Das Vermächtnis des Kain von astala7 (Vergessene Magie) ================================================================================ Kapitel 5: Zwielichtige Stunden ------------------------------- Sirius war überhaupt nicht begeistert von Harrys neuen Haustieren. Für ihn waren Schlangen das Symbol Slytherins, schlimmer noch, Voldemorts. Dass Harry ein Parselmund war, schockte ihn und Harry war von seiner Reaktion so verletzt und enttäuscht, dass er einfach aus dem Raum stürmte, obwohl er eigentlich noch drei Stunden Unterricht bei seinem Paten gehabt hätte. Es war abends um halb neun, als Sirius Harry am Waldrand, der Grenze der Schutzzauber des Hauptquartiers fand. Der Junge wischte sich eilig die Tränen aus den Augenwinkeln, als er die Anwesenheit des Ex-Sträflings spürte. „Harry, es tut mir Leid“, begann Sirius mit ernsthafter Reue, „das war dumm von mir. Ich sollte es besser wissen, als auf Vorurteile zu hören.“ „Das Schlimmste ist“, sagte Harry mit einem unterdrückten Schluchzer, „dass du ja vielleicht sogar Recht hast. Glaubst du, ich merke nicht, was hier passiert? Die erziehen mich zu einem Killer. Zu einem zweiten Voldemort, wenn ich nicht aufpasse.“ Sirius erschrak. „Sowas darfst du nicht einmal denken!“, rief er aus. Dann setzte er sich zu seinem Patensohn ins Gras und, nach kurzem Zögern, umarmte ihn. „Du bist kein bisschen wie… wie…“, nur mit Mühe brachte er das Wort heraus, „wie Voldemort…“ Harry sah ihn überrascht an. Er wusste, wie schwer es vielen fiel, diesen Namen auszusprechen. „Aber es ist doch wahr“, murmelte er dann, „ich bin ein Vampir, ich habe zwei Möchtegernbasilisken als Haustiere, ich lerne mit Schwertern zu kämpfen und mich mit allen möglichen dunklen Flüchen gegen Todesser zu verteidigen und mein Pate ist ein gesuchter Massenmörder, der aus dem am besten gesicherten Gefängnis Englands ausgebrochen ist.“ „Hey“, meinte Sirius scherzhaft, „das Letzte nehm’ ich dir übel!“ Harry gab einen Laut zwischen Lachen und Weinen von sich. „Nein, ehrlich Harry, überleg doch mal: Du-weißt-schon-wer ist kein übernatürliches Wesen, sondern einfach nur ein Mensch: Ein durchgeknallter Irrer, aber trotzdem noch ein Mensch. Schlangen hält er sich nicht wirklich als Haustiere und seine dunklen Flüche benutzt er auch nicht zur Verteidigung. Du brauchst wirklich keine Angst haben, dass du so wirst wie er“, belehrte ihn Sirius ernst. „Ich weiß ja, dass du’s verstehst. Aber die Anderen werden nicht so reagieren. Wenn ich hier je wieder rauskommen, dann werden alle nur noch eine dunkle Kreatur in mir sehen.“ „Selbst wenn das passiert – du wirst sie vom Gegenteil überzeugen. Und zur Not hast du immer noch mich. Und Luca und die Veela und überhaupt, der ganze Zirkel steht hinter dir.“ Sirius stand auf und klopfte Harry auf die Schulter. „So, was hältst du jetzt davon, wenn ich dir den Revolvero beibringe? Der rollt deinem Gegner die Augen so, dass er in seinen eigenen Kopf reinguckt. Sieht ziemlich lustig aus.“ Harry lachte und erhob sich ebenfalls. „In Ordnung.