Entführung von Phase (Fünfzehnter Dezember) ================================================================================ Kapitel 1: Entführung --------------------- 15.Dezember „Wie lange wollen die uns denn noch warten lassen?“, fragte Sam ungeduldig und spielte gereizt mit seinem Taschenmesser herum, „Wir haben vor vierzehn Stunden die Lösegeldforderung herausgegeben und immer noch hat sich niemand zurückgemeldet.“ „Lass ihnen Zeit. Sie werden sich wahrscheinlich erst mit der Polizei besprechen und dann zu dem Entschluss kommen, dass die ihren Sohn nur wiedersehen werden, wenn sie uns das Geld übergeben", beschwichtigte ihn Sarah im gleichgültigen Ton. Sarah, Sam und Cindy waren seit dem Grundschulalter befreundet und hatten früh damit angefangen, kleinere Verbrechen zu begehen. Da man sie noch nie geschnappt hatte, versuchten sie sich immer wieder an größeren Untaten und so war es inzwischen soweit gekommen, dass sie den Sohn einer reichen Familie entführt hatten und nun versuchten, dessen Familie zu erpressen. Einfach nur um zu sehen, ob sie es denn konnten. Seit jeher hatten sich die Drei eine alte Lagerhalle als Unterschlupf ausgesucht, die sie ganz nach ihren Wünschen eingerichtet hatten. Die Lagerhalle hatte früher einmal Cindys Vater gehört, doch dieser benötigte sie nun nicht mehr und hatte sie deshalb seiner Tochter geschenkt, damit diese mit Freunden dort „Partys“ feiern konnte. Doch diese hatte sich für die Lagerhalle etwas ganz was anderes ausgedacht: das Hauptquartier einer Verbrecherbande. Nun, es war wahr, sie brauchten eigentlich kein Geld und die Gegenstände, die sie stahlen, lagen meist einfach nur irgendwo in der Gegend herum, aber es ging ihnen auch gar nicht darum, etwas zu stehlen, was sie brauchten, sondern um den Kick, den sie dabei erlebten, wenn sie etwas Strafbares taten. Der Sohn der reichen Familie war in diesem Fall kein anderer als Jonathan McGregor, der an einer der Wände mit Hilfe von Eisenketten, die seine Handgelenke umschlossen, festgekettet war. Seit mehr als achtzehn Stunden, ohne Essen und ohne Trinken. Sein Mund war trocken, wobei das Tuch, mit dem sie ihm den Mund verbunden hatten, das letzte bisschen Speichel in seinem Mund aufsaugte. Zudem kam hinzu, dass er furchtbar fror; es war der fünfzehnte Dezember und er saß in seinen Klamotten, ohne Mantel oder zumindest einer Decke auf dem kalten Lagerhallenboden. Seine Hände und Arme fühlten sich schwer und taub an und er war furchtbar erschöpft, zumal ihm klar war, dass seine Eltern nie und nimmer auf die Lösegeldforderung eingehen würden. Dazu war er ihnen viel zu unwichtig. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er mit sechs Jahren einmal ins Krankenhaus gekommen war und sie ihn nicht einmal besucht hatten; das Einzige, was er von ihnen gehört hatte, war ein „Gute Besserung“, das einer der Bediensteten ihm ausgerichtet hatte. Der kleine Teddybär war, wie er später erfahren hatte, auch nicht von seinen Eltern gewesen. Der Bedienstete hatte nur versucht, einen kleinen Jungen aufzumuntern, indem er ihm falsche Hoffnungen machte. Nun, inzwischen war er achtzehn Jahre alt und die Tatsache, dass ihn niemand retten würde, ließ ihn um sein Leben fürchten. Er hatte die Entführer ohne Masken gesehen. Das bedeutete, dass er wahrscheinlich so oder so getötet werden würde. Selbst wenn seine Eltern ausnahmsweise mal etwas für ihn tun sollten. „Hey du“, meinte Cindy und trat Johnny gegen sein rechtes Bein. „Lassen sich deine Eltern immer so viel Zeit?