Drei Seiten der Medallie von -Sanna- (Un vericueto al destino) ================================================================================ Prolog: -------- Es war nicht immer leicht, alle Erwartungen zu erfüllen, die einem auferlegt wurden. Das war die erste Lektion, die Arina am Hof gelernt hatte – und es war die letzte gewesen, die von allen anderen Lektionen des Lebens am Ende übrig geblieben waren. Sie schmeckte Staub auf ihrer Zunge und Blut an ihren Zähnen. Es stank. Der Geruch von eitrigen Wunden und trockenem Stöhnen lag in der Luft. Sie atmete einmal tief durch und richtete ihren Blick nach oben. Die steinerne Decke der Kathedrale verschwand im Halbschatten und wirkte schwer. Fast verrückt, wie dieses immense Gewicht dort oben bleiben konnte und sie nicht hier unten zermalmte mit all den anderen, die neben ihr lagen. Arina schloss die Augen für einen Moment und es tat gut. Die Kathedrale war zu einer der wenigen Stätten der Zuflucht geworden, nach allem was passiert war. Es war viel passiert. Das Grauen war aus den Meeren aufgetaucht und wütete bei Tag und Nacht. Glühende Saphiraugen, rasselnde Klingen und furchterregende Schreie erfüllten jeden Landwinkel. Jene, die sie einst verehrt hatten als Spender des Lebens, waren in ihrer ganzen schrecklichen Erhabenheit erschienen – nicht als Lebensspender, sondern als erbarmungslose Rächer. „Es gibt Essen. Wach auf.“, sagte eine Männerstimme. Sie öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Menschen, ein Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte und dessen Haarwuchs bereits nachließ. „Ich bin wach.“, sagte Arina – und stellte fest, dass ihre Stimme durch den wenigen Gebrauch furchtbar eingerostet war. Wie lange hatte sie schon mit niemandem mehr gesprochen? Schwer zu sagen, wenn man hier lag, halb wach und halb in tranceähnlichem Schlaf. Vielleicht ein paar Tage. Der Mensch trug einen Topf bei sich in dem sich die Suppe befand. Es stieg bereits kein Dampf mehr daraus hervor, aber das war nicht schlimm. Er nahm eine kleine Schale und füllte sie mit einem Schopflöffel der kalten, dünnen Suppe. „Kannst du dich aufrichten?“, fragte er dann. Arina nickte. Sie konnte es zumindest versuchen – und der Versuch glückte. Man wusste ja nie, welche Wunden man sich einbildete zu haben, welche von dem Gebrabbel anderer Verletzter neben einem stammten und welche der Körper wirklich erlitt. Der Mann gab ihr die Schale und sie nahm sie mit beiden Händen an, wohl darauf bedacht, nichts zu verschütten. Es hätte Zeiten gegeben, in denen sie sich nun geschämt hätte und in der sich besonders andere für sie geschämt hätten. Als Elfe wortlos die Hilfe eines Menschen anzunehmen. Diese Zeiten gab es allerdings nicht mehr. „Das sind ungewöhnliche Narben auf deinen Händen.“, meinte der Mensch, nachdem er dem Flüchtling, der neben ihr lag, aufgeholfen hatte. Arina hielt inne und betrachtete ihre Hände. Weiße, geschwungene Linen überzogen die Haut vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen auf beiden Händen. Selbst durch den Schmutz auf ihrer Haut konnte man sie noch schimmern sehen. „Ja, das sind sie.“, sagte sie nur und hoffte darauf, dass der Mann zu beschäftigt war, um weiter danach zu fragen. Er fragte auch nicht weiter – das musste er nicht. „Ich weiß, was sie bedeuten. Du bist die Gesandte.“ Arina schloss wieder die Augen. Eine Weile lang geschah nichts, außer dem Leiden der anderen Flüchtlinge, dem Stöhnen und Jammern der Vermissenden und dem Jaulen der verrückt gewordenen. Verrückt werden konnte man heutzutage sehr leicht. „Warum bist du hier?“, hörte sie den Mann fragen. Sie konnte die Wut wahrnehmen, die hinter der Frage steckte. Enttäuschte Hoffnung. Nicht erfüllte Erwartung. Ich habe keine einzige Erwartung erfüllt. Taras kam ihr in denn Sinn und mit ihm die alten, quälenden Fragen. Hätte er es besser gekonnt? Hätte er es geschafft? Hätte mein Bruder die Erwartungen erfüllen können? Ja flüsterte der Zweifel in ihr, das hätte er mit Leichtigkeit. Du kannst dich an seinen Mut erinnern – seine Entschlossenheit. Nichts hätte ihn abgehalten, nicht der größte Widersacher. Aber du bist bereits beim kleinsten zusammengebrochen. Arina wusste nicht, was sie dem Menschen antworten sollte, denn offensichtlich schien er auf eine Antwort zu warten. Sie schloss die Augen langsam und öffnete sie wieder, nahm dann einen Schluck von der kalten Suppe. Mehr Wasser, als Suppe. Aber besser als nichts. Der Mann wartete immer noch und als sie ihn ansah, bemerkte sie, dass seine Lippen in stummer Frustration fest aufeinander gepresst waren. Sie seufzte einmal kaum hörbar. Sie konnte sich vorstellen, was der Mann hören wollte. Ein wenig Hoffnung, weil es ihre Aufgabe war, Hoffnung zu geben. Etwas, wie Ich bin hier, weil ich meine Pflicht erfülle – warte es nur ab, die Zeiten werden besser. Oder etwas, wie Dieser Kampf ist noch nicht dabei. Aber sie wusste genauso gut, dass er etwas wie Ich bin hier, weil ich versagt habe. Alle Hoffnung ist verloren und wir werden alle sterben ebenso viel hören wollte, wie die positiven Nachrichten. So waren jene, die etwas von ihr erwarteten. Sie vertrauten fest darauf, dass die Gesandte es richten würde, ganz gleich was auch nur kommen mag – aber sie gierten ebenso verhungert danach, sie straucheln, stolpern und stürzen zu sehen und sie zu beobachten, wie sie im Staub nach Wasser suchte. Es war nicht schlimm. Aber es war keine Antwort für diesen Mann. Deshalb gab sie ihm keine und er setzte seine Arbeit fort. Kapitel 1: ----------- Bevor sich das Grauen erhoben hatte, war Arina nichts von alledem gewesen. Sie hatte eine Identität verkörpert, die nicht unterschiedlicher hätte sein können. Ihr ganzer Name war Arina Sinele Eldanas und das war ein guter Name. Sinele war der Name ihrer Großmutter gewesen, die sie nie auf Bildern, sondern nur in ihren eigenen Vorstellungen aus den Geschichten über sie gesehen hatte. In den Geschichten war ihre Großmutter Sinele eine sehr freundliche, aber ebenso strenge Person gewesen, und sie war eine Elfe reiner Abstammung gewesen. Ihr Nachname Eldanas zeugte davon. Seit vielen Generationen war die Familie Eldanas nicht mit Menschen verkehrt und noch weniger mit Halbelfen – sie legten wert darauf, dass andere dies zur Kenntnis nahmen, aber es war nicht das, was ihre Familie in den Köpfen der anderen ausmachte. Das, was ihre Familie ausmachte, war das, was auch ihre Großmutter Sinele verkörpert hatte. Ein grundliegend freundlicher und höflicher Charakter, fern von List und Betrug, der sich weder heldenhaft noch patriotisch, aber fleißig an seine Pflichten in der Gesellschaft hielt. Sie waren eine Familie, deren ferne Vorfahren einst reich und mächtig gewesen sein mochten, aber heute war nur sehr wenig von diesem Glanz übrig geblieben. Als ihre Welt noch völlig in Ordnung gewesen war - mit 12 Jahren – hatte Arinas Vater als sehr geschickter und dadurch sehr gefragter Töpfer gearbeitet. Er töpferte kunstvolle Vasen und Urnen für die Verstorbenen und ihren Blumenschmuck, aber ebenso gern töpferte er handliche und praktisch geformte Teller und Tassen. Beides verkaufte er zu guten Preisen und deshalb konnte sich Arinas Familie ein gutes und glückliches Leben in einem ruhigen Viertel der Stadt leisten, umgeben von vier gemauerten Wänden, die zwei Stockwerke einschlossen. Ihre Mutter war für Arina eine der wichtigsten Personen ihres Lebens gewesen. Sicherlich war allein die Tatsache, dass es ihre Mutter war, dabei ausschlaggebend – aber dort, wo Großmutter Sinele Strenge und Ordnung hätte walten lassen, war ihre Mutter Nanja feinfühlig und erklärend gewesen. Das war gut gewesen, denn Arina war ein furchtbar weinerliches Mädchen – vielleicht war sie auch erst dadurch weinerlich geworden, dass ihre Mutter so viel freundlicher gewesen war, als Großmutter Sinele es zu ihr gewesen war. Arina hatte bei jeder Gelegenheit geweint. Sie hatte geweint, als sie ihren Finger am Brennofen ihres Vaters verbrannt hatte und sie hatte geweint, als es an ihrem Geburtstags geregnet hatte – ebenso, wie sie geweint hatte, dass ihre selbst gepflanzten Blumen nicht blühten, sondern nur grün wucherten und wie sie geweint hatte, als ihr Bruder sie geschubst hatte. Letzteres kam allerdings nicht oft vor. Obwohl sie und ihr Bruder Taras 4 Jahre auseinander lagen, und das für Kinder ein beträchtlicher und wahnsinnig bedeutend großer Zeitunterschied war, waren sie im Großen und Ganzen immer gut miteinander ausgekommen. Mehr noch – Taras beschützte Arina gern wie selbstverständlich vor allen großen Gefahren, die das Leben für sie barg. Große, hässliche Spinnen, als sie vier und er neun Jahre alt gewesen waren und große, hässliche Linkfinger, als sie elf und er 16 gewesen war. Im Gegenzug dafür behielt Arina jedes