Der Hauch auf dem Spiegel von Weissquell (FF zu dem Thema: "Was geschah davor") ================================================================================ Kapitel 1: Training ------------------- In vollendeter Perfektion streicht der feine Pinsel über das Papier. Mit kontrollierten Schwüngen fügen sich harmonisch Striche und Tupfen zu der lebensechten Darstellung einer Kiefer zusammen. Obwohl lediglich im Schwarz der Tusche gehalten, wirkt die filigrane Landschaft, die sich dort, von der Hand eines wahren Sumi-e Meisters gemalt, auf das Papier schmiegt, nahezu lebensecht. Wieder setzt die feingliedrige Hand den Pinsel auf. Da plötzlich ist von draußen ein dumpfes Rumpeln zu hören. Einige Schreie ertönen, dann verstummen sie wieder. Mimaru schließt für einen Moment die Augen und verzieht kaum merklich den Mund. Dann richtet sie wieder den Blick auf das Papier und setzt erneut zu einem kompliziert geschwungenen Strich an. Im selben Moment ertönt ein heftiges Krachen und irgendetwas, oder irgendjemand, kommt direkt über ihr durch die edle Papierwand geflogen und reißt dabei ein Schränkchen, mit dem sich darauf befindlichen Ikebana-Gesteck, unter lauten Getöse zu Boden, sodass die Blumen durch das ganze Zimmer fliegen. Unter einem schmerzhaften Stöhnen versucht sich die am Boden liegende Person wieder aufzurappeln. Mimaru schürzt die Lippen während sie den Eindringling beobachtet. Ihr Blick geht hinab auf ihre Malerei. Ein dicker, schwarzer Strich zieht sich über das gesamte Bild und verschandelt so unwiederbringlich die meisterliche Malerei. Mit einer eleganten Bewegung, und einem resoluten Klacken, legt die Youkaifrau den Pinsel neben der Zeichnung auf dem Tisch ab und erhebt sich. Dabei unterlässt sie es demonstrativ, dem am Boden liegenden Mann irgendwelche Beachtung zu schenken. Mit wenigen Schritten ist sie an der zerfetzten Tür, schiebt sie auf und tritt erhobenen Hauptes hinaus auf den weitläufigen Innenhof des Palastes. Ihr Blick geht nur kurz in die Runde bis sie den Verursacher dieses Intermezzos entdeckt hat. „Sesshomaru!“ Der angesprochene Knabe hebt den Kopf. Die langen, weißen Haare sind zu einem straffen Zopf nach hinten gebunden. Die helle Haut des schlanken Oberkörpers ist makellos und unversehrt obwohl sein weißer Hakama mehrere unschöne Blutflecken aufweist. Gerade hält er noch ein schmales Katana in einer kontrollierten Pose über dem Kopf, doch nun lässt er es sinken. Ohne die Aufforderung abzuwarten, läuft er nun auf die kostbar gewandete Youkaifrau zu und baut sich respektsbekundend vor ihr auf. „Was wünscht Ihr, Haha-ue (ehrenwerte Mutter)?“ Die Youkai verzieht keine Miene: „Was hatte ich dir darüber gesagt, wie ich wünsche, dass die Kampfstunden ablaufen sollen?“ Der Junge senkt ein wenig den Kopf und meidet ihren Blick. „Gesittet und ohne die Beschädigung von Sachgegenständen“, zitiert er nuschelnd. „Ganz recht!“, die Miene der Youkai ist ernst, „Dazu zählt keineswegs, dass du deinen Lehrer in meine Gemächer schleuderst. Besonders nicht, wenn ich gerade male.“ Sesshomaru beißt sich auf die Lippen: „Daran habe ich nicht gedacht, Haha-ue. Ich war gerade so sehr in Fahrt und...“ „Es interessiert mich nicht, wie es schon wieder zu so einem ungeziemenden Vorfall gekommen ist“, schneidet die Frau ihm scharf das Wort ab, „Du bist ein Fürstensohn und als solcher hast du dich auch zu betragen, und zwar immer!“ Sesshomaru verzieht kaum merklich den Mund, sagt aber nichts. Doch seine Mutter hat es bemerkt: „Mach nicht so ein widerspenstiges Gesicht! Als Daiyoukai von fürstlichen Blut hast du nun mal eine gewisse Stellung zu wahren. Denke immer daran: Würde, Ehre, Selbstbeherrschung und selbstverständliche Überlegenheit, das ist es was einen wahren Daiyoukai des Westclans auszeichnet. Wenn du das vergisst, lädst du nicht nur Schande auf dich, sondern auch auf deinen Vater und mich. Deine Fehler fallen auf uns zurück, und du willst doch deiner Familie keine Schande bereiten, oder?