Der Wandel mit dem Detective von Lefteye ================================================================================ 30. Sept. 2025 - Ema -------------------- Ich wusste nicht, ob das Glück heute auf meiner Seite stand oder nicht. Einerseits hatte ich einen Sitzplatz, andererseits fuhr der Busfahrer wie eine gesengte Sau. Die alte Frau vor mir war ein Zeugnis dessen; sie hüpfte tatsächlich einen alternativen Twist, wenn auch nicht komplett freiwillig. Und irgendwie hätte ich ihr gern meinen Platz angeboten, aber das ging beim besten Willen nicht. Sich während dieser Fahrt erheben zu wollen, wäre einem Selbstmordversuch gleichgekommen. Natürlich hätte ich einfach aussteigen und den nächsten Bus nehmen können, aber ich war spät dran. Da kam es mir ganz recht, dass der Fahrer – aus welchen Gründen auch immer – es wahnsinnig eilig hatte. In meiner Tasche lag ein Schreiben, das ich die vergangene Woche wohl an die hundert Male gelesen hatte. Ich sollte heute bei Staatsanwalt Gavin vorstellig werden. Es war ein wenig mysteriös, dass ich fast postwendend zu meiner Bewerbung eine Vorladung erhalten hatte. Und obendrein war ich enttäuscht, dass Miles Edgeworth wohl nicht mehr in diesem Bezirk als Staatsanwalt tätig war. Irgendwie hatte ich gehofft, mal eines Tages für ihn arbeiten zu können. Immerhin war Mr. Edgeworth der Held meiner Jugend. (Nicht, dass ich alt wäre oder so...) Aber vielleicht war es auch ganz gut so. Ich wollte nicht wissen, was er zu meiner misslungenen Forensikprüfung gesagt hätte. Ja, ich war durchgefallen, aber das war nicht meine Schuld! Dieser dämliche Prüfer hatte... Moment, das hier war doch die Staatsanwaltschaft, oder? Ich starrte wie ein verschrecktes Meerschwein durch die offenen Bustüren. Aussteigen, aussteigen, aussteigen! Mit einem Satz war ich draußen und einen Sekundenbruchteil später schlossen sich die Türen. Noch mal Glück gehabt, Ema. Von wegen! Als ich weiter gehen wollte, bemerkte ich, dass meine Tasche zwischen den Türen klemmte. Ich wiederum klemmte bedingt durch den Tragegurt an der Tasche. Argh. „Stop! Meine Tasche steckt fest!“ Ich hämmerte wie eine Blöde gegen das Glas. Mein Herz setzte aus, als der Bus anrollte und ich mitlaufen musste. „Anhalten, da sind meine Snackoos drin!“ Vor lauter Panik überschlug sich meine Stimme. Im nächsten Moment hielt aber der Bus und die Türen öffneten sich. Puh! Offenbar hatten sich ein paar Fahrgäste erbarmt den Busfahrer zu informieren. Als ich die Fußgängerzone zur Staatsanwaltschaft überquerte, sah ich mich noch ein paar Mal argwöhnisch nach dem Höllenfahrzeug um. Vollidiot. Ich ignorierte einfach mal den Fakt, dass es komplett nicht seine Schuld war. Jetzt stand ich vor diesem Gebäude und Erinnerungen kamen auf. Wie viele Jahre waren seitdem vergangen? Zehn? Ich war so lange in Europa in gewesen, dass ich mich mittlerweile in L.A. fremd fühlte. Aber ich hatte jetzt keine Zeit zum grübeln. Die Staatsanwaltschaft war ziemlich groß, das wusste ich noch, deshalb erkundigte ich mich gleich beim Pförtner um Zeit zu sparen. Ich kaute mir etwas Mut an, während ich dem empfohlenen Gang folgte. Munch. Munch. Munch. Letztendlich erreichte ich eine Tür mit einem wichtig aussehenden Schild: Klavier Gavin Irgendwie fand ich diesen Namen höchst dämlich. Wie sprach man das überhaupt aus? Egal. Im Fall der Fälle würde Mr. Gavin ohnehin genügen. Ich klopfte an, trat ein und hatte das Gefühl im komplett falschen Film zu sein. Wieso hingen hier Gitarren an der Wand? Obendrein fielen mir fast die Ohren ab, weil mich drei verschiedene Musiksender von Bildschirmen anplärrten. Inmitten dieses Krachs thronte eine blondbezopfte Gestalt. „Tschuldigung, falsche Tür“, murmelte ich und zog die Tür wieder hinter mir zu. Offenbar hatte man Gavins Büro verlegt, also ging ich wieder zum Pförtner, … der mir dann glauben machen wollte, dass DAS wirklich Gavins Büro war. Mir blieb keine Wahl als zu dem Gitarrenbunker zurückzustapfen. Ich riss erneut die Tür auf und betrachtete das Blondchen. „Ich suche Staatsanwalt Gavin.“ Der Typ – ja es war einer – stand eilig von seinem Sessel auf und ging mit langen Schritten auf mich zu. „Dann bin ich Ihr Mann, ja? Kommen Sie doch rein, Fräulein Skye! Ich habe Sie schon sehnsüchtigst erwartet!“, sagte er und schob mich in den Raum hinein um dann die Tür zu schließen. Er deutete auf einen freien Stuhl und begab sich dann selbst wieder in seinen Sessel. "Bitte setzen Sie sich doch! Eine Unterhaltung ist gleich viel angenehmer, wenn man es bequem hat, ja?" Ich bewegte mich keinen Zentimeter und beäugte ihn skeptisch. Was sollte das sein – eine Rockbarbie!? Der Kerl hatte vielleicht Nerven, nur war ich leider im Moment nicht zu Scherzen aufgelegt. "Wirklich witzig. Aber könnten Sie mir jetzt bitte verraten, wo ich Mr. Gavin finde?" Ich sattelte die Tasche auf meiner Schulter, die leicht verrutscht war und sah ihn unverwandt an. Was sollte das? Jeder Hornochse sah, dass das kein Staatsanwalt war! Er grinste breit und lehnte sich in seinem Sessel nach vorn. "Mein liebes Fräulein Skye, was bringt Sie zu der Annahme, ich sei nicht Klavier Gavin, aufsteigender Staatsanwalt und berühmter Rockstar? Dies ist das Büro des Staatsanwalts Gavin, ja? Zumindest war es das noch, als ich es heute morgen betreten habe. Außer mir befindet sich niemand sonst im Zimmer und, wenn es Sie glücklich macht, kann ich Ihnen gerne mal meine Marke zeigen!" Ohne den Blick zu senken, griff er in sein Jackett nach einem kleinen Mäppchen und schob es über den Tisch. "Das Foto sollten Sie nicht zu genau betrachten. Die Belichtung war sehr ungünstig und der Fotograf war ein regelrechter Stümper. Es zeigt mich nicht gerade von meiner Schokoladenseite." Ich griff ziemlich genervt nach dem Teil. Rockstar, Staatsanwalt – kein bisschen größenwahnsinnig, was? Natürlich inspizierte ich besonders eingehend das Bild. Verdammt, die Stempel und Wasserzeichen schienen alle echt zu sein, so viel stand fest und... nicht doch! Ich starrte auf das Geburtsdatum. 