Der unerwünschte Mieter von Pansy ================================================================================ Kapitel 16 ---------- Kapitel 16 Dank Seiten wie google maps oder bing maps findet man schnell den genauen Lageort bestimmter Einrichtungen heraus und kann sich sogar schon einmal Gedanken machen, wo man dort am besten parken kann. Ich kann es nicht leiden, wenn man irgendwo hinkommt und nicht weiß, wo man sein Auto abstellen kann. In dieser Hinsicht mag ich vielleicht ein bisschen seltsam sein, aber ich schaue immer mindestens einen Tag vorher im Internet nach Parkmöglichkeiten. Mihilfe der heutigen Satellitenbilder ist dies ja ohne weiteres möglich. Warum nicht nutzen, was uns gegeben wird? Den heutigen Arbeitstag habe ich mehr schlecht als recht hinter mich gebracht. Ich hoffe nur, dass keinem dort auffällt, wie geistesabwesend ich an meinem Schreibtisch gesessen und wie untätig ich die meiste Zeit meinen Monitor angestarrt habe. Allerdings habe ich heute wichtige Post mit neuen Aufgaben für mein eines Buch bekommen, um die ich mich spätestens morgen ganz unbedingt kümmern muss. Wenn ich daran denke, dass ich im Anschluss das Reinick-Theater aufsuchen möchte, dann wird das nicht leicht werden. Mal sehen, was ich tun kann. Ja, ich möchte in der Tat den Ort aufsuchen, an dem Joshua nun wohl wieder seine Zeit verbringt. Vergangene Nacht und auch den heutigen Tag habe ich unentwegt damit zugebracht, in mich hineinzuhorchen, genau so wie es mir Jessi geraten hat. Und alles, was ich immer wieder hörte, war: Konfrontiere ihn! Wäre auch zu schön gewesen, wenn mir mein inneres Ich zudem verraten hätte, was ich genau sagen soll, aber sobald ich vor ihm stehe, muss ich wohl improvisieren. Mein Blick schweift über das Satellitenbild, das nun das u-förmig angelegte Theater mit einem riesigen Vorplatz zeigt. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein Brunnen in der Mitte des gepflasterten Areals. Mich beruhigt es ungemein, dass ich rechts vom Gebäude einen großen Parkplatz entdecke. Dort sollte ich mein Auto problemlos abstellen können. Obwohl ich nun schon gut zwei Jahre hier wohne, war ich noch nie in Tornhausen. Dabei sind es keine vierzig Kilometer von hier. Schon länger hege ich den Gedanken, endlich mal wieder ins Theater zu gehen und ein bisschen Kultur zu erleben, doch nun werde ich aus einem ganz anderen Grund ein Theater betreten. Mir wäre ein Stück, das ich nur anschaue und nicht selbst erlebe, definitiv lieber gewesen. Wo ich schon mal online bin, schreibe ich Jessi gleich noch paar Zeilen und berichte ihr, wie es mir heute auf der Arbeit ergangen ist und dass ich vorhabe, Joshua morgen aufzusuchen. Somit weiß immerhin sie Bescheid, wo ich stecken werde. Man kann gar nicht alt genug sein, um sich auf irgendeine Weise rückzuversichern. Weiß auch nur ein Mensch, wo man sich gerade befindet, weiß man, dass an einen gedacht wird. Und mit Sicherheit kann ich jede seelische und moralische Unterstützung gebrauchen, wenn ich in dieses verboten tiefe Grün blicke, das mich nur allzu schnell gefangen nimmt. Ich seufze bei dem Gedanken an ihn. Schauspieler … ich schüttle den Kopf. Damit konnte wirklich keiner rechnen. Wer hat bitteschön auch schon mal von einem solchen Fall wie meinen gehört? Auf so eine absurde Idee, seine Rolle im realen Leben an einer leibhaftigen Person zu testen, kommt ja auch sonst niemand. Ehrgeiz ist ja schön und gut – davon besitze ich selbst eine