Zwei von Tyra-Leonar ================================================================================ Kapitel 1: Eine Geschichte -------------------------- Hi Mikan! Ich erzähl dir jetzt mal eine Geschichte. Sie handelt von zwei Mädchen, die an weit entfernten Orten und voneinander getrennt wohnten. Beide kannten sich nicht. Wie auch? Es war nicht die heutige Zeit mit Internet, Telefon und Handy. Außerdem war eine von beiden eine Prinzessin. Wie es nun einmal üblich war, durfte sie nichts mit dem Fußvolk zu tun haben. Ach, warum erzähle ich hier so viel um den heißen Brei herum? Tag für Tag, Nacht für Nacht. Immer und immer wieder, wiederholten sich diese dämlichen Tage in einem fort. Ohne Unterlass, ohne Änderung. So kam es dem kleinen Mädchen dort am Fluss zumindest so vor. Ihr Vater war ein Waffenschmied. Vielleicht nicht gerade der Beste, aber hier in dem kleinen Ort, war er unersetzlich. Sogar einen Burschen konnte er sich leisten. Ihre Mutter kümmerte sich um den Haushalt und unterstützte ihren Mann, wo sie konnte. Nichts Besonderes also. Die Kinder um sie herum waren alle samt wie man es erwartete. Die Mädchen spielten mit Puppen oder hingen an den Rockzipfeln der Mutter. Und die Jungs, ja die spielten wilde und unbedachte Spiele. Aber das war immer noch besser, als daheim zu sitzen und zu nähen. Trotzdem nützte es nichts, die Buben ließen sie nicht mitmachen. Sie war also allein. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Immer und immer wieder, wiederholten sich diese dämlichen Tage in einem fort. Ohne Unterlass, ohne Änderung. So kam es dem kleinen Mädchen dort im Turmzimmer zumindest so vor. Ihr Vater war der König dieses Landes. Vielleicht war es nicht gerade ein großes Gebiet, aber immerhin groß genug, dass es einem König bedurfte. Sogar ein nicht gerade kleines Schloss besaßen sie. Ihre Mutter, die angeheiratete Königin, führte den Hofstab, wie keine andere und mit unnachgiebiger Stränge. Nichts Besonderes also. Die Kinder um sie herum, waren alle samt wie man es erwartete. Die Bediensteten Mädchen spielten in ihrer Freizeit mit Puppen oder hingen an den Rockzipfeln der Köchinnen, die ihnen alles beibrachten. Und die Jungs, ja die spielten wilde und unbedachte Spiele, wenn keiner hinsah. Aber da war es immer noch besser, hier zu sitzen und die Stickerei zu Ende zu bringen. Trotzdem nützte es nichts, die Mädchen ließen sie nicht mitmachen. Sie war also allein. Beide schlossen die Augen und wünschten sich etwas. Sie wussten, dass solcherlei Wünsche niemals in Erfüllung gehen konnten. Vielleicht mit einer Sternschnuppe, aber es war doch heller Tag. Trotzdem taten sie es und glaubten daran. „Bitte, schick mir einen Engel. Einen, den ich niemals mehr missen möchte, wenn ich ihn einmal getroffen habe. Damit ich nicht mehr allein bin.“ In dieser Nacht träumten sie voneinander. „Wer bist du?“ „Das Gleiche könnte ich dich auch fragen!“ „Ich hab aber zu erst gefragt!“ Mikan musterte das Mädchen. „Ich heiße Mikan deFlourite!“ Sie reckte etwas die Nase nach oben. Wenn man sie schon so herabwürdigte, dann wollte sie sich wenigstens noch dieses kleine Bisschen Ehre erhalten. „Und ich bin die Tyra. Tyra Leonar.“ „Du redest komisch“ stellte Mikan fest. „Tu ich gar nicht. Nur weil du so Hochnäsig tust!“ „Bitte, was?!“ Das hatte ihr noch nie jemand gesagt. Sie kannte dieses Wort nicht einmal, aber aus dem Wort dieses dreckigen Kindes, klang es sehr herabwürdigend. Also versuchte sie andauernd ihre Stellung in Frage zu stellen? „Geh weg, ich mag dich nicht leiden!