß zwar wirklich nicht, ob sie noch leben, aber es gibt doch eine Erinnerung…“ Und plötzlich, als würde das Blau der Augen, in dem er sich sehen konnte, einen Schalter umlegen, fing er an zu erzählen. Er konnte sich nicht erklären, wieso jetzt, wieso es ihm so leicht fiel oder warum er sich nicht einmal verpflichtet fühlte, Details umzuformulieren, um dem Zuhörenden den Zwang, etwas dazu zu sagen, zu ersparen. Eigenartig. Nicht einmal dem Meister hatte er je alles erzählt. Und bis zu diesem Tag hatte er es nicht für möglich gehalten, jemals einer Person die ganze Geschichte, unverziert, anzuvertrauen. Als er geendet hatte, wich er ein wenig erschrocken Aquas Blick aus. So viel zum Thema kein Mitleid. War das nicht der Grund dafür gewesen, dass er sich so gedeckt gehalten hatte? Aber schon in der nächsten Sekunde wurde ihm klar, dass er es eigentlich besser hätte wissen können. Es war immerhin Aqua… „I will protect you, my dear And be there on your side. I’ll conquer all your fear You find me everytime inside.“ Er hielt den Atem an, während sie die Zeilen leise und beruhigend in den Wind sang. Und traf ihre Saphiraugen, als sie sich lächelnd zu ihm drehte. „Hast du es jetzt verstanden?“, flüsterte sie. „Die Bedeutung dieser Verse? Jemand, der dich nicht wollte, hätte dich nicht mit einem solchen Lied in den Schlaf gesungen.“ Terra gelang es nicht, etwas zu erwidern und seine Gesichtsmuskeln hatte er sowieso nicht mehr unter Kontrolle. Offenbar veranlasste seine Miene sie dazu, entschuldigend die Schultern zu heben. „Ich… kann es natürlich verstehen, wenn du nicht möchtest, dass ich…“ Erst als sie abbrach und Anstalten machte, sich zu erheben, begriff er, wie falsch sie seinen Blick gedeutet haben musste. Wie im Reflex griff er nach ihrem Arm und hielt sie zurück. „Würdest du… würde es dir etwas ausmachen, hier zu bleiben und noch eine Weile zu singen?“ Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht und ließ ihre Augen funkeln. „Gern.“ Und so saßen sie dort noch, bis Ven auftauchte, um sie zum Abendessen zu holen. Aber dieser Tag sollte für Terra von da an ein wichtiges Bestandteil seiner Vergangenheit werden. Ein wertvolles, unberührtes Relikt. Dieses arme Mädchen, das so eine Stärke besaß, dass es ihn nur noch mehr berührte, wie zerbrechlich ihre Hand in seiner war, die er nicht losgelassen, nachdem er sie aufgehalten hatte. Und ihre Stimme, die sich genauso wie die seiner Mutter in der Erinnerung, in sein Herz brannte. Mit zwei entscheidenden Unterschieden: So wie sie die Worte sang, konnte er endlich den Trost darin finden, von dem sie handelten. Und was er für sie zu empfinden erkannte, war eine andere Art von Zuneigung, als Freundschaft oder Mutterliebe… Als Terra Aqua am nächsten Morgen in der großen Halle entgegenkam, benahm sie sich jedoch auffällig schroff. Ohne eine Erwiderung auf sein „Morgen“, sondern nur mit einem flüchtigen Blick in seine Richtung, drehte sie sich um und verließ rasch den Saal. Er sah ihr wie vor den Kopf gestoßen nach, auch nachdem sie lange hinter der Biegung verschwunden war. Was war los? Er versuchte sich zu erinnern, wann Aqua das letzte Mal „schlechte Laune“ gehabt hatte und scheiterte kläglich. Augenblick fuhren Stiche des Schuldgefühls auf ihn nieder. Hatte er ihre stetige Unbedarftheit etwa als so selbstverständlich angesehen? In all den Jahren, die er sie schon kannte, war sie nur selten kratzbürstig gewesen und wenn hatte sie sich immer zurückgezogen, um niemanden damit zu belasten. „Du bist so ein Idiot…“, zischte er und rannte noch mit dem letzten Wort los. Er erreichte das Eingangstor, riss es auf und lief um ein Haar Ven um, der wohl gerade vorgehabt hatte, ins Schloss zurückzugehen. „Terra!“, stieß er verdutzt hervor. „Was ist denn mit dir los?“ „Wo ist Aqua?“, fragte er, als seine Augen den Platz abgesucht hatten, ohne ein Anzeichen auf ihren Verbleib zu entdecken. „Hast du das vergessen? Sie und der Meister sind heute irgendwohin unterwegs. Aber Aqua wollte mir nicht sagen, wohin genau… Hat sie dir was verraten?