Menge –, aber er kann auch eindeutig zu weit gehen. Und Joshua hat das erträgliche Maß bei weitem überschritten. Ich fahre meinen Laptop wieder herunter und suche mein Navi, das ich für morgen auch gleich mal programmiere. Wer weiß, ob ich kurz vorm Losfahren die Nerven aufbringen würde, die Zieladresse einzugeben. Doch ohne Navi finde ich das Theater gewiss nicht, ich kenne meine Orientierung ja. Oh auch Mathematiker können sich verfahren! Und das nicht zu knapp. Jessi und ich sind im Verfahren richtige Helden. Da wir in unterschiedlichen Städten studiert haben, haben wir eines Sommers beschlossen, in den Semesterferien für ein paar Tage zusammen herumzureisen. Hätten wir uns auf der Hinfahrt zwischendrin nicht vollkommen verirrt und damit viel zu spät an unserem Reiseziel angekommen, hätten wir auch für die erste Nacht auch ein Zimmer in einer Pension bekommen und nicht im Auto schlafen müssen. Das war mir in zweierlei Hinsicht eine Lehre gewesen. Zum einen habe ich mir deshalb zum nächsten Geburtstag ein Navi gewünscht und zum anderen buche ich seitdem grundsätzlich ein Zimmer, ehe ich in den Urlaube fahre. Jedenfalls habe ich gelernt und fahre nun nirgends mehr ohne mein Navi hin, außer ich kenne den Weg in- und auswendig. Nicht zu selten wurde ich deswegen schon von meinem großen Bruder verspottet, aber das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Joshua eine reinhauen? Ihn anschreien? Ihn anschweigen und ihn so lange anstarren, bis er sich unter meinem Blick windet? Welche Möglichkeiten habe ich morgen eigentlich? Mir erscheint keine dieser Verfahrensweisen ideal geeignet, um das zu erfahren, was ich wissen muss. Vielleicht muss ich ihn einfach nur aus der Ferne sehen, um mir darüber klar zu werden, was ich möchte. Ach keine Ahnung. Ich muss es wohl oder übel auf mich zukommen lassen, ob es mir gefällt oder nicht. Wenn ich mir jetzt ausmale, wie es sein könnte, dann habe ich ein verzerrtes Bild vor Augen, das mir nicht weiterhilft und mich eher noch konfuser macht als ich jetzt schon bin. Im Fehlinterpretieren bin ich übrigens auch gut. Damit mache ich meinen Orientierungskünsten fast schon Konkurrenz. Ich staple die vielen Zeitungen, die wöchentlich ungebetenerweise in meinem Briefkasten landen, ordentlich, stelle hier was zurück und rutsche dort was herum. Gerade bin ich einfach nicht in der Lage, still auf dem Sofa zu sitzen oder gar im Bett zu liegen. Es ist schon fast halb elf und draußen ist es schon seit mehr als drei Stunden dunkel. In vier oder fünf Wochen ist es wieder bis um kurz vor zehn einigermaßen hell, darauf freue ich mich schon. Wegen mir könnten die Tage das ganze Jahr über lang sein. Als ich am Esszimmertisch vorbeilaufe, blinkt mich schon wieder die Broschüre an. Ich halte mitten in meiner Bewegung inne und sehe sie an, sehe ihn an. Ich weiß nicht, warum ich mich selbst so foltere, doch nach vier vergeblichen Versuchen, die Broschüre wegzupacken oder zuzuklappen, habe ich aufgegeben. Selbst auf dem Foto trägt er die lederne Kette um den Hals. Ich liebe diese Kette einfach. Obwohl es mir schwer fällt, verkrümele ich mich dann doch gegen Mitternacht in mein Bett und versuche krampfhaft ein bisschen Schlaf zu finden. „Hier für dich.