“ „Pff!“ Es war doch immer wieder einerlei. Kein Kind mochte sie. Also drehe sie sich kurzerhand herum, um zu gehen. Doch da war nichts. Einfach nur weiß. Weder eine Decke noch ein Boden war zu erkennen. „Wo sind wir hier?“ fragte das blonde Mädchen erschrocken. Jetzt sah sich auch Mikan um. Sie kannte diesen Ort ebenfalls nicht. Kein Zimmer im Schloss sah so aus. Ängstlich stand sie stocksteif da. Sie atmete erschrocken ein, als sich das Weiß plötzlich veränderte und sie auf einem Platz aus Marmor standen. Überall waren Säulen und weiße Häuser. Die Prinzessin hatte vor Schreck keine Stimme mehr und so rannte sie zu dem anderen Mädchen in ihrem dreckigen Nachthemd hinüber und ergriff ihre Hand. Beide zitterten und wagten es nicht, sich zu rühren. Dann kam etwas auf sie zu. Es war ein Mann, aber so ungewöhnlich breit. Er kam näher und durchschritt sie, als wären sie Luft und überhaupt nicht da. Die Kinder öffneten nur langsam wieder ihre Augen und drehten sich herum. Der Mann… hatte Flügel! Keine Sekunde später erwachten die Mädchen. Tyra setzte sich kerzengerade auf und Mikan blickte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Am nächsten Tag ging Tyra zu ihrer Mutter. „Mama? Darf ich dich mal was fragen? Kann man Träume mit jemandem gemeinsam träumen? Und kommen dann Engel darin vor?“ Verdutzt hielt die Angesprochene inne. Sie trocknete ihre Hände an der Schürze ab, während sie sich zu ihrem Kind herum drehte und dieses musterte. Am nächsten Tag ging Mikan zu ihrem Lehrer. „Herr Lehrer? Dürfte ich eine Frage an sie richten? Kann man Träume mit jemandem gemeinsam träumen? Und kommen dann Engel darin vor?“ Verdutzt hielt der Lehrer inne. Er klopfte sich den Kreidestaub von den Händen, während er sich zu dem Kind herum drehte und dieses musterte. „Nein, das ist völliger Unsinn. Und wenn du nicht willst, dass man dich wegsperrt, dann schweigst du über dieses Thema am aller besten still.“ Doch in der darauffolgenden Nacht, sahen sich die Kinder wieder. Nacht für Nacht trafen sie sich dort zwischen dem Weiß und dem Marmor und verloren zunehmend die Angst. Sie erkundeten diese fremde Welt und forschten nach neuen Dingen. Sie fragten nicht mehr, wie das sein konnte. Die Erwachsenen hielten sie sonst vielleicht noch für schwachsinnig oder unternahmen vielleicht etwas gegen ihre nächtlichen Treffen. Letzteres wäre viel zu schade, da die Beiden sich recht gut leiden konnten. „Wo gehen wir heute hin?“ „Lass uns über die Brücke gehen“ schlug Mikan vor und wies nach rechts. Die Engel in dieser Welt schienen nicht real, allesamt waren wie Geister. Sie mussten sich keine Sorgen machen, dass man sie entdeckte, schimpfte oder bestrafte, wenn sie ein wenig zu neugierig wurden. Niemand achtete auf sie. „Bitte, geh nicht!“ Tyra hielt inne. Sie kannte diese Stimme irgendwie. Es war aber nicht Mikan, die sprach. „Ich bin doch da, du Dummerchen.“ Die Prinzessin lachte vergnügt und trat neben Tyra, die stehen geblieben war. „Was hast du?“ Besorgnis lag auf ihrem Gesicht. Dann folgte sie dem Blick ihrer Freundin. „Ich muss gehen!“ Mikans Augen wurden immer größer. „Du musst gar nichts, niemand kann dich zwingen!“ „Bitte… mach es mir doch nicht noch schwerer, als es schon ist!“ Zwei Engel standen heute auf dieser Brücke. Die Mädchen waren es ja gewohnt, dass zwar alle durchsichtig waren, aber dennoch wie ganz normale Menschen lebten. Mal abgesehen von den Flügeln und den anderen Dingen, die sich von der Menschenwelt unterschieden. Aber das dort, war definitiv neu. Zwei Frauen standen dort. Die Eine mit dem Rücken zur Brüstung. Sie hatte kurzes Haar in einem lilanem Farbton. Direkt vor ihr war ein Engel mit langen blonden Haaren. „Wer… ist das?