“ Die Stunden Zauberunterricht, wie Harry sie nannte, vergingen wie im Flug. Neben dem Revolvero übten sie alle möglichen Klammerflüche, Silencio und Expelliarmus. Am Ende zeigte Sirius seinem Patensohn sogar den Stupor, der zum kleinen Einmaleins des Duells gehörte. Um Mitternacht herum hatte Harry seine erste Stunde Heilen. Dazu ging er in den Wald, der hinter dem Hauptquartier lag. „Gute Mittnacht“, wünschte ihm Cale, als Harry die ersten Bäume erreicht hatte. Der grauhaarige Junge trug dieselben abgetragenen Klamotten wie vor ein paar Tagen, nur waren sie diesmal etwas schmutziger. Aber sein Lächeln war freundlich. „Wir werden heute zusammen in den Wald gehen, damit ich dir die Heilkräuter zeigen kann, die in europäischen Wäldern am häufigsten vorkommen“, erklärte der Werwolf und winkte ihn zu sich. Harry hatte Zaubertränke immer ätzend gefunden und auch Kräuterkunde war nicht unbedingt sein Lieblingsfach gewesen. Aber mit Cale war es anders. Der ältere Junge hatte ganz offensichtlich eine große Liebe zur Natur und sprach fast zärtlich von den vielfältigen Wirkungen der Pflanzen. Es war ein friedlicher Spaziergang in der Nacht. Obwohl Harry mit seinem neuen Körper schon eine hohe Selbstheilung hatte, hörte er gebannt zu, denn immerhin könnte dieses Wissen einem seinen Freunden das Leben retten. Am Morgen hatte Harry schließlich noch ein Treffen mit Luca, der ihm beibrachte, seine Brasil-Basilisken zu melken. Deren Anschaffung war ziemlich teuer gewesen, weshalb Harry den Auftrag bekam, ihnen einmal täglich Gift abzuzapfen, das dann auf dem Schwarzmarkt verkauft werden konnte. Außerdem zeigte der Vampir ihm eine für die Tiere schmerzlose Variante, Blut abzunehmen, bei dem die Schlangen sich nur selbst auf die Zunge bissen. Da das ja auch mal so vorkommen konnte, heilte die Zunge bei den magischen Schlangen sehr schnell und gegen ihr Gift waren sie natürlich auch immun. Wenn Harry einmal alle drei Tage einen Tropfen ihres Blutes trank, konnte er sich fast ausschließlich von Tierblut ernähren und fühlte sich trotzdem so frisch, als würde er von Menschen trinken. Die Erziehung von Sodom und Gomorrha war leichter als anfangs gedacht. Harry, der seine Hedwig vermisste, die Sirius auf der Flucht freigelassen hatte, genoss die Gesellschaft seiner Haustiere. Vor dem Schlafengehen erzählte er ihnen von seinem Tag und wann immer er frei hatte, ließ er sie im Innenhof frei. Ansonsten blieben sie in dem großen Terrarium, dass er in seinem Zimmer im Gästehaus aufgebaut hatte. Bald schon aber wurde es ihnen dort zu eng und sie bettelten immer darum, dass er sie mitnahm. Dann schlang sich Sodom um seinen Hals und Gomorrha wand sich um seinen linken Arm, beide Schlangen verdeckt von dem weiten Wolfshaarmantel. In ihrem Training mit Solom lernten die Basilisken schnell, sich in ein Schwert zu verwandeln – beziehungsweise in kleine Brotmesser. Sie hatten ihre ganz eigene Magie, doch egal wie sehr sie Harry zu erklären versuchten, wie sie diese mit dem Zauber, der auf ihnen lag, koppelten: Er verstand es einfach nicht. Irgendwie mussten sie ihren Energiefluss manipulieren. Wenn sie sich verwandelten, schienen ihre grünen Schuppen plötzlich Wellen zu schlagen, ihre Körper wurden dünner und dünner, wechselten die Farbe und wurden schließlich zu silbernen Klingen mit einem Griff, der mit Schlangenleder umwickelt zu sein schien und sich perfekt in Harrys Hand einfügte. Aber die Schlangen wuchsen rasch, je mehr Mäuse und Kaninchen Harry ihnen von seinen Ausflügen in den Wald mitbrachte, sodass sie bald schon die Länge eines Paars scharfer Dolche hatten. Cale half ihm öfters beim Fangen der Kleintiere und auch Gomora gesellte sich ab und an zu ihnen. Die beiden Veela-Geschwister fanden es zwar nicht gerade lustig, dass Harry seine Basilisken Sodom und Gomorrha genannt