“ Mir werden von einem jungen Mann mit dunkelblonden Haaren und hellbraunen Augen beim Vorbeigehen mehrere Plastikgabeln in die Hand gedrückt. Gerade habe ich noch dabei zugesehen, wie er sinnlos immer wieder welche in die Luft geschmissen hat. „Mach schon“, fordert er mich auf und verschwindet im Lokal, das direkt vor meiner Nase liegt. Irritiert stehe ich erst einmal da und runzele die Stirn. „Ach was soll's“, murmele ich und werfe die Plastikgabeln hoch, die aufgrund meines ausgeprägten Talents, ein Schussel zu sein, natürlich ein Auto treffen, um das auch noch eine drei Jugendliche stehen, die das gar nicht toll finden. Hey, das sind nur dumme Plastikgabeln, die sollen mich mal nicht so wütend fixieren... äh und nicht so schnell auf mich zukommen. Einer von denen packt mich, zieht mich vor sein Gesicht und presst zwischen seinen dünnen Lippen hervor: „Was fällt dir ein, du Göre?“ Ich bin bestimmt zehn Jahre älter als er, ein bisschen Respekt vor mir könnte er ja schon haben. „Lass mich los“, fordere ich ihn auf, doch sein Griff um meinen Oberarm wird nur noch stärker. Und ehe ich mich versehe, stehe ich neben ihm im Lokal, wo er mich auf einen Stuhl niederdrückt. Hilfesuchend blicke ich mich um und sehe dem Typen, der mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hat, direkt in die Augen. Das Hellbraun verfärbt sich, je länger ich ihn ansehe, und schon bald versinke ich einem tiefen Grün, das mir sehr vertraut ist. Ich zwinkere ein paar Mal und sehe plötzlich Joshua vor mir sitzen. Mit einem aufmunternden Lächeln in den Mundwinkeln und einem durchaus zuversichtlichen Blick. Er erhebt sich und kommt direkt auf mich zu ... Als mein Wecker schrillt, schrecke ich auf und sinke sofort wieder zurück ins Kissen. Toll, da schlafe ich doch tatsächlich ein bisschen, aber träume solchen Schrott. Und der Kerl musste sich am Ende auch noch in Joshua verwandeln. Was will mir mein Unterbewusstsein damit bitte sagen? Dass ich einfach ein paar Plastikgabeln vor dem Theater in die Luft werfen soll und schon wird alles gut? Äh ja genau. Der Tag fängt ja gut an. Während der nächsten Stunden muss ich hin und wieder ob meines Traumes schmunzeln, ich träume aber auch immer die absurdesten Sachen. Als es auf 16 Uhr zugeht, werde ich allerdings zunehmend nervöser. Ich merke, wie mein rechtes Bein unruhig zu zappeln beginnt und meinen Schreibtisch zum Vibrieren bringt. „Maren, gut dass du da bist!“, entfährt es mir erleichtert, denn ich erhoffe mir ein wenig Ablenkung. „Ich hätte da mal eine Frage“, füge ich an, während sie sich an meinen Tisch lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr langes blondes Haar fällt in dicken Strähnen über ihre Schultern. Erstaunlich, wie gesund dieses stets glänzt. Dieser schrecklich hohe Kalkgehalt in unserem Leitungswasser stumpft meine Haare immer ab. Würde ich nicht zig Conditioner und andere Pflegemittel verwenden, hätte ich nur noch Stroh auf dem Kopf. Micht wundert's daher immer, warum die Leute immer behaupten, dass ich so tolle Haare hätte. „Hat deine Frage ganz zufällig mit einem gewissen Jemand zu tun?“, zwinkert sie keck. Hey, ich wollte Ablenkung! Zähneknirschend sitze ich da und grummele vor mich hin. Okay, wenn sie eh schon drauf zu sprechen kommt, frage ich eben doch das, was mir auf der Seele brennt. „Wie man's nimmt“, erwidere ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Mit leiser Stimme, um sicherzugehen, dass meine weiteren Kollegen nichts mitbekommen, frage ich: „Süße Rache oder schmerzliche Vergeltung?“ Maren tippt sich gegens Kinn und ihr Gesichtsausdruck wird mit jedem Bruchteil der Sekunde heimtückischer. „Kommt ganz darauf an.“ „Sagen wir ...