“ fragte Tyra und starte auf ihr älteres Ebenbild. Sie erhielt keine Antwort, denn Mikan war genauso verdutzt, wie sie selbst. „Ich habe so eine Vorahnung, dass dir etwas Schreckliches zustoßen wird! Bitte, ich flehe dich an, hör auf mich und lass diesen Auftrag irgendwen anders machen!“ „Wir sind Engel, unsichtbare Gefährten der Menschen! Wir sind dazu da, sie zu beschützen, nicht um an unser eigenes Wohl zu denken!!!“ Die ältere Mikan schrie, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Kurz darauf rannte sie an den Kindern vorbei. Die ältere Tyra hielt sie nicht auf. Sie sah nur auf die Stelle, an der die andere Frau kurz zuvor noch gestanden hatte und lies ihren Mund zu einer Linie werden. Im nächsten Moment schloss sie die Augen. Das Nächste, was die Mädchen sahen, waren wieder ihre eigenen Zimmerdecken. Am Tag, während die Zeit nur vor sich dahin kroch, sahen die Kinder immer wieder hinaus oder hinauf in den Himmel, und hofften, dass es bald Abend werden würde. Doch umso öfter sie nachsahen, desto langsamer verging die Zeit. Mikan war die Erste im Himmelreich. Tyra lies dieses Mal länger auf sich warten. Als sie endlich auftauchte, war die Prinzessin irgendwie erleichtert. „Ich dachte, du kommst nicht mehr.“ „Entschuldige…“ japste Tyra und rannte weiter zu ihrer Freundin hin. „Ich konnte nicht schlafen wegen der ganzen Aufregung. Die wollen mich bald von zu Hause fort bringen!“ „Und… wohin?“ „Das weiß ich nicht genau. Sie nennen es Kloster, da ich ansonsten zu nichts zu gebrauchen sei, meinen sie. Außerdem würde es mir dort sehr schön ergehen.“ Den wahren Grund ihrer Eltern, ihre Tochter niemals an einen Mann zu verlieren, erahnte das Kind natürlich nicht. „Hmm…“ Mikan verzog den Mund. Das klang ja nicht gerade berauschend. Sie kannte Kloster, aber gefallen wollten sie ihr irgendwie nicht. „Ich kann dir nachher erzählen, was das ist. Lass uns die beiden Engel suchen, ja?“ Tyra nickte und rannte mit Mikan durch die Straßen der Engelsstadt. „Du sahst in älterer Form gar nicht mehr wie eine Prinzessin aus, Mika.“ Ihr keuchender Atem hallte von den engen Wänden wieder. „Stimmt. Aber wohin will ich nur?“ Nichts! Egal wohin sie gingen. Ihre Ebenbilder tauchten nicht auf. „Es hat keinen Zweck…“ Seufzend lies die Blondhaarige sich auf den Boden fallen. Sie waren Beide völlig fertig. Ihre Neugierde hatte sie durch sämtliche Straßen gescheucht, sogar durch Gebiete, die sie noch gar nicht kannten. Und dennoch, sie hatten nichts erreicht, die Engel blieben wie vom Erdboden verschluckt. „Können wir zurück gehen?“ Tyra sah auf. Mikan sah ängstlich aus und richtete ihren flehenden Blick auf ihre Freundin. Tyra sah sich um. Hier war es wirklich nicht so schön. Die Häuser standen dicht an dich, die Gassen waren zu schmal für Flügel und der weite, offene Himmel, blieb fast völlig verschlossen. „Ja, lass uns gehen.“ Hand in Hand gingen sie zurück. Während sich die Gebäude wieder lichteten, hingen Beide stillschweigend ihren Gedanken nach. Plötzlich hörten sie ein Schluchzen, gefolgt von einem zweiten und dritten. Dort saß Mikan auf dem Boden und bettete ihren Kopf in den Armen auf einer Bank aus Marmor. Als ob sie die Kinder bemerkt hätte, hielt sie inne. Schnell wischte sie die Tränen fort und stand auf. „Verzeih mir bitte…“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch die Mädchen verstanden sie überdeutlich. Die schneeweißen Flügel öffneten sich wie von Zauberhand, dann ging die Frau zur Kante der fliegenden Insel, holte einmal kurz Luft und lies sich dann nach vorne fallen. Tyra rannte, das Kind rannte so schnell sie konnte, streckte eine Hand vor um die Fallende zu ergreifen, doch es war bereits zu spät. Die Frau fiel durch die Wolkendecke und verschwand. Mit schweißbedeckter Stirn erwachte das blondhaarige Mädchen aus ihrem Traum. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, trotzdem konnte der neue Tag nicht mehr allzu fern sein. Leise stand sie auf, zog sich an und ging hinunter in die Küche. Sie fühlte sich so allein. Ihr Blick schweifte umher, bis er an dem großen Topf mit den Resten von gestern Abend hängen blieb. Vielleicht würde ihr etwas Essbares gut tun. Tyra ging hinüber und zog den Hocker unter der Spüle hervor, den man eigens für sie dort hingestellt hatte. Das massive Holz war zwar schwer, aber sie war es gewohnt, schwere Dinge zu tragen. Tyra hielt inne, starrte auf einen Punkt, aber irgendwie auch nirgendwohin. Schnell änderte sie ihre Meinung, stelle den Hocker wieder an seinen Platz und verlies dann so schnell sie konnte das Haus. Wieder war Mikan die Erste und wartete ungeduldig auf Tyra. „Wo bleibt sie nur?“ Sie sah auf die Stelle an der Kante der schwebenden Insel, wo Tyra gestern noch gesessen und hinab geschaut hatte. Da erschien die herbei gesehnte. Mikan hatte sich nicht vom Fleck bewegt und saß genau wie gestern neben ihrer Freundin, die dieses Mal aber irgendetwas umklammert hielt. „Hallo, Frau Prinzessin!“ Tyra klang fröhlich. Hatte sie denn schon vergessen, was gestern geschehen war? „Ich habe dir etwas mitgebracht. Es hat wirklich funktioniert. Ich habe es mir gewünscht, so fest ich konnte.“ Im nächsten Moment öffnete Tyra ihre Hände und offenbarte ihr Geheimnis. Es war eine Art Talisman. Bunter, geflochtener Stoff, oben zusammengebunden zu einer Schleife. Unten befanden sich schwarze und weiße Federn. „Das hab ich für dich gemacht. Du musst es tragen, immer. Es ist ein Zeichen unserer Freundschaft. Wenn wir uns in unserer Welt wieder sehen, dann kann ich dich so erkennen. Vielleicht mache ich mir auch noch eins.“ Erschrocken und überglücklich zugleich, nahm Mikan das Geschenk entgegen und schlüpfte mit der Hand durch die Schlaufe. „Was hast du?“ Besorgt sah Tyra der lilahaarigen ins Gesicht. So recht freuen, tat sie sich auf jeden Fall nicht. Hatte sie vielleicht etwas Falsches getan? Leider hatte sie keine Zeit um sich weiter darum Gedanken zu machen. Die Welt um sie herum, verwischte sich. Bis sie schließlich ganz woanders waren. Ängstlich sahen die Kinder sich um. Wo waren sie jetzt gelandet? Waren sie noch in ihrem Traum? Auf einer schwebenden Insel waren sie jedenfalls nicht mehr. Die Wesen hier, waren auch keine Engel. Sie sahen aus, wie ganz normale Menschen, nur mit anderer Kleidung. Und da waren so seltsame Dinger. Sie sahen aus wie Kasten und rollten sehr schnell über das schwarze Dinge in der Mitte. Außerdem gab es bunte Lichter und viel höhere Häuser. Wieder ging jemand durch sie hindurch. Immerhin eine bekannte Sache. „Tyra… ich habe Angst…“ Mikan drückte sich fest an ihre Freundin, die sofort aufhörte zu zittern. „Keine Sorge, ich beschütze dich!