“ Er hatte nicht wirklich vorgehabt auf diese Frage zu antworten, aber Dank des Stoffes in seinem Mund war es ihm sowieso unmöglich. „Also mein Vater...“, fuhr das Mädchen fort, „Mein Vater hätte keine Minute gezögert und mich sofort aus der Gewalt der Entführer befreit.“ Na und? Sollte er doch. Seine Eltern waren nun mal anders. Ihnen war das Geld wichtiger als irgendein Leben. Schon gar nicht seines, immerhin kostete er sie ja Geld. Das bedeutete, angenommen er würde sterben, müssten sie kein Geld mehr für ihn ausgeben müssen. Also eigentlich ein klarer Vorteil für sie. Als er am Mittag des gestrigen Tages seinen Deutschkurs - den er von seinem eigenem Taschengeld finanzierte – besucht hatte, waren ihm sofort die drei Neulinge aufgefallen, die allerdings auch kein sonderliches Interesse an der deutschen Sprache gezeigt hatten, sondern eher negativ aufgefallen waren. Nach dem Kurs hatten sie ihn dann abgefangen und ihn in ein Gespräch verwickelt, das er eigentlich gar nicht hatte führen wollen; am Ende hatten alle außer ihnen das Gebäude verlassen gehabt und die Drei hatten ihn niedergeschlagen. Als er wieder aufgewacht war, hatte er sich in dieser Lagerhalle befunden und alleine die Tatsache, dass seine Entführer sehr häufig über die Uhrzeit sprachen, da sie langsam ungeduldig wurden, ließ ihn wissen, wie spät es war. Im Moment war es acht Uhr morgens und er hatte, seitdem man ihn bewusstlos geschlagen hatte, nicht wieder geschlafen. Man wusste also seit 19:00 Uhr, dass er entführt worden war; und noch immer hatte sich niemand darum gekümmert ihn irgendwie hier herauszuholen. Nun, von seinen Eltern konnte er so was wirklich nicht erwarten, aber zumindest von irgendjemand anderem. Spontan fiel ihm leider nur eine Person ein, die sich Sorgen machen und ihn nicht als Last ansehen würde; doch diese Person war etliche hundert Kilometer weit von ihm entfernt und hatte seit fast einer Woche nicht mehr auf seine Anrufe reagiert, insofern konnte er sich auch von ihr keine Hilfe erwarten. Nur langsam verstrich die Zeit und inzwischen waren es schon fast zweiundzwanzig Stunden, die er in Gefangenschaft verbracht hatte. Dass irgendjemand ihn retten würde, glaubte er inzwischen schon selbst nicht mehr. Seine Eltern hätten doch wenigstens die Polizei verständigt, oder etwa nicht? „Hey du!“, murmelte Sam gereizt und packte ihn grob am Kinn. „Kannst du mir mal bitte sagen, warum keiner sich in irgendeiner Weise dafür interessiert, dass wir dich entführt haben?“ Johnny war froh, dass er auf die Frage nicht antworten musste. Die Gespräche basierten allgemein eher auf Einseitigkeit, da ihm noch immer der Mund verbunden war. Er wusste selbst, dass er den Personen in seiner Umgebung nicht sonderlich viel wert war und er erwartete auch eigentlich gar nicht von ihnen, dass sie sich um ihn kümmerten. Bisher hatte er immer versucht sein schreckliches Leben durch Hobbys und ähnliches zu verdrängen, war viel in anderen Ländern gewesen und hatte viel für die Schule gelernt. Wahrscheinlich hatte er sich durch das Lernen erhofft Aufmerksamkeit zu bekommen, wahrscheinlich hatte er wirklich geglaubt, dass seine Eltern ihn durch gute Noten endlich einmal akzeptieren würden. Er hatte immer versucht überall der Beste zu sein, aber... Betrübt versuchte er den Gedanken zu vergessen und konzentrierte sich auf das Gespräch, das seine drei Entführer führten. Zumindest war das eine recht gute Ablenkung. „Die werden sich wohl nicht mehr melden“, murrte Cindy und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum, an dem sie und Sarah saßen. „Glaub ich auch“, stimmte Sarah ihr zu. „Und was machen wir dann mit dem?