hatte, so wie die beiden sündigen, biblischen Städte, die von Todesengeln vernichtet worden waren. Aber da er der Einzige im ganzen Hauptquartier war, der Soloms und Gomoras Namen richtig aussprach – alle anderen wussten es nicht besser, oder ärgerten die beiden absichtlich - verziehen sie ihm dieses Wortspiel. Harry konnte sich nicht vorstellen, dass niemand ihre echten Namen kannte, denn so korrigierten ja auch alle ständig. Wahrscheinlich war es so eine Art interner Scherz, den alle mit ihnen trieben. Der Unterricht mit Sirius machte trotz allem den meisten Spaß. Harry lernte hundert kleine Flüche und Hexereien, mit denen er vielleicht nicht gerade Todesser besiegen, wohl aber Malfoy hätte in die Flucht schlagen können. Weil in ganz England tausende Dementoren unterwegs auf der Suche nach Sirius waren, hatte Sirius lange Tage mit dem Erlernen des Patronus-Zaubers verwendet, den er jetzt auch Harry beizubringen versuchte. Für Harry aber blieb der wochenlang nur ein unförmiger Nebel und auch Sirius brachte keine gestaltlichen Patronus hervor. Außerdem Spontanentzündungszauber und die Beschwörung von Waffen – oder seinen Basilisken. Sirius erwähnte nie, was er mal von Beruf aus gemacht hatte, aber Harry vermutete, dass er Auror gewesen war. Wer so viele Kampf- und Verteidigungszauber kannte, wäre doch perfekt für diesen Job. Allerdings waren einige der Flüche, die er lernte, auch ziemlich dunkel. Als Harry seinen Paten danach frage, gestand er, dass er aus einer alten, reinblütigen Slytherin-Familie stammte, von der er sich vor langer Zeit abgewandt hatte. Neben Angriffs- und Verteidigungszaubern lernte Harry aber auch einiges über dunkle Kreaturen. Bald beherrschte er Desillusionierungszauber und regelmäßig flog er mit Sirius, der sich einen alten Besen aus dem Vampirbesitz geliehen hatte, über die Dächer des Hauptquartiers. Einmal gesellten sich sogar die Veela zu ihnen und sie spielten Quidditch im Wald, mit den Baumkronen als Toren. Da sie nur zu viert waren, konnten sie natürlich nur mit je zwei Jägern und einem Lederball spielen, aber es machte trotzdem Spaß. Sirius trainierte und lernte ungefähr vier Stunden am Tag mit ihm, weitere sechs musste er mit Solom verbringen. Einmal fragte Harry, was sein Pate den Rest der Zeit über trieb und war ziemlich besorgt, als er erfuhr, dass er in seiner Animagus-Gestalt für den Zirkel Informationen sammelte. Meist ging es um magische Gegenstände oder das Aufspüren von Personen, auf die eine Belohnung ausgesetzt war. Manchmal ging er auch auf die Jagd nach seltenen magischen Tieren oder Pflanzen, die man verkaufen konnte. Bei weitem nicht alles, mit dem der Zirkel sich finanzierte, war legal, aber das war nötig, damit sie sich überhaupt über Wasser halten konnten. Einmal nahm Sirius Harry, Solom, Gomora und Cale mit in das Haus seiner Eltern, um es auszumisten und halbwegs bewohnbar zu machen. Dabei lief Sirius die ganze Zeit über mit einem Gesichtsausdruck herum, als würde er das Haus am liebsten anzünden. Harry fand es wunderbar, wenn er an die vage Möglichkeit dachte, eines Tages, wenn sie Sirius’ Namen gereinigt hatten, hier in diesem hochmagischen Haus am Grimmauldplatz mit seinem Paten zu leben. In der Zwischenzeit lernte er eine Menge über Gegenflüche und das Heilen von magischen Wunden, denn einige der Gegenstände dort waren wirklich gefährlich. Da war zum Beispiel dieser eine Kerzenleuchter, der Gomoras Umhang