Geheimnis ihres Bruders für sich. Absolut jedes. Sie verriet ihn niemals. Nicht, als er mit sieben Jahren ein Stück Kuchen vom Bäcker geklaut hatte, und auch nicht, als sie ihn dabei erwischte, wie er sich mit 15 selbst berührte, obwohl das für einen brav erzogenen Elfen etwas Verbotenes war – das wusste auch sie bereits. Taras hatte einmal gesagt, dass er ihr immer etwas schuldig sein würde, weil ein paar Schläge in die Gesichter unangenehmer Zeitgenossen nie das aufwiegen würden, was sie für ihn tat. Arina war stolz gewesen, das zu hören und hatte sich sehr, sehr erwachsen und wichtig gefühlt. Und sie hatte auch ein bisschen geweint, aber vor Freude. Zu ihrem Vater hatte Arina eine Beziehung, die sie nie so richtig erklären konnte. Es war offensichtlich, dass ihr Bruder und ihr Vater sich sehr nahe standen – Arinas Mutter Nanja nannte das oft „Das typische Männergetuschel“, wenn die beiden zusammen hockten und über alles mögliche redeten, was man wahrscheinlich einfach nicht verstand, oder wofür man sich nicht genug begeistern konnte, um es zu verstehen, wenn man kein Mann war. Aber obwohl ihr Vater ihr immer etwas fremd gewesen war, liebte Arina ihn natürlich dennoch – schließlich konnte man sich seine Eltern vielleicht nicht aussuchen, aber auch niemals leugnen. Dass ihr Vater sie ebenfalls liebte, merkte Arina an dem Tag, als ihre heile Welt zerbarst und ihre Tränen nicht mehr kindisch, sondern tragisch wurden. Es war ein Sonntag. Und es war Arinas 13er Geburtstag. Und es regnete. Deshalb hatte das Mädchen bereits den gesamten Tag verteilt über geweint und gejammert. Es war gemein, dass es gerade an diesem Tag regnete, und es war noch gemeiner, dass es generell so oft an ihrem Geburtstag regnete. Dummerweise war sie nun einmal im Herbst geboren worden – was ja eigentlich gar nicht schlimm war, denn wenn im Herbst schönes Wetter war, dann leuchtete alles in den schönsten Farben. Außerdem konnte ihre Mutter im Herbst herrliche Früchtekuchen backen, Kürbissuppe kochen und allerlei andere wunderbar leckere Dinge hervorzaubern. Der Herbst war also eigentlich die ideale Jahreszeit – außer wenn es eben regnete, so wie heute. Der Himmel war stahlgrau und auf den Straßen trieben sich nur wenige Leute herum, die eilig von Ort zu Ort liefen, fluchend und sich über das Wetter ärgernd. Der Regen prasselte auf das Kopfsteinpflaster der Stadt, in der Arina mit ihrer Familie lebte und es floss in kleinen Bächen über den Weg bergab. Die Stadt hieß Anula und lag auf einem Hügel. Alle Häuser klammerten sich auf dem gewölbten Rücken dieses Hügels, angefangen mit den schäbigen Hütten der Armen und Kranken am Rande der Stadt, bis hin zu den wunderschönen Herrenhäusern der Hochelfen am Gipfel des Hügels. Genau in der Mitte der Stadt stand die Villa des Elfenfürsten Halnar von Orath, ein Elf von edelster Abstammung, seit Generationen floss das blaue Blut durch die Adern seiner Familie und seit Generationen bewohnten sie dieses Haus und beherrschten die Stadt Anula. Arina wusste, wie schön diese Villa war, denn manchmal – an ganz besonderen Tagen im Jahr – war es auch dem gemeinen Volk erlaubt, die Mauer, welche das Haus des Fürsten umringte, hinter sich zu lassen und sich der herrlichen Villa mit seinen wunderbaren Gärten und Blumenanlagen zu nähern. Am Geburtstag der schönen Elfenfürstin und Gemahlin von Halnar im Sommer war ein solcher Tag, und es war definitiv einer der schönsten Tage, die man jedes Jahr auf der Villa verbringen konnte. Zur Feier ließ der Fürst jedes Jahr zahlreiche Beerenküchlein backen und an jeden verteilen, außerdem gab es Pfirsischsaft aus mannshohen Fässen für alle. Der Duft der Blumen in den Gärten, zusammen mit dem Geschmack von Beerenkuchen und Pfirsischsaft – das war etwas einzigartig Schönes. Sogar die Menschen durften an diesem Tag frei in der Stadt umherwandeln und wurden von keiner Wache angehalten und fortgejagt – es sei denn natürlich, sie taten etwas Unrechtes. Und das war schließlich keine Selbstverständlichkeit, denn wie jeder Elf wusste, war einem Menschen bei weitem nicht zu trauen. Ein Mensch war nicht mit den Gaben des Elfengeschlechts gesegnet, er hatte weder die Gabe der Magie, noch die Gabe des Sternensehens. Und so etwas konnte einem schließlich nicht wirklich geheuer sein. Bisher hatte Arina noch keinen einzigen Geburtstag der Fürstin erlebt, an dem kein herrliches Wetter gewesen wäre. Und heute wünschte sie sich, dass sie selbst ebenfalls, wie die Fürstin vielleicht einmal im Sommer Geburtstag haben könnte, bei strahlendem Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Aber so war es leider nicht und mittlerweile war Arina auch alt genug, um das einzusehen. Wunder geschahen nur zu außergewöhnlichem Zweck und sie geschahen ebenfalls nur außergewöhnlichen Helden – meistens leider auch nur in Geschichten. Das blonde Elfenmädchen seufzte schwer und starrte lustlos aus dem Fenster des Wohnraums. Sie saß am hölzernen Esstisch, die Arme verschränkt, die Beine übereinander geschlagen und obwohl ihr der Geruch von frisch gebackenem Apfelkuchen in die Nase stieg, den ihre Mutter einzig für ihren Geburtstag gebacken hatte, hatte sie keine Lust sich umzudrehen und eine fröhliche Miene aufzusetzen. Es war doch wirklich gemein! „Taras, hol noch etwas Holz für das Feuer! Und ruf deinen Vater dann aus seiner Werkstatt, der Kuchen ist in ein paar Minuten fertig!“, hörte sie ihre Mutter rufen. Sie hörte, wie ihr Bruder den Wohnraum verließ und die Treppen hinab stieg, zum Erdgeschoss wo Laden und Werkstatt ihres Vaters waren. Aber sie hatte keine Lust, ihm hinterher zu sehen, oder sich über den bald fertigen Kuchen zu freuen. Sie hatte auch keinen richtigen Hunger auf Apfelkuchen. Sie schniefte einmal heftig und ein paar Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Arina?“, fragte ihre Mutter, „Geht es dir nicht gut?“ Im nächsten Moment spürte sie die Hände ihrer Mutter auf ihren Schultern. „Du weinst ja, mein Schatz.“ Arina seufzte leise und wischte sich die Tränen weg. Jetzt schämte sie sich ein wenig – denn eigentlich war es unfair, so traurig zu sein, obwohl sich ihre Mutter solche Mühe gab, ihr einen schönen Tag zu bereiten. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. „Ich hätte einfach nur gern schöneres Wetter gehabt an meinem Geburtstag.“, meinte sie betrübt. Arinas Mutter musste lächeln. Ihr Gesicht sah schön aus, wenn sie lächelte. Ein wenig alt geworden, von den Anstrengungen des Lebens, aber schön. „Die Wetterfee ist leider ziemlich eigensinnig, das weißt du doch. Aber vielleicht wird es morgen schöner, dann können wir nachmittags einen Spaziergang machen. Was hältst du davon?“, fragte sie. Arina nickte. Dieser Vorschlag war eine gute Idee – Herbstspaziergänge waren immer aufregend. Jetzt hatte sie doch wieder gute Laune und als ihre Mutter sie fragte, ob sie schon einmal den Tisch decken wollte, sprang sie gut gelaunt auf und holte Teller und Tassen. Der Regen fiel weiterhin auf das Dach des Hauses und schlug gegen die Fenster, es kam starker Wind auf, der an den Scheiben rüttelte und ein paar herrenlose Dinge über die Straße fegte. Ein Blechtopf klapperte über die Straße und rollte bergab. Der Tisch war gedeckt und Arinas Mutter hatte gerade den noch dampfenden Kuchen darauf gestellt. Eigentlich fehlten nur noch Taras und ihr Vater, die wohl immer noch unten in der Werkstatt waren. „Wahrscheinlich ist dein Bruder mit deinem Vater wieder im Gespräch versackt.“, meinte ihre Mutter, „Er hat nicht einmal das Holz gebracht. Meine Güte...“ Sie grinste und Arina musste lachen. „Aber wir sollten den Kuchen trotzdem schon einmal anschneiden – dann kühlt er etwas ab. Und wenn sie eben zu lange brauchen...dann kriegen sie nichts ab! Arina, möchtest du deinen Kuchen selbst anschneiden?“ Das Mädchen nickte freudig. Sie war nicht besonders geschickt mit einem Küchenmesser in der Hand. Beim Kartoffelschälen blieb bei ihr meistens nur ein daumengroßer Rest übrig, der Rest der Kartoffel war an der Schale. Und wenn sie Brot schneiden musste, konnte man entweder durch die Scheiben durchsehen, oder sie waren so dick wie eine Tischplatte. Oder beides. Aber es gab einem so ein schönes Gefühl von „Erwachsensein“, wenn man ein großes Küchenmesser in die Hand nehmen durfte, um damit zu helfen. Ihre Mutter gab ihr das Messer und Arina schnitt. Kein einziges Stück Kuchen war ordentlich, alle waren unterschiedlich groß, krumm und buckelig. Aber was machte das schon – der Dampf, der aus dem Inneren des Kuchens kam, ließ einem trotzdem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Regen an den Scheiben wurde lauter, während sie auf die beiden warteten und der Kuchen abkühlte. Gerade wollte Arina fragen, ob sie nicht doch mal nach unten gehen sollte, um die beiden Trantüten zu rufen, als sie polternde Schritte hörte, welche die Treppe hinauf eilten. „Na endlich!