Schaudern von Perlenstaub (Eine Kurzgeschichte.) ================================================================================ Kapitel 1: Schaudern -------------------- Träume eines endlosen Falls plündern Harrys Geist. Das Geräusch von lachenden Kindern echot um ihn als er stürzt. Sie fordern seine Existenz, sein warmes Blut. Harry erwacht jede Nacht, schweißgebadet, sein Kissen tränengetränkt. Er fragt sich, ob er er seinem Unterbewusstsein erliegen und sterben sollte, denn immerhin herrscht die Dunkelheit in beiden Welten, er unlebt sich in beiden Welten. Das flackernde Licht des Zuges beleuchtet den Tod in all ihren Gesichtern. Sind diese Leute tatsächlich am Leben? Als der überfüllte Zug durch den dunklen Untergrund gleitet, fühlt sich der ständige Aufprall beim Zusammentreffen der Gleise wie ein Herzschlag an, schneller werdend wenn er unbarmherzig dahin rattert, sterbend, wenn er anhält um die Passagiere herauszulassen. Harry ist ein Teil dieses Schwarms, erdrückt von den menschlichen Statuen. Er ist ein junger Mann, aber die dunklen Ringe, die unter seinen Augen liegen, lassen ihn älter wirken. Das Herz schlägt nun schnell, ins Zentrum, und alle Leute starren vor mit verklärten Augen. Verschmierter roter Lippenstift, fünf Uhr Schatten, abgestandenes Parfum und gerötete Augen füllen den Waggon. Harrys Augen glänzen als er die Fremden ansieht, von denen er sich wünscht, sie würden auftauen und warm werden und ihm sagen, dass dieses Leben lebenswert ist. Man sieht sich nicht gegenseitig in die Augen; die winzigen Farbflecken in ihrer Iris richten sich nie auf die eines Anderen, und wenn sie es doch tun, geschieht dies aus Zufall und man sieht schnell weg und versucht mit aller Kraft, die vom Rest des Tages übrig ist, dem Drang, zurückzuschauen, zu widerstehen. Fremde stoßen ihre Knie in der Hektik und erschaudern. Hundert verschwitzte Hände vereinigen sich zu einem schmutzigen Pol und formen eine wunderschöne, vertikale Linie von heller Haut, dunkler Haut, Falten, großen Fingern, kleinen Fingern. Die Hände berühren sich beinahe, doch ihre Besitzer geben Acht darauf, das Fleisch nicht zu überlappen. Harry sieht das eisige Blut durch ihre Adern fließen, die Bitterkeit in ihren ernsten Gesichtern. Noch fließt warmes Blut durch diesen Körper, doch seine Venen erscheinen schon arktisch. Nicht mehr lange. Harry schaut hinab vom Waggon und beobachtet die wackelige Welt durch die zerkratzten Scheiben, die Waggons trennend, als ob man in einen Spiegel blicken würde. Jene Welt ist identisch zu dieser. Dieselben Gesichter, dieselben Berufe, dieselben Leben. Harry denkt sogar, er sieht sich selbst. Der Herzschlag verlangsamt sich nun, das Geschrei beginnt. Die Türen öffnen sich und Harry sieht, wie die Körper fliehen, wie sie ihn allein lassen, allein mit diesen pulsierenden Leuchtstoffröhren. Henry geht in seine Wohnung und in seinen dunklen Raum, und zerbröselt ins Bett. Er zieht die Bettdecke über seinen Kopf. Außerhalb der Fünf-Etagen-Wohnung mit nur einem Zimmer, draußen in der Ferne, vorbei an allen anderen grauen Wohnungen, stehen noch Bäume, seelenlos in einem kleinen Feld. Sie sind anämisch. Harry liegt unter der Decke mit offenen Augen, mit langen Armen formt er daraus ein kleines Zelt. Der letzte Hauch von Licht kreiert ein weißes Leuchten im Raum, und Harry denkt zurück, als er als kleiner Junge in seinem Kämmerchen spielte. Er würde vor sich hin summen, die weißen Decken zu Möbelstücken formen und mit Hilfe von Wäscheklammern zusammenhalten, und vollkommen irritiert sein wenn eine der Wäscheklammern lose würde und eine Decke zum Einsturz brächte, zu viel Licht einlassend. Er betrachtete Bilderbücher und tat so, als befände er sich in einer Höhle in einer imaginären Welt. Seine Mutter würde ihn in seiner warmen Höhle schlafen lassen, und er würde davon träumen, auf dem Rücken eines Adlers zu fliegen. Nun denkt Harry an seine erste Liebe. Er erinnert sich an ihre braunen Locken, ihr sanftes, blasses Gesicht. Er weiß noch immer, wie ihre Haut roch. Seine weichen siebzehn Jahre alten Lippen würden ihren Nacken küssen, seine Nase würde stets dieselben Gerüche wahrnehmen: süßlich und ein bisschen so wie Erde. Er lag oft für