in Brand setzte. Oder die Tabakdose, die Cale verschluckte und ihn erst nach sechs Stunden wieder ausspuckte, als die anderen schon das ganze Haus nach ihm durchsucht hatten. Am grässlichsten aber war der Irrwicht aus dem Wandschrank, der Sirius absolut fertig machte. Harry musste eine halbe Stunde auf seinen Paten einreden, bis er ihm glaubte, dass James Potter ihm niemals die Schuld an seinem und Lilys Tod geben würde. Sirius’ Laune besserte sich jedoch schlagartig gegen Ende der Mission, als er einen weiteren abgetrennten Kopf in die lange Reihe von toten Hauselfen hing. „Kreacher“, stand in krakeliger Schrift unter dem bizarren Wandschmuck. Als Harry zusammen mit Solom das Haus verließ, nahm er einen intensiven Blutgeruch an dem Veela wahr. Das Training mit Solom war überhaupt noch viel seltsamer als das mit Sirius. Der Weißhaarige erwartete tatsächlich von ihm, dass er ohne Zauberstab zauberte. Er sollte senkrecht die Wände hochgehen und sich selbst in jemand anderes verwandeln. Das bekam er nicht einmal mit Zauberstab hin! „Deshalb brauchst du ihn ja auch nicht“, meinte Solom, als er ihm das vorhielt. „Du bist ein Vampir. Hör auf an die Gesetze der Menschenmagie zu glauben – oder gar an die der Physik. Vampire können sich vielleicht nicht in irgendwelche Tiere verwandeln, wie in den Legenden, aber ein gewisses Talent zum Gestaltwandeln haben sie durchaus.“ Aber es funktionierte. Aus irgendeinem verrückten Grund machten Soloms Lehren irgendwann Sinn für ihn und am Ende des Monats konnte Harry sich ohne Vielsafttrank in Sirius verwandeln. Von diesem Erfolg war er so begeistert, dass er seinen Paten bat, ihm zu zeigen, wie man Animagi wurde. Sirius meinte, dazu wäre ein Trank, viele Zaubersprüche und eine Menge Konzentration nötig, aber er würde sein Möglichstes tun, alles zu besorgen. Von der Idee, Harry könnte es den Rumtreibern gleichtun, war er jedenfalls hellauf begeistert. Wenn Harry nicht trainierte oder lernte, hing er in Luca’s Disco herum. Dort unterhielt er sich mit vielen jungen Werwölfen und Vampiren. Er traf sich auch regelmäßig einfach zu einem freundschaftlichen Abend mit Cale, der ihn mit Heilmitteln versorgte. Als Vampir war Harry nämlich alles andere als unverwundbar. Im Gegenteil. Soloms Training endete regelmäßig mit einem Zweikampf mit ihm oder Gomora, den er genauso regelmäßig verlor, obwohl er seinen Zauberstab benutzen durfte. Um die Mittagszeit fiel er immer todmüde in sein Bett in dem kleinen Gästehaus, das er sich nach wie vor mit Cale teilte – nur dass sie sich nie dort trafen, weil der junge Werwolf genau die Stunden schlafend verbrachte, in denen Harry draußen und in Höchstform war, auch wenn sein Tag viel später begann und aufhörte, als bei normalen Menschen. Als der erste Monat um war, nahm Luca ihn zum ersten Mal mit auf die Jagd. Sein Vampirmeister holte ihn um Mitternacht von seinem Training mit Solom ab und führte ihn in die Wälder. Harry hatte seinen Zauberstab mitgenommen, obwohl es ihm verboten war, ihn zu benutzen. Das Ministerium würde sonst wissen, wo er war, wenn er sich nicht hinter den Sicherheitszaubern des Hauptquartiers verbarg. Harry hatte seit einer Woche nichts mehr getrunken, um sich hierauf vorzubereiten – immerhin wollten sie den Ernstfall proben - und obwohl die Nacht klar und der Wald frisch war, schmeckte die Luft schrecklich abgestanden. „Spüre den Wind“, wies ihn Luca an, „schmecke ihn. Riechst du etwas?