“ Terra erstarrte förmlich, während er Ven ungläubig ansah. „…Nein“, erwiderte er schließlich, kaum die Lippen bewegend und musste den Impuls sich selbst zu ohrfeigen, runterschlucken. Wie hatte er nur so ignorant sein können? Er hatte natürlich gewusst, dass Aqua heute gemeinsam mit dem Meister eine andere Welt aufsuchte, aber den Grund hatte er nicht erfragt. Zwar hätte sie vermutlich nicht darüber reden wollen, aber darum ging es auch nicht. „Wolltest du ihr noch was Wichtiges sagen?“, fragte Ven, den Kopf schräg legend. Terra seufzte und schloss kurz die Augen, um seine Gedanken zu ordnen. „Sie bleiben ja nicht allzu lange weg.“ Vens aufmunterndes Lächeln nahm ihm tatsächlich ein wenig von der Schwere in seiner Brust, aber völlig vertreiben konnte es die Gewissensbisse leider nicht. Ablenkung. Ja, das war es, was er jetzt brauchte. „Gehen wir trainieren?“ Der kleine Schlüsselschwertträger nickte. Aber das Kämpfen brachte nicht den gewünschten Erfolg, wie Terra nach einigen Stunden erkennen musste. Es lenkte ihn nicht von den Gedanken an Aqua ab. Und offenbar erging es Ven nicht anders. So als würde es von beiden erwartet werden und ohne, dass sie dem wirklich zugestimmt hatten, beschlossen sie den Ausgang des nächsten Duells – unentschieden. Terra strich sich das Haar zurück und traf dann auf den verdrossenen Blick seines Mitschülers. „Ohne Aqua ist es einfach nicht das gleiche“, meinte er leise, während das Schlüsselschwert mit einem Klingen aus seiner Hand verschwand. „Es macht nicht mal Spaß zu schummeln, wenn sie nicht den Schiedsrichter gibt.“ Bei seinen letzten Worten lachten beide kurz auf, aber unmittelbar danach ballte Terra wie im Reflex die Faust, da er an sein gestriges Gespräch mit Aqua denken musste. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass Ven keineswegs nur mit ihm trainieren wollte? „Terra“, setzte er unvermittelt an, während er sich auf einer der Steinsessel niederließ, die neben dem Baum standen. „Hat Aqua dir eigentlich je irgendwas von ihrer Heimat erzählt?“ Terra betrachtete die Struktur seines Schlüsselschwertes und schüttelte den Kopf, zu ruhelos um sich neben Ven zu setzen und gleichzeitig zu steif, um auf dem Trainingsplatz herumzutigern. Mit jedem Detail wuchs der Drang in ihm heran, sich für seine eigene Rücksichtslosigkeit zu schelten. „Sie ist so stark und fokussiert“, fuhr er nachdenklich fort, „aber manchmal kommt es mir so vor, sie würde sich beobachtet fühlen und…“ Hilfe suchend sah er zu Terra auf. „Es ist als wäre sie dann plötzlich nicht mehr Aqua, sondern jemand, der zwar wie Aqua aussieht, aber eigentlich eine Art Kopie ist, die…“ „Immer alles perfekt macht“, beendete er den Satz und Ven nickte zustimmend. „Das macht sie doch nie und nimmer absichtlich…“ „Nein“, stimmte Terra zu und ließ sein Schlüsselschwert verschwinden. „Ven, weißt du, warum Aqua so stark ist? Nicht nur, was den Kampf angeht, denk an alles…“ Der Junge schüttelte ratlos den Kopf, aber ihm war anzusehen, dass ihm die ein oder andere Situation im Gedächtnis aufkam. „Weil sie immer stark sein musste, bevor sie hierher kam.“ Und das dümmste an alledem war wohl, dass Terra sich dessen durchaus bewusst gewesen war, aber zu ichbezogen, um darauf näher einzugehen. Geschundene Seele… er hatte es doch in ihren Augen lesen können! Er hatte die Angst gesehen und den Willen, der sie zu überdecken versuchte. Er hatte gesehen, wie sehr sie litt und nie etwas unternommen. „Hey!“, rief Ven plötzlich und sprang auf die Beine. „Sind sie das nicht?“ Als Terra herumwirbelte, konnte er gerade noch die winzigen Umrisse des Meisters und Aqua sehen, die das Schloss betraten. Er vergewisserte sich kurz, dass Ven ihm folgte, bevor er den Bergpfad entlang hetzte, die Landschaft wie im Traum vorbeirauschend und im nächsten Moment schon durch die Tür und in der Eingangshalle war. Der Meister stand wie eine Statue mitten im Raum und entspannte sich erst ein wenig, als er Terra sah. „Wo ist Aqua?“, fragte er sofort, nach mehreren Blicken umher. Ven kam völlig außer Atem hinter ihm zum stehen. „Spazieren“, erwiderte Eraqus knapp, aber mit vielsagender Miene. „Sie wollte allein sein.