14.Oktober 2001 WAS!? Der war ja noch jünger als ich. Pf! Mir blieb nichts anderes übrig als zu akzeptieren, dass der Typ – oh, sein bescheuertes Grinsen wurde immer breiter – tatsächlich Staatsanwalt Klavier Gavin war. Also legte ich das Mäppchen zurück auf den Tisch und nahm dann Platz. Ich hatte mich schon in Grund und Boden blamiert, bevor das Vorstellungsgespräch überhaupt begonnen hatte. Herzlichen Glückwunsch, Ema, neuer Rekord. Ich löste die Tasche von meinen Schultern und murmelte etwas, das verdächtig klang nach: „Tschuldigung. Ich wusste ja nicht... Ich meine, Sie sehen nicht aus wie..." Ich hielt inne mit meiner Stammelei, atmete tief durch und sah Gavin fest in die Augen. "Können wir anfangen oder was hält Sie auf?" Er lehnte sich wieder zurück, während er sein Mäppchen in seiner Tasche verschwinden ließ und breitete nonchalant die Arme aus. "Rein gar nichts, Fräulein Skye. Ich habe nur auf Sie gewartet." Dann nahm er sich eine Akte zur Hand und blätterte darin. "Hier drin stehen ein paar hübsche Fakten über Sie. Aber ich finde, die Meinung dritter ist immer ein bisschen... voreingenommen. Deshalb will ich es noch mal persönlich von Ihnen hören. Was bringt Sie dazu, hier als Detective anzufangen? In Ihrem Zeugnis steht, Sie wären es bei der Forensikprüfung ein bisschen zu locker angegangen. Ich hoffe, diese Einstellung bringen Sie nicht auch Ihrer Position als Detective entgegen. Schließlich will ich mit Ihnen den Gerichtssaal so richtig rocken. Eine halbherzige Einstellung könnte mich meine Show und Sie ihren Job kosten, ja?" Also das war doch...! So was Unverschämtes! "Zu locker angegangen? Ich hör wohl nicht recht!" Ich schnaubte verächtlich. "Es ist mir egal, was auf dem Stück Papier da steht. Ich weiß, dass ich es kann! In der Prüfung kamen so komische Fragen dran. Das hatten wir nicht mal durchgenommen, okay?!" Meine Stimme ging merklich eine Oktave höher. Wieso rechtfertigte ich mich überhaupt? Das hatte ich gar nicht nötig. Ich wandte den Blick ab und musterte den Teppich. Was sollte ich denn sagen? Dass ich keine Wahl hatte und irgendwie meine Miete bezahlen musste? Was wusste dieser Typ schon über mich, außer der Tatsache, dass ich durch eine Prüfung gefallen war? Aber es war zwecklos. Ich hatte es eh schon verbockt, also sagte ich besser gar nichts mehr. "Natürlich. Das war allerdings nicht besonders fair, einem jungen Fräulein gegenüber, ja? Aber seien Sie unbesorgt. Ich bin immer fair! Ich werde nichts von Ihnen fordern, was Sie nicht können. Wenn es Ihnen also zu viel werden sollte, sagen Sie mir das ruhig." Versuchte er sich gerade über mich lustig zu machen? Ich hatte plötzlich das Gefühl, als er rede zu einem kleinen Kind. "Dafür erwarte ich aber von Ihnen, dass Sie auch fair zu mir sind. Es wäre nicht cool, wenn uns ein Verbrecher durch die Lappen ginge, nur weil Sie Ihre Arbeit nicht ernst nehmen, ja?" Meine Nasenflügel blähten sich auf und wie in Zeitlupe hob ich mein Gesicht vom Teppich zu ihm. "Na da bin ich aber erleichtert, dass Sie es mir so einfach machen", sagte ich zuckersüß und gab mir keine Mühe die Ironie in meiner Stimme zu verbergen. "Ich schätze, Sie strotzen nur vor Kompetenz. Bestimmt haben Sie schon eine Milliarde Verbrecher eingebuchtet und allen im Gerichtssaal gezeigt, wo der Frosch die Locken hat." Mein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig von gespielt begeistert zu... nicht sehr nett. Dass ich als Detective nicht in Frage kam war das eine, aber dass er sich jetzt noch über mich lustig machte und vorgab mit mir zusammen arbeiten zu wollen... zur Hölle mit ihm! Er lachte. "Nun, übertreiben Sie aber, Fräulein Skye! Eine Milliarde? So alt bin ich noch nicht! Aber ich hoffe, mit Ihnen zusammen werde ich die Marke noch knacken, ja?" Jetzt reichte es. „Schönen Tag noch, Mr. Gavin.“ Ich stand auf. Er tat es mir gleich und war mit seinen langen Beinen schneller an der Tür. Als er sie mir aufhielt, grinste er schon wieder so dämlich. "Ich erwarte Sie morgen früh um Sechs zum Briefing, ja? Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen zu rocken, Fräulein Skye." Offenbar war Gavin masochistisch veranlagt und wollte, dass ich ihm mal demonstrierte für wie lustig ich ihn hielt. „Natürlich. Um Sechs“, entgegnete ich augenrollend und stolzierte aus der Tür. Das war nicht besonders gut gelaufen. Obwohl, nicht ganz. Es war eine absolute Katastrophe! Als ich unten am Pförtner vorbei ging, ärgerte ich mich maßlos über mich selbst. Aber was hatte Lana immer gesagt – positiv denken. Zwar hatte ich jetzt keinen Job, aber alles war besser, als mit diesem Glimmerfop arbeiten zu müssen! 30. Sept. 2025 - Klavier ------------------------ Nur weil ich "der Neue" war, musste doch nicht wirklich alles auf mich abgewälzt werden, oder?! Ich hatte weiß Gott Wichtigeres zu tun, als Einstellungsgespräche zu führen. Gab es für sowas nicht irgendwo eine Abteilung? Und warum, um alles in der Welt musste mir denn überhaupt ein neuer Detective zugeteilt werden? Ich hatte bereits einen äußerst kompetenten Partner, der mir half, mich zurecht zu finden. Nicht, dass ich so was nötig hatte, aber es ging hier schließlich ums Prinzip. Und überhaupt! Was sollte das eigentlich für ein Detective sein!? Ich nahm die betreffende Akte zur Hand und las sie zum wohl hundersten Mal. Durch die Forensik-Prüfung gefallen. Ich bezweifelte, dass sie ihre Arbeit wirklich ernst nahm. Ich konnte niemanden gebrauchen, der seine Stelle nur als Übergangslösung sah und oberflächlich vorging. Was ich brauchte, war jemand, der mir eine perfekte Vorlage lieferte, damit ich den Gerichtssaal so richtig rocken konnte. Mit einem unguten Gefühl sah ich zu der zweiten Personalakte, die auf meinem Tisch lag. Die Lettern "Crescend, Daryan" zierten die schlichte, aber voluminöse Mappe. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das sicher über die Bühne bringen sollte. Gerade wollte ich mir nochmal Daryans Akte zu Gemüte führen, als die Tür aufging und ein reichlich verstörtes Fräulein im Türrahmen erschien. Ein hastiger Vergleich mit dem Foto, das an die Akte "Skye, Ema" geheftet war, verriet mir, dass es sich bei dem Fräulein um meinen neuen Detective handelte. Ich wollte den Mund öffnen, um sie herein zu bitten, da wirbelte das Fräulein Skye mit einem 'Tschuldigung, falsche Tür' wieder aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich dermaßen laut zu, dass meine Babies von den Vibrationen in der Wand durchgeschüttelt wurden. Ihre Saiten sangen anklagend und für einen Moment befürchtete ich, dass eines meiner Babies herunter fallen könnte. Ich seufzte erleichtert, als sie sich wieder beruhigten und sah dann nachdenklich zur geschlossenen Tür. Was genau, sollte ich jetzt aus dieser Aktion interpretieren? Ich überlegte, ob ich ihr folgen oder es lassen sollte, während ich nach einer Fernbedienung griff und die Monitore abschaltete (ein wenig Musik ist immer ganz hilfreich beim arbeiten, ja?). Ein entfallenes Vorstellungsgespräch kam immerhin einer Absage gleich. Aber dann öffnete die Tür sich wieder und besagtes Fräulein verlangte schmerzlich nach Staatsanwalt Gavin. Diesmal beeilte ich mich aufzustehen und den Raum zu durchqueren. "Dann bin ich ihr Mann, ja? Kommen Sie doch rein, Fräulein Skye! Ich habe sie schon sehnsüchtigst erwartet!" Mit dem charmantesten Lächeln, dass ich auf die Schnelle aufbringen konnte, schob ich sie sanft in den Raum und schloss die Tür hinter ihr, betont sacht, mit einem besorgten Seitenblick zu meinen Babies. Dann deutete ich zu dem freien Stuhl und nahm wieder an meinem Schreibtisch Platz. "Bitte setzen Sie sich doch! Eine Unterhaltung ist gleich viel