“ „Ich rieche alles“, wollte Harry sagen. Das Laub der Bäume. Das Moos an ihren Stämmen. Die feuchte Erde. Wasser. Tiere. Blut. Harry stürmte vor. Er dachte gar nicht darüber nach, es war purer Instinkt. Er raste die Bäume hinauf, wie Solom es ihm gezeigt hatte. Da! Ein schläfriger Bär. Ein großes Tier. Normalerweise hätte sich Harry ihm nie genährt. Aber die Umstände waren schon lange nicht mehr normal. Harry ließ sich fallen und landete sicher auf dem riesigen Bärenrücken, während er seine in Klauen verwandelten Fingernägel in das Fell krallte. Das Tier heulte auf. Zielsicher fand Harry die Pulsader am Hals und schon kribbelten seine Zähne. Er bohrte sie in das süße Fleisch und sofort hörte der Bär auf, sich zu wehren. Still ertrug er, wie Harry sein Blut trank. Nicht so, dass es ihn sättigte, nur so, dass er wieder atmen konnte. Dann drehte er den Kopf, wie Luca es ihm beigebracht hatte, bevor er sich löste und gab seinen Zähnen damit den Befehl, dem Bären das lähmende Gegengift einzuflößen. Als Harry zu Luca zurückkehrte, nickte dieser anerkennend. Harry hatte nicht die Kontrolle verloren und wie vereinbart nur ein Tier angegriffen, das auch keinen großen Schaden erlitten hatte. Das war das erste Mal, dass er im Wald mehr als ein Kaninchen für seine Basilisken jagte, war er doch bisher Stammkunde ein der Bar gewesen. Von dem gefangenen Bären im Hauptquartier einmal abgesehen, der sich ja kaum gewehrt hatte. Nach dieser letzten Prüfung war er nun bereit für die Menschenjagd. „Es die Methode für den Notfall“, hatte Luca ihm oft genug erklärt. „Als Zwielichtiger kaufst du dir dein Blut oder nimmst Tiere, gewürzt mit deinem Basiliskenblut. Aber du musst auch wissen, was du tust, wenn dir das nicht zur Verfügung steht.“ Die einfachsten Opfer fand man in Clubs und Bars der Muggels, hatte er gelernt. Dort machte man sich an ein Mädchen, oder auch an einen Jungen heran und lockte ihn in eine dunkle Ecke, wo man so tat, als würde man mit dem Opfer herummachen. Dafür war Harry noch etwas zu jung, also hatte Luca ihm eine andere Methode erklärt. Sie gingen ins nächtliche Muggel-London, natürlich in die üblen Gegenden. Harry sollte sich einen der vielen Bettler suchen, sich zu ihm setzen, ein kurzes Gespräch beginnen und ihm vielleicht ein paar Münzen geben. Dann würde er so tun, als hätte er einen heißen Tipp, wo der Unglückliche die nächste Nacht verbringen könnte, er würde sich zu ihm rüberlehnen und alles würde ganz schnell gehen. Harry bereitete es große Mühe, rechtzeitig aufzuhören. Mit reiner Willenskraft riss er sich schließlich los, indem er sich vorstellte, dieser Typ könnte einer seiner Freunde sein. Schließlich hörte er auf, bevor der Blutverlust kritisch für den Mann wurde. Luca war stolz auf ihn. Zur Belohnung nahm er ihn mit in den Zoo. Mit Leichtigkeit sprangen sie über den Zaun, genehmigten sich ein paar Schlucke von dem schlafenden Wächter in seinem Häuschen und spazierten dann gemeinsam durch die Nacht. „Und?“, fragte Luca irgendwann, „ist es so schlimm, ein Vampir zu sein?“ „Nein“, sagte Harry nach kurzem Zögern, „aber es ist ein komisches Gefühl. Ich meine, wenn ich Sirius umarme, muss ich aufpassen, ihm keine Rippen zu brechen, weil ich so stark bin. Wenn ich mit Cale durch die Wälder streife, vergesse ich manchmal, wie spät es ist und dass ihm doch kalt sein muss, weil ich die Kälte nicht spüre. Und… naja, das Getränk „Bloody Mary“ hat jetzt eine ganz andere Bedeutung.