“ Terra brauchte seinem Meister nicht in die Augen zu sehen, um die wirkliche Aussage in seinen Worten zu erfassen. Gesagt hatte Aqua das tatsächlich, aber das hieß noch lange nicht, dass es der Wahrheit entsprach. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und lief zurück zum Eingangstor. „Warte, Terra, ich komme mit!“, rief Ven, wurde aber von Eraqus an der Schulter zurückgehalten. Er hörte nur noch ein enttäuschtes Seufzen, dann trennte die, hinter ihm zufallende, Tür alle Geräusche ab. Es gab nur einen Ort, an dem Aqua sein konnte und den visierte er an. Vielleicht konnte manch ein Fehlverhalten nie wieder bereinigt werden, aber allein der Versuch war entscheidend. Unversucht würde sich niemals etwas ändern. Und das Regen geborene Mädchen hatte eine Veränderung mehr als verdient… Xemnas Das Gefühl kam so plötzlich, dass er zur Seite und gegen die kahle Wand stolperte, eine Hand im klammen Leder seines Mantels vergraben, dort, wo sich früher sein Herz befunden hatte, nun jedoch ein fremdes flirrte und ihn mit seinen Empfindungen zu überwältigen drohte. Als sich seine Beine wie von selbst wieder in Bewegung setzten, glaubte er, sie würden ihn erneut zum Raum des Schlafes tragen, aber das war ein Irrtum. Nach ein paar Schritten blieb Xemnas wieder stehen, streckte die Hand aus und beschwor den schwarzen Rauch eines Dunklen Korridors. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, hindurchzugehen, aber die Nacht war lang gewesen. Er war zu müde, zu erschöpft, um sich gegen die stetig heißer glühenden Gefühle zu wehren, die das Herz des Jungen überkamen. Was war das? Sehnsucht? Es musste eine sehr mächtige Emotion sein, da es dem Superior darunter kaum gelang, einen eigenen klaren Gedanken zu fassen… Mit puppenhafter Willenlosigkeit betrat er den Korridor und passierte die wohl düstersten Winkel der Gasse zum Dazwischen, sodass er recht bald erfasste, wohin es seinen Körper zog. Auch wenn ihm unerklärlich blieb, wieso. Der Boden unter seinen Füßen gab unmerklich nach und auch wenn sich in Sachen Helligkeit kaum eine Differenz zur Welt, die niemals war, ausmachen ließ, konnte Xemnas die konzentrierte Präsenz der Dunkelheit deutlich wahrnehmen. Und selbst einem Niemand wie ihm, schnürte sich dabei die Kehle zu. Wie lange mochte es her sein, dass er diesen Ort zum letzten Mal betreten hatte? Er lauschte einen Moment in die windlose Stummheit. Noch vor wenigen Augenblicken musste hier ein Kampf stattgefunden haben. Es lag der Geruch eines starken, jedoch dahin geschiedenen, Herzlosen in der Luft und… Blut. Menschliches Blut. Schon schlugen die Gefühle, wie vom Wind gepeitschte Wellen, in seinem Inneren wieder zusammen und führten ihn über die kalte Asche, hin zu einer größeren freien Fläche, die eindeutig den Schauplatz des Kampfes dargestellt hatte. Inmitten des aufgewirbelten Staubes hatte sich eine Gruppe von Schattenlurchen zusammengerottet und um eine, am Boden liegende, Gestalt versammelt. Xemnas’ Entscheidungsgewalt schien sich von hier auf jetzt in Nichts aufzulösen, so unbeherrschbar war der Sturm von Gefühlen, der über ihm hereinbrach. Er beschwor die ätherischen Klingen, war mit einem Satz am Ort des Geschehens und verwandelte alle Herzlosen mit einigen gezielten Hieben in schwarzen Dunst. Er ließ beide Klingen wieder verschwinden, ehe er sich zu dem bewusstlosen Geschöpf umdrehte. Doch allein bei ihrem Anblick, überrannten ihn noch einmal so viele heftige Eindrücke, dass er neben ihr auf die Knie fiel und ihren schlaffen Körper vorsichtig anhob. Er kannte diese Frau… hatte sie mehr als einmal in den Träumen gesehen, vor denen er zu fliehen versuchte. Das sanftblaue Haar, der weiche Schwung ihrer Lippen und die Augen. Die Augen, die niemals auswichen und die jetzt, aus Erschöpfung, geschlossen waren. Sein Blick blieb an den Verletzungen hängen, die sie gezeichnet hatten und tief in seinem Inneren konnte er den Schmerz fühlen, den das Herz Terras bei diesem Bild überkam, so als trüge er die gleichen Wunden. Der Superior wollte sich abwenden, zurück zum Schloss gehen