“, sagte sie und drehte sich erwartungsvoll zur Treppe um. Ihr Bruder betrat keuchend den Raum und sie wollte ihm schon im Scherz sagen, dass der Kuchen bereits komplett in ihrem Bauch gelandet war – als sie den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Er rang um Atem, drehte sich hektisch nach hinten um, als hätte er Angst, von einem Monster verfolgt zu werden und eilte dann zum Tisch. Ihre Mutter stand hastig auf. „Taras, was ist passiert!“, fragte sie und jegliche Geburtstagsstimmung war aus ihr verschwunden. „Wir müssen hier raus...“, keuchte ihr Bruder. Seine Stimme war zittrig vor Aufregung und Anstrengung. Jetzt konnte man von unten laute Rufe hören. Eine Stimme gehörte ihrem Vater, die anderen erkannte Arina nicht. Sie hörte, wie ein Tonkrug zerbarst. „Wer ist das!“, fragte ihre Mutter laut, „Was ist mit deinem Vater?“ Sie wollte zur Treppe eilen und rief nach ihrem Mann, erreichte bereits die erste Stufe, als Taras sie festhielt. „Die bringen uns um!“, sagte er laut, „Sie sind bewaffnet!“ Arina hörte ihr Herz laut klopfen. Sie hielt immer noch das Küchenmesser in der Hand und zitterte am ganzen Körper, unfähig aufzustehen oder irgendetwas zu sagen. Banditen. Es waren sicherlich Banditen. Oh Götter. Sie kamen hier her und sie würden alle umbringen. Der Atem des Mädchens beschleunigte sich und schon wieder musste sie weinen, aber niemand bemerkte es – sie selbst ebenso nicht. Sie konnte sehen, wie ihre Mutter hektisch mit ihrem Bruder sprach, aber war nicht imstande, ihnen zu hören. Das Blut rauschte in ihren Ohren und die Knöchel der Hand, die das Messer immer fester umschlossen, wurden schneeweiß. Ihr Bruder hastete auf sie zu und sagte ihr etwas, er schüttelte sie, aber Arina verstand ihn nicht. Dann zog er sie einfach mit und rannte mit ihr in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Messer ließ sie fallen. Ein relativ kleiner Raum mit nur einem Fenster und einem Bett für zwei Personen in der Mitte. Ihre Mutter lief nach unten, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte das große Messer vom Fußboden aufgehoben. Jetzt erwachte das Mädchen aus seiner Starre. „Mama?“, rief Arina, aber ihr Bruder schloss die Tür bereits und lief zum Fenster des Raumes. „Die kommt nicht mit. Schnell, wir müssen hier raus!“, sagte er, ließ die Hand seiner Schwester los und öffnete das Fenster. Arina keuchte ängstlich. „Nein, warte! Sie muss mitkommen!“ Sie lief zurück zur Tür, aber bevor sie die Klinke berühren konnte, umklammerte ihr Bruder sie mit beiden Händen und trug sie zum Fenster. Arina schrie und trat um sich. Das konnte er nicht machen! Das konnten sie nicht machen! Ihre Eltern waren da unten in Gefahr, die Banditen würden sie töten! Verbrennen! „Halt den Mund, Arina! Halt den Mund, oder sie finden uns! Komm schon! Sei ruhig!“, fauchte ihr Bruder sie an und hielt sie grob fest, während er sie durch das geöffnete Fenster zwängte. Arina verlor den Kampf gegen ihren Bruder, natürlich war er viel stärker als sie und ehe sie sich versah, landete sie auf dem Dach des Ladens, der etwas weiter hin zur Straße ausgebaut war. Es war rutschig und sofort durchnässte der Regen ihre Kleider und ihr Haar. Ihr Atem ging schneidend und sie wimmerte vor Angst. Was war hier nur los? Taras sprang ebenfalls aus dem Fenster, wesentlich geübter, als sie und griff sofort wieder nach ihrer Hand. „Komm schon, Arina. Lauf!“, sagte er und wollte los rennen, aber das Mädchen hielt ihn zurück. „Was ist mit Mama und Papa?“, fragte sie laut, „Die Banditen werden sie töten! Sie werden sie töten!“ Unter ihnen im Laden zerschellte wieder etwas und es polterte heftig. Arina konnte ihre Mutter schreien hören, wie sie sie noch nie gehört hatte. Wie ein wildes Tier. Taras sah seine Schwester an und konnte ihr keine Antwort geben und erst jetzt erkannte Arina, dass auch er Tränen in den Augen hatte. Und Angst. „Komm schon!“, sagte er und dieses Mal leistete sie keinen Widerstand. Sie liefen über das Dach des Ladens und sprangen auf das nächste, immer weiter und weiter, die Straße rechts neben ihnen wie ein reißender Abgrund. Arina traute nicht, sich umzudrehen, oder anzuhalten. Sie hörte, dass jemand hinter ihnen war und wild rief. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Noch ein Dach weiter, noch eins weiter. Das Mädchen rechnete jeden Moment damit, dass die lockeren Schindeln unter ihren Füßen wegbrachen, dass das Dach unter ihnen nachgab oder sie ausrutschten und auf die Straße stürzten. Der Regen war so dicht und sie rannten so schnell, dass Arina kaum imstande war, etwas deutlich zu sehen. Noch ein Dach weiter. Ihr Bruder sprang, sie sprang mit, immer noch hielten sich beide an den Händen. Sie konnte das nächste Haus sehen, Taras erreichte das Dach – Arina nicht. Das Mädchen schrie und fiel hinunter, beinahe hätte sie ihren Bruder mit sich gerissen, aber im letzten Moment konnte er sie festhalten. Die polternden Schritte ihres Verfolgers hinter ihr kamen immer näher. ‚Jetzt sterben wir. Wir sterben. Oh Götter!’ „Halt dich fest!“, schrie ihr Bruder. Seine Stimme überschlug sich. Arina klammerte sich an die nasse Hand, die sie zwischen den beiden Häusern baumeln ließ, unter ihr die Straße. Langsam konnte Taras sie nach oben ziehen, schon hielt sich Arina an der Kante des Daches fest und kletterte nach oben. Sie schürfte ihre Knie an den Schindeln auf, fiel in die Arme ihres Bruder, der sie sofort wieder hochzog. „Weiter! Los!“, rief Taras, doch in der nächsten Sekunde sprang noch jemand über die Lücke zwischen den beiden Häusern. Ihr Verfolger hatte sie eingeholt. Es war ein Mensch – eine Frau, soweit Arina es im dichten Regen sehen konnte. Sie trug eine Rüstung aus schwarzem Eisen, ein Helm auf ihrem Kopf ließ nur wenig von ihrem Gesicht erkennen. In der rechten hielt sie ein Schwert, auf die beiden Geschwister gerichtet. Schnell hatte sie sich den beiden in den Weg gestellt und drängte sie an die Kante des Daches. Der Regen klirrte auf ihrer Rüstung. Sie sah nicht aus, wie ein Bandit – aber wonach sie aussah, konnte Arina im Moment nicht entscheiden, die Angst brachte sie um den Verstand. „Keinen Schritt weiter! Das Spiel ist aus!“, sagte die Frau. Ihre Stimme klang rau und dunkel. Das Mädchen spürte, wie Taras die Arme schützend um sie schlang. „Verschwinde!“, schrie er, „Lass uns in Ruhe!“ Die Frau lächelte kurz und Arina erkannte, dass sie hilflos waren. Sie standen nur wenige Zentimeter entfernt vom Abgrund, wenn sie sprangen, würden sie sich wahrscheinlich alle Knochen brechen. Und vor ihnen stand die bewaffnete Frau. Sie saßen in der Falle. „Ich werde euch nicht töten.“, sagte sie. Jetzt erkannte Arina einen leicht südlichen Akzent in ihrer Stimme und sie bildete sich einen dunklen Teint auf dem sichtbaren Teilen ihres Gesichts ein. „Lügnerin!“, rief Taras, „Verarsch mich nicht, Mensch!“ Die Frau antwortete nicht mehr, sondern bewegte sich noch einen Schritt näher auf die beiden zu. Arina wimmerte. Plötzlich hörte das Mädchen einen weiteren Schrei. Ein Mann sprang auf das Dach, woher er gekommen war, konnte sie nicht sagen. Er lief auf die bewaffnete Menschenfrau zu, zog ebenfalls ein Schwert und schlug sie zurück. Sofort verwickelten sich beide in einen Kampf. Die Geschwister liefen ohne Zögern weiter, die Frau in der Rüstung hatte keine Zeit mehr, sie zu beachten, als ein Elf sie abfing und festhielt. Er hatte rotes Haar, ohne Zweifel ebenso durchnässt, wie seine leichte Stoffrüstung. Auch er trug ein Schwert bei sich. „Rasch! Ihr könnt mir vertrauen!