“ Luca’s Mundwinkel zuckten leicht. Er lachte nie, aber diese Bewegung war immerhin fast schon ein Lächeln. „Du wirst dich daran gewöhnen. Vampire sind Einzelgänger, aber im Notfall halten wir so stark zusammen wie ein Rudel Werwölfe. Manchmal sogar die Dunklen – wenn sie nicht gerade mit deinen Feinden verbündet sind. Das ist mehr als menschliche Gesellschaft, oder Nationalbewusstsein – es ist die gesamte Rasse, verstehst du? Also, wenn du Ärger hast – du kannst uns jederzeit zu Hilfe rufen. Und wenn ich Ärger sage, dann rede ich von der Größenordnung ‚Krieg mit einem dunklen Lord’.“ Harry wusste, was das für ein Freundschaftsbeweis war, deshalb klang sein „Danke“ vollkommen ehrlich. Er wusste, er würde jetzt für immer ein Teil des Zwielichts sein – und er war überrascht, dass er tatsächlich stolz darauf war. Sirius, Luca, Solom und Gomora und auch Cale, sie waren zu seiner neuen Familie geworden. Zu einer Familie, die ihn auf Anhieb akzeptiert und aufgenommen hatte. „Jetzt lass uns noch einen letzten Snack nehmen, bevor wir zurückgehen“, schlug Luca vor. Harry nickte und sie machten sich auf die Suche nach geeigneter Beute. Vor dem Löwengehege zögerte Harry kurz, sprang dann über die Absperrung und schlich sich an die großen Raubkatzen heran. Das Gerangel mit dem nicht ganz so tagaktiven Tier brachte ihm ein paar unangenehme Prankenhiebe ein, aber schließlich gewann Harry den Kampf. Frisches Blut, das war ihm im Laufe der Nacht klar geworden, schmeckte noch einmal um Länge besser als das eisgekühlte, das Luca lagerte und die Vorfreude trieb den Jungvampir an. Als er satt war, strich er sanft über das Fell des edlen Tieres. Im Ententeich wusch er sich das Blut aus dem Gesicht. Sein Spiegelbild hatte sich verändert, stellte er fest. Seine Haare waren gewachsen, was gut war, da sie so seine Blitznarbe verbargen, die sich so sehr von seiner weißen Haut abhob. Sie war inzwischen auch nicht mehr die einzige Narbe. Er hatte mehrere halbrunde am Hals, im Schulterbereich und an den Armen von dem Vampirangriff, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Sie aber waren blass und nur mit genauem Hinsehen zu erkennen. Naja, und dann war da noch die lange, zerfranste Narbe quer über seinem Brustkorb von dieser einen Trainingsstunde mit Solom, die erst in einigen Jahren verblassen würde. Es war wohl keine Absicht gewesen, er hatte sich sogar entschuldigt, aber weh hatte es trotzdem getan. Fast verstand Harry jetzt, wie der Zirkel einfach darüber hinwegsehen konnte, wenn einer von ihnen ausrastete. Hier bekam einfach jeder eine zweite und dritte Chance. Harry stand auf und kehrte zu seinem Lehrmeister zurück. Aus irgendeinem Grund hatte sein Bild ihn an Ron, Hermine und Hogwarts erinnert. 'Das ist vobei', versuchte er sich einzureden, 'sie haben dich rausgeworfen. Du kannst nicht mehr zurück.' Es half nicht. Er vermisste seine Freunde. Ron und Hermine würden ihn bestimmt auch als Ausgestoßenen und als Vampir akzeptieren würden – oder? Harry hatte geglaubt, dass sie sofort zurück zum Hauptquartier apparieren würden. Mit Seit-an-Seit-Apparieren würde das Ministerium ihn nicht finden, obwohl Sirius ihm bereits richtiges Apparieren beibrachte – was er nur unter einigem Zersplintern mühsam erlernte und noch immer nicht ganz beherrschte. Das alles wäre eigentlich viel zu schwer für einen Dreizehnjährigen, betonten seine Lehrer mehrmals, aber Harrys Verwandlung, die jetzt abgeschlossen war, hatte neben seinem Körper auch seine Magie gestärkt. Luca aber apparierte diesmal nicht, sondern kletterte mit ihm wieder über den Zaun und schlenderte dann durch die Straßen. An einer Häuserecke blieben sie schließlich stehen. „Ich bin verpflichtet, in deiner Nähe zu bleiben“, meinte Luca nebenher, „und würde dich bitten, dich kurz zu fassen.