und die Frau ihrem Schicksal überlassen, aber Terras Gefühle waren zu stark, ununterdrückbar, federführend. Kontrolle ist subjektiv… Ihm blieb nichts anderes übrig als sich zu fügen, seine Vorherrschaft über das Herz in seiner Brust schien wie ausgelöscht. Widerwillig sah er dabei zu, wie sein Körper eigenständig agierte, einen Arm um die Schultern, den anderen unter die Knie der Frau schob und den beunruhigend leichten Leib möglichst sacht aufhob. Ihre Lippen bewegten sich zitternd, ließen in ungleichmäßigen Abständen ein gehauchtes Wort heraus, das er erst mit der Zeit verstand. „Terra…“ Xemnas biss die Zähne zusammen. Wieso gelang es diesem schwachen Herzen, seinen Willen zu untergraben? Es war zuvor so mühelos verlaufen, seine Gegenwehr im Keim zu ersticken und jetzt… Er konnte erahnen, was für ein Ziel der Junge verfolgte; er hatte vor, die Frau in eine andere Welt, raus aus dem Reich der Dunkelheit, zu bringen. Ha! Damit die Organisation einen Feind mehr hatte? Das würde er zu verhindern wissen. Nach außen hin, hätte ein Zuschauer nicht bemerkt, was im Inneren des Superiors vor sich ging. Ihm wäre vielleicht das fast unsichtbare Schwanken seines sonst überdies erhabenen Gangs aufgefallen, seine hart angespannte Kiefermuskulatur oder der scharfe Blick seiner Augen, die nicht zögern würden, zu töten, wenn sie es könnten. Aber ansonsten war nichts zu entdecken. Er hielt den schmalen Körper in seinen Armen noch mit der gleichen Behutsamkeit fest, ging ohne zu zögern weiter seines Weges. Schließlich beendete eine Art Kompromiss das Kräftemessen der beiden. Er schlängelte sich zwischen einem dichten Gestrüpp aus Schattengewächsen hindurch und betrat ein offeneres Plateau, an dessen Ende eine kleine Treppe hinauf zu einem See führte. Das Bild kam ihm so irritierend bekannt vor, dass er erneut das Fadenkreuz verlor und zu einem der größeren Gewächse hinüberging, in dem sich eine winzige Höhle befand. Er ließ die Frau sacht auf den Boden gleiten und strich, wie Traum entrückt, ihr Haar aus dem Gesicht, ließ seine Fingerspitzen noch einen Moment an ihrer Wange verweilen. Erst da trafen die Zähne der Gedanken wieder auf die Haut der Gefühle und brachten ihn schlagartig zurück auf die Beine. „Genug ist genug“, knurrte der Superior, streckte die Hand aus und stürmte in den Korridor, ehe die Emotionen ihn erneut überfallen konnten. ____________________________________________ Das Kapitel ist doch sehr viel länger geworden, als geplant… (Aber cutten wäre hier nicht infrage gekommen; es sollen sieben Kapitel, wie in Rainbow, werden, darauf bestehe ich). Und so richtig zufrieden bin ich damit auch nicht. °-° Da wird sich beim Mittelteil vielleicht noch das eine oder andere verändern. Ich finde, es klingt viel zu schmalzig. XD Dass Ven ein bisschen außen vor erscheint, ist ganze Absicht. Ich meine, die drei sind keine Überwesen. Auch bei ihnen wird es hin und wieder Situationen gegeben haben, wo einer sich ausgeschlossen vorkam. Obwohl es mir um ihn wirklich Leid tut – ich mag Ven nämlich sehr gerne. ^-^ Aber er bekommt seine Rolle noch, lasst euch überraschen! Many thanks for reading! Rainblue Kapitel 4: Kontaktaufnahme -------------------------- Terra Leben. Erinnern. Kingdom Hearts… Ein Bett aus toten Blättern. Ein Junge im Spalt zwischen Schein und Wirklichkeit. Ein regenfarbenes Mädchen mit klarem Blick. Und das Licht? Es gibt kein Licht… nicht im Nichts. Das Nichts ist schwarzweiß. Es gibt keine Dunkelheit. So fühlt es sich an, ein Niemand zu sein. Ein Leben im Abseits; Ein Leben in der Unendlichkeit. In der verfluchten Ewigkeit des Nichts… Unerträglich für ein fühlendes Wesen. Ihr ertragt es, weil ihr nicht fühlt. Weil ihr genauso schwarzweiß seid, wie die Leere um euch herum. Aber in euch hallt es. Ihr hört die nachklingenden Rufe von Gefühlen. Ihr entwickelt eine eigene Art von Sehnsucht. Ich hasse euch. Aber nicht dafür, dass ihr lebt, obwohl ihr tot seid. Nein. Ich hasse euch dafür, dass ihr mich dazu zwingt, Mitleid für euch zu empfinden… Xemnas „Mitleid. So, so…“, flüsterte er und betrachtete den Glücksbringer