“ Der junge Daiyoukai blickt zerknirscht zu Boden: „Nein, Haha-ue!“ „Gut! Dann wirst du jetzt mit Monshi-sensei weitertrainieren und zwar so wie es sich gehört! Und du wirst seinen Anweisungen Folge leisten, hast du verstanden?“ Nun verzieht Sesshomaru offen das Gesicht und stöhnt auf: „Aber Haha-ue, was soll ich denn von ihm lernen? Was er mir beibringen will, kann ich doch alles schon. Das ist langweilig!“ Ernst hebt die Fürstin die Brauen: „Merke dir gut: In der Perfektion liegt die wahre Kunst! Also wirst du es solange üben, bis du es perfekt beherrschst!“ „Wie Ihr wünscht, Haha-ue!“ Mit einem Brummen wendet sich der junge Prinz ab und will schon missmutig von dannen stapfen, als ihn der Ruf seiner Mutter zurückhält: „Sesshomaru! Haltung! Immer Haltung!“ Der Knabe strafft sich und setzt eine gelassene Miene auf: „Ja, Haha-ue!“ Mit diesen Worten wendet sich die Daiyoukai ab und betritt wieder ihre Gemächer. Kaum ist sie außer Sicht, entspannt Sesshomaru seine Schultern und presst die Lippen aufeinander. Ärgerlich tritt er gegen einen Übungspfahl, der daraufhin bedenklich wackelt. Verstimmt betrachtet er das Schwert in seiner Hand. Was soll er der alte Zausel ihm denn noch beibringen? Inzwischen vergeht kein Tag mehr, an dem er ihn nicht mehrmals besiegt. Aber was soll man von so einem Relikt auch anderes erwarten? Angeblich hat er schon mehrere Fürsten vor ihm trainiert, seinen Vater eingeschlossen. Aber so wie es aussieht, kommt er hier wohl an seine Grenzen. Oder er ist tatsächlich zu alt. Und immer wieder dieselben Moralpredigten. Langsam kann er sie wirklich auswendig. Nein, von so einem ist nichts Neues mehr zu erwarten. In diesem Moment taucht auf dem Innenhof ein weiterer Youkai auf und läuft rasch zu dem jungen Prinzen hinüber. Dort angekommen, bleibt er respektvoll stehen und verneigt sich leicht. Verstimmt blickt Sesshomaru zu ihm hoch: „Was gibt es, Chitsurao?“ „Es tut mir leid, Sesshomaru-ouji“, erklärt der Angesprochene, „Doch Monshi-sensei lässt Euch ausrichten, dass das Training für heute beendet ist. Er befindet sich gerade auf dem Weg zum Heilerzimmer.“ Sesshomaru verdreht leicht die Augen: „War das nicht klar!“ Missmutig verstaut er sein Katana wieder in seiner Schwertscheide und geht dann hinüber zu der Stelle an der er seinen Haori aufbewahrt hat. In gebührendem Abstand folgt ihm Chitsurao. „Ihr scheint unzufrieden zu sein, Sesshomaru-ouji“, stellt er behutsam fest. Nur zu gut kennt er das Temperament des jungen Daiyoukai. Schwungvoll kleidet Sesshomaru sich wieder an: „Dieses lächerliche Kampftraining ist unbefriedigend. Dieser alte Mann kann schon längst nicht mehr mit mir mithalten.“ „Ihr sucht also eine neue Herausforderung?“, hakt der Youkai sachte nach. Sesshomaru schnaubt leicht aus: „Eine angemessene Herausforderung sollte schwer zu finden sein. Außer meinem werten Herrn Vater habe ich bisher noch jeden besiegt.“ Chitsurao lächelt nachsichtig: „Ihr seid erst vierzehn. Sicher gibt es noch genügend Kämpfer die Euch noch nicht die Stirn geboten haben.“ Sesshomaru meidet den Blick des Youkais, während er sich seinen Obi bindet. „Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht besiegen könnte!“, stellt er trotzig klar. „Das wollte ich auch keinesfalls andeuten, Ouji-sama!“, meint Chitsurao noch immer leicht schmunzelnd. „Aber wenn Ihr Euch nach einer Herausforderung sehnt, habe ich womöglich eine gute Nachricht für Euch“, fügt er wohlwollend hinzu. Der junge Prinz hebt interessiert den Kopf und wendet sich zu ihm um: „Und die wäre?“ Chitsuraos Augen blitzen kurz verschmitzt auf: „Der Taishou hat sich für heute Abend hierher angekündigt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)