angenehmer, wenn man es bequem hat, ja?" Sie rührte sich nicht. Natürlich war ich es gewohnt von jungen Damen angestarrt zu werden, aber das schien mir doch etwas unpassend bei einem Vorstellungsgespräch. "Wirklich witzig. Aber könnten Sie mir jetzt bitte verraten, wo ich Mr. Gavin finde?" Bitte was? Diese überaus patzige Frage brachte mich für einen kurzen Moment außer Konzept. Kannte mich dieses Fräulein etwa noch nicht? Professionell, wie ich war, lehnte ich mich nach vorn und lächelte sie mit dem nötigen Quäntchen Charme an, das die Höflichkeit verlangte. "Mein liebes Fräulein Skye, was bringt sie zu der Annahme, ich sei nicht Klavier Gavin, aufsteigender Staatsanwalt und berühmter Rockstar? Dies ist das Büro des Staatsanwalts Gavin, ja? Zumindest war es das noch, als ich es heute Morgen betreten habe. Außer mir befindet sich niemand sonst im Zimmer und, wenn es Sie glücklich macht, kann ich Ihnen gerne mal meine Marke zeigen." Im letzten Satz ließ ich ganz subtil das richtige Maß Obszönität mitschwingen, wobei ich bezweifelte, dass sie es bewusst bemerkte. Schließlich brannte sie nur darauf, mehr über meine Referenzen zu erfahren. Und da ich ein netter Mensch war, schob ich ihr ein kleines Mäppchen zu, welches bewies, dass ich sehr wohl das zweite Staatsexamen bestanden hatte. Mit Auszeichnung, ja? "Das Foto sollten Sie nicht zu genau betrachten. Die Belichtung war sehr ungünstig und der Fotograf war ein regelrechter Stümper. Es zeigt mich nicht gerade von meiner Schokoladenseite." Es war nicht so, dass ich auf diesem Bild unansehlich wirkte. Nur gab es tausend, nein, wahrscheinlich Millionen Bilder, auf denen ich ein wenig... göttlicher aussah. Und offenbar war das Fräulein endlich überzeugt, dass sie den echten Klavier Gavin vor sich hatte. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, während ich den Ausweis in meine Jackett-Tasche zurückschob. "Können wir anfangen oder was hält sie auf?", fragte sie. Aha? Charming. "Rein gar nichts. Ich habe nur auf Sie gewartet." Genug Smalltalk für heute. Es wurde Zeit, dass ich sie mal ein wenig auf Kompetenz überprüfte. Aber alles ganz smooth, ja? Ich nahm mir ihre Akte zur Hand. "Hier drin stehen ein paar hübsche Fakten über Sie. Aber ich finde, die Meinung Dritter ist immer ein bisschen... voreingenommen. Deshalb will ich es nochmal persönlich von Ihnen hören. Was bringt Sie dazu, hier als Detective anzufangen? In Ihrem Zeugnis steht, Sie wären es bei der Forensikprüfung ein bisschen zu locker angegangen. Ich hoffe, diese Einstellung bringen Sie nicht auch Ihrer Position als Detective entgegen. Schließlich will ich mit Ihnen den Gerichtssaal so richtig rocken. Eine halbherzige Einstellung könnte mich meine Show und Sie Ihren Job kosten, ja?" Das Ganze sagte ich mit einer Haltung, die mehr als entspannt schien, man hätte meinen können, es wäre mir gar nicht so wichtig, als würde ich nur ein wenig mit dem Fräulein flirten. Doch meine Augen waren direkt auf sie gerichtet und äußerst wachsam. Der Unterton in meiner Stimme hätte einen aufmerksamen Zuhörer dazu veranlasst, sich sehr viel Zeit zu nehmen, eine Antwort zu überlegen. Ich tat locker, aber ließ keinen Zweifel daran, dass Fräuleins Skyes Antwort entscheidend dafür war, was ich in Zukunft von ihr halten würde. "Zu locker angegangen? Ich hör wohl nicht recht!" Meine Augenbrauen wanderten unwillkürlich nach oben. "Es ist mir egal, was auf dem Stück Papier da steht. Ich weiß, dass ich es kann! In der Prüfung kamen so komische Fragen dran. Das hatten wir nicht mal durchgenommen, okay?!" Autsch. Hatte man dieser Frau denn niemals einen Funken Professionalität nahe gelegt? Auch inhaltlich überzeugte sie nicht. Nicht mal ansatzweise. Ach nein, wie enttäuschend. Sie hatte nicht mal mal den Anstand mir ins Gesicht zu sehen, stattdessen starrte sie zu Boden. Folglich wurde mein Lächeln immer breiter. "Natürlich. Das war allerdings nicht besonders fair, einem jungen Fräulein gegenüber, ja? Aber seien Sie unbesorgt. Ich bin immer fair! Ich werde nichts von Ihnen fordern, was Sie nicht können. Wenn es Ihnen also zuviel werden sollte, sagen Sie mir das ruhig." Anders als meine Mimik, hatte sich mein Tonfall extrem verändert. Ich redete jetzt mit ihr, wie mit einem meiner Fangirls, von denen ich in vielen Fällen keine große geistige Leistung zu erwarten hatte. "Dafür erwarte ich aber von Ihnen, dass Sie auch fair zu mir sind. Es wäre nicht cool, wenn uns ein Verbrecher durch die Lappen ginge, nur weil Sie Ihre Arbeit nicht ernst nehmen, ja?" Jetzt sie sah mich an und dann auch noch so liebreizend! "Na da bin ich aber erleichtert, dass Sie es mir so einfach machen. Ich schätze, Sie strotzen nur vor Kompetenz. Bestimmt haben Sie schon eine Millarde Verbrecher eingebuchtet und allen im Gerichtssaal gezeigt, wo der Frosch die Locken hat." Ooohh~, hatte ich sie etwa verärgert? Sie schien ein wenig - wie würde es Daryan es ausdrücken? - angepisst. Ich lachte kurz auf, immerhin war es sehr mutig seinen zukünftigen Chef so rüde anzufahren. Diese Zickereien würden ohnehin bald ein Ende haben. "Nun, übertreiben Sie aber, Fräulein Skye! Eine Milliarde? So alt bin ich noch nicht. Aber ich hoffe, mit Ihnen zusammen werde ich die Marke noch knacken, ja?" "Schönen Tag noch, Mr. Gavin." Ich erhob mich, wie man es eben tut, wenn sich eine Dame zum Gehen wandte. Mit meinen langen Beinen fiel es mir nicht schwer an ihr vorbei zu eilen. Ich hielt ihr höflich die Tür auf - damit sie gar nicht erst die Gelegenheit bekam, diese noch mal zu knallen - und entließ sie mit einem formvollendeten Zahnpastalächeln. "Ich erwarte Sie morgen früh um Sechs zum Briefing, ja? Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen zu rocken, Fräulein Skye." Dann schloss ich die Tür. Wäre es meine Entscheidung gewesen – Gott bewahre, ich konnte sie als Detective absolut nicht gebrauchen! Und bei dem Gedanken fiel mir wieder ein, dass ich das Schlimmste noch nicht einmal hinter mir hatte. Ich sah düster zu Daryans Akte. Für einen Moment überlegte ich, einfach das Memo ins Polizeipräsidium zu schicken und das Ganze auf den Ranghöchsten dort unten abzuwälzen. Aber Daryan war mein bester Freund. So was wäre einfach nicht cool. Also ließ ich mich schwer in den Sessel fallen, griff nach dem Telefon und wählte Daryans Durchwahl. Während ich dem Freizeichen lauschte, blätterte ich eher oberflächlich in den Papieren. Nachdem mir das Tut Tut schon mehr als dreißig Sekunden durch den Gehörgang tanzte, war ich versucht aufzulegen. "Crescend, ahoi." Endlich. Ich musste dem Verlangen widerstehen, Daryan anzufahren, weil er mich so lange warten ließ, denn ich entschied erstmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen. "Du musst sehr beschäftigt sein, ja? Hat sie C oder D?" Ich hoffte, dass mein scherzhafter Tonfall offensichtlich genug war, damit