in seiner Hand, bis es ihm so vorkam, als würde sich die Farbe vor seinen Augen wandeln. Kurzzeitig blau und dann grün werden, ehe er die Finger darum schloss und ihn zurück in die Tasche stopfte. Seit dem Ausflug ins Reich der Dunkelheit war das Herz des Jungen überraschend ruhig. Was im Grunde nur logisch war. In dieser Welt, in der Dunkelheit und Nichts so eng beieinander lagen, war es schwierig, eine Existenz aufrecht zu erhalten, besonders, wenn sie papierdünn wie diese war. Das einzige Licht, an das er sich hier noch klammern konnte, war das seiner Erinnerungen. Und die verblassten weiterhin, da sie nun einmal Teil der Existenz sind, die unaufhaltsam zersetzt wurde. Der Superior schmunzelte. Ein wenig bewunderte er den Jungen für seinen ungebrochenen Kampfgeist. Ob das noch als kühn oder schon als selbst zerstörerisch bezeichnet werden konnte? Wie auch immer, sehr lange würde es nicht mehr brauchen, bis er auch die letzten angerissenen Fäden durchtrennen und das Herz damit vernichten konnte. Einige Sekunden bevor das dumpfe Pochen an seiner Tür erklang, bemerkte Xemnas die Anwesenheit desjenigen, der klopfte und auf ein knappes „Tritt ein“ ins Zimmer kam. Er drehte sich nicht um, konnte aber anhand von Saix’ leicht hektischer Sprechweise hören, dass die Nachricht, die er überbrachte, von gewisser Dringlichkeit war. „Lord Xemnas, Nummer II hat Roxas soeben zurückgebracht. Er ist auf der heutigen Mission plötzlich ohnmächtig geworden…“ „Wo ist er jetzt?“, wollte der Superior wissen. „In seinem Zimmer, Sir.“ Xemnas hob das Kinn ein Stück und heftete den Blick auf den düsteren Himmel. Er horchte auf eine Regung von Terras Herz, aber es kam nichts. Nun, das schloss dennoch bei Weitem nicht aus, dass er nichts davon mitbekommen hatte. Mit einer schnellen, präzisen Bewegung wandte er dem Fenster den Rücken zu und glitt an Saix vorbei aus der Tür hinaus. Ohne zu zögern durchschritt er die weißen Korridore, bog an den richtigen Stellen zielsicher ab und musste nicht einmal stehen bleiben, um sich zu orientieren. Vielleicht hätte das die anderen Mitglieder der Organisation in Erstaunen versetzt. Sie sahen ihr Oberhaupt so selten durch die Gänge des Schlosses streifen, dass ihnen wohl nicht der Gedanke gekommen wäre, Xemnas würde diesen Komplex besser kennen als sie ihre eigenen Räumlichkeiten. Aber so war es. Dem Superior war jedes Detail der riesigen Festung vertraut. Saix folgte ihm auf Schritt und Tritt. In jeder anderen Situation hätte er ihm längst den Befehl erteilt, sich zurückzuziehen, da er Gesellschaft in jeglicher Form ablehnte. Aber in dieser benötigte er die Informationen, die Nummer VII über Roxas’ Bewusstlosigkeit hatte. Das Zimmer des Jungen lag allerdings nicht allzu weit entfernt. Noch bevor er die Tür erreichte, drosselte er unauffällig das Tempo und bereitete sich auf die Reaktion vor, die unweigerlich kommen würde, sobald er die Tür öffnete. Und er hatte sich nicht getäuscht. Roxas sah nicht aus wie ein menschliches Wesen, das schlief. Er war zu blass, fast durchsichtig, sodass man hätte meinen können, er wäre tot. Erst bei genauerem Hinsehen war das minimale Heben und Senken seiner schmalen Brust zu erkennen. Und Terras Herz sprang dementsprechend darauf an. Aber Xemnas war darauf vorbereitet gewesen, weshalb Saix, der neben ihm stehen blieb, nichts davon mitbekam. „Wir hatten Recht“, sagte er schlicht. „Naminé funkt bereits dazwischen.“ Xemnas löste den Blick nicht von Roxas, als er fragte: „Wird er davon aufwachen?“ Allein das Wort kam ihm ironisch vor. Als ob der Junge schlief. Wenn es so war, wie sie wussten, dann wandelte seine Seele in Traumwelten umher, die die Ruhepause des Körpers nahezu unwirksam machten. „Mir wurde gesagt, das passiert, wenn er die letzte Erinnerung an sein vormaliges Ich verliert“, erwiderte Saix schließlich. „Wir sollten nicht aufhören, Herzen zu sammeln. Xion ist mit dem Schlüsselschwert stärker geworden. Sie kann vorerst Roxas ersetzen.“ Xion. Herzen sammeln. Die für ihn eigentlich relevanteren Begriffe schienen nichts sagend an seinem Bewusstsein vorbeizurauschen. Stattdessen zeigte sich an etwas völlig anderem Interesse. „Und die Kammer? Hast du sie gefunden?