“ Langsam standen sie auf, konnten aber nicht aufhören sich weiterhin umzusehen. In den Kasten saßen Leute. Bis zu vier Menschen hatten darin Platz. Aus dem Innenraum kam manchmal fremdartige Musik. Dann hörte sie ein merkwürdiges Geräusch und sahen zur Seite. Ein Ding auf zwei Rädern kam an ihnen vorbei. Nur eine Person saß darauf und bewegte seine Beine immer gleich. Das Ding sauste an ihnen vorbei, nicht so schnell wie die Kasten, aber doch immer noch schneller als ein Mensch. Wie gebannt hielten sie die Luft an und betrachteten diese Dinge. Jedoch gab es etwas, was sie noch viel mehr faszinierte. Eine Frau kam auf sie zu. Über ihr schwebte ein Engel. Mikan war es. Gewissenhaft sah der Schutzengel herab und gab auf mögliche Gefahren acht. Ganz leise summte sie eine Melodie. Als sie näher kamen, stimmte die kleine Mika mit ein, als hätte sie dieses Lied schon immer gehört. Es klang traurig, aber irgendwie schwang auch Hoffnung mit. Oder bildete Tyra sich das vielleicht nur ein. Die Mädchen folgten den Beiden auf Schritt und Tritt, wenigstens der Engel brachte für sie etwas Normalität in diese schaurig neue Welt. An einer Ecke hielten sie an. Worauf wartete die Frau? Sie sah immer zu auf etwas Leuchtendes. Das Licht wanderte von oben nach unten und war nun nicht mehr rot, sondern grün. Dann lief sie weiter. Seltsam, dachten die Kinder gleichzeitig. Ihre Blicke trafen sich. Sie erkannten schnell, dass die jeweils Andere auch keine Ahnung hatte, was das zu bedeuten hatte. „Halt! Halt an!!!!“ Schnell sahen sie wieder nach vorne, als sie die lauten Worte hörten, die schon fast von Panik zeugten. Was hatte der Engel? Die ältere Mika war so aufgebracht und versuchte die Frau unter sich irgendwie zum anhalten zu bewegen. Doch sie ging immer weiter, hörte ihre Worte nicht. Ängstlich sah Mika die Straße hinauf aus der ein Kasten angerollt kam. Ein Bursche saß darin, hörte laut Musik und versuchte das Mädchen auf dem Beifahrersitz ein wenig zu ärgern. Immer wieder sah er von der Straße weg. Nur einen Moment hatte es gedauert, dann versuchte Mika weiterhin ihre Aufgabe irgendwie zu erfüllen und der Frau klar zu machen, in welcher Gefahr sie schwebte. Im nächsten Moment rauschte etwas an den Kindern vorbei. Das Nächste, was sie sahen, waren Federn. Mika lag dort drüben bei dem Ding mit den Lichtern auf dem Boden und sah schnell zurück. Tyra stand schützend vor der Frau und rannte auf den Kasten zu. Was im nächsten Moment geschah, konnten die Kinder nicht ganz verstehen. Tyra glitt durch das Auto hindurch, als sei es Nichts. Der Mann ruckte mit dem Kopf wieder nach links und riss seine Augen weit auf. Mit aller Kraft trat er auf die Bremse. Die Frau, die nun ohne Schutzengel war, bemerkte endlich, was da um sie herum geschah, blieb aber trotzdem vor lauter Angst steif stehen. ‚Nein…!’ Der Mann riss plötzlich das Steuer herum und raste gegen eine Wand. Von dem Vorderteil des Autos erkannte man nichts mehr. Überall lief Flüssigkeit aus. Wie ein Geist trat Tyra wieder aus dem Mann und auf die Straße hinaus und sackte dort zusammen. Sofort war Mikan an ihrer Seite, sah aber auch kurz in den Fahrerraum, doch der Anblick war nicht lange zu ertragen. Also widmete sich der Engel wieder um ihre Freundin. Es blitzte und donnerte. An beiden Orten, egal wie weit entfernt, herrschte ein Unwetter, welches zu den panischen Gemütern der Kinder wie angegossen passte und das Gefühl völlig allein zu sein, nur noch verstärkte. Wo war sie? Wo war ihre Freundin? Sie war eingeschlafen, auch wenn es schwer gefallen war. Aber sie hatte es dennoch geschafft. Aber wo war sie jetzt? Sie war gefesselt, es fühlte sich aber nicht nach Seilen an. Es prickelte irgendwie. Irgendwer hielt sie an beiden Armen fest. Ihre Füße waren nicht gefesselt