“, fragte Cindy und nickte in Johnnys Richtung, „Ich meine, einfach so freilassen geht ja wohl schlecht.“ „Überhaupt nicht“, stimme Sam zu, der neben dem Tisch auf und ab ging und ab und Johnny genervte Blicke zuwarf, „Er hat unsere Gesichter gesehen und könnte uns an die Polizei verpfeifen.“ „Hm“, Sarah runzelte nachdenklich die Stirn, „Das heißt, dass wir ihn selbst nach der Lösegeldübergabe nicht hätten freilassen können.“ „Richtig“, bestätigte Cindy und hörte mit dem Trommeln auf, „Das heißt wir bringen ihn um?“ Johnny war verwundert, wie ruhig und gelassen er diese Frage hinnahm, die über sein Leben oder seinen Tod entschied, andererseits hatte er in den letzten zweiundzwanzig Stunden festgestellt, wie wenig er doch von diesem Leben hatte und Robert war so oder so der einzige Mensch, dem er wichtig war. Und Robert würde das schon verkraften, wenn er tot war. Irgendwie. Und wenn sie ihn schon töteten, dann sicher auf eine schnelle, hoffentlich nicht allzu schmerzvolle Methode. „Wir könnten ihn auch einfach hier lassen und ihn verhungern lassen“, schlug Sarah schulterzuckend vor, woraufhin sie einen bösen Blick Cindys erntete. „Diese Halle gehört mir. Was denkst du, wird man sagen, wenn man hier plötzlich eine Leiche finden wird?“ „Hast recht“, murmelte Sarah entschuldigend, „Und was machen wir dann? Ertränken?“ Irgendwie war es schon seltsam, Leuten zuzuhören, die gerade darüber redeten, wie sie einen am besten umbrachten und dabei so sprachen, als handelte es sich nur um ein Tier. Aber so wie Johnny sich im Moment fühlte, kam ihm die Beschreibung „Tier“ fast zutreffend vor. „Das dauert zu lange und außerdem... wenn die Strömung im Fluss ungünstig ist, dann kann das die Polizei am Ende direkt zu uns führen“, erläuterte Sam seine Bedenken und blickte die beiden Mädchen abwechselnd an, „Am besten wir machen kurzen Prozess. Erschießen. Dann können wir seine Leiche dort positionieren, wo sie gefunden werden soll und dafür sorgen, dass wir keines Falls mit dem Mord in Verbindung gebracht werden.“ So würde er also sterben. Er sollte erschossen werden. Ob dieser Sam wohl schon öfter geschossen hatte? Vielleicht hatte er Glück und Sam war ein guter Schütze, dann wäre er wohl sofort tot. Angenommen er hätte noch nie geschossen und würde das Ziel verfehlen, würde ihm wohl ein recht qualvoller Tod bevorstehen. „Und woher willst du die Waffe nehmen?“, erkundigte sich Cindy und legte den Kopf etwas schief, während sie wieder begann einen Rhythmus mit ihren Fingen zu trommeln. „Glaubst du, ich gehe auf die ganzen Raubzüge ohne Waffe?“, raunzte Sam das Mädchen an und verdrehte die Augen, „Das wäre wirklich dumm.