“ Es war, als wäre Xemnas, genauso wie Nummer XIII, erneut im Traum gefangen. Seine Belange waren umgeschlagen. Und er kam nicht weit genug, um sich dessen bewusst zu werden. Saix zauderte einen Moment, ehe er leise antwortete. „Nein, Sir. Es geht sehr langsam voran… wenn überhaupt.“ Da Xemnas nichts erwiderte und auch sonst den Eindruck erahnen ließ, dass die Unterhaltung für ihn beendet war, wandte Saix sich ab und verließ den Raum. Der Superior rührte sich nicht, die Augen noch immer auf das ruhende und doch nicht wirklich entspannte Gesicht des Jungen gerichtet, als erwartete er, dass dieser jeden Moment die Augen aufschlagen würde oder… hoffte? „Dann hat dich also wieder der Schlaf übermannt…“ Und tief in seinem Inneren spürte er das schwache Pulsieren des Herzen, das lautlos noch ein Wort hinzufügte, bevor es wieder im seichten Nebel des Vergessens versank und Xemnas damit aus seiner Starre befreite. …Ven… Terra Die Erinnerungen entglitten ihm wie Sand, der zwischen den Fingern hindurchrieselt. Eben noch stand ihm das Gesicht des Meisters klar und deutlich vor Augen und im nächsten erkannte er es nur mit größter Mühe als das eines Bekannten wieder. Es schien dunkler um ihn geworden zu sein, auch wenn es von Anfang an nur Rabenschwärze gegeben hatte. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sich an die Wärme der Sonne zu erinnern… Farben verblassten, wurden zu grauen toten Abbildern ihrer selbst. Ohne Licht verrottet alles, verbleicht, stockt und taucht irgendwann ganz in die Dunkelheit ein. Aber es war nicht nur die Finsternis, die seine übrig gebliebenen Lebensfunken zerfetzte, es war allem voran das „Nichts“. Genauso wie Licht und Dunkelheit hatte auch dieses das Bestreben, alles, was in es hineingeriet zu seinesgleichen zu machen. Existenzen wurden zerfressen, bis sie gänzlich in Nichtigkeit vergingen… Und nirgends tat sich ein Ausgang auf. Es schien hoffnungslos. „Terra…“ Er hielt inne, versuchte, die Stimme zuzuordnen. Denn er kannte sie. Ja, er kannte sie sogar sehr gut! Langsam erhoben sich einzelne Bildfetzen vor ihm; ein kleiner schmaler Körper, wirres blondes Haar, ein Holzschwert, in dem die Gravur seines eigenen Namen prangte. Eine Hand, die sich zaghaft darum schloss, dieselbe Hand, die ein Schlüsselschwert hielt, verkehrt herum… „Ven?“, fragte er in die dichte Stille um sich herum, sodass seine Stimme mehrfach widerhallte und nur schleppend verklang. Keine Antwort. Aber Terra konnte eine zarte Veränderung der Umgebung wahrnehmen. Aus dem Schwarz wurde Grau, das mehr und mehr an Intensität gewann, bis sich allmählich Farben auffächerten. Und er selbst bestand nicht länger nur aus Stimme und Gefühl. Sein Körper, sein eigener, war zurückgekehrt. Auch wenn es nur eine Illusion war – das erkannte er recht schnell, da die Ränder seines Blickfeldes verschwammen und schlingerten wie eine Luftspiegelung. Das hier war ein Traum und doch nicht. Denn es war nicht Xemnas, der träumte. Der Niemand hatte keinen Zugang zu diesem Ort. Wie war das möglich? Er sah auf seine Füße hinab, die von dunkelgrünem Gras umgeben waren. Fast bildete er sich sogar ein, den frischen, saftigen Geruch wahrzunehmen, der davon ausging. „Ich kenne diesen Ort…“, flüsterte er, während seine Augen eine weiße Marmorbrücke streiften, einen starken Baum, einen Teich, auf dem Lotos trieb oder die goldfarbenen Gerätschaften, die einem besonderen Zweck dienten und auch den kannte er. Als er den Kopf in den Nacken legte, bot sich ihm ein samtblauer Himmel voller leuchtender Sterne dar und etwas – stammte es aus seinem Mund? – bahnte sich seinen Weg durch den Nebel der Erinnerungen. „Fragst du dich jemals, was die Sterne eigentlich sind? Woher genau das Licht kommt?“ „Hmm… na ja, es heißt…“ „Jeder Stern dort oben ist eine andere Welt.“ „Terra.“ „Ja. Kaum zu glauben, dass es da draußen noch so viele Welten außer der unseren geben soll. Das Licht sind ihre Herzen, die wie eine Million Laternen auf uns herableuchten.