“, sagte er zu ihnen. Ohne ihnen Zeit zu geben, um Misstrauen zu schöpfen, griff er nach Arina und warf sie vom Dach. Das Mädchen schrie laut vor Angst, aber statt auf dem steinharten Straßenboden zu landen, fiel sie in die Arme eines weiteren Elfen, der sie auf ein weißes Pferd hievte, danach ihren Bruder auffing und ebenfalls auf das Pferd setzte. Er war größer als der rothaarige, hatte dunkles Haar und trug ähnliche Rüstung, aber für eine genauere Betrachtung blieb keine Zeit. Im nächsten Moment sprang auch der rothaarige Elf vom Dach, stieg auf ein weiteres Pferd, der größere Elf saß ebenfalls auf, nachdem er dem Pferd von Arina und Taras einen Klaps auf den Hintern verpasst hatte und alle drei Tiere stürmten los. Arina wusste, dass ihr Bruder erst ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen hatte – und das war Jahre her. Sie hatten sich nachts zusammen auf die Weide eines Pferdehändlers weiter unten in der Stadt geschlichen, weil Taras unbedingt Ritter spielen wollte. Zurück musste er sich mit einem gebrochenen Arm schleichen. Wie er das Pferd unter Kontrolle halten konnte, wusste das Mädchen nicht. Sie kniff die Augen zusammen, klammerte sich so fest es ging, an ihn, spürte den schnellen Galopp des Pferd und die harten Regentropfen auf ihrem Kopf und Rücken. Sie konnte Geschrei hören. Weiteres Hufgeklapper hinter ihnen – Götter sie wurden immer noch verfolgt! Das Geklapper des Kopfsteinpflaster wandelte sich in das Geräusch von matschiger Erde, sie hatten die Stadt verlassen. Die Hetzjagd ging weiter und weiter, keine Zeit um einen klaren Gedanken zu fassen. Arina glaubte, ihr Herz würde zerspringen. Der Albtraum hörte und hörte nicht auf. Nach einer halben Ewigkeit, wie es schien, hörte das Mädchen, wie sie wieder über steinigen Untergrund ritten. Sie wurden langsamer und die Elfen riefen etwas. War es vorbei? Endlich wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. Es regnete immer noch. Wie sie vermutet hatte, hatten sie die Stadt verlassen, nun befanden sie sich auf einem Gutshof irgendwo auf den Ländereien, die um Anula lagen. Ein Haus, mit Stroh gedeckt lag vor ihnen. Es waren nun mehrere Elfen zu Pferd, die hier auf dem Hof vor dem Haus standen, als sie zuvor gesehen hatte. Sechs Elfen, alle in der gleichen Rüstung – ganz offensichtlich eine Art Uniform, vielleicht waren es Soldaten eines fremden Fürsten? – stiegen von ihren Tieren ab und ließen sie von Stallburschen abführen. Unter ihnen waren die zwei, die sie und ihren Bruder gerettet hatten. Taras stieg ebenfalls ab. Er sah vollkommen fertig aus. Die Kleider klebten an ihm wie eine zweite, schwere Haut. Keuchend half er Arina, von dem Pferd abzusteigen. Obwohl sie angehalten hatten, herrschte immer noch Hektik unter den fremden Männern. Der Rothaarige eilte auf sie beide zu und instinktiv nahm Arina die Hand ihres Bruders. „Mein Name ist Shayan. Wir sind Ritter des Königs von Sanarya.“, sagte er, „Ihr seid hier in Sicherheit.“ Er wollte einen weiteren Schritt auf die Geschwister zugehen, da zog Taras Arina an sich und wich zurück. „Was ist hier los!“, rief er aufgebracht, „Fasst uns nicht an! Ich will wissen, was zum Teufel hier los ist!“ „Beruhigt Euch. Kommt mit mir, ich werde Euch alles erklären.“, antwortete Shayan. Er hielt ihnen die Hand hin. Einige Sekunden noch starrte Taras den Elfen noch misstrauisch an, das Mädchen glaubte sogar, ihn knurren zu hören. Dann lockerte er zögerlich den schützenden Griff um Arina und gab Shayan die Hand. „Folgt mir. Ein Hundewetter!“, sagte der Rothaarige und lächelte beide an. Er führte sie in das innere des Hauses, wo sie die wohlige Wärme eines Kaminfeuers empfing. Draußen zogen die übrigen Elfen ihre Waffen und umstellten den Hof, fest entschlossen, jedem Verfolge ihr Eisen durch das Herz zu stoßen. * Kapitel 2: ----------- Das Untergeschoss bestand fast aus einem großen Wohnraum. Es gab einen großen Kamin, in dem ein Feuer prasselte, darüber hing ein Topf, aus dem Dampf aufstieg. Ein langer Eichentisch mit zahlreichen Stühlen und mehrere Regale und Schränke, in denen Töpfe und andere Haushaltsgegenstände standen. Zwei Türen führten in nebenliegende Räume, eine Treppe in das Obergeschoss des Hauses. Es war ein gewöhnliches Haus eines nicht wohlhabenden, aber auch nicht armen Landbesitzers, der seinen Unterhalt vielleicht mit Viehzucht oder Früchteanbau verdiente. Am Feuer stand eine kräftige Elfin, die Kopftuch und Schürze trug. Ihr schwarzes Haar lugte unter dem Tuch in wenigen Strähnen hervor. Am Tisch saßen mehrere Elfen, die sich über etwas scheinbar Wichtiges unterhielten, ihre Stimmen waren gesenkt und sie gestikulierten bedeutend mit ihren Händen. Als Shayan mit den Geschwistern hereinkam, verstummten sie und blickten auf, die Frau drehte sich zu ihnen um. Ihr Gesicht war rund und rotwangig und erinnerte Arina an eine warmherzige Tante, die ihren Neffen und Nichten gern ab und zu einen Apfel zusteckte. Oder ein süßes Brot. „Ihr seid jetzt schon da? Was ist passiert, Ihr solltet doch erst morgen zurückkehren.“, fragte einer der Männer vom Tisch und stand auf. Sein Kopf war dicht unter der Decke, er hatte einen gepflegten Kinnbart und kleine, schmale Augen. Große Tellerhände, die sich um seinen Schwertknauf legten. Sein Aussehen schüchterte Arina ein und ihre Finger verflochten sich mit denen ihres Bruders, der sie beruhigend drückte. „Wir mussten vom Plan abweichen, Hauptmann.“, antwortete Shayan dem Mann ruhig, „Man ist uns zuvor gekommen.“ Der Hauptmann ging auf die drei Neuankömmlinge zu und blieb vor Taras und seiner Schwester stehen. „Wer von den beiden ist es?“, fragte er, als ob sie es nicht hören könnten. Der rothaarige Elf runzelte leicht die Stirn. „Wir hatten noch keine Zeit, uns zu unterhalten, Haupt...“ „Götter, ihr seid vielleicht ein Pack!“, sagte plötzlich die dunkelhaarige Frau am Feuer, eilte auf die Gruppe zu und schob sowohl den Hauptmann, als auch Shayan zur Seite. „Ihr armen Dinger seid nass bis auf die Knochen.“, sagte sie mit mitleidiger Miene, dann drehte sie sich zu den beiden Männern um, „Und euch beiden fällt nichts besseres ein, als sie so hier stehen zu lassen? Wo sind Eure Hofmanieren, Hauptmann!“ Der Angesprochene sah die Frau irritiert an, ehe er antworten konnte, hatte sie sich schon wieder abgewandt. „Mein Name ist Ivette Lacina, willkommen auf meinem Hof.“, sagte sie freundlich, „Und nun kommt erst einmal raus aus euren nassen Sachen, ihr beide holt euch ja den Tod.“ Ivette wandte sich ab, öffnete einen der Schränke und zog einige Kleider hervor, die sie den beiden dann in die Hände gab. Sie zeigte auf eine der beiden Türen. „Dort könnt ihr euch umziehen und...“, sie eilte noch einmal zurück und kehrte mit einem weiterem Stoffstapel zurück, „...damit könnt ihr euch abtrocknen. Ihr seid Geschwister, nicht? Da macht es euch ja nichts aus, euch im selben Raum umzuziehen. Rasch, bevor ihr euch erkältet!“ Die Elfin schob Arina und Taras zu der Tür. Dahinter befand sich ein kleines Schlafzimmer, vielleicht für Gäste. Es war ebenso einfach eingerichtet, wie der große Wohnraum. Kurz sahen sich die beiden Geschwister im Raum um, dann schälten sie sich beide wortlos aus ihren nassen Kleidern und rieben sich mit zwei großen Tüchern trocken. Es tat gut, danach die trockene und saubere Kleidung, die Ivette ihnen gegeben hatte, über zu ziehen, sie passte zwar nicht ganz genau – die Hose, die sie für Taras rausgesucht hatte, war ein wenig zu lang und Arinas Kleid ein klein wenig zu kurz – aber es war in Ordnung. Als sie sich fertig umgezogen hatten, sahen sich die beiden an. Es war der erste ruhige Moment, den sie füreinander hatten, nachdem dieses ganze Chaos ausgebrochen war. Das Mädchen schluchzte. Die Tränen kamen wie von selbst aus ihr heraus und kullerten in dicken Tropfen über ihr Gesicht, was sie sich gerade noch trocken gerieben hatte. Ihr Bruder schloss die Arme um sich. „Was ist mit Mama und Papa?“, fragte die blonde Elfe weinend. Taras atmete tief durch. „Ich weiß es nicht.“, antwortete er. Sie konnte hören, dass auch er mit den Tränen kämpfte. „Ich hab keine Ahnung, was hier passiert. Diese Menschen sind einfach in den Laden gestürmt, ich habe mich versteckt. Götter...“ Jetzt schluchzte auch ihr Bruder. Einmal. Dann zitterte er nur noch leise. Aber Arina wusste, dass es für ihn ein großer Gefühlsausbruch war, ein Geheimnis, was sie wie all die anderen für sich behalten würde. Sie spürte, wie Taras sie an sich drückte und für eine Weile standen sie so da, beide völlig hilflos und verwirrt. Sie wussten nicht, was mit ihnen geschehen war, geschweige denn, warum. Sie wussten nicht wo sie waren. Aber eins wussten sie mit großer Sicherheit. „Wir bleiben hier zusammen, klar?“, sagte ihr Bruder leise. Arina nickte. „Das werden wir. Ich weiche nicht von deiner Seite.“, antwortete sie flüsternd. Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür und die Geschwister horchten auf. „Seid ihr fertig?“, es war Shayans Stimme, „Ich weiß, dass ihr sehr verwirrt seid...ich möchte euch gern einiges erklären.“ Zögerlich lösten sich die beiden voneinander und sahen sich noch einmal gegenseitig in die Augen. Dann nickte Taras, Arina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sie öffneten die Tür. „In Ordnung. Wir hören euch zu.“, sagte er. Shayan forderte sie auf, sich beide an dem großen Eichentisch nieder zu lassen, er selbst nahm in der Nähe des Kaminfeuers Platz. Augenscheinlich war Ivette so gütig gewesen, auch ihm ein trockenes Hemd zu geben, aber seine Hose war immer noch durchnässt. Es schien ihn allerdings nicht zu kümmern. Das blonde Elfenmädchen ließ sich neben ihrem Bruder nieder und während des gesamten folgenden Gesprächs über hielt sie unter dem Tisch seine Hand. Shayan atmete einmal tief durch, ehe er begann. „Ich habe euch bereits gesagt, dass wir Ritter des Königs von Sanarya sind. Der König unseres Landes hat uns ausgesandt, um euch zu finden...und ich wünschte, wir hätten unseren Auftrag einige Tage früher ausführen können.