“ Für Harry waren die Worte vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. „Was?“ Luca nickte zu der anderen Straßenseite hinüber. Da war nichts. Nur ein paar Sträucher, eine Laterne und eine mit Graffiti beschmierte Telefonzelle. „Ich muss zuhören, um zu gewährleisten, dass du nichts über den Zwielicht-Zirkel verrätst.“ Harrys Herz machte einen Hüpfer, als er verstand. Er durfte jemanden anrufen! Endlich war es ihm erlaubt, Kontakt zu seinen Freunden aufzunehmen. Es gab nur ein Problem. „Äh... Die einzige Nummer, die ich wählen könnte, ist Hermines und die ist inzwischen schon in Hogwarts.“ Luca schmunzelte. „Kein Problem. Wir werden sie trotzdem erreichen.“ Der Vampir begleitete Harry zur Telefonzelle und ließ ihn Hermines Nummer wählen. Dann zog er seinen Zauberstab – Harry hatte nicht einmal gewusst, dass er einen besaß – tippte gegen die Wählscheibe und murmelte ein paar Worte. Es klingelte dreizehn Mal. Dann hörte Harry eine leise Stimme. Sie klang ziemlich verschlafen, immerhin war es ja mitten in der Nacht. „Oh, dieses verfluchte Ding! Ich bring Ron um, ich tu's wirklich...“ „Hermine?“, fragte Harry vorsichtig. Stille. Leises Atmen. Dann ein schreckliches, schniefendes Geräusch, das nur entfernte Ähnlichkeit mit einem entsetzten „Harry!?“ hatte. „Ja, ich bin's. Äh, ich hab nicht viel Zeit, also... Woraus auch immer meine Stimme da grad kommt, rühr es besser nicht an, sonst legst du vielleicht aus Versehen auf.“ „Es... Es ist Rons kaputtes Spickoskop, ich sollte es für ihn reparieren und... Oh, Harry! Wie kommst du denn da rein!?“ Harry unterdrückte ein Lächeln. Es tat so gut, Hermines Stimme wieder zu hören. „Gar nicht, Hermine. Ich ruf aus einer Telefonzelle aus an.“ „Aber wo bist du? Was ist passiert? Wie geht es dir? Alle dachten, du wärst tot, und dann deine Nachricht und wir wussten nicht, ob die echt ist und wo bist du?“ „Mir geht’s gut“, versicherte er rasch, „wirklich. Naja, ich hatte zugegebenermaßen ein paar miese Tage, aber hier ist keine echte Gefahr.“ „Aber wurdest du denn nicht von Sirius Black entführt? Wie bist du ihm entkommen?!“ „Der Tagesprophet schreibt mal wieder nur Lügen“, entgegnete Harry. „Sirius hat mich nicht entführt. Naja, irgendwie schon, aber das ist kompliziert und jetzt eigentlich auch nicht wichtig. Hör zu, du musst mir was verraten, Hermine.“ „Natürlich, aber-“ „Weißt du, wo Hedwig ist?“ „I-In der Eulerei, aber Harry-“ „Und weißt du, ob sie mich aus Hogwarts rausgeschmissen haben? Weil ich meine Tante aufgeblasen hab?“ „Harry, das war wirklich dumm von dir, aber nein, natürlich habe sie dich nicht rausgeschmissen. Sie machen sich ja alle viel zu viele Sorgen um dich. Ron hat-“ „Ich komme bald wieder, Hermine. Versprochen. Ich weiß noch nicht wie, aber irgendeinen Weg werde ich schon finden.“ Harry fiel ein Stein vom Herzen, als er hörte, dass er nicht von Hogwarts geflogen war. Vielleicht gab es wirklich eine Möglichkeit. Mit dem Zauber, den Solom ihm beigebracht hatte, könnte er sein Aussehen verändern. Niemand würde etwas merken... Aber seine Freunde, die hatten das Recht, es zu wissen. „Hermine, hört jetzt irgendwer zu?