klar wurde, dass es mich überhaupt nicht störte. "Wenn dich die Fragen des Lebens nicht allzu sehr in Schach halten, wäre es cool, wenn du mal eben vorbei kommen könntest. Ich- ... mir wurde etwas auf den Tisch gelegt, über das ich gerne mit dir reden möchte. Am besten sofort, ja? Ich werde dich auch nicht lange aufhalten. Bis gleich!" Damit legte ich auf, um jeder weiteren Nachfrage zuvorzukommen, die, wie ich mit ziemlicher Sicherheit wusste, dazu führen würde, dass ich innerhalb weniger Minuten einen verdammt wütenden Daryan am Hörer hätte. In meinem Büro konnte ich wenigstens sicher sein, dass keiner mithörte, wenn Daryan seine Contenance verlor. Mit jeder verstreichenden Minute wurde ich unruhiger, immer wieder blätterte ich in der Akte, als könnte sie mir einen geheimen Plan offenbaren, wie ich das Ganze hier möglichst unproblematisch abwickeln konnte. Als sich meine Tür öffnete, klappte ich die Akte hastig zu und schob die von Ema Skye darüber. Daryan ließ sich nonchalant auf den Stuhl fallen und griff sich eines meiner Magazine. Nebenbei fragte er: "Was gibt's?" Für ein paar Sekunden betrachtete ich ihn unschlüssig. Schließlich entschied ich mich, einfach mal irgendwo anzufangen. "Wie~... war deine... Zugfahrt nach Ohio? Ich habe gehört, du bist zwei Nächte durchgefahren. Mir wäre sowas ja zu unbequem." Ich redete um den heißen Brei herum. Das war nicht cool und fair war es auch nicht. Aber es war sicher. Zumindest sicherer, als mit der Tür ins Haus zu fallen. Doch Daryan wirkte recht abwesend, scheinbar hatte ihn das Magazin völlig eingenommen. "Huh? Zugfahrt?.... Ach so. Jaja. War nett. Ist Gewöhnungssache, Mann. Du weißt, dass ich Fliegen hasse." Er blätterte um und dann stand ihm der Mund offen. "Sieh mal, Klav! Die Gibson hier. Abgefahren, oder?" Er hielt mir besagtes Magazin unter die Nase. "Weißt du, ich liebe Geeter. Aber ich dachte, es könnte nicht schaden, auch mal was anderes zu versuchen. Was meinst du?" Ich warf nur einen kurzen, fahrigen Blick in das Heft. Erstens kannte ich es schon auswendig und Zweitens war mein Kopf grad überfüllt mit anderen, weniger coolen Dingen. "Ja, die ist nicht schlecht. Ich kann sie dir ja zum Geburtstag schenken, wenn du willst." Ich sah Daryan nicht direkt an, während ich versuchte dieses unbequeme Thema wieder anzuschneiden. "Dass du mit Flugzeugen nicht kompatibel bist... fällt auf, Daryan. Nicht nur mir." Wie ein Bombenspezialist versuchte ich mich zum explosiven Kern vorzutasten. Jeden Moment konnte die Bombe hochgehen. Ich ahnte, dass ich hiernach erstmal ein Deo brauchen würde. "Schenk sie mir nicht, das macht mich nur verlegen, Mann!" Als ob ich nicht wüsste, dass Daryan nichts lieber bekam als Geschenke. Er sammelte sogar akribisch alle Fangeschenke, als wären sie Heiligtümer, nur gab er das nicht offen zu. Daryans Stimme klang auf einmal schneidend. "Sag mal, was hast'n du plötzlich für 'nen Geier nach Flugzeugen?" Okay, er hatte scheinbar begriffen, worum es ging. Ich würde es überleben... hoffentlich. Doch ich hörte ihn plötzlich schallend lachen. "Bwahahahahahaha! Oh Mann, Gavin das meinst du nicht ernst! Deshalb hast du mich angerufen?" Hatte ich was verpasst? Konnte Daryan wirklich mit dieser Entscheidung leben? Ich sah ihn hoffnungsvoll an und der Stein auf meinem Herzen lockerte sich, zum Absprung bereit. "Ich versteh das. Und klar, Mann! Warum nicht? Ich meine, wenn du unser neues Musikvideo unbedingt in 'nem Flieger drehen willst. Es ist ja nicht so, dass ich allergisch reagiere, wenn ich das Teil nur angucke. Solange es am Boden bleibt. Aber hey, du bist echt fucking awesome, Klav! Bwahahahahaha! Richtig süß, wie schonend du versucht hast mir das beizubringen." So bejahend ich ihn gerade auch angesehen hatte (ich lehnte mich förmlich über den Tisch), umso überfahrener ließ ich mich in den Sessel zurückfallen. Ich fühlte mich, als hätte man mir den Stöpsel gezogen und alle Luft wäre aus mir gewichen. Es half nichts. Daryan war zwar ein verdammt guter Detective, aber manchmal auch regelrecht begriffsstutzig. Außerdem war er mein bester Freund. Er hatte ein Recht darauf, dass ich ehrlich zu ihm war. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Mehr als ein bitteres Lächeln schaffte ich nicht mehr. "Nicht ganz, Daryan, aber danke für den Tipp. Ich werd's mir für später merken." Es blieb mir nur eine Wahl: Ich musste Daryan mit anderen Augen sehen. Und mich auch. Ich war jetzt nicht mehr sein bester Freund, oder sein cooler Bandleader. Ich war jetzt Staatsanwalt Gavin und musste mit der Wahrheit rocken. "Was ich meine ist, es ist anderen aufgefallen. Hier! Im Präsidium, in der Staatsanwaltschaft und vor allem - und das ist das Schlimme, ja - in der Rechnungsabteilung. Deine... Methoden Flugzeugen aus dem Weg zu gehen, kosten das Präsidium Unsummen, ganz zu Schweigen davon, dass es unnötig zeitaufwändig ist. Und die Herren in den richtig schweren Sesseln sind der Meinung, dass du besser aufgehoben bist in einem... in einem Job, wo du möglichst wenig reisen musst, ja?" Angespannt schob ich das Memo, dass an Daryans Akte geheftet war, über den Tisch, wobei ich ihn nicht aus den Augen ließ. "Es tut mir leid, Daryan. Aber deine Versetzung ist bereits entschlossen." Wie zu erwarten fiel ihm das Lachen prompt aus dem Gesicht und auf seltsame Weise beruhigte mich das ein wenig. Immerhin war es der Situation angemessen. "Red keinen Scheiß, Klav..." Daryan riss das Blatt an sich und seine Augen flackerten – vermutlich nur stichpunktartig – über den Text. "Diese Sesselfurzer wollen mich an den Schreibtisch tackern! Was denken die eigentlich, wer sie sind?! Das können die nicht mit mir machen! Nach all der Zeit..." Und jetzt sah er mich plötzlich mit diesem Blick an, den ich nur allzu gut kannte. Darin lag Wut, gepaart mit kindischem Aktionismus. "Ey, ruf da an und sag denen, dass das nicht geht. Ich sterbe, wenn die mich versetzen. Du bist mein Partner, Mann! Du kannst da bestimmt was regeln." Ich schüttelte langsam den Kopf. Mir tat es leid, sehr sogar. Natürlich wollte ich weiter mit Daryan zusammen arbeiten. Erst recht jetzt, da ich wusste, wie die Alternative aussah. Aber ich wusste auch, wann ich einen Kampf verloren hatte und dieser Kampf wurde nicht einmal in meinem Beisein ausgefochten. "Das Memo lag erst heute Morgen bei mir auf dem Tisch. Glaub mir, ich würde, wenn ich könnte... Aber die Versetzungspapiere sind bereits ausgefüllt. Die haben die Show ohne uns geschmissen." Ich klappte die Akte auf und blätterte bis ganz nach hinten, wo die Kopie eines einzelnen Formulares mit amtlichen Stempel das Unausweichliche verkündete: Bestätigung des Versetzungsgesuchs über den Beamten Daryan Crescend von der Abteilung für kriminaltechnische Angelegenheiten in die Abteilung für internationale Angelegenheiten. Auch dieses Dokument