und ihre Hände waren auch vor ihrem Körper, das musste doch reichen um sich zu befreien! Und genau das versuchte sie. Doch schon im nächsten Moment durchzuckte sie ein jäher Schmerz, der ihr bis ins Mark fuhr. Keuchend versuchte sie wieder zu Atem zu kommen. Da keuchte noch jemand! Plötzlich riss ihr jemand die Augenbinde von den Augen und das Erste, was sie erblickte, nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, war… Die Engel sahen sich an. Tyra und Mikan erging es ähnlich. Beide keuchten von dem Schmerz. Sie saßen sich gegenüber, nur der farbige Ring auf dem Fußboden schien sie zu trennen, dabei waren es gerade mal ein paar Schritte. Die Kinder standen bei den Säulen, die überall in der Nähe der Wände des runden Raumes standen. Über ihnen war eine gläserne Kuppel, die durch ein Netzwerk aus Gold gehalten wurde. In dem Raum stand weiter hinten eine Art Thron, der fast völlig im Schatten lag. Man wartete auf irgendetwas. Tyra und Mikan hielten sich an den Händen und betrachteten ihre älteren Ebenbilder, die sich verzweifelte Blicke zuwarfen. Dann drehten alle die Köpfe, wie auf Kommando. Eine Art Nebel fiel durch den Schatten herab und wabberte um die Beine des goldenen Throns. Langsam erschienen Füße und ein weißes Gewand. Leider konnte man nicht weiter als bis zu den Händen sehen, die ruhig auf den Lehnen lagen. Ein langer Bart reichte bis zu dem Bauch, also musste es wohl ein Mann sein. Dann dröhnte seine allmächtige Stimme auch schon durch den Raum. „Meine Kinder, warum bedarf es immer einer solchen Tat um eine persönliche Revolution gegen mich einzuleiten?“ Der Mann klang nicht gerade erfreut, wütend war er aber auch nicht. Es lag wohl eher eine sanfte Stränge in seinen Worten, die alle fürchten lassen sollte, die seine Macht kannten. Und genau das taten diese Engel wohl. In dem Raum hatte zuvor noch leises Flüstern geherrscht, nun war alles totenstill und die Gesichter blass wie Elfenbein. Wenn dieser Mann Gott war, dann war er ganz und gar nicht das, was man in der Welt der Kinder in Kirchen und Klöstern lehrte. „Nun gut, da ihr mir keine Antwort gewährt…“ setzte er an und wandte den Kopf zu Tyra, die ihn grimmig anblickte, „… werde ich mein Urteil so sprechen“. Der Atem der Angehörigen stand still. Das Blut rauschte in den Ohren und erzeugte so zumindest irgendein Geräusch, der einem vor dem sicheren Wahnsinn der Stille bewahrte. „Tyra wird verbannt! Und Mikan wird eine neue Aufgabe zugeteilt!“ Nur einen Moment, dann ging ein Ruck durch den Körper der blondhaarigen Frau. Egal wie sehr es schmerzte. Der Gedanke, Mikan nie wieder sehen zu können, war wesentlich unerträglicher. Nein, nicht unerträglicher, tödlich, nicht fassbar und absolut nicht annehmbar. Sie wand sich und grollte laut wie ein wildes Tier. Mikan versuchte sich loszureißen und zu ihr zulaufen, doch es half nichts. Beide Frauen mussten erkennen, dass es kein Entrinnen gab. Wieder sprach Gott, dieses Mal zu einem Engel, der eine goldene Rüstung trug und direkt neben ihm die ganze Zeit wache gehalten hatte. „Führt meine Befehle aus. Ich werde mich nun zurück ziehen.“ Genau wie vorhin waberte der Nebel zurück und der Mann verschwand. Mit wildem Blick sah Tyra zwischen ihren Haarsträhnen hindurch zu dem nun leeren Thron. „Tyra…“ Eine von Tränen erstickte Stimme rief ihren Namen und lies ihren Blick wieder klar werden. Schnell sah sie wieder vor sich. Doch es zerriss ihr fast das Herz Mikan so bitterlich weinen zu sehen. Sie saß dort auf dem Boden, da ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten und ihre Wangen waren glänzend von den Tränen, die sie in Mengen vergoss. „Egal was geschieht… ich werde immer bei dir sein.