“ „Was ist mit unseren Eltern?“, fragte Taras. Wenn man seine Stimme so gut kannte, wie Arina, bemerkte man, wie er versuchte, sein ängstliches Zittern zu unterdrücken, weil er sich klar war, dass es seine Aufgabe war – die Aufgabe des älteren Bruders – in dieser Situation einen klaren Kopf zu bewahren und die richtigen Fragen zu stellen. Schweigen kam auf. Man hörte den Kamin prasseln und draußen den Regen fallen und den Wind an den Bäumen zerren. „Es tut mir leid.“, antwortete Shayan dann, „Wir wissen es nicht. Einer unserer Ritter stürmte während des Angriffs in das Haus, aber es war bereits niemand mehr dort. Eure Eltern sind entweder geflohen...oder wurden gefangen genommen.“ Arina kniff die Augen zusammen, dennoch musste sie schluchzen und einige Tränen rannen über ihr Gesicht. Taras Hand drückte heftig ihre Finger, auf sein Gesicht legte sich ein bitterer Ausdruck. „Diese Leute...haben euch aus dem selben Grund angegriffen, aus welchem wir euch gesucht haben.“, fuhr der Rothaarige nach einer kurzen Pause fort, „Weil wir von einem von euch glauben, dass er der Gesandte ist.“ Das Mädchen öffnete die Augen wieder und sah die fremden Elfen an. Sie starrten sie und ihren Bruder mit einer Mischung aus Abschätzigkeit, Neugier und Erwartung an – als ob sie und ihr Bruder sich jeden Moment in ein exotisches Monster verwandeln würden. Ihr wurde übel. „Der Gesandte?“, fragte Taras unverständlich. „Vor zehn Jahren erreichte einen Hohepriester unseres Palastes die Vision, dass die Götter einen Gesandten nach Sanarya geschickt haben, in die kommende Generation des Hauses Eldanas. Eure Familie. Seither sind wir auf der Suche.“, erklärte Shayan, „Wir suchten in jedem Winkel des Landes nach Mitgliedern eurer Familie im Alter von zehn bis zwanzig und prüften sie – ihr seid die letzten.“ „Ihr müsst die Bedeutung dieses Titels verstehen.“, sagte der Hauptmann, „Der Gesandte der Götter ist ein Bote in jenen Zeiten, da das Gleichgewicht unseres Landes ins Wanken gerät. Zeiten des Krieges und der inneren Unruhen. Ihm allein wurde die Kraft geliehen, das Gleichgewicht zu halten.“ Das blonde Mädchen sah den Hauptmann verwirrt an. „Aber wir sind nicht im Krieg.“, sagte sie, halb schon eine Frage stellend. Der Elf sah sie an, mit ein wenig Spott in den Augen, als könne er nicht begreifen, wie man so etwas sagen konnte. „Die Gruppe, welche euch angriff, kommt nicht von einem anderen Land – dennoch droht uns ein vernichtender Bürgerkrieg.“, erwiderte er. „Euer Leben verlief bisher geschützt und isoliert vom nationalen Geschehen.“, schaltete sich Shayan wieder ein, „Das wird sich nun ändern. Die Menschen, die euch überfielen, werden die Rotaugen genannt – sie selbst nennen sich die Ingratia. Ihr Ziel ist simpel – der Sturz des Königs und die Zerstörung all unserer Strukturen und Gesetze. Deshalb lag es auch in ihrem Interesse, den Gesandten zu finden, ihn auf ihre Seite zu bringen – oder ihn zu töten. Wir tun alles, um den Rotaugen das Handwerk endgültig zu legen, aber obwohl es sich nur um Menschen handelt, scheinen sie einen Elfen gefunden zu haben, der gewillt ist, ihnen mit Magie weiter zu helfen. Das macht es für uns so schwer. Und daher ist es so wichtig, dass wir schnellstens herausfinden, wer von euch beiden der Gesandte ist, damit wir seine Kräfte gegen die Rotaugen einsetzen können.“ „Was ist, wenn wir das nicht wollen?“, fragte Taras. Er schaute den Rothaarigen und den Hauptmann abwechselnd mit trotziger Miene an. „Wir sind keine Helden und wir sind keine Soldaten. Wir sind einfache Leute, die überfallen und dann aus ihrem Zuhause verschleppt wurden! Die Geschicke des Königs gehen uns nichts an! Bringt uns nach Hause!“ Für einen Moment war die ganze Runde sprachlos und auch Arina sah ihren Bruder erschrocken an. Dann erhob sich der Hauptmann, stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte und sah ihn so zornentbrannt an, als würde er ihn gleich in Stücke reißen. „Wir suchen euch seit zehn Jahren – wir haben euch das Leben gerettet vor diesen Schweinehunden! Wären wir nicht gewesen, dann hättet ihr jetzt zusammen mit euren Eltern in Staub und Blut gelegen, elendig zugrunde gegangen und unserem gesamten Land den Rücken zugekehrt!“, zischte er. Seine unheimliche Größe wirkte nun noch viel bedrohlicher und Arina hatte das Gefühl, dass ein Teil des Zornes sich nicht nur auf die Worte ihres Bruders bezog, sondern vielmehr auf die jahrelange Frustration, sie nicht zu finden – und nun beinahe zu spät gekommen zu sein. „Glaubst du Tunichtgut, dass wir das alles aus Spaß machen?“, seine Stimme polterte durch den Raum, „Tapfere Elfen setzten ihr Leben aufs Spiel – und verloren es – nur um euch zu finden! Eure eigenen Eltern setzten ihr Leben aufs Spiel-“ „Genug jetzt!“, unterbrach Ivette den Hauptmann. Sie löste sich von ihrem Platz am Herdfeuer und verschränkte die Arme, als sie vor dem hühnenhaften Elfen stand, ohne auch nur darüber nachzudenken, dass er ein hochrangiger Militär war und sie nur eine einfache Hofbesitzerin. „Hauptmann, Ihr seid ein ehrenhafter Diener des Königs – aber genauso verbohrt und töricht, wie Euereins es immer ist.“, sagte sie ärgerlich und der Angesprochene setzte sich wieder, zornig schnaufend. Arina konnte nicht anders, als wieder anfangen zu weinen und die Frau sah sie mitfühlend an. „Es wird bereits dunkel draußen und die Kinder haben einen langen Tag hinter sich.“, meinte sie, ging auf den Kessel zu der über dem Feuer hing, nahm zwei Holzschalen und füllte sie nacheinander mit dem Inhalt des Kessels. Es roch nach Gemüsesuppe. „Sie sind keine Kinder mehr, Fräulein Lacina.“, sagte Shayan, „Ich verstehe Eure Fürsorge, aber wir müssen - “ Zornig drehte sich die Elfe um. „Ich verbitte mir diese Gespräche für diesen Abend!“, sagte sie laut und stellte ohne eine weitere Antwort abzuwarten den beiden Geschwistern die Suppenschale auf den Tisch. Auch für die Soldaten begann sie nun, Essen aufzutischen – nicht jedoch, ohne sowohl Shayan, als auch dem Hauptmann einen bösen Blick zuzuwerfen, der keine Widerworte mehr duldete. Zögerlich begannen alle zu essen und erst jetzt bemerkte Arina, was für einen Hunger sie hatte. Als hätte sie tagelang nichts gegessen, schlürfte sie die Suppe hinunter und kaute gierig auf den weichgekochten Gemüsestückchen darin herum. Ihrem Bruder ging es nicht anders. Als man fertig gegessen hatte, nahm Ivette die Schalen wieder an sich und stellte sie in eine Zinkwanne. „Gut.“, sagte sie dann, „Eure Betten habe ich bereits vorbereitet, meine beiden.“ Sie bedeutete ihnen, zu folgen und die drei ließen die Militärs ohne ein weiteres Wort am Tisch sitzen. Arina konnte den Hauptmann etwas ärgerliches schnauben hören – und sie war froh, seiner Gegenwart entkommen zu sein. Sie stiegen die Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Größtenteils war es nur ein Heuboden, außerdem eine Art Vorrats- und Abstellkammer für all die Dinge, die man auf diesem Hof gebrauchen könnte. Über ihnen befand sich das Dachgewölbe – schwere Balken trugen das Gerüst. Das schwindende Dämmerlicht leuchtete noch schwach durch die Ritzen in den Schrägwänden und durch kleine Fenster an den Seiten. Am anderen Ende des Raums jedoch waren mehrere Heuballen nebeneinander aufgeschichtet worden, sodass eine kleine Trennwand entstanden war. Dahinter waren zwei Feldbetten aufgebaut. Durch ein kleines, rundes Fenster konnte man auf die Wiesen und Felder um den Hof hinausblicken. Es war tatsächlich dunkler geworden, als Arina es gedacht hätte. Die Sonne musste schon vor einer Weile untergegangen sein. Der Regen hatte aufgehört und vereinzelt klärte sich der Himmel auf, sein fahles Abendgesicht zeigend. Wenige Sterne funkelten bereits, den Mond konnte sie allerdings nicht sehen. Man konnte die Stimmen der Soldaten von unten heraufdringen hören, aber nur gedämpft und kaum zu verstehen. „Ruht euch aus, solange ihr könnt.“, sagte Ivette Lacina zu ihnen und lächelte dabei. Im fahlen Licht konnte man nicht erkennen, ob es aufmunternd oder mitleidig war. „Danke.“, brachte Taras hervor. Seine Stimme klang gepresst und unnatürlich. Arina blickte ihren Bruder an. Hier oben in der immer größer werdenden Dunkelheit sah sein Gesicht gespenstig aus – ausgemergelt und erschöpft. Kurz verschwand die Elfe in den Schatten, dann kam sie wieder, mit einer brennenden Lampe in der Hand. „Passt auf, dass ihr sie nicht umwerft.