lange Zeit neben ihr und sog ihren Geruch ein. Die beiden würden kichern und das, was unter den Decken lag, erforschen, ihr Atem verschmelzen. Sie flüsterten davon, niemals erwachsen zu werden und sich für immer zu lieben. Womöglich hätten sie dies getan, hätten ihr ihre Mutter und ihre Freundinnen nicht geraten, erwachsen zu werden. Als sie schließlich aufgab und ihre Jugend verlor ließ sie Harry und die Liebe zurück, und nach ein paar Monaten mit schmerzender Brust beschloss auch Harry, erwachsen zu werden. Und nun liegt er hier, allein, unter seiner Decke. Er kickt sie von sich weg und sucht sich einen schwarzen Anzug für den Abend heraus. Er fährt sich mit den Händen durch seine braunen, zerzausten Haaren, leckt über seine aufgesprungenen Lippen und begibt sich zur Haustür. „Harry!“, ruft die junge Frau gegenüber des großen, von Getratsche erfülltem Restaurant. Harry sieht wie sein Rendezvous seinen langen Mantel dem Herren an der Tür reicht. Sie ist ziemlich attraktiv. Ihre Beine sind lang und schlank, ihre hellbraunen Locken scheinen im Licht des Restaurants genauso wie jene seiner ersten Liebe zu Sonnenuntergang, doch ihre Augen sind zu weit geöffnet, zu ungeduldig. Harry erhebt sich von seinem Stuhl und denkt daran, wie das blaue Cocktailkleid und das gelungene Make-Up umsonst sein würden. „Alexa, du siehst bezaubernd aus“, sagt Harry als er ihren Stuhl heranrückt. Er ist darauf bedacht, dass sein Gesichtsausdruck nicht allzu böse erscheint, als sie sich dem Tisch nähert. Sie machen Scherze. Wie glücklich es Alexa macht, mit Harry Abend zu essen, wie erfolgreich Harry in seinem Beruf ist, wie gut der Jahresbericht aussieht, wie toll es ist, dass Alexa bald befördert wird, wie sehr sich Harry eine neue Ledercouch in seinem Büro wünscht. Nun bemerkt Harry ihre dünnen Lippen, und dass ihre Augen zu weit auseinander stehen. Der Kellner schenkt den teuren Rotwein ein und ihre Augen weiten sich nur noch mehr. Sie prosten einander zu - auf den Erfolg! - doch in Wahrheit prostet Harry auf die Herzlichkeit, während er darauf wartet, dass Alexa ihren ersten Schluck nimmt. Sie sieht Harry mit Zuneigung an, und er versucht, ihren Blick nachzuahmen. Sie glaubt ihm. Kurz berührt sie Harrys Hand und sagt, wie gutaussehend er doch ist. Harry wird nicht rot, es ist kein Kompliment. Gut auszusehen bringt ihm weder Glück noch Wert; es erinnert ihn bloß daran, dass sein Gesicht nun das eines Erwachsenen ist und das seine Kindheit endgültig vorüber ist. Und mit ihr Zärtlichkeit und Einfachheit. Harry führt sich das kristallene Glas zu seinem Mund und schließt die Augen. Er schluckt den Wein wie Wasser, hoffend, dass dieses missratene Elixier ihn zurück in eine Gebärmutter transportieren kann, mit der Hoffnung auf Wiedergeburt - doch als er die Augen öffnet, sieht er nur Alexas Gesicht. Er leckt über seinen Zeigefinger und fährt damit über den Rand des Weinglases. Ein schrilles Geräusch füllt den Raum, vermischt sich mit der klassischen Musik des Restaurants. Dieses Geräusch klingt in Harrys Ohren so wunderschön. Es ertrinkt all die bedeutungslosen, stumpfen Stimmen. Gedanken darüber, dass er am Morgen aufstehen, sich duschen, seinen Anzug anziehen, den Zug zur Arbeit nehmen, in seinem Büro sitzen und Fremde manipulieren, stumpfsinnige Frauen ausführen und mit ihnen schlafen und schlafen aber doch niemals richtig ruhen wird, und dies Tag für Tag. Er umkreist und umkreist das Weinglas, gelähmt von dessen Gesang. „Harry!“, meint Alexa und blickt auf die Karte. „Könntest du aufhören? Dieses Geräusch irritiert mich, außerdem müssen wir bestellen.