“, beginne ich zögerlich, „dir hätte jemand einen Streich gespielt. Wie würdest du dich revanchieren?“ „Harmloser oder gemeiner Streich?“ „Gemein.“ Mit großen Augen und zur Seite geneigtem Kopf sehe ich sie an. „Was hat er gemacht?“ Ich zucke nur mit den Schultern. „Nicht so wichtig. Also? Rache oder Vergeltung?“ „Vergeltung klingt immer so derb. Nenne sie 'durchdachte Reaktion' und ich bin dabei.“ Sie lächelt mich an. Durchdachte Reaktion. Nicht übel. Auch wenn ich noch ein paar Schwierigkeiten mit dem Adjektiv durchdacht habe. Egal, wie viele Szenarien sich in meinem Kopf durchgespielt haben, von durchdacht kann bei keiner die Rede sein. Zustimmend nicke ich. „Danke.“ „Kann ich dir sonst noch behilflich sein?“ Theoretisch ja. Sie könnte mir zum Beispiel sagen, was ich tun soll. Doch das hieße, dass ich ihr hier und jetzt alles erzählen müsste. Dafür ist aber nicht gerade der perfekte Ort und auch nicht der optimale Zeitpunkt. Ein ander Mal, aber nicht heute. „Nein, du hast bereits die Wahl getroffen, das ist genug Verantwortung für einen Tag“, grinse ich. Süße Rache wäre wohl doch zu harmlos gewesen, selbst wenn ich insgeheim zu ihr tendiert habe. Maren hat entschieden: Schmerzliche Vergeltung, oh entschuldige, ich meine selbstverständlich durchdachte Reaktion. Denken, Milly, jetzt heißt es denken. Auch während der Fahrt nach Tornhausen denke ich angestrengt nach, sogar so intensiv, dass ich beinahe über eine rote Ampel fahre. Mit quietschenden Reifen komme ich zum Stehen und atme tief durch, versuche mein sich überschlagendes Herz zu beruhigen. Hinter mir hupt es. Na toll, da bremse ich gerade noch rechtzeitig und die dumme Ampel springt kaum, dass ich stehe, auf grün. Ich lege den ersten Gang ein und lasse die Kupplung langsam kommen. Noch 800 Meter zeigt mein Navi an. Nur noch 800 Meter … Gefolgsam biege ich nach rechts ab und an der nächsten Kreuzung nach links. Wie gestern auf dem Satellitenbild zu erkennen, stoße ich direkt auf einen Großparkplatz. Mein Blick schweift zur Seite. Das Theater baut sich wie ein Riese hinter dem kleinen Springbrunnen auf. Mit feuchten Händen und klopfendem Herzen stelle ich meinen Polo ab. Das Theatergebäude ist wunderhübsch. Es fasziniert mich vor allem durch seine vielen kleinen Türmchen, die hohen Fenster und die hoheitlich wirkende Fassade. Eine Schande, dass ich hier noch nie gewesen bin. Ich lasse mich auf der Brunnenkante nieder und halte eine Hand ins Wasser. Ich wäre wirklich gern unter anderne Umständen hierher gekommen, dann würden meine Augen auch nicht wie verrückt hin- und herspringen, die Gegend absuchen und jeden herumlaufenden Menschen mustern. Die Sonne taucht das Gebäude in ein angenehm helles Licht, in den vielen Glasscheiben an der vorderen Front spiegeln sich die Baumkronen wider, die zu beiden Seiten des Eingangs stehen. Dies hier ist ein wahrlich wunderbarer Ort. Manchmal wünsche ich mich in die Zeit zurück, in der die Frauen in schicken und pompösen Kleidern von eleganten, ehrenhaften Männern zum Ball geleitet wurden. Zwar bin ich nicht unbedingt ein Fan von Kleidern, wenn ich sie an mir sehe, aber solch einen Ballbesuch hätte ich gerne einmal live miterlebt. Jessi wäre von ihrem Grafen ausgeführt worden – den ich noch finden muss – und ich von … da hätte sich sicherlich jemand gefunden. Ich rutsche fast in den Brunnen hinein, als sich plötzlich zwei Händen von hinten um meine Augen legen. Nur indem ich meine Finger in den harten Stein