“, warnte sie noch, dann ging sie wieder nach unten und wünschte den beiden einen erholsamen Schlaf. Wieder waren die Geschwister allein – dieses Mal mit ein paar Antworten mehr, aber genau so vielen Fragen, die aus diesen Antworten hervorkamen. Taras legte sich ausgestreckt auf sein Feldbett und starrte das Dachgewölbe an, Arina ließ sich ebenfalls auf ihrer Ruhestätte nieder. Nach kurzer Zeit jedoch hielt sie es schon nicht mehr aus, regungslos dort zu liegen und setzte sich auf. Sie starrte in die kleine Flamme hinter dem Glas der Lampe. Die Stimmen unten schwollen an und das Mädchen hörte auch Ivettes Stimme, die sich laut mit den anderen vermischte. Die blonde Elfe wandte sich zu ihrem Bruder. Nun war es vollkommen dunkel draußen und das Licht der Lampe war zu zaghaft, um erkennen zu lassen, ob er schlief, oder noch wach war. „Taras?“, fragte sie leise. „Ja?“, kam die Antwort zurück. Arina hielt für einen Moment inne. Sie wollte ihren Bruder so vieles fragen, obwohl sie einerseits wusste, dass er genauso wenige Antworten kannte, wie sie selbst – und andererseits kaum wusste, welche Frage sie zuerst stellen sollte. „Glaubst du dem Hauptmann?“, fragte sie dann schließlich. Für eine Weile erhielt sie keine Antwort und sie glaubte schon, dass ihr Bruder doch eingeschlafen war. „Ja, ich denke schon.“, sagte er dann jedoch und aus irgendeinem Grund versetzte Arina diese Antwort einen Stich im Herzen. Vielleicht weil sie gehofft hatte, dass diese ganze Geschichte nur eine dumme Lüge war – und wenn ihr Bruder das erkannt hätte, wäre es so leicht gewesen, sich einfach von hier fortzuschleichen und wegzulaufen, auf nimmer Wiedersehen. „Glaubst du...“, das Mädchen brach ab. „Glaubst du, unsere Eltern wussten es?“, hatte sie eigentlich fragen wollen, aber jetzt traute sie sich nicht mehr. Eure Eltern sind entweder geflohen...oder wurden gefangen genommen Shayans Worte hallten in ihrem Kopf wider und sie spürte, wie sich leise Tränen ihren Weg über ihr Gesicht bahnten. Und in beiden Fällen konnten sie bereits tot sein. Nein, daran will ich nicht denken! Bestimmt haben sie einen Weg gefunden...irgendeinen Weg... „Ich denke, wir haben keine Wahl.“, unterbrach ihr Bruder ihre Gedankengänge, „Wir müssen ihnen vertrauen und mit ihnen gehen.“ Arina erwiderte nichts, weil sie wusste, dass Taras recht hatte. Wohin hätten sie denn sonst gehen sollen? Sie kniff ihre Augen zusammen und ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Kann ich bei dir schlafen?“, fragte sie leise und hörte, wie ihr Bruder sich in der beinah vollkommenen Dunkelheit bewegte. Das Heu um sie herum raschelte. „Komm schon her – aber mach die Lampe vorher aus.“, sagte er. Das Mädchen nickte, ohne darüber nachzudenken, dass man das wahrscheinlich gar nicht sehen konnte, löschte die Lampe und kroch dann zu ihrem Bruder. Seine Arme umschlossen sie fest und sie sog tief seinen Geruch ein. Schweigend lagen sie so beieinander. Sie konnte spüren, dass Taras leicht zitterte und hören, wie er ab und zu stockend einatmete. Großer Bruder... „Ich behalt’s für mich.“, flüsterte sie leise. Als Antwort drückte ihr Bruder sie kurz noch fester an sich. Hätte man sie so dort liegen sehen, hätte man sie für frisch Verliebte halten können. Untrennbar hatten sich ihre Körper ineinander geschlungen und ließen sich nicht mehr los, bis sie beide eingeschlafen waren – eigentlich viel zu früh an diesem Abend und ebenfalls mit viel zu vielen Gedanken in ihrem Kopf. Arinas Mutter hatte immer gesagt, dass wer zu viele Gedanken vor dem Schlafengehen hatte, stets viel träumte. An ihre Träume konnte sich das Mädchen am nächsten Morgen nicht mehr erinnern – wohl aber an ihren letzten Gedanken. Ich habe nicht mal ein einziges Stück von dem Kuchen gegessen. * Kapitel 3: ----------- Ivette weckte sie am nächsten Tag. Die Sonne stand bereits am Himmel und ganz offensichtlich hatte sich das schlechte Wetter vollends verzogen. Helles Morgenlicht fiel durch die Fenster auf den Heuboden. Es sah nach einem schönen Herbsttag aus. Als Arina aufwachte, brauchte sie allerdings erst einen Moment, um zu begreifen, wo sie war – und warum. Nach einigen Sekunden fiel es ihr wieder ein, und mit einem Mal hatte sie kein Auge mehr für das hübsche Wetter. Ivette sagte nichts dazu, dass die beiden Geschwister so eng aneinander gekuschelt geschlafen hatten, sie stellte ihnen einen Krug Wasser hin, wenig später brachte sie ihnen ein Frühstück, mit den Worten, dass die Unruhe der Soldaten unten an so einem Morgen noch nicht auszuhalten wäre und sie deshalb besser hier blieben. Arina und Taras sagten nichts, nur ihr Bruder brachte kurz noch ein Dankeschön hervor. Schweigend wuschen sie sich und nahmen ihr Frühstück ein. Das Mädchen versuchte, ihre Haare ein wenig zu ordnen und entfernte die Strohhalme daraus, die sich im Schlaf darin verfangen hatten. Auch ihren Bruder befreite sie von dem Stroh. Sie war sich nicht sicher, was es war – aber etwas hatte sich heute Nacht in sie hineingepflanzt und dieses Ding, dieses so merkwürdig kalte und dennoch brennende Gefühl, ließ sie nun nicht mehr los. Es war keine Trauer oder Wut. Es war wie ein Schatten, der ihr sonst bereits so sensibles und weinerliches Gemüt so sehr trübte, dass sie ständig zittern musste und obwohl sie gut geschlafen hatte, fühlte sie sich schrecklich müde und nicht im Mindesten bereit, für einen neuen Tag. Sie konnte Taras ansehen, dass es ihm ähnlich erging. Aber sie sah ebenfalls, dass in seinem Blick und in seiner Haltung noch etwas anderes lag – etwas, was sie manchmal bei ihm beobachtet hatte, wenn er verbissen versuchte, etwas zu schaffen, was er eigentlich noch gar nicht konnte. Sie hatte es einmal gesehen, als er sturköpfig versucht hatte, eine Vase zu töpfern, aber sie ihm immer wieder auf der Drehscheibe zerfloss. Oder als er Holz hacken wollte, da war er gerade einmal sechs Jahre alt gewesen, die Axt war fast so groß wie er selbst. Es war nur noch eine schwammige Erinnerung in ihrem Kopf, aber sie wusste noch, dass er sich schrecklich aufgeregt hatte, als das dumme Holz sich einfach nicht hatte spalten lassen. Es war etwas so Entschlossenes und gleichzeitig so Frustriertes in ihm, dass es ihr manchmal auch Angst gemacht hatte. Jetzt machte es ihr keine Angst, aber völlig unabhängig davon wusste sie mit ziemlicher Sicherheit, genauso wie sie es all die anderen Male gewusst hatte, dass dieses Gefühl ihn betrügen würde. Von unten schallten tatsächlich mehrere Stimmen herauf und man konnte geschäftige Schritte hin und her laufen hören. Es hörte sich danach an, als würden die Ritter aufbrechen und alles zusammen packen. Wenig später stellte Arina fest, dass sie mit dieser Vermutung richtig gelegen hatte. Shayan kam zu ihnen herauf und lächelte sie aufmunternd an. „Guten Morgen.“, sagte er, „Ich hoffe ihr konntet euch ein wenig erholen.“ Er wartete kurz auf eine Antwort – als Arina das auffiel, nickte sie schnell. „Gut. Wir werden in Kürze aufbrechen, daher würde ich euch bitten, euch bereit zu machen.“ „Wohin reisen wir?“, fragte Taras und blickte den Rothaarigen an, „Ich bewege mich erst vom Fleck, wenn ich genau weiß, wohin ihr uns bringen wollt.“ Shayan zog eine Augenbraue hoch. Eine Mischung aus Überraschung, freudige Neugierde und Amusement legte sich auf sein Gesicht. Was er an dieser Frage so amüsierend fand, konnte Arina sich nicht vorstellen, aber es verärgerte sie, ebenso wie ihren Bruder, als er das Mienenspiel ihres Gegenübers deutete. „Wir bringen euch in die Hauptstadt Sanaryas. Zu unserem König und den Hohepriestern – dort müssen wir damit anfangen, euch zu prüfen. Nach dem, was passiert ist, dürfen wir keine Zeit mehr verlieren.“ Der Rothaarige sah die beiden abwechselnd an. Als sich weder Arina noch Taras zu einer Antwort durchrangen oder sonst eine Reaktion zeigen wollten, seufzte er leise. „Hört zu...“, begann er, „Ich weiß, dass es für euch nicht einfach ist. Und ich weiß, dass ihr uns nicht vertraut – und das ist gut so. In diesen Zeiten solltet ihr misstrauisch sein. Aber ich möchte, dass ihr eines versteht...“ Er ging auf die Geschwister zu, die sich instinktiv an den Händen nahmen, aber es beide nicht wahrnahmen. Shayan beobachtete diese Haltung kommentarlos. „...Selbst wenn ihr uns nicht vertaut, bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Leben in eure Hände zu legen. Begreift ihr das? Ganz gleich, was dieser Tag bringen wird, was der König euch sagen wird, oder Dashin – falls ihr ihm jemals begegnen werdet – einer von euch wird das Schicksal unseres Landes bestimmen.“ Arina hörte, wie ihr Bruder zu einer Antwort ansetzte, und es sich dann doch anders überlegte. Er schluckte einmal. Wieder legte sich der verbitterte Ausdruck auf sein Gesicht. Sie spürte, wie seine Hand, die sie immer noch umklammerte, zu schwitzen begann und sich unruhig bewegte. „Wir sind in ein paar Minuten unten.“, sagte er dann. Shayan nickte langsam. „Ich danke euch beiden.