schob ich zu Daryan. Ich betrachtete ihn besorgt. Das hier alles war so uncool und ich wusste zum ersten Mal seit langer Zeit nicht, was ich tun sollte. "Verstehe, du willst mir gar nicht helfen." Oh, oh. Diesen Ton kannte ich, er war unheilvoll. Und jetzt sah mich auf eine Weise an, die mich wirklich traf. Es war der hasserfüllteste Blick, den Daryan mir je gegeben hatte. Er griff nach der Akte und warf sie durch den Raum, sodass sämtliche Blätter und Unterlagen ein großes Durcheinander auf dem Boden bildeten. "Ich dachte du wärst mein Freund. Auch wenn diese Bratzen glauben, dass es beschlossene Sache ist... Wenn du in der Situation gesteckt hättest, dann hätte ich verdammt noch mal alle Hebel dreimal in Bewegung gesetzt! Aber keine Sorge, ich komm schon klar!" Ich beobachtete Daryans Wutausbruch nach außen hin teilnahmslos. Schließlich hatte ich damit gerechnet. Das war auch gut so. Besser Daryan verlor hier die Beherrschung, wo ihn, außer mir natürlich, niemand sehen konnte, als wenn er es eventuell vor einer wichtigen Amtsperson tat und sich damit die Chance verbaute, doch noch zurück zu kommen. Es war ja nicht so, als hätte ich schon alles aufgegeben. Mein neuer Detective hatte ganz offensichtlich gezeigt, dass sie nicht plante länger als bis zur nächsten Forensik-Prüfung zu bleiben. Wenn alles gut ging, wäre ich in einem Jahr schon wieder ohne Detective und wenn ich mich mächtig ins Zeug legte, was ich eigentlich immer tat, hatte ich mir bis dahin einen Namen gemacht, der stark genug war, um sich einen ganz bestimmten Detective zu wünschen. Aber das wollte ich Daryan lieber nicht sagen. Es war ja alles nur rein spekulativ und der Gute neigte leicht dazu, sich Hoffnungen zu machen. Ich wollte ihn lieber damit überraschen. Daryan stand mittlerweile an der Tür und sah mich über die Schulter vernichtend an. "Na, hast du dir schon 'nen Neuen ausgesucht? Jemand, der besser ist als ich? Ist er gut, HUH? Zur Hölle, Mann!" Er zeigte mir seinen Mittelfinger. Und jetzt fühlte ich mich wirklich schlecht. Ich öffnete den Mund, um Daryan wenigstens zu sagen, was für eine Enttäuschung sein 'Ersatz' doch war, aber da war er auch schon zur Tür raus. Ich zählte stumm bis Dreißig, dann holte ich mein Handy heraus und schrieb eine SMS: "Sorry, ja? You're my only guilty love!" Zugegeben, es klang ziemlich schwul, wenn man es aus dem Kontext gegriffen las. Aber der Songtext handelte von einer guten Erinnerung, der das lyrische Ich auch nach Jahren noch treu geblieben war, zumindest im Herzen. Daryan kannte als Einziger den Text des neuen Songs und ich hoffte, dass er die Message verstehen würde. Seufzend ließ ich mich in seinen Sessel zurücksinken und schloss die Augen. Was für ein Tag. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. 01.Oct. 2025 - Ema ------------------ MÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖP!!!!!!!!!!!!!!!!! Ich stöhnte und drehte mich zur anderen Seite. Meine Türklingel war mit Abstand die grauenvollste von ganz LA. MÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖP!!!!!!!!!!!!!!!!! Ich öffnete ein Auge und schielte auf den Radiowecker. 7.31 Uhr. Welcher Idiot-? Ach, bestimmt nur der Postbote. Moment... ich hatte doch gar nichts bestellt. MÖÖÖP!!! MÖÖÖP!!! MÖÖÖP!!! ARGH! Herrgottnochmal! Ich quälte mich schlaftrunken aus dem Bett. MÖÖÖP!!! "Ich komme schon!" Im gleichen Moment packte ich mich fast der Länge nach hin, weil ich mit dem Fuß im Telefonkabel hängen blieb. Ich verpasste dem Telefon einen sauberen Tritt und ging zur Tür. Die Tatsache, dass ich in dem übergroßen T-Shirt keine elegante Erscheinung machte und mir die Haare zu Berge standen – was soll's, der Postbote war eh nicht mein Typ. Ich gähnte und öffnete die Tür. ....... ..... .... ! Dieser hier auch nicht. Und die Tür flog prompt wieder zu. Was zum Teufel wollte Gavin hier? Ich wusste es nicht, aber jetzt hörte ich ihn aus vollen Lungen meine Wohnungstür anquatschen. "Sie haben eine Schwäche dafür mit Türen zu knallen, ja? Wenn Sie mich reinlassen, dürfen Sie noch mal mit meiner Tür knallen." Also das war doch wirklich...! "Verschwinden Sie, bevor es gleich richtig knallt!" Ich schloss die Augen und massierte meinen Nasenrücken. Kopfschmerzen kündigten sich an, also schleppte ich mich ins Bad und warf eine Aspirin ein. Als ich mich zum Hahn beugte um Wasser zu trinken, hörte ich, wie er in unregelmäßigen Abständen den Klingelknopf betätigte. "Aber Fräulein Skye! Nun seien Sie doch nicht so grausam zu mir! Gestern waren Sie noch so süß und ich habe mich wirklich auf unser Date heute gefreut. Wieso lassen Sie mich jetzt einfach vor der Tür stehen? Bin ich Ihnen nicht gut genug?" Was zum Henker redete er da!? Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, ging ich in die Küche um Kaffee aufzusetzen. Gavin malträtierte weiterhin die Türklingel. MÖÖÖP!!! MÖÖÖP!!! MÖÖÖP!!! Ich versuchte mit den Utensilien lauter als nötig zu klappern, nur damit ich ihn nicht hören musste. Zwecklos. "Das ist ja wohl die Höhe! Der arme junge Mann! Frau Skye, Sie sollten sich schämen!" Na das war ja wunderbar! Als ob Gavin vor der Tür nicht schon ätzend genug war, hatte er jetzt noch Gesellschaft bekommen. Es war nicht zu überhören, dass es die alte Schreckschraube von gegenüber war. Ich hatte damals keine zwei Minuten den Mietvertrag unterschrieben, da wusste ich schon bestens über alle Lebensgeschichten meiner Nachbarn Bescheid. Hinzu kam, dass die Alte einen elendig langen Monolog führte, wann und vor allen Dingen wie das Treppenhaus gewischt werden musste. Und wieso war ich jetzt die Böse? Gavin wollte Krieg? Konnte er haben! Ich stapfte mit energischen Schritten auf die Tür zu und - stop, umkehren! Auf die Schnelle zog ich mir eine Jeans und ein besser sitzendes Shirt an und strich mir noch mal schnell die Haare glatt. Dann öffnete ich lächelnd die Tür. "Mrs. Oldbag... Hi! Dieser arme junge Mann hatte gestern das Vergnügen mit mir ein Vorstellungsgespräch zu führen. Leider genügte ich seinen Ansprüchen nicht, was er zum Ausdruck brachte, indem er sich über mich lustig machte. Und jetzt steht er vor meiner Tür und belästigt mich. Wenn doch nur jeder Morgen so wundervoll beginnen würde..." Ich redete mit einer derart sanften Weise, dass ein Ausländer geglaubt hätte, ich überhäufe Gavin mit tausend Komplimenten. Hinzu kam, dass ich ihn äußert liebevoll ansah. Innerlich beschimpfte ich ihn natürlich auf Übelste und wünschte ihm die Pest an den Hals. Das Nächste, was ich wahrnahm war Gavin, der näher kam und sich zu mir runter beugte – er wollte doch nicht!? Ich bog instinktiv meinen Kopf zurück und hasste ihn dafür, dass er meinem Gesicht so nahe war. "Was habe ich nur getan, dass Sie mich mit derart falschen Beschuldigungen verletzen wollen? Stehe ich nicht hier vor Ihnen, nachdem ich besorgt zum vereinbarten Zeitpunkt