“ Es hatte sie sehr viel Mühe gekostet, die Worte trotz ihrer Trauer klar hervor zu bringen. „Nein!“ Tyras Widerspruch zauberte Verblüffung auf Mikans Gesicht. „Ich komme zurück zu dir! Ich verspreche es!!“ Die Augen der lilahaarigen wurden immer größer und runder. Sie blieben so, sogar als der Engel in der goldenen Rüstung zwischen sie trat und ihren Blick trennte. Er zog sein Schwert und vollzog die letzte Läuterung für den für ihn verwirrten Geist. Es ging nicht geräuschlos, aber Tyra schrie nicht. Es war mehr ein erstickter Laut, der zu dem platschenden Blut auf dem Marmor passte. Eine einzelne Träne ran Mikan über die Wange. Sowohl der Jungen, als auch der Alten. Während Tyra diesen tiefen Schmerz spürte und das Bewusstsein verlor. Sie hatte nie gewollt, dass es so kommt. Zuvor hätte sie nie geahnt, dass ihr hochgelobter Gott, doch so grausam war. Nun saß sie hier, völlig allein und wachte über einen kleinen Jungen, gerade mal einen Tag alt. In der Ecke war ein Mädchen, ihr Ebenbild, doch sehen konnte sie diese nicht. Völlig verstört stand Mikan da, verfolgte die Szene der Frau, deren Blick so leer geworden war. Ihr kalter Blick wanderte zu dem schlafenden Neugeborenen hinüber. Da verstand sie endlich. Endlich ordneten sich alle Bilder und Gedanken und das kleine Mädchen erinnerte sich. Der Engel stand auf und trat an das kleine Bettchen heran. Sanft strich sie über den kleinen Kopf mit den wenigen Haaren und betrachtete das Zucken eines Beines. Ihre Hand streichelte weiter hinab über das Gesicht und die Schultern und schließlich dorthin, wo das Herz saß. Es waren nur zwei Finger, doch es genügte um die nötige Magie zum aussetzen des Herzens in den Körper zu leiten. Mikan wusste, Tyra hatte nie gewollt, dass irgendjemand starb. Aber sie wollte auch nicht, dass Mikan für etwas verantwortlich gemacht wurde, was sie selbst getan hatte. Also wählte sie den Tod von zwei Menschen, anstatt von der Frau, die Mikan eigentlich beschützen sollte. Aber hier gab es keinen Sinn. Ohne ihre Freundin, war die Welt nur noch leer. Also tat sie das Einzige, was sie für richtig hielt, nachdem sie lange nachgedacht hatte. Mikan weinte. Sie weinte um das Baby, welches nur einen Tag hatte leben dürfen. Sie weinte um die Eltern und die restliche Familie, die den Tod nun als allgegenwärtig akzeptieren und erkennen mussten, dass all die Wartezeit, völlig umsonst gewesen war. Aber man hatte ihr das genommen, was ihr am Liebsten war. Warum sollte sich dann irgendwer anderes erfreuen dürfen?! Es ging schnell. Wieder kamen sie, um sie zu holen und ins Himmelreich zu bringen. Mikan wehrte sich nicht. So war es ihr Wunsch. Am aller besten für alle war es, wenn Gott sein Urteil schnell sprach und sie sobald wie möglich genau wie Tyra verbannt wurde um sie zu suchen. Sie würde wieder bei ihr sein und ihr Glück wieder finden. Dafür wollte sie alles aufgeben, sogar ihre Macht und ihre Flügel. Vielleicht konnten sie auch eines Tages wieder Engel sein, wenn ein anderer Gott herrschte, der mehr Verständnis für ihre Taten aufzeigte. Allerdings entsprach das, was kommen sollte, keineswegs ihren Gedanken. „Ich weiß, warum auch du den Weg der Ketzerei gewählt hast. Aber ich werde dir deinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen. Mikan, eine Verbannung und die dadurch bedeutende Niederlage, werde ich nicht erdulden. Stattdessen sollst du Tag und Nacht bewacht werden. Man wird mit dir verfahren, wie man es mit allen widerspenstigen Seelen tut.