“, meinte er noch, dann verließ er sie wieder und traf die letzten Vorbereitungen für den Aufbruch. Wenig später saß der gesamte Trupp, der sie gestern hergebracht hat, auf Pferden, bereit zum Aufbruch. Der Hauptmann bildete die Spitze der Gruppe, Ivette stand vor der Tür ihres Hauses und sah ihnen allen mit einem Ausdruck hinterher, der Arina an eine stets besorgte Mutter erinnerte. Wo ist meine Mutter? Macht sie sich auch Sorgen? Macht sie sich Sorgen um uns, oder auch um sich selbst? Nicht daran denken. Nicht jetzt „Männer, wir brechen auf!“, rief der Hauptmann, „In drei Tagen werden wir Yasenfall erreichen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Reise eine gefährliche sein wird – unsere Verfolger werden uns mit allen Mitteln zusetzen, die sie haben. Tobit!“ Ein großer, dunkelhaariger Elf hob den Blick. Arina erkannte den Mann, der sie aufgefangen hatte, als Shayan sie von den Dächern geworfen hatte. Jetzt, in der Sonne des Tages, sah er merkwürdig verändert aus. Er wirkte viel zu still und zu unnahbar für Tageslicht. Aber vielleicht spielten ihre Gedanken ihr auch etwas vor. „Reite vor und informiere König von unserem Kommen – und informiere uns, wenn die Gefahr zu groß ist, um weiter zu reiten.“, sagte der Hauptmann und Tobit nickte. Ohne ein Wort zu verlieren, trieb er sein Pferd an und verschwand gallopierend in der Ferne. „Mögen wir alle schon bald die Mauern des Schlosses erblicken.“ Mit diesen Worten setzte sich der Trupp in Bewegung. Arina und Taras saßen wie bei ihrer Ankunft auf einem Pferd und dieses Mal wirkte ihr Bruder ein wenig ruhiger, als sich das Tier in Bewegung setzte. Dennoch merkte sie seine Anspannung, während sie sich an ihm festhielt. Shayan ritt neben ihn – ob aus persönlicher Neigung, oder aus dem Pflichtgefühl, sie sofort beschützen zu müssen, sollte ihnen etwas passieren, wusste sie nicht. Er schmunzelte leise, als sie aufbrachen. „Immer dieser Drang zum Dramatischen, Hauptmann...“, sagte er und jetzt legte sich ein Ausdruck auf sein Gesicht, der Arina neu war. Kampflust? „Sollen sie kommen, die kleinen Menschen...Ich lasse sie nicht an euch heran.“ ∞ Der König von Sanarya war ein Elf, wie es seit Jahrhunderten war. Sein Blut war das reinste im Land, seine Abstammung die Edelste, Begabteste und Wohlerzogendste. Er lebte unter den klügsten Weisen und den erlesensten Künstlern, er hatte Zugriff auf das gesamte Wissen und die Weisheit seines Volkes, ebenso wie er sich in dem größten Luxus und Annehmlichkeiten zurück lehnen konnte. Es war ein gesegnetes Leben für all jene, die an seiner Seite im Schloss leben durften. Seine Geschwister, seine Onkels und Tanten, ebenso wie seine Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Sie badeten im Ansehen und im Rausch des Hochadels, sie waren die Elite dieses Landes – unangefochten seit jeher. Die Mauern des Schlosses umfassten eine unvorstellbar große Fläche inmitten der Hauptstadt Sanaryas. Zahlreiche Hofmeister, Steinmetze, Pferdeherren, Sänger und Tänzer, Minister und Ritter hofierten hier ein und aus, gefolgt von ihren noch umso zahlreicheren Knechten und Mägden, Leibeigenen und Sklaven. Meist waren diese Diener Menschen, manchmal waren es Halbelfen, die jedoch niemals mit der Gabe der Magie gesegnet waren. Es war ihnen verboten, diese Kunst auszuüben und sollte ein Leibeigener diese Fähigkeit in sich tragen, verschwand er und die dunklen Schattenseiten des edlen Hofes verschluckten ihn mit einem Mal. Niemand sprach darüber. Es war ein Gesetz, wie eine Naturgewalt, was Sicherheit und Ordnung schuf. Menschen dienten Elfen. So war es, so sollte es bleiben. Es war nichts Unmoralisches dabei, denn sollte nur einmal das Gerücht über den königlichen Hofe schallen, ein Elfenminister schändet seinen Menschendiener, würde dieser Elf schnell das Weite suchen müssen. Denn der König wusste, dass nur die Gewissheit, dass ein Leibeigener nicht um sein Leben fürchten musste, sondern stattdessen eine ehrenhafte Arbeit als nützliches Mitglied in der Kette der Gesellschaft verrichtete, sie bisher vor Aufruhr und Gewalt bewahrt hatte. Bisher. Wir sind die Ingratia. Wir grenzen uns in jeglicher Form, sei es Blutsverbundenheit, Sprache oder Kultur von dem Geschlecht der Elfen ab. Wir verteidigen die hohen Werte der Unabhängigkeit und Freiheit von Willen und Macht mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir sind bereit, die uns gegebenen Kräfte der Magie gegen jeden Feind und jeden Widerstand zu gebrauchen. Dem Volke der Elfen schwören wir Krieg und ewige Feindseligkeit. Jedwede Verpflichtung und Verbindung sei von diesem Tage an gelöst, auf dass wir allein ein geeintes und unabhängiges Volk werden. Unsere Tugenden sind Kraft, Wille und Weisheit, doch über all diesen Dingen steht die Freiheit. Wir sind die Ingratia. Es war dieser Brief gewesen, der die Harmonie und Ordnung der Hofgesellschaft und aller übrigen Gesellschaften in Sanarya störte und den seit Jahrhunderten währenden Frieden infrage stellte. Dieser Brief hatte Hofdamen und Adelsritter aufschrecken lassen, er hatte ihnen gezeigt, dass ihr Leben, wie sie es bisher kannten, in Gefahr war. Er war der Grund dafür, dass der König vor Jahren seine Ritter aussandte, um die Suche nach dem Gesandten zu beschleunigen und der Grund dafür, dass er nun nicht mehr ruhig schlafen konnte. Niemand, nicht sein Vater und nicht dessen Vater und auch nicht der Vater dieses Königs, hatte mit diesen Problemen zu tun gehabt. Ein Schrecken war in den Straßen der Elfenstädte aufgetaucht. Unruhestifter zuerst, dann randalierende und brandstiftende Banden und schließlich eine mordende und terrorisierende Organisation. Sie hatten einen Führer gefunden. Der Aufruhr, den es immer gegeben hatte, solange das eine Volk über das andere bestimmt hatte, war von kleinen Rangeleien zu einer inneren Gefahr gewachsen. Eine Gefahr, die ernst zu nehmen war. Das rote Auge brannte sich in das Gedächtnis der Leute, das rote Auge, was die Ingratia zu ihrem Zeichen gemacht hatten und welches nun bedrohlich wachend in ihren Nacken eingebrannt war. Es war eine Ironie, eine Provokation und eine Warnung, dass dieser Brief auf edelstem Papier in der elitären, alten Sprache verfasst und von einer magischen Taube seinen Weg direkt in das Arbeitszimmer des Königs gefunden hatte. Eine klare Botschaft, die jeden Zweifel ausgelöscht hatte. Wir scherzen nicht. Wir haben die Mittel und Wege, euch zu stürzen. Und der König hatte diese Botschaft verstanden und niemals mehr angezweifelt. König Lloyd Vanor Linus, Sohn vom Hause Adara blickte unentwegt auf den Hof seines Schlosses hinaus. Er war das Bildnis eines Herrschers, hochgewachsen und aufrecht stehend, dunkles Haar, weiße Haut, grüne Augen. Dichter sangen über seine altelfische Schönheit. Diese Lieder waren jedoch schon alt, Jahre waren in das Land gezogen und hatten unerbittlich am Antlitz des Königs genagt. Sie hatten Sorgenfalten in seinem Gesicht hinterlassen, seine Augen getrübt und vom jugendlichen Eifer befreit, seine Bewegungen verlangsamt und seinen Blick nach unten geneigt. König Lloyd wusste um die Pflicht, die auf seinen Schultern lag. Es war seine Pflicht, den Frieden zu bewahren – nicht mit Denkmählern und Festgelagen, wie seine Väter, sondern mit Blut und Eisen. Noch war es nicht so weit. Aber niemand konnte sich dieser Warheit entwinden. Es würde eine Schlacht geben, früher oder später würden sich die Ingratia erheben und mit Waffen an ihre Tore klopfen. Der König schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder. Es waren einige Wochen vergangen, seitdem seine Ritter aufgebrochen waren, um nach den letzten Kindern des Hauses Eldanas zu suchen. Die letzte Chance, den Gesandten der Götter zu finden, so wie es die Hohepriester prophezeit hatten. Regelmäßig erreichten ihn Nachrichten von seinem Ritter Shayan von Jonad. Er konnte Spannung aus diesen Worten lesen, ebenso wie Frust, den Kindern so nah zu sein, und doch noch auf den rechten Moment warten zu müssen. Zu viele Gefahren lauerten um dieses einfache Haus einer Töpferfamilie, wie Shayan es beschrieben hatte. Lloyd schmunzelte kurz. War es nicht ein Wink des Schicksals, dass ihrer aller Rettung aus den einfachen bürgerlichen Verhältnissen eines Töpfers entstammen sollte? Er wartete gespannt auf die nächste Nachricht seines Ritters – doch bevor ihn diese erreichen sollte, sah er etwas anderes auf dem Hof seines Schlosses. Ein Reiter preschte über den steinernen Platz, kommentarlos ließen ihn die Wachen passieren, denn er trug unübersehbar die Uniform der Königsritter. Der dunkelblaue Stoff und die anthrazitfarbenen Hosen waren staubbedeckt, das Pferd nassgeschwitzt und auch der Reiter sah selbst vom hohen Sitz des Königs erschöpft aus. Zwei Stallknechte wurden herbeigerufen, die dem Ritter sein Pferd abnahmen und es wegführten. Er selbst ging auf die Tore des Schlosses zu, wurde kurz aufgehalten und augenscheinlich nach seinem Begehr gefragt. Der Blick des Ritters glitt nach oben und traf die Augen des Königs, der von seinem Fenster heraus auf ihn herabsah. Lloyd war sich nicht sicher, ob er ihn sah, aber er erkannte diesen Ritter nun. Er war von jenem Trupp, der ausgesandt worden war, den Gesandten zu finden – augenblicklich fuhr dem Herrscher ein unnahbarer Schrecken durch die Adern. Sollten sie zu spät gekommen sein? Was war geschehen? Er wich vom Fenster zurück und im gleichen Moment öffnete sich die Tür. Einer seiner Diener trat ein, machte einen Knicks und sprach ihn in der angemessenen Form an. „Mein Herr und König aus dem Schoße Adaras.