“ Als Antwort erhielt er ein kurzes Schulterzucken, doch damit gab er sich auch zufrieden. Er trat ein paar Schritte auf seinen Rucksack zu, der neben dem Tisch lag, und wühlte kurze Zeit darin herum, ehe er mit einem zufriedenem Gesichtsausdruck eine Waffe hervorholte. Johnny hatte nicht viel Ahnung von Schusswaffen, aber eigentlich war es ihm auch egal, mit welcher Waffe er am Ende erschossen wurde, tot würde er im Endeffekt immer sein. Was Johnny jedoch noch mehr wunderte, als seine fehlende Angst und Verzweiflung, war die Tatsache, dass keiner seiner drei Entführer irgendwelche Probleme mit Verbrechen hatte. Weder mit Entführung, noch mit Diebstahl oder Mord. Es war geradezu erschreckend. „Da du völlig nutzlos bist, können wir dich nicht mehr gebrauchen", erklärte Sam Johnny nochmals die Situation, doch dieser blickte ihn nur schweigend an. Er wusste, dass er nutzlos war, er wusste auch, dass man ihn nicht gebrauchen konnte. Deswegen hatte er ja keine Angst vor dem Tod. Auf diese Art und Weise konnte er immerhin dem Leben entgehen. Vielleicht würde er ja im Tod endlich seinen Frieden finden. So würde er zumindest seinen Eltern nicht mehr so sehr zur Last fallen. Sam hob die Pistole und entsicherte sie, während die beiden Mädchen interessiert zuschauten. Nun, zumindest eines war Johnny klar: wenn er schon sterben sollte, dann nicht mit Sams Gesicht vor Augen. Langsam schloss er die Augen; die Dunkelheit würde weitaus angenehmer sein als die momentane Realität. Er hörte einen lauten Knall – keine Sekunde später einen zweiten - und wartete darauf, dass es aus mit ihm war, doch anstatt des erwünschten Todes spürte er einen furchtbaren, stechenden Schmerz in seiner Schulter und er versuchte laut Aufzuschreien, doch der Knebel verhinderte es. Verzweifelt biss er die Zähne aufeinander und versuchte den Schmerz zu unterdrücken oder zumindest nicht daran zu denken. Irgendjemand rief etwas und Johnny versuchte immer noch verzweifelt sich zusammenzureisen. Er hatte sich das Sterben nie so schmerzhaft vorgestellt. Vermutlich hatte Sam nichts Lebenswichtiges erwischt. Johnny schluckte hart und spürte, wie sich jemand über ihn beugte und ihn vorsichtig an der Wange berührte und seine Tränen beiseite wischte. Das Nächste was er – neben den starken Schmerzen – wahrnahm, war die Tatsache, dass jemand das Tuch löste und er wieder freier atmen konnte. So gut er konnte, öffnete er seine Augen ein bisschen und erkannte eine Gestalt, die vor ihm lag, in einer Blutlache. Um die Gestalt standen einige Männer herum und Johnny fragte sich spontan, ob es sich wohl bei dem Toten wohl um ihn handelte, bis ihm schlagartig klar wurde, dass er immer noch gefesselt war. Er wagte es nicht, sich irgendwie zu bewegen, er hatte Angst vor größeren Schmerzen, allerdings ahnte er schon was als folgen würde, als er das Geräusch von zerreisendem Stoff wahrnahm und Kälte an seiner rechten, angeschossenen Schulter spürte, und er wurde in seiner Vermutung nicht enttäuscht. Der darauf folgende Schmerz war jedoch wesentlich schlimmer, als er ihn sich vorgestellt hatte, und er presste sich panisch an die Wand, als er laut und gequält aufschrie und panisch die Augen zukniff. „Ruhig“, murmelte eine sanfte Stimme direkt neben seinem Ohr, „Es ist alles in Ordnung...“ Johnny wusste nicht, was der Mann unter „Alles in Ordnung“ verstand und er wollte es auch gar nicht wissen. Er wusste nur, dass er starke Schmerzen hatte und selbst der Versuch die Blutung etwas zu stillen nichts daran ändern würde. Eher unbewusst versuchte er sich aufzubäumen, doch sowohl der Druck auf seiner Schulter, als auch die Handfesseln verhinderten seine Bewegung und ließen alles nur noch unerträglicher erscheinen. „Hey, hey, hey! Ganz ruhig. Ich weiß dass es weh tut, es wird gleich besser...” Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es Schwachsinn war, was der Kerl da sagte, entspannte er sich etwas. Die Stimme kam ihm vertraut vor und gab ihm irgendwie das Gefühl, in Sicherheit zu sein, aber er konnte auch nicht das Stechen und Schmerzen in seiner Schulter ignorieren. „Haben Sie endlich den Schlüssel gefunden?“, fragte die Stimme neben ihm und Johnny bemerkte wie der Stoff seines Pullovers etwas nach unten geschoben wurde. „Nein, noch nicht, wir suchen noch.“ „Das wird jetzt etwas pieksen, aber danach wird es mit den Schmerzen besser", erklärte der Mann nun an Johnny gewandt und dieser nickte leicht, von dem Einstich der Nadel spürte er jedoch gar nichts. Erst als man ihm das Medikament spritze fühlte er ein leichtes Druckgefühl, das in ihm eine plötzliche Übelkeit auslöste. „Versuch möglichst ruhig und entspannt zu bleiben. Die Wachleute haben sicher bald den Schlüssel gefunden, dann holen wir dich hier heraus...“ Mit dem bisschen Kraft, das er noch hatte, zwang Johnny sich dazu die Augen zu öffnen. „Robert...“, keuchte er erschöpft. „Scht, ganz ruhig, sei leise, spar dir deine Kraft... Du bist völlig erschöpft.“ „Robert“, wiederholte Johnny gepresst, „Was machst du hier?“ Ein Lächeln umspielte die Lippen des Deutschen. „Ist eine lange Geschichte, die werde ich dir erzählen, sobald du im Krankenhaus bist. Und nun, versuch möglichst nichts zu machen. Okay?“ Als Johnny die Augen öffnete war ihm übel; er hatte zwar keine Schmerzen mehr, aber ihm war einfach nur unheimlich schlecht. „Na, aufgewacht?“ Er wusste zwar, wer gesprochen hatte, war sich allerdings immer noch nicht so ganz sicher, ob er es sich nicht vielleicht doch nur eingebildet hatte. Das sollte ja bei kranken und erschöpften Menschen öfter vorkommen. Mühsam drehte er seinen Kopf in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte. „Hi“, murmelte er leise und versuchte sich auf Robert zu konzentrieren. „Wie fühlst du dich?“, erkundigte sich sein Gegenüber mit sanfter Stimme. Johnny hasste solche Fragen: Wenn man sagte „gut“ wusste der andere, dass man log, wenn man sagte „schlecht“ machte der andere sich nur noch größere Sorgen und angenommen man sagte gar nichts dazu, dann war sowieso klar, dass es einem schlecht ging. „Den Umständen entsprechend“, nuschelte er und Robert seufzte. „Das ist doch keine Antwort. Als ob du wüsstest, wie die Umstände sind.“ Er gab Johnny zur Strafe einen kleinen Klaps auf die Stirn, den dieser mit einem schwachen Lächeln entgegennahm. Robert strich ihm sanft über die Wange und Johnny entspannte sich etwas. „Seit wann lernst du Deutsch?“, fragte Robert neugierig und das Gesicht des Schotten färbte sich leicht rot. „Woher weißt du davon?“, murmelte Johnny leicht verstört. Den Deutschkurs hatte er bisher geheim gehalten, weil es ihm irgendwie peinlich gewesen war. „Zum einen haben die Ermittlungen der Polizei zu deinem Kurs geführt und zum anderen hast du dich in der Lagerhalle, nachdem du angeschossen worden warst, mit mir auf Deutsch unterhalten.“ Mit seiner kurzen Ausführung erinnerte Robert Johnny an alles, was geschehen war, und ehe er überhaupt über das nachdachte, was er tat, hatte sich Johnny in die Höhe gestemmt. „Hey!