“ Für weitere Worte war sie taub. Schockiert sah sie zu dem Thron hoch. Man wollte ihren Geist brechen, sie wieder gefügsam machen. Das konnte er nicht tun. Sie war nicht verwirrt, sie wusste ganz genau, was sie tat. Sie…. wollte doch nur glücklich werden. Die Zeit verging, niemand sagte ihr, wie viel davon verstrichen war. Irgendwann fragte sie auch nicht mehr danach. Mehr oder weniger fügte sie sich, doch ihre Kräfte begannen zu schwinden. Ihr Kopf wurde leer und wieder empfangsbereit für die göttlichen Worte. Man sagte ihr oft, wie gut alles werden würde, wenn sie sich nur wieder ihrer Aufgabe entsinnen würde. Wie einfach eine neue Integration sei, da niemand ihr einen Vorwurf mache. Sie solle sich erinnern, wie sehr sie der Beförderung als Schutzengel entgegen gesehen hätte und darauf hinfiebern, wieder so zu werden. Denn dann, wäre alles einfacher und leichter. So verging jeder Tag mit Schmerzen, Hunger, Leid, Schmach und Gesprächen. Bis sie eines Tages wieder soweit war: ein leeres Gefäß, bereit um mit Aufgaben gefüllt zu werden. Gerade kleidete man sie wieder in die Robe mit zwei goldenen Streifen, die vertikal vorne und hinten verliefen. Dann lies man sie allein um ihren Heiligenschein, der aus dem Archiv geholt worden war, zu ihr zu bringen. Es dauerte keine Minute. Mikan fand, was sie suchte, als sie den Raum durchsuchte. Als man sie fand, war sie bereits tot und lag friedlich mit einem Lächeln da, obwohl noch immer der Schmerz in ihren Augen lag. Aber lieber Schmerz, als völlige Leere. „Ich bin müde, Vater. Wann hört das endlich auf?“ „Nur noch zwei weitere Bewerber, mein Liebling. Einen musst du wählen. Ich kann dich nicht länger nur durch die Wachen beschützen lassen.“ „Das gleich einer Schmach, als ob ich nicht selber auf mich acht geben könnte!“ „Schweig still“ flüsterte der König seiner Tochter zu. „Entweder du wählst selbst, oder ich tue es. Ende der Diskussion!“ Die Prinzessin saß zu der Rechten ihres Vaters. Ihre Mutter, wie immer stillschweigend und anmutig zu seiner Linken. Erbärmlich, dachte die junge Frau. Sie, Mikan deFlourite, wurde genötigt eine Entscheidung zu treffen. Als ob das nicht noch Zeit hätte! Sie atmete, für ihren Vater gut hörbar, laut durch die Nase aus. Zwei waren es also noch, sollten sie schnell machen, damit diese Tortur endlich vorüber war. Der nächste Bewerber trat durch die große Tür ein. Er war irgendwie schmächtig und sein Kopf wirkte zu groß. Es war kaum vorstellbar, dass ihr Vater so jemanden an ihre Seite stellen würde. Er würde sie zum Gespött des gesamten Hofes machen. Dieser selbstsichere Gang! Verhöhnte er sie etwa? Der Bursche kam immer näher, ging weiter als seine Vorgänger und zeigte keine Angst, als er einen Fuß auf die Treppe setzte und die Wachen ihre Schwerter zogen. Gelassen verbeugte er sich, hielt gebeugt inne und sah wieder in eine Richtung. Ein Lächeln erschien und gab makellos weiße Zähne frei. Dann griff er sich an seine Kopfbedeckung, eine große Mütze. Mikan hüpfte leicht hoch und unterdrückte einen lauten Schrei, der dennoch ein wenig hervor drang. Ihr Vater sah besorgt zu ihr herüber und dann wieder zu dem Mann, der sich nun als Frau mit langen blonden Haaren entpuppt hatte. „Ich habe doch versprochen, dass ich wieder zurück kommen werde“ sprach Tyra und sah zu Mikan hinauf, die den Talisman aus bunten Tüchern um ihren Hals trug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)