“, sagte er, „Ritter Tobit Dian erreichte soeben den Königshof. Er bringt dringende Nachricht von der Suche nach den Gesandten.“ Lloyd wandte sich um und nickte. „Ich werde ihn ohne Umschweife empfangen.“, antwortete er dem Diener, der sich rasch verabschiedete und den Raum wieder verließ. Ritter Tobit Dian brachte tatsächlich dringliche Nachricht. Im Thronsaal berichtete er von ihrer Suche nach dem Gesandten, gefasst und sachlich, obwohl man ihm seine Anstrengung und Eile ansah. Er berichtete von einem Angriff auf die Töpferfamilie, sehr wahrscheinlich von den Rotaugen – wie sie dem Angriff im letzten Moment entkamen und nun früher aufbrechen mussten. Auf seiner Reise war er mehreren Rotaugen entkommen, das sichere Fortkommen der Ritter, so sagte er, sei in keinem Fall gewährleistet und sie brauchten dringende Unterstützung von ihrem König. Ohne Zögern versprach Lloyd diese Hilfe, schickte sofort einen Diener, der mehrere Soldaten auf den Weg schicken sollte, um die Ritter auf ihrem Weg zu geleiten. Auf die Frage, ob die Suche dieses Mal erfolgreich gewesen sei, antwortete Tobit Dian seinem König, man habe zwei Geschwister gefunden, einen siebzehnjährigen Jungen und ein dreizehnjähriges Mädchen. Einer von ihnen musste der Gesandte sein, sie sicher hierher zu eskortieren und zu prüfen war daher essentiell. Ob es eine Vorahnung gäbe, wer der beiden es sei, konnte der Ritter nicht sagen, wohl aber, dass er von beiden eine innere Stärke zu spüren glaubte – sei diese nun von göttlicher Natur oder von irdischer Überzeugung. Drei Tage später trafen die restlichen Ritter zusammen mit den Soldaten ein. Es waren weniger Soldaten, als der König losgeschickt hatte – sie mussten auf Widerstand gestoßen sein. Lloyd empfing die Gruppe, wie Tobit zuvor im Thronsaal. Er sah Shayan von Jonad unter ihnen. Sein flammend rotes Haar war staubig und strähnig, seine Uniform war stark mitgenommen. Er hatte einige leichte Verletzungen, doch das schien ihn nicht zu belasten. Ein Königsritter hatte gelernt, vielen Schmerz zu ertragen. Auch Hauptmann Kanot war unter den Ankömmlingen, doch er stand nicht bei den übrigen im Thronsaal. Shayan von Jonad berichtete, dass der Hauptmann bei einem Angriff schwer verletzt worden ist und deshalb dringend der ärztlichen Hilfe eines königlichen Heilers bedurfte. „Mein Herr und König aus dem Schoße Adaras.“, sagte der rothaarige Ritter und trat einen Schritt vor, „Dies sind die Geschwister Eldanas, Arina Sinele und Taras Gonan.“ Er zeigte auf zwei Gestalten, die aus der Gruppe hervortraten. Der König atmete tief ein, als er die beiden sah. Das waren sie also? Jene, nach denen sie so lang und verbittert gesucht hatten. Ihre Gesichter waren dreckig, verschürft und erschöpft, ihre Kleidung zeigte nichts von einer vermeintlich göttlichen Bestimmung. Einfache Wollkleider, die ihnen nicht richtig passten und dazu ebenfalls verschmutzt und an einigen Stellen aufgerissen waren. Sie wirkten so unfassbar klein und gewöhnlich, dass Lloyd am liebsten zornig geworden wäre. Nichts an ihren war kraftvoll. Das Mädchen war nicht mehr als ein Kind – feine, weiße Linien zeichneten sich auf ihren Wangen ab, von Tränen, die den Schmutz dort weggewaschen hatten – und der Junge starrte ihn unverhohlen trotzig und misstrauisch an, wie ein niederer Rebell ohne Anstand und Bildung. Jetzt, da die beiden vor ihm standen, wollte der König es nicht glauben. Wie groß und ehrenvoll hatte der Gesandte in seinen Gedanken ausgesehen. Ein stolzer Elf in edler Kleidung, geübt im Umgang mit der Waffe, ebenso wie mit dem Wort. Gebildet, kraftvoll und aufrichtig. Diese beiden waren nicht mehr und nicht weniger, als das, was ihre Herkunft ihnen vorschrieb. Zwei Kinder eines Töpfers aus einer Stadt, die friedlich und unwissend in seinem Land lebte, fern von den Geschicken Sanaryas, trotzig, schwach, weinerlich. „Ihr seid der König Sanaryas?“, fragte der Junge namens Taras ihn so aufmüpfig und ungehobelt, dass seiner Leibwache ein entsetztes Stöhnen entwich. Einen Moment lang schwieg Lloyd. Er musste sich besinnen. Waren diese beiden Kinder auch nicht das, was er sich erhofft und erträumt hatte, waren sie doch jene, auf die sie sich verlassen mussten. „Ja, der bin ich.“, antwortete Lloyd langsam, dem Blick des Jungen nicht ausweichend. Er glaubte, zu sehen, was Tobit Dian gemeint hatte, als er von einer inneren Stärke sprach. „Gut.“, redete Taras laut weiter, „Dann will ich von Euch wissen, welcher König ein Trupp von nur so wenig Rittern ausschickt, um die anscheinend wichtigste Person dieses Landes zu finden, wenn Ihr wisst, wie viele Leute uns beide tot sehen wollen!“ „Unerhörte Worte! Schneidet diesem Tor die Zunge heraus!“, rief der Leibwächter neben Lloyd und schon schritten zwei Soldaten energisch auf den Jungen zu. Das Mädchen, Arina, stieß einen ängstlichen Schrei aus und klammerte sich sofort an ihn und er beschützte sie mit beiden Armen. Doch bevor es zu jeglicher Gewalt kam, hob der König die Hand. „Lasst sie in Ruhe.“, befahl er und die Soldaten zogen sich langsam zurück. Der Elf sah den Jungen an und beugte sich auf seinem Thron nach vorn. „Du hast ein unüberlegtes Mundwerk, Taras Gonan aus dem Hause Eldanas.“, sagte er langsam, „Wärst du ein anderer und wäre dies hier eine weniger wichtige Begebenheit, würdest du für diese Worte schwer büßen müssen.“ „Wir wären nicht hier, wenn ich ein anderer wäre!“, protestierte Taras, nicht im Geringsten eingeschüchtert, „Und nichts von alledem wäre passiert.“ Seine Schwester begann laut zu schluchzen und der König beobachtete, wie er seinen Griff um sie verstärkte, wie um sie zu beschützen. Lloyd schwieg und der Junge ergriff erneut das Wort. „Meine Schwester und ich sind keine Kämpfer. Wir sind Sohn und Tochter eines Töpfers und seiner Frau, die wegen Eurer Unfähigkeit nun tot oder zu Tode gequält werden.“ Das Weinen des Mädchens wurde nun lauter und unkontrollierter. Obwohl der Junge es zu verbergen versuchte, konnte der König erkennen, dass auch er zu zittern begann. Lloyd spürte einen Stich in sich. Ob er es nun höflich sagte, oder ungehobelt – Taras hatte Recht mit seinen Worten. Es waren Kinder, die vor ihm standen und die wegen den Gesetzen und Ordnungen seiner Väter und Vorväter in diesen Konflikt geraten waren. Im gewissen Sinne war es seine Schuld und dennoch war es ihr Schicksal und so der Wille der Götter, gegen den er sich nicht erwehren konnte, dass sie hier waren und dass einer von ihnen der Gesandte war, gesegnet mit der Kraft, dieses Land wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Schweigen erfüllte den Saal und nur das Schluchzen des Mädchens hallte von den Wänden wider. Auf die Worte des Jungen gab es keine Antwort. Nicht jetzt. „Ich möchte, dass den Geschwistern Eldanas ein Gemach gerichtet wird, das ihrer würdig ist. Erfüllt ihnen ihre Wünsche, solange jene erfüllbar sind und lasst sie ihre Kräfte wieder gewinnen.“, sagte Lloyd schließlich, nachdem sich das Schweigen nicht mehr länger aufrecht erhalten ließ. Zwei seiner Diener machten sich sofort auf den Weg und ein weiterer ging auf die Geschwister zu, um ihnen den Weg zu weisen. „Ich werde euch wieder sprechen, sobald wir entschieden haben, was unsere nächsten Schritte sind.“, sagte er zu ihnen und wollte sich dann seinen Rittern zuwenden. Doch so leicht ließ sich Taras nicht zum Verstummen bringen. „Bis ihr entschieden habt, was eure nächsten Schritte sind?“, fragte er und wehrte sich gegen den Griff des Dieners, „Was soll das heißen? Wir sind nicht eure billigen Menschendiener! Ihr werdet nicht über unsere Köpfe hinweg entscheiden, wir bleiben hier!“ Lloyd atmete tief durch und mit einem Wink seinerseits schritten zwei Soldaten auf die Geschwister zu und brachten sie unter dem Geschrei Taras’ und dem Weinen Arinas hinaus. „Was soll das?! Verfluchte Scheiße, ich dachte wir wären eure verdammten Helden!“, schrie er wütend. Der König sah ihn an. „Nein, noch nicht. Wie du selbst sagtest, ihr beide seid Sohn und Tochter eines Töpfers und seiner Frau. Und für diesen Moment seid ihr nichts mehr.“ * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)