kralle, kann ich mich gerade noch abfangen. Obwohl ich sofort den Instinkt verspüre, die Hände von mir zu schlagen, unterdrückte ich ihn. Bin ja selbst schuld, wenn ich herumträume, anstatt mich wie ein Wachhund umzusehen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Person hinter mir. Der Rhythmus meines Herzens wechselt von einem Zweiviertel- in einen Siebenachteltakt. Und obgleich sich mein gesamter Körper anspannt und die extreme Nähe zwischen dem Neuankömmling und mir signalisiert, zweifle ich, dass es Joshua ist. „Schön, dich zu sehen“, haucht eine dunkle Stimme in mein Ohr. „Welch' nette Überraschung.“ „Aurel?“, frage ich völlig verblüfft. Die Hände, die bis eben vor meinen Augen verweilten, greifen meine Schultern und drehen mich herum. Im selben Moment öffe ich meine Lider und sehe direkt in eisiges Blau. „Was machst du denn hier?“ „Nette Begrüßung“, schiebt er seine Brauen nach tadelnd nach oben. Doch dann zieht er mich in eine herzliche Umarmung, die ich schon bald erwidere. Er begutachtet mich von oben nach unten und von unten nach oben. „Ich hätte dich fast nicht erkannt. Schicke Frisur.“ Mit seiner Linken streicht er mir eine Strähne zurück. „Ich kann noch gar nicht glauben, dass du hier bist. Wie lang ist es her? Drei Jahre?“ Aurel sieht aus wie jeher: kurzes, hellbraunes Haar, das vorne leicht nach oben gegelt ist, legeres schwarzes Hemd, bequeme etwas weiter fallende Jeans und nicht zu vergessen seine eisblauen Augen, die während unserer gemeinsamen Unizeit so manchem Mädchen den Verstand verdrehten. Komischerweise war ich schon immer immung gegen sie, mich bringen eher ganz andere aus dem Konzept. Grüne beispielsweise. Innerlich seufze ich auf, weil ich mich schlagartig daran erinnere, weshalb ich hier bin. „Ja, das kommt hin“, erwidert er nachdenklich. „Obwohl mein Vater gar nicht erpicht war, habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Darum bin ich hier, um deine andere Frage zu beantworten.“ Mein Blick zuckt zwischen dem Gebäude und ihm hin und her. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Du meinst, du hast es geschafft? Du entwirfst nun Bühnenbilder, so wie du es immer wolltest?“ Er nickt und schlägt sich auf die vor Stolz geschwellte Brust. „Vor dir steht der neue Stern am Künstlerhimmel. Die Regisseure schlagen sich förmlich um mich, seit eine kurze Doku meiner Bühnenbilder von 'Leidende Engel' im Fernsehen lief. Momentan kann ich mich vor Aufträgen kaum retten. 'Hannahs unliebsame WG' ist zwar jetzt kein Stück, das das Publikum wie ein Magnet anzieht, doch ich war einem alten Freund noch einen Gefallen schuldig.“ „Hannahs unliebsame WG“, wiederhole ich ernüchtert. Bei so vielen Stücken dieser Welt muss er gerade für dieses arbeiten. „Sag' bloß, du hast von dem Stück gehört?“ „Könnte man so sagen“, presse ich mühsam hervor. „Wow! Vielleicht wird es ja doch ein Kassenschlager, was sich auf meine Entlohnung auswirkt.“ „Träum weiter“, entgegne ich abfällig. „Deinen Pessimismus habe ich vermisst“, strahlt er und drückt mich noch mal kurz. Ich sehe mir Aurel an und in meinem Kopf fügen sich mit einem Mal interessante Gedanken aneinander. „Darf ich dich um was bitten?“ „Klar, nur raus damit. Wie kann ich dienen?“ Behände springe ich auf, ignoriere das dumpfe Pochen in meinem Bein, und halte ihm meine Hände hin. „Führ' mich ein bisschen herum, ich würde auch gerne sehen, an was du gerade arbeitest.“ „Nichts lieber als das.