auf Sie gewartet habe? Ich hatte schon befürchtet Ihnen wäre etwas zugestossen! Ich bin, so schnell ich nur konnte, zu Ihnen gefahren, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht, ja? Schließlich wollen wir doch heute zusammen rocken." Er war nicht nur dreist, sondern ein Schleimer und Schönschwätzer. Das gekünstelte Lächeln war mir schon längst aus dem Gesicht gewichen, und ich hatte Mühe ihm fest in die Augen zu blicken, zumal ich noch nach einer Antwort suchte, die ich ihm an den Kopf knallen konnte. "Ach, nun vergeben Sie dem jungen Mann doch, Frau Skye! Sehen Sie nicht, wie sehr er sich um Sie bemüht!? Lassen Sie sich auf einen hübschen Kaffee einladen und dann werden Sie schon sehen, dass er gar kein so schlechter Kerl ist. Zumeinerzeithatmanesnatürlichnichtnurbeieinemkaffeegelassenhachjaaberzu meinerzeitwarsoeineromanzezwischenchefundangestelltennatürlichunden kbarhättemansichdamalsauchnurgewagt..." Wie bitte? Sie lag ja so was von falsch. Wen wunderte es? "Sie missverstehen da was, Mrs. Oldbag. Er ist nicht mein Chef und ich bin nicht seine... Angestellte." Jetzt konnte ich Gavin fest in die Augen blicken. "Ich kann mich nicht mal an einen Arbeitsvertrag erinnern. Wie dumm von mir." Gavin entfernte sich – war auch besser so für ihn. "Sie entschuldigen?", sagte er zu Mrs. Oldbag. Und dann ging alles ziemlich schnell. Er zog mich in die Wohnung, schloss die Tür mit dem Fuß und lehnte sich dann mit verschränkten Armen dagegen. Mit einem ernsten Blick sah er auf mich herab. "Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich Sie gebeten heute um Punkt sechs Uhr in mein Büro zu kommen, um mit mir ein Briefing durch zu führen. Liege ich da falsch? Nein. In diesem Briefing hätte ich Ihnen gerne erklärt, wie ich die Dinge mit meinem Detective handhabe und wäre den Arbeitsvertrag mit Ihnen durchgegangen. Unglücklicherweise sind Sie nicht erschienen, weshalb ich mich genötigt sah, bei Ihnen nach dem Rechten zu sehen. Und jetzt frage ich Sie ganz offen: Möchten Sie den Job immer noch? Wenn das der Fall sein sollte, dann werden Sie innerhalb von zehn Minuten gestiefelt und gespornt draußen sein und mit mir zum Tatort fahren. Andernfalls... muss ich wohl leider auf Sie verzichten, ja?" Was zur Hölle sollte das? Gavin zerrte mich in meine Wohnung und... hielt er mir da gerade eine Standpauke? Pf! Ich kam nicht dazu, mich zu äußern, denn er verließ die Wohnung. Und scheinbar hatte ich gehörig was missverstanden. Eigentlich dachte ich, dass es kein Arbeitsverhältnis gäbe. Aber jetzt hatte ich wohl doch einen Job. Auch gut. Zehn Minuten sagte er? Ich gönnte mir zwölf... Ha, nimm das Gavin! Als ich raus ging und die Wohnungstür abschloss, war keine Oldbag mehr da. Es grenzte an ein Wunder, dass die Alte nicht in Lauerposition stand um mich a) auszuquetschen... b) eine weitere Predigt vom Stapel zu lassen und c) in Erinnerungen zu schwelgen. Urks. Ich ging die Treppen hinunter und als ich nach draußen gelangte, sah ich Gavin an so einer lila Protzmaschine warten. Ich nahm meine Brille aus der Tasche und setzte sie auf meinem Kopf. "Falls Sie noch mal einen Detective brauchen, drücken Sie sich einfach klarer aus." Als nächstes wühlte ich in meiner Tasche nach Kleingeld für ein Busticket. "Also, wo ist der Tatort?" Gavin wirkte amüsiert und holte einen Helm hevor. "Denken Sie nicht mal dran mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Meine Maschine schafft's in zwanzig Minuten. Sie hätten vor..." - ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr - "... fünf Minuten am Tatort sein müssen. Entscheiden Sie selbst, wie weit Sie sich an ihrem ersten Arbeitstag noch verspäten wollen." Ich starrte ihn recht unfreundlich an ohne dem Zweithelm auch nur einen Funken Beachtung zu schenken. "Vergessen Sie's. Ich steige nicht auf dieses Monster. Und bevor Sie gleich in Tränen ausbrechen, weil Ihnen der Bus zu langsam ist: Ich nehme ein Taxi. Zufrieden? ... Sagen Sie mir jetzt bitte, bitte die Adresse?" Endlich bequemte er sich mir die Adresse aufzuschreiben, bevor er sich auf seine Maschine setzte. "Ich sehe Sie dann am Tatort, Fräulein Skye. Seien Sie nicht zu unpünktlich, ja?" Blödaffe. Ich sah zu, wie er davon fuhr und suchte mir dann ein Taxi. Die Fahrt dauerte dreißig Minuten und selbstverständlich übernahm ich die Rechnung... nicht, sondern ließ sie auf Gavin ausschreiben. Als ich ausstieg, sah ich bereits die gelben Absperrungen. Ich musste unwillkürlich an die Zeit mit Mr. Wright denken und nahm mir vor ihn mal in seiner Kanzlei zu besuchen. Ich beugte mich unter die Absperrung um zum Tatort zu gelangen, da wurde ich von einem Wachmann angehalten, das Gelände zu verlassen. Vergeblich versuchte ich ihm klar zu machen, dass ich der zuständige Detective war, doch ich hatte nicht mal einen Dienstausweis, dem ich ihm unter die Nase halten konnte. Shit! "Besser Sie verschwinden jetzt, Ma'am. Ich krieg' nen Haufen Ärger, wenn so n paar neugierige Pressefuzzies hier rumschnüffeln." Was zum-!? Ich tastete in meiner Tasche nach Snackoos und wollte diesen Idiot bewerfen, als eine bekannte, nicht unbedingt sympathische Stimme mein Vorhaben unterbrach. "Das geht schon in Ordnung 'Herr' Summers. Das Fräulein Detective gehört zu mir, ja?" Hui, der glimmeröse Glimmerfop. Irgendwie wurmte es mich, dass dieser Polizist jetzt Entschuldigungen stammelte und das Absperrseil nicht hoch genug halten konnte. Und es war nicht so, dass ich vor Erleichterung auf die Knie fallen wollte, aber wenn Gavins Anwesenheit es zuließ, dass ich endlich den Tatort untersuchen konnte, war's mir auch recht. Zu irgendwas musste er ja taugen. "Nun kommen Sie schon, Fräulein Skye. Leider kann ich Sie nicht dafür bezahlen, dass Sie mit unseren Polizisten flirten, ja?" Hm? Oh, richtig. Ich hörte auf den Polizist mit bitterbösen Blicken zu strafen und ging weiter, ohne Gavin anzusehen. "Und ich glaube, niemand will Sie für Sätze bezahlen, die nicht mal ansatzweise witzig sind." Als ich den Tatort erreichte, sah ich, dass er noch ganz frisch war. Er wurde noch nicht untersucht, nur abgesperrt. Mein Herz schlug schneller, weil ich nun meinen ersten richtigen Fall untersuchen würde. Ich ging in Gedanken alles durch, was ich auf der Polizeischule gelernt hatte, bevor ich mich auf Forenskik spezialisierte. 1. Tatort abriegeln. War schon erledigt. 2. Fotos. Ich nahm eine kleine Digitalkamera aus meiner Tasche und machte von allen wichtigen Abschnitten Bilder. 3. Handschuhe. Ich fand vor Ort welche. 4. Leichensicherung. Ich wies zwei Polizisten an (nachdem ich Planen um den Körper ausgebreitet hatte für die spätere Fußspurenanalyse) die Umrisse der Leiche abzukleben und sie dann in die Obduktion zu bringen. 