“, fluchte Robert und presste den jungen Schotten mit sanfter Gewalt zurück ins Bett, „Verdammt noch mal, bleib liegen!“ Kurze Zeit herrschte Schweigen. „Wie viel Uhr ist?“, erkundigte sich Johnny, wobei seine Stimme inzwischen nicht mehr ganz so erschöpft klang. „Fast dreiundzwanzig Uhr“, beantwortete Robert die Frage und musterte Johnny skeptisch. „Du hast mir nicht geantwortet. Seit wann lernst du Deutsch? Du hast mir nie davon erzählt.“ Johnny seufzte. Er hatte auch nie vorgehabt, es Robert zu erzählen, es war immerhin sein kleines Geheimnis gewesen. „Seit drei Jahren“, murmelte er kaum hörbar. Robert nickte. „Also war der zwanzigste April der Auslöser?“ Die Frage klang mehr wie eine Feststellung und deshalb beließ Johnny es auch dabei. Er wusste, dass Robert klar war, dass ihr Streit damals und die darauf folgende Versöhnung ihn zu der Idee verholfen hatten Deutsch zu lernen. Worüber sie sich genau gestritten hatten, das wusste er nicht mehr, aber es war das erste Mal gewesen, dass er sich richtig mir Robert in den Haaren gehabt hatte; und im Nachhinein hatte es ihm furchtbar Leid getan, dass er ihn angeschrieen hatte. In dem darauffolgenden, mehrstündigen Gespräch hatte Johnny Robert dann irgendwann einmal von seiner Beziehung zu seinen Eltern erzählt und er hatte dann – seiner eigenen Meinung nach völlig grundlos – angefangen zu heulen. Die Sache war ihm noch Wochen später peinlich gewesen, vor allem die Tatsache, dass Robert ihn hatte trösten müssen; indem er ihn in den Arm genommen hatte und ihm leise auf Deutsch irgendetwas zugeflüstert hatte. Seitdem hatte diese Sprache eine furchtbar beruhigende Wirkung auf ihn und er hatte wissen wollen, was Robert ihm da zugeflüstert hatte. Er wusste es immer noch nicht. „Robert?“ „Ja?“, der Deutsche blickte ihn fragend an. „Wieso bist du hier? Und woher wusstest du das von meiner Entführung?“ Roberts Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die ihm zeigte, dass er nicht so sonderlich gerne darüber redete. „Ich bin seit einer Woche in Glasgow“, begann Robert nach einer Weile mit der Erklärung, „Es gab einen interessanten Fall im Krankenhaus hier... und wie du weißt bin ich ja inzwischen Arzt.“ Johnny musterte ihn düster. „Natürlich weiß ich das.“ Es klang fast beleidigt und Robert musste lächeln. Im Gegensatz zu Johnny hatte er die Chancen, sein Abitur früher zu machen, genutzt und recht früh mit dem Studium begonnen und es fast ebenso schnell auch beendet; als einer der besten Absolventen. Und nun schickte ihn sein Krankenhaus zu Patienten mit seltenen Erkrankungen, damit er sich weiterbilden konnte. Johnny hatte jedoch gezögert und letzten Endes trotz seiner guten Noten abgelehnt. „Warum hast du nicht angerufen?“ Seufzend fuhr sich Robert mit einer Hand durchs Haar. „Ich wollte erst den Fall beenden, danach hatte ich sowieso Urlaub genommen und wäre noch etwas geblieben. Ich hatte Angst, nun ja, dass es mich ablenkt, wenn du Bescheid weißt, dass ich in der Stadt bin. Nach der Operation des Patienten und nachdem soweit alles gut aussah, hab' ich meinen Urlaub begonnen und wollte dich aufsuchen. Das Problem war, dass deine Eltern mir sagten, dass du nicht da seist.