“ Er legt seine Hände in meine und lässt sich hochziehen. Auf dem Weg zur Eingangstür grinse ich vor mich hin. Start. Ziel. Sieg. Oder wie es so schön heißt. Nur gut, dass mir vorher ohnehin kein grandioser Einfall gekommen ist. Meist – okay, fast immer – werden Pläne durch unerwartete, nicht vorauszuahnende Gegebenheiten durchkreuzt, weshalb ich mich manchmal frage, warum ich mir im Vorfeld immer so viele Gedanke nmache. Aurel ist der perfekte Plan, auch wenn er völlig unschuld und voller Elan neben mir herläuft. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und lächle. Es ist schön, ihn nach so langer Zeit einmal wiederzusehen. Seit er die Universität verlassen hat, um seinem Traum nachzujagen, habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Bis auf eine Geburtstags-SMS oder so haben wir auch nichts voneinander gehört. Und doch kommt es mir so vor, als ob es erst gestern gewesen ist, wo er mich gedrückt und mir Lebenwohl gesagt hat und mit Sack und Pack von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden ist. „Was verschlägt dich eigentlich hierher?“, fragt er und führt mich durch einen langen Gang, der zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen mit kleinen Zierleuchtern bestückt ist, die abends gewiss kühle Lichtkreise bilden und dunkle Schatten zwischen ihnen werfen, eine geheimnisvolle und faszinierende Atmosphäre schaffen. „Ach, ich dachte, ich könne mich hier mal ein wenig umsehen, wenn ich schon in der Nähe wohne. In letzter Zeit habe ich mich kulturell viel zu wenig gebildet und ich wollte mir das aktuelle Programm nicht einfach nur aus dem Netz ziehen.“ Manchmal muss eine Notlüge eben sein, denn ich kann ihm doch nicht erzählen, dass ich wegen einem Kerl hier bin, der seinen Beruf vor menschlichen Anstand stellt und mich nach Strich und Faden benutzt hat. Das wird er schon noch früh genug erfahren. Und ganz aus der Luft gegriffen ist meine Antwort schließlich nicht, ich hatte wirklich vor, mal wieder mit Caro und Tim ins Theater zu gehen. „Tornhausen würde ich jetzt zwar nicht als kulturellen Lichtblick bezeichnen, aber jedem das Seine.“ „Und mir das Meine.“ Er sieht mich an und legt einen Arm um meine Schultern. „Schön, dich mal wieder zu sehen.“ „Man trifft sich immer an den unmöglichsten Orten, weißt du doch.“ Ich schüttele den Arm ab und piekste ihn in die Seite. Nach wenigen Minuten stoßen wir auf eine kleine kirschbaumfarbene Holztür in einer Nische. Aurel zückt einen Schlüssel und drückt wenig später die Tür vorsichtig auf. Dann winkt er mich hindurch. Mir stockt der Atem, als ich plötzlich auf einer beschaulichen Empore stehe, von der aus man die Bühne und den größten Teil des Theatersaals erblicken kann. Meine weit aufgerissenen Augen schweifen über Fresken, Stuck und Säulen, auf denen engelsgleiche Figuren stehen. Ehe ich ein Wort meiner endlosen Begeisterung äußern kann, legt Aurel einen Finger auf seine Lippen. „Es wird gerade geprobt“, haucht er. Jetzt, wo er es sagt, häre ich leise Stimmen. Ich lehne mich nach vorne, das Geländer fest umklammernd, und versuche auszumachen, woher die Laute kommen. Doch alles, was ich erblicke, sind drei Köpfe, die inmitten vieler Sitzreihen hervorlugen. Einer davon trägt wuscheliges braunes Haar. Unverkennbar Joshua. Der Griff meiner Hände um das steinerne Geländer wird stärker, meine Lippen pressen sich fest aufeinander. Er ist tatsächlich hier. Hier, direkt unter mir. 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