5. Spurensicherung. Ein Messer steckte unübersehbar in der Leiche und ich entdeckte enorme Blutspuren mit Hilfe von Luminol. Ansonsten ging mich die Leiche nichts an. Ich war ja nur der Detective. Bei jeder neuen Spur hatte ich das Verlangen diese auch chemisch zu untersuchen, aber ich durfte es nicht. Das war Aufgabe der Forensiker. Hmpf. Nachdem ich alles abgegrast hatte, schickte ich drei Polizisten los um Zeugen zu befragen. Und jetzt hieß es warten. Ich stand mitten im Geschehen, völlig miesgelaunt und schob mir einen Snackoo nach dem anderen in den Mund. Und dann hätte ich mich beinahe verschluckt. "Achtung, Fräulein Detective! Sie sind ziemlich flink, ja? Ich kann Ihnen wohl doch ein bisschen mehr zumuten." Munch. Munch. Munch. Das war Antwort genug und ich sah genervt zur Seite. Ein Polizist kam angewuselt und gab mir das erste Untersuchungsprotokoll. Ich überflog es auf die Schnelle. "Geht in Ordnung." Dann unterschrieb ich das Blatt und reichte es wortlos an Gavin weiter. Ich musste ihm wohl nicht extra erklären, dass seine Unterschrift daneben gehörte. Das wusste er sicher. Munch. Munch. Munch. Die Forensiker trafen ein. Pf! Bestimmt hatten die super einfache Fragen in den Prüfungen. "Ach, die 'Herren' Forensiker! Hier scheint ja wirklich alles reibungslos zu laufen. Das rockt, ja?" Musste er eigentlich alles kommentieren? Munch. Munch. Munch. Ich drehte mich in die entgegengesetzte Richtung, weil Gavin schon wieder blendete. Ein Eichhörnchen kletterte einen Baum abwärts. Und gerade war ich dabei mir einen weiteren Snackoo in den Mund zu schieben, als Gavins Grinsegesicht in meinem Sichtfeld auftauchte. Am liebsten hätte ich ihm den Snackoo in die Nase gestopft, einfach damit er mal die Luft anhielt. "Mit Ihrer finsteren Miene machen Sie den armen Polizisten hier noch Angst. Oder ist es, weil ich Ihnen im Weg bin? Wenn Sie den 'Herren' Forensikern so gerne bei der Arbeit zusehen wollen, kann ich Sie gerne miteinander bekannt machen. Sie werden in Zukunft noch öfter miteinander zu tun haben, ja? Kommen Sie!" Was? Bevor ich protestieren konnte, hatte er einen Arm um mich gelegt und schob mich zu den Forensikern. Ich sträubte mich, aber Gavin war stärker. "Achtung, meine 'Herren'! Ich möchte Ihnen Fräulein Skye vorstellen, der neue Star unserer Show. Ab sofort ist sie hier der Detective und genießt mein vollstes Vertrauen! Schmeißen Sie alle eine gute Performance, ja?" Das klang, als sei ich eine ABC-Schülerin oder bestenfalls Praktikantin. Ruhig bleiben, Ema, wenn du ihn umbringst, gibt das nur unnötigen Ärger. Munch. Munch. Munch. Zu meiner Genugtuung warfen die Forensiker Gavin nur einen geringschätzigen Blick zu, bedachten mich aber mit einem kollegialen Nicken. Ha! So sehr ich sie um ihren Job beneidete; sie konnten am allerwenigsten was für die Vorgesetztenkatastrophe. Ich sah wie sie dabei waren eine schnelle Probe abzunehmen. Dann sprach ich zu Gavin, ohne ihn anzusehen. "Kaliumoxidhydrat. Schnelltestverfahren zur Bakterienanalyse. Macht man so, wenn man wissen will, wie lange jemand schon tot ist." Munch. Munch. Munch. "Und die Arbeit eines Forensikers findet hauptsächlich im Labor statt. Hier gibt es nicht viel zum zusehen oder miteinander arbeiten, Gavin." Munch. Munch. Munch. Offensichtlich machte er sich wichtiger, als er wirklich war und das wunderte mich überhaupt nicht. Munch. Munch. Munch. Ich starrte wieder auf den Baum. Das Eichhörnchen war weg. Pf. "Und Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie die Prüfung nicht doch einfach nur zu locker angegangen sind?" Er drehte mich an den Schultern herum, lehnte sich viel zu weit nach vorn und sah mir in die Augen. "Ich möchte trotzdem, dass Sie gut miteinander auskommen, ja? Ich bin es gewohnt, mich auf die Kompetenz und Zuverlässigkeit meiner Leute immer hundertprozentig verlassen zu können. Wenn ich mich in meinem Büro auf einen Gerichtstermin vorbereite, möchte ich, dass sämtliche Dokumente und Beweisstücke, die sich auf meinem Schreibtisch befinden, von Ihnen ausgiebig bearbeitet und geprüft wurden. Wenn man eine Show rocken will, muss alles hinter der Bühne reibungslos ablaufen." Dann lehnte er sich wieder zurück. Leider war er noch nicht fertig mit seinem Monolog. "Außerdem wäre es ziemlich uncool, wenn mein Fräulein Detective von irgendeinem Strafverteidiger in die Mangel genommen wird, weil sie nicht auf ihre Zeugenaussage vorbereitet war, ja?" Er war schlimmer als ein altes Waschweib und hörte sich wohl gerne reden. Vollidiot! Munch. Munch. Munch. "Ich lasse Sie jetzt mit Ihren neuen Arbeitskollegen allein. Kommen Sie direkt in mein Büro, wenn Sie hier fertig sind. Dann gebe ich Ihnen Ihren so schmerzlich vermissten Arbeitsvertrag." Er wollte abhauen? Bestens. Ich hatte schon befürchtet, den ganzen Tag seine Anwesenheit ertragen zu müssen. Es raschelte verdächtig und ich sah pfeilschnell zu meiner Snackoo-Tüte. "HEY! Geben Sie den sofort wieder her!" Doch er spazierte mit riesigen Schritten davon. "D-Das ist Diebstahl, Gavin?!" Ich wusste, dass es lächerlich war, deshalb klang ich nicht nur hysterisch, sondern auch unsicher. Ich schoss ihm noch ein paar mentale Pfeile in den Rücken. Aber immerhin hatte ich jetzt meine Ruhe. Munch. Ein paar Stunden später war ich mit den ersten Befunden auf dem Weg in Gavins Büro. Ich klopfte an, wartete die Antwort nicht ab und trat ein. Ohne eine Begrüßung ging ich auf seinen Schreibtisch zu und legte nacheinander Papierumschläge ab. "Toxilogischer Befund, erster Bericht. Pathologischer Befund, noch ziemlich ungenau. Tatortbilder. Aktueller Bestand der Beweisliste. Und hier noch ein paar Meldungen aus der Forensik." Das genügte. Ich wandte mich ab, doch als ich die Tür öffnete, wurde sie gewaltsam wieder zugedrückt. "Achtung, Fräulein Skye! Sie vergessen ja das Wichtigste!" Schon wieder lag sein Arm um meine Schultern und er drängte mich zurück zum Schreibtisch. "So nobel ich es auch finde, dass Sie offensichtlich kostenfrei für mich arbeiten möchten, muss ich darauf bestehen, dass Sie Ihren Arbeitsvertrag unterschreiben." Gavin holte aus einer Schublade ein paar zusammengeheftete Dokumente und eine Polizei-Marke nebst Ausweis. Das alles schob er zusammen mit einem teuer aussehenden Kugelschreiber über den Tisch. "Nehmen Sie sich ruhig Zeit beim Durchlesen. Nicht, dass Ihnen wieder etwas entgeht." Ach ja, der Arbeitsvertrag. Das hatte ich tatsächlich vergessen. Ich las nur die wichtigen Passagen zum Thema Urlaub und Krankmeldung. Wenn man unter Gavin arbeitete, war das notwendig. Ansonsten schien das so ziemlich der normalste Arbeitsvertrag der Welt zu sein. Ich unterschrieb mit meinem eigenen Kugelschreiber und steckte die Kopie in meine Tasche. Dann warf ich einen Blick auf die Dienstmarke und den Ausweis. Schien in Ordnung zu sein und wanderte ebenfalls in die Tasche. Als ich aufsah, war Gavin bereits dabei die von mir überbrachten Unterlagen zu lesen. Spielende Kinder sollte man nicht