“ Sie machen ihre Bestellungen und Alexa beginnt erneut, über Geld zu sprechen, über die Arbeit - aber Harry driftet hinfort und denkt daran zurück, als er noch ein Kind war; er muss lächeln wenn er daran denkt, wie leicht sein vier Jahre altes Ich Freunde gewinnen konnte. Blicke unter Wimpern wurden zu Lächeln und unschuldigen Vorstellungen. Mit hoher Stimme würde er seinem neuen Freund vorsichtig verraten, wie alt er war, natürlich immer darauf bedacht, Halb- und Vierteljahre mit ein zu bauen. Sein neuer Freund würde ihn bei der Hand packen, egal ob Junge oder Mädchen, und mit in fremde Welten ziehen, die von Farben, Gerüchen, Formen und Größen beherrscht wird. Niemals würden sie daran denken, dass sie einmal erwachsen werden müssten und ihre Herzen sterben würden. Harry denkt daran, wie er - in der Badewanne sitzend - mit seinen Spielzeugen sprechen würde, was keinem Zuseher jemals Sinn gemacht hätte, doch ihm selbst durchaus verständlich war. Gegrunze und Gekreische waren Musik für ihn, als er dort im Wasser, das nach einer Weile kalt und oft auch ein wenig gelb wurde, saß und spielte. Nie machte er sich über die aufgequollene Haut seiner Finger Gedanken. Die sanfte Brust seiner Mutter war der sicherste Platz. Er erinnert sich an ihren Herzschlag, und daran, wie sich ihre Stimme anhörte, wenn sie mit ihm schimpfte. Das Schreien eines Kindes befördert Harry zurück in die Realität. Alexa dreht sich nach dem schreienden Kind um, das seine kleinen Arme weit ausstreckt. „Die Mutter muss ihr Kind kontrollieren“, jammert Alexa und verzieht ihr Gesicht zu einer abscheulichen Fratze. Blut sammelt sich in den Wangen der Mutter des kreischenden Jungens, als die Restaurantgäste ihre Köpfe nach dem Störfaktor wenden. Harry lächelt aufrichtig als sie ihren Sohn beruhigen will. Nun sieht er Alexa in die Augen. Schwarzes Eis quält seinen Körper. Er träumt vom Gefühl wenn die Sonne durch das Schlafzimmerfenster scheint, sein Gesicht wärmend, ihn in eine Bewusstlosigkeit stürzend. Seine müden Muskeln gehorchen nicht länger und Harry fällt zu Boden. Er betrachtet die glitzernde, weiße Decke des Restaurants und öffnet seinen Mund weit. Ein Schrei entflieht seiner Kehle. Harrys Arme dreschen wild um sich, und er krümmt sich am Boden. Er schreit wegen der Einsamkeit, und weil er diese Stadt so sehr hasst, genauso wie sein monotones Leben. Schmale Augen stieren den erwachsenen Mann an, der schreiend am Boden liegt. Harry erhebt sich mühsam und brüllt in Alexas gedemütigtes Gesicht: „ICH WERDE DICH NIEMALS LIEBEN! Verstehst du das nicht? Ich werde deine Haut niemals mit Zärtlichkeit berühren, oder glücklich neben dir einschlafen. Es sind solche Menschen wie du, die mich zum Schaudern bringen! Du bist all das, was ich verabscheue!“ Harry dreht sich um und rennt durch das volle Restaurant, hinaus in die Kälte. „---Harry, noch etwas Wein?“ Harrys Augen fokussieren schließlich, hinaus aus diesem Tagtraum. Roter Wein rinnt in sein leeres Glas. Regentropfen fallen von einem launischen, grauen Himmel auf ein karges Feld. Die Morgendämmerung scheint zu erschaudern und kreiert eine eisige, taubenetzte Oberfläche auf der Erde. Harry erwacht auf Grund Alexas Schnarchen. Ihre blanken Brüste sind entblößt, ihr Kopf ist nach hinten gekippt, ihr Mund ist weit offen. Harrys nackter Körper durchfährt ein eisiges Zittern als er an die vergangene Nacht denkt. Er steigt aus dem Bett und geht leise in das Wohnzimmer, vorsichtig, denn er möchte Alexa nicht wecken. Er starrt den dunklen Mann vor ihm an, den er durch die Spiegelung der Glastüre, die zum kleinen Balkon führt, sieht. Eisige Luft saust durch seinen Hals als er die Türe öffnet. Harry lehnt sich über die Brüstung. Er kann das Lachen der Kinder einige Meter unter sich hören, das ihn verführen zu scheint - er solle sich seinen Träumen, zu fallen, ergeben. Durch was unterscheiden sich Leben und Tod wenn sich jemand tot fühlt, aber lebt? Leben ist Tod, denkt er. Vielleicht bedeutet dies, dass Tod auch Leben ist, dass er Sonnenlicht bedeutet und Hoffnung beinhaltet. Oder womöglich ist Tod schlicht und einfach Tod, und Leben ist ebenso Tod, und wir tun ganz einfach so, als würden wir im ,Leben‘ leben, und Tod ist der Zeitpunkt, an dem wir ganz einfach loslassen und sein können. Doch wieso blühen Blumen im Frühling, wieso gibt es Babys wenn das Leben doch nicht wirklich Leben ist? Harrys Haare und Wimpern sind benetzt mit reinen Regentropfen. Er schließt die Augen. Ein Seufzen entkommt seiner Kehle und Harry tritt von der Brüstung zurück. Er geht zurück in sein Schlafzimmer, zu seinem Leben. Er wird leben, was auch immer und wo auch immer dies ist, und so tun, als sei er glücklich; so tun, als würde er nicht vom Tod träumen, und all das nachahmen, was sie Alle tun. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)