“ „Nein, alle schlafen noch...“ Harry warf einen raschen Blick zu Luca. Dessen Miene war wie immer ausdruckslos. „Etwas stimmt schon an dem, was der Tagesprophet schreibt. Es gab einen Vampirangriff. Danach war ich mehr tot als lebendig.“ Er zögerte. „Deswegen musste ich mich so lange fernhalten. Ich kann auch erst frühestens in zwei Monaten kommen, eher lassen sie mich nicht weg. Sie sagen, ich muss erst lernen, damit klar zu kommen... Damit, dass ich jetzt ein Vampir bin.“ Es folgte fast eine halbe Minute Schweigen auf diese Enthüllung hin. Harry hielt den Atem an. „Hermine?“ Ein Schluchzer. „Oh Harry! Du Idiot! Was hast du nur wieder angestellt?“ Harry schluckte schwer. „Du... Du darfst es niemandem erzählen. Außer Ron und Dumbledore. Ich glaub, ich kann's vielleicht geheim halten. Wenn sie mich lassen. Bis... Bis ich den Abschluss habe... oder so.“ Leises Weinen. „Hermine? Es ist okay. Wirklich. Ich bin trotzdem noch euer Freund. Und ich komm ja auch zurück. Es wird jetzt immer anders sein, aber ich kann damit umgehen... wenn ihr das auch könnt.“ „Natürlich... Was denkst du denn von uns? Kann ich... Kann ich dir Briefe schicken? Ich werd alles über... über V-Vampire lesen, und, naja, vielleicht kann ich dir helfen...“ Harry warf Luca einen fragenden Blick zu. Der Schwarzhaarige trat vor und nahm ihm einfach den Hörer aus der Hand. „Das ist genug, Miss“, sagte er mit kühler Stimme. „Harry wird nicht mehr zurück kommen. Nicht der Harry, den Sie kennen.“ Dann legte er auf, ohne Harry die Chance zu geben, sich zu verabschieden. Harry wollte ihn deswegen anfahren, aber dann sah er in Luca's Augen. Sein Blick war nicht wütend oder gar gehässig. Nein, er sah enttäuscht aus. „Glaubst du wirklich, du kannst so einfach in dein altes Leben zurück?“ Zurück in die Arme des Ministeriums? Wenn es nach denen ginge, dürftest du überhaupt keine Magie mehr benutzen und würdest dich nur von Ratten ernähren. Willst du das?“ „Nein, aber das kann man doch vielleicht ändern!“, protestierte Harry. „Wenn sich die ganze Welt solche Sorgen um mich macht, vielleicht kann ich ihre Meinung über dunkle Kreaturen dann ändern, wenn ich ihnen zeige, dass Vampire auch nur normale Menschen sind.“ „Wir sind aber keine Menschen!“, rief Luca aus. Es war das erste Mal überhaupt, dass er in Harrys Anwesenheit die Stimme erhob. Er musste wirklich sehr wütend sein. „Und erst recht nicht sind wir 'normal'. Gewöhn' dich endlich dran! Selbst als Jungvampir hast du es schon besser hier als die meisten anderen, die sich nach ein paar Wochen das Leben nehmen. Wie willst du irgendetwas verändern, wenn du leugnest, was du bist!?“ Kalter Zorn funkelte in Luca's Augen. „Das ist es, was wir Verrat nennen“, sagte er mürrisch. „Es ist Verrat an uns und an dir selbst. Wenn du so unbedingt in die Menschenwelt zurück willst – warum sollte sich noch jemand von uns um dich kümmern? Sieh zu, wie du ohne uns klar kommst!“ Dann apparierte er. Puff. Einfach weg. Harry starrte auf den leeren Fleck, wo eben noch Luca gestanden hatte. Noch ganz geschockt von der Anklage des Vampirs dauerte es eine ganze Weile, bis Harry begriff, dass er allein war. Ganz allein auf einer Straße in London, meilenweit vom Hauptquartier entfernt. Und die Sonne ging langsam auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)