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe dann von einer besorgten Bediensteten, die mich kurz vor dem Tor abgefangen hat, erfahren, dass du entführt worden bist und dass die Entführung noch nicht der Polizei gemeldet worden sei. Nun, ohne groß darüber nachzudenken, habe ich das natürlich geglaubt und bin sofort zu Polizei marschiert, die mit den Ermittlungen begonnen hat“, ein kurzes Zögern folgte, „Deine Eltern sind wirklich seltsame Menschen." Während er das sagte, strich er dem Schotten eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann fuhr er fort: „Es hat sich dann herausgestellt, dass du das letzte Mal beim Deutschkurs gesehen worden warst. Die Kursleiterin erzählte uns von den drei Neuzugängen, die dir ein Gespräch aufgehängt hatten. Sie nannte uns Namen und Adressen und wir haben deren Eltern geprüft. Ein Vater erzählte uns, dass seine Tochter derzeit in der Lagerhalle sei, die er ihr geschenkt habe. Nun, das war dann dort, wo wir dich gefunden haben. Wir kamen gerade herein, da wollte der Kerl auf dich schießen. Einer der Polizisten hat ihn sofort ausgeschaltet, allerdings hat sich dabei ein Schuss gelöst, der dich dann erwischt hat.“ Johnny nickte nur. Er wollte nicht sprechen, konnte nicht sprechen. Obwohl er sich immer eingeredet hatte, dass seine Eltern ihn nicht retten würden, hatte er trotzdem immer gehofft, dass sie es dennoch tun würden. Er hatte gehofft, dass er sich in ihnen getäuscht hatte, aber wie es aussah, waren sie wirklich so kalt und herzlos, wie er sie schon immer eingeschätzt hatte. Es tat weh. „Hey“, murmelte Robert und streckte seine Hand nach Johnny aus, um ihm eine Träne aus dem Gesicht zu wischen, „Hey, nicht schon wieder...“, wiederholte er sich und seufzte, „Johnny, ich weiß, sie sind deine Eltern, aber... du weißt, sie werden sich nie um dich kümmern. Egal was passiert, egal wie sehr du dich anstrengst.“ Die Worte klangen vielleicht hart und gefühllos, aber Robert kannte Johnny jetzt schon lange genug, um zu wissen, dass nette Worte bei diesem Thema nichts mehr brachten und er hasste es, wenn Johnny so furchtbar hilflos wirkte. Das bedeutete nicht, dass er Johnnys Reaktion nicht nachvollziehen konnte. Ganz im Gegenteil. Er konnte sich vorstellen, wie Johnny sich wohl fühlen musste, aber die Tatsache, dass Johnny immer mehr in seiner Verzweiflung versank, machte ihm langsam aber sicher Angst. Seufzend beugte sich Robert über Johnny. „Ich habe mit der Polizei gesprochen und auch mit ein paar anderen Leuten.“ „Worüber?“ Robert schnaubte. „Glaubst du wirklich ich lasse dich noch länger bei diesen Leuten? Du bist ihnen völlig egal. Am Ende bist du noch so verzweifelt, dass du Selbstmord begehst oder irgendeine andere Dummheit anstellst.“ Johnny schwieg. Er wollte es nicht unbedingt laut vor Robert zugeben, aber er hatte schon oft über die Möglichkeit des Selbstmordes nachgedacht. „Willst du in Schottland bleiben?“, erkundigte sich Robert mit sanfter Stimme doch Johnny reagierte nur, indem er ihn verwirrt anblinzelte. „Du könntest mit mir nach Deutschland kommen, dann wäre ich mir wenigstens immer sicher, dass du in Ordnung bist. Wenn du so weit weg bist, dann habe ich immer das Gefühl, dass du irgendwas anstellst.“ „Ich soll nach Deutschland ziehen?“, fragte Johnny etwas dümmlich und Robert lächelte ihn freundlich an. „Nein, du sollst zu mir ziehen.“ ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)