stören, also war das ein guter Zeitpunkt zum gehen. "... Sagen Sie mir, Fräulein Detective, was halten Sie davon?" Er hielt eines der Papiere hoch und ich sah von hier aus, dass es der Fallbericht war. Das war nicht sein Ernst, oder? Ich sah kurz auf meine Uhr, dann zu ihm und versuchte einen recht ungehaltenen Eindruck zu machen. "Wissen Sie, ich habe heute noch nichts Anständiges gegessen. Gute Nacht, Gavin." Ich sattelte meine Tasche und wandte mich zum Gehen. Es stimmte, bei all der Arbeit hatte ich nicht eine einzige Pause gehabt. Und ausgerechnet jetzt wollte er über den Fall philosophieren. Mir kam es aber bereits zu den Ohren raus. Und außerdem hatte ich Hunger. Kaum stand ich draußen, bemerkte ich, wie er das Büro abschloss. Offenbar war er schon aufbruchbereit gewesen, bevor ich kam. "Wie Sie wünschen, Fräulein Skye! Dann können Sie mir ja morgen früh um halb Sechs Ihre Meinung zu dem Fall sagen, ja?" Ich konnte nicht anders als ihn entgeistert anzusehen. "Halb Sechs?" Ich keuchte. "Das machen Sie doch mit Absicht!" Er gab ein raues Lachen von sich, legte den Kopf schief und grinste unheilvoll. "Kann ich Sie nach Hause fahren?" Stirb, Gavin, stirb! "Nein, Sie können mich nicht nach Hause fahren. Aber Sie können mich mal kreuzweise!" Ich stapfte mit einer mir bis dato unbekannten Wut den Gang entlang. "So schmeichelhaft das auch klingt, Fräulein Skye, bin ich doch dafür, dass wir uns erstmal näher kennen lernen, bevor ich auf Ihre Einladung eingehe, ja?", rief er mir nach. Ich musste wirklich alles an Selbstbeherrschung opfern, damit ich mich nicht umdrehte und ihn vierteilte. Erst war ich versucht den Fahrstuhl zu nehmen, aber dann fiel mir ein, dass er wohl das Gleiche im Sinn hatte. Also nahm ich die Treppe. Zu Hause konnte ich nicht mehr viel mit meiner freien Zeit anfangen. Es reichte gerade mal um Lana anzurufen und nebenbei ein Fertiggericht in die Mikrowelle zu verfrachten. Und dann musste ich auch schon ins Bett, andernfalls würde ich verschlafen und diesen Triumph wollte ich Gavin jetzt erst recht nicht gönnen. 01.Oct. 2025 - Klavier ---------------------- Ich raste am frühen Morgen mit fast zweihundert Sachen über den Highway. Einerseits hatte ich kaum geschlafen, und zum anderen schmollte Daryan mir immer noch. Zumindest hatte er sich nicht einmal zu einer patzigen SMS der Marke 'schwul mich nicht an!' herab gelassen. Ich hatte noch bis spät in die Nacht hinein überlegt, ob ich ihn anrufen sollte (immerhin musste ich heute Abend mit ihm auf der Bühne stehen). Weshalb ich dann nur mit Ach und Krach pünktlich zum angesetzten Briefing erschienen war. Und da erwartete mich die nächste Enttäuschung. Ich hatte, wie es sich für einen Gentleman gehörte, eine halbe Stunde auf Fräulein Skye gewartet, doch sie war einfach nicht erschienen. Auf mein Anfragen teilte man mir mit, dass sie mir auch keine Nachricht hinterlassen hatte. Und obendrein musste in einer Stunde jemand am Tatort sein und für mich ermitteln. So langsam hatte ich wirklich das Gefühl, irgendwer da oben hatte was gegen mich. Wenigstens fand ich Fräulein Skyes Adresse in ihren Bewerbungsunterlagen. Mich interessierte es brennend, was sie davon abhielt, ihrem Job nachzugehen. Vor dem Apartement-Store, in dem Fräulein Skye wohnen sollte, parkte ich ordnungsgemäß mein Bike, und indem ich einer älteren Frau lächelnd die Tür aufhielt, schaffte ich es sogar ins Haus, ohne unten klingeln zu müssen. Ich war schließlich kein ungeliebter Bittsteller. Oben richtete ich mit geübten Bewegungen meine Erscheinung, setzte das 'Nur-für-Fräuleins'-Lächeln auf und betätigte den Klingelknopf. Nachdem keine Reaktion folgte, versuchte ich mein Glück gleich noch mal. Und noch mal. Und... ach, diese Klänge waren einfach ein Traum. Als dann endlich die Tür geöffnet wurde, erhaschte ich einen recht... interessanten Blick auf Fräulein Skye in nichts außer einem T-Shirt und - hoffentlich - einem Unterhöschen darunter, bevor sie die Tür wieder zuschlug. Ich seufzte; so spannend ich dieses Spiel auch unter normalen Umständen gefunden hätte, gerade jetzt war meine Zeit knapp bemessen. Also betätigte ich erneut den Klingelknopf und, einfach, weil ich nicht widerstehen konnte, rief ich in einer Lautstärke, die nicht nur das Fräulein Skye, sondern auch sicher jeder ihrer Nachbarn verstehen konnte: "Sie haben eine Schwäche dafür mit Türen zu knallen, ja? Wenn Sie mich reinlassen, dürfen Sie noch mal mit meiner Tür knallen!" "Verschwinden Sie, bevor es gleich richtig knallt!" Wie könnte ich? Ich hatte anderes im Sinn, zumal ich beobachtete, wie sich eine Wohnungstür öffnete und ein grauer Schopf neugierig heraus sah. Vielleicht sollte ich heute doch noch ein wenig Spaß bekommen. Mit einer Stimme, die vor Verzweiflung triefte, unterhielt ich mich weiter mit der Tür (vorher versuchte ich der Klingel noch den Anfangsrhythmus von Smoke on the water zu entlocken). "Aber Fräulein Skye! Nun seien Sie doch nicht so grausam zu mir! Gestern waren Sie noch so süß und ich habe mich wirklich auf unser Date heute gefreut, ja? Wieso lassen Sie mich jetzt einfach vor der Tür stehen. Bin ich Ihnen nicht gut genug?" Ich hatte schon die Befürchtung ein paar Tränen heucheln zu müssen. Aber der Spalt der gegenüberliegenden Wohnung vergrößerte sich und eine alte Dame – aha, Türen aufzuhalten hat durchaus seinen Sinn - fegte mit wutgerechten Schritten den Hausflur entlang. "Das ist ja wohl die Höhe! Der arme junge Mann! Frau Skye, Sie sollten sich schämen!" Ich feuerte die Alte siegessicher an, obwohl ich nach außen hin das emotionale Wrack spielen musste. Sie legte mir sogar mitfühlend eine Hand auf die Schulter und versicherte mir, dass junge Frauen nun mal zur Sprunghaftigkeit neigten. Als sie anfing über ihre verflossenen Liebschaften zu berichten, war ich versucht die Tür einzutreten und Fräulein Skye notfalls auch in ihrer spärlichen Bekleidung zum Tatort zu zerren. Zum Glück erübrigte sich das im nächsten Moment. Ich erhaschte einen weiteren Blick auf Fräulein Skye, leider war sie diesmal korrekt angezogen. "Mrs. Oldbag... Hi! Dieser arme junge Mann hatte gestern das Vergnügen mit mir ein Vorstellungsgespräch zu führen. Leider genügte ich seinen Ansprüchen nicht, was er zum Ausdruck brachte, indem er sich über mich lustig machte. Und jetzt steht er vor meiner Tür und belästigt mich. Wenn doch nur jeder Morgen so wundervoll beginnen würde..." Das war gerissen, aber nichts, das mich auch nur im Entferntesten beirren konnte. Im Gegenteil: Jetzt da sie endlich nicht nur in Hör- sondern auch in Reichweite war, beugte ich mich zu ihr herab, so dass es fast so aussah, als wolle ich sie küssen. "Was habe ich nur getan, dass Sie mich mit derart falschen Beschuldigungen verletzen wollen, Fräulein Skye? Stehe ich nicht hier vor Ihnen, nachdem ich besorgt zum vereinbarten Zeitpunkt auf Sie