“ „Was? Ich kann dir nicht folgen.“ „In anderen Worten: Sie sind genau wie du, Ven.“ „Und was soll das bitte heißen?“ „Das wirst du eines Tages schon herausfinden.“ „Aber ich will es jetzt wissen.“ „Du bist noch zu jung, um es zu wissen.“ „Immer behandelst du mich wie ein Kind…!“ Terra verzog das Gesicht und presste die Augen zu, als beim Versuch, den Rest des Gesprächs hervorzurufen, nur ein unerträglich schiefes Rauschen erklang. Er atmete tief durch, ehe er die Lider wieder hob und ihn dann erblickte. War er vorher schon dort gewesen? Schon seit der Traum begonnen hatte? Zögerlich trat er auf die Steinbänke zu, die neben dem Baum aufgebaut waren. In einem davon kauerte er, die Augen geschlossen, das Gesicht friedlich wie im Tiefschlaf und doch nicht mit der Entspanntheit eines Schlafenden. Vorsichtig legte Terra eine Hand auf den kühlen Marmor des Sessels, als Vens Wimpern unversehens zuckten und er kurz darauf die Augen aufschlug. „Du bist tatsächlich gekommen…“, hauchte er, als sein benommener Blick auf Terra fiel. „Ven… wie? Wo sind wir hier?“ Er lächelte schief, aber die Bewegung schien ihm große Mühe zu bereiten. „Gute Frage. Ich glaube, das ist nur eine Erinnerung…“ „Eine Erinnerung?“ Ven ließ den Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Sessels sinken, sodass er den Sternenhimmel sehen konnte. „Alles ist im Weiß versunken, nachdem er ins Schwarz fiel. Er ist herausgekommen, aber ich bin dort geblieben. Im Weiß. Und ich finde den Weg nach draußen nicht mehr…“ „Ich… verstehe nicht“, sagte Terra und beobachtete seinen Freund besorgt. Wovon redete er da bloß? „Was du hier siehst und… was ich von dir sehe, das sind nur Bilder, an die sich unsere Herzen erinnern. Wie Spiegel, die einander reflektieren. Du hast deinen Körper, weil ich mich daran erinnere und ich habe meinen, weil du dich daran erinnerst.“ „Du meinst, unsere Herzen kommunizieren miteinander?“ Ven lächelte. „Ja, so könnte man es sagen.“ „Dann hatte ich mich nicht geirrt. Du bist der Junge!“ „Ja und nein. Mein Körper schläft noch immer im Schloss… aber mein Herz, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben ist, befindet sich in seinem Körper.“ „Und wer ist er?“ „Sora“, sagte Ven sanft und mit einem Unterton, den Terra sofort als Hoffnung erkannte. „Das heißt“, setzte er unsicher hinzu, „es ist nicht Sora selbst. Es ist… sein Niemand.“ „Ein Niemand. So wie sie alle“, fügte Terra zerknirscht hinzu. „Es ist so viel Zeit vergangen.“ Ihm schien etwas einzufallen, woraufhin er sich weiter aufzusetzen versuchte. „Weißt du, was mit Aqua geschehen ist?“ Augenblicklich spürte Terra den Schmerz wieder, den er beim Anblick ihrer Verletzungen empfunden hatte. Er presste die Lippen einmal fest aufeinander, ehe er antwortete. „Sie… ist im Reich der Dunkelheit.“ Er hörte wie Ven schluckte, wagte es aber nicht ihm in die Augen zu sehen. Was mit Aqua geschehen war, war und blieb seine Schuld. „Zweimal ist es mir gelungen, Xem… Xehanort dorthin zu bringen, aber…“ Er ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass die Sehnen am Arm hervortraten. „Ich kann so gut wie nichts tun und ich vergesse. Die ganze Zeit. Euch, den Meister, meine Heimat, alles! Irgendwann werden mir eure Namen entfallen und dann? Woran soll ich mich dann noch halten? Was soll ich nur tun?“ Seit langer Zeit, seit einer Ewigkeit, so kam es ihm vor, konnte Terra diese Gefühle endlich jemandem mitteilen. Es hätte befreiend sein können, aber er spürte mit jedem Wort nur noch mehr Verzweiflung, die auf ihn eintrat, bis er unter ihren Hieben zerbrach. Er fiel hart neben dem Sessel auf die Knie und schlug mit den Fäusten auf den Boden ein, bis Ven ihn an der Schulter berührte. Aber als er aufsah, erklang ein ohrenbetäubend lautes Dröhnen um sie herum. Er konnte erkennen, dass sich Vens Mund bewegte, verstand jedoch kein Wort von dem, was er sagte. Die Traumwelt um sie herum verwackelte, verschob sich, wie bei einem Erdbeben. Die Farben verloschen, der Sternenhimmel verdunkelte sich, die Berge, das Gras und alles andere zerfiel wie eine Ascheskulptur. Mitten in der Verwüstung hörte er nur schwach ein letztes Mal Vens Stimme, bevor es ihn zurück in die Düsternis verschlug, erneut nur ein Dasein aus Stimme und Gefühl. „Gib nicht auf, Terra. Ich weiß, dass er kommen wird. Er wird uns befreien, vertrau mir. Sora hält sein Versprechen…“ Xemnas Ein kühler Wind strich durch sein Haar und wehte einige weiße Strähnen vor die geschlossenen Lider. Xemnas blieb ungerührt, lauschte nur in die betäubende Stille des Nichts und dem unruhigen Pulsieren der Dunkelheit um ihn her. Auf der Turmspitze konnte beizeiten Wind vernommen werden, anders als in der Stadt, wo es nur gelegentlichen, bitterkalten Regen gab, der nur nach Dunkelheit schmeckte und nach Nichts… „Wir fühlen nicht…“ Nein. Keiner von ihnen. Sie alle waren Schatten, weiße Silhouetten, die wie Puppen an den Fäden ihres einstigen Herzens hingen. „Wir sollten tot sein. Aber wir sind es nicht. Nicht ganz. Und darum… nur darum, muss es einen Grund für unser ‚Dasein’ geben.“ Der Superior lachte leise und konzentrierte sich auf die Berührung des kalten Windes auf seiner Haut. „Ich kenne diesen Sinn…“ Er öffnete langsam die Augen, als er die Schwingung eines Dunklen Korridors wahrnahm, der sich einige Schritte hinter ihm bildete. Ein zweiter folgte, dann noch einer und noch einer, bis alle Mitglieder, die nicht dem Castle-Oblivion-Plan zum Opfer gefallen waren, versammelt waren. Mit Ausnahme von Nummer VII und Nummer XIII, welche jedoch dazu stießen, als Xemnas langsam das Kinn hob, um direkt auf den lichtlosen Himmel zu blicken, bevor er zu sprechen begann. „Es ist so weit.“ So lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Unzählige Stunden damit verbracht sich auf diesen einen Punkt seiner Nichtexistenz vorzubereiten. Ja, es war so weit. Er würde eine neue Tür aufstoßen und der erste sein, der den Boden dahinter betrat. Mit einem zufriedenen Grinsen hob er die Arme in die Höhe, streckte sie den blassen Umrissen entgegen, die allmählich eine Kontur erhielten, sekündlich an Sichtbarkeit gewannen… „Schaut zum Himmel!“, befahl er mit durchdringender Stimme und wusste, ohne hinzusehen, dass sämtlichen Mitgliedern der Atem entwich, als sich der weiße, herzförmige Mond materialisierte und sie in seinen trügerisch warmen Lichtschein hüllte… „Dort ist das Herz aller Herzen… Kingdom Hearts… und es scheint endlich auf uns herab.“ Erfurcht ging durch die Reihen der Niemande. Ein lebendiges Geschöpf würde beim Anblick dieser allmächtigen Bastion schon gebannt in Reverenz versinken, dem Drang widerstehen wollen, sich vor ihr auf die Knie zu werfen. Ein Wesen ohne Herz jedoch, erfuhr im Auge des Mondes etwas, dass nur sie verstehen konnten. „Seht ihr all die Herzen, die wir gesammelt haben? Herzen voller Wut, Hass, Trauer und Glück. Am Himmel steht das Versprechen einer neuen Welt“, fuhr er fort und schmunzelte, da er unmittelbar in das Licht Kingdom Hearts’ starren konnte, ohne geblendet zu werden. Sein Licht war eben doch ein anderes als jenes, das er und die anderen hinter sich gelassen hatten. Dieses Licht gehörte den Niemanden. Während er die Arme wieder neben den Körper sinken ließ, drehte er sich herum und betrachtete die gebannten Gesichter seiner Untergebenen. Seine Augen ruhten nur eine Sekunde länger auf dem von Nummer XIII, der zwar ebenso den Mond ansah wie die anderen, jedoch nicht die gleiche Faszination, nicht den gleichen Wunsch danach, diese Kraft berühren zu können, auf seinen Zügen trug. Ich hasse euch. „Meine Freunde! Erinnert euch an die Ziele der Organisation, an alles, was wir erreichen wollten“, sagte er der Superior, wieder an alle gewandt. „Die Stärke des menschlichen Herzen ist groß.“ Aber nicht dafür, dass ihr lebt, obwohl ihr tot seid. „Aber bald… werden wir Macht darüber haben.“ Er ließ nichts davon nach außen dringen. Die Gefühle des Jungen würden keinen Einfluss auf ihn nehmen. Er konnte sich nicht gegen ihn behaupten. Er war nur ein Herz. Nein. „Nie wieder…“ Ich hasse euch dafür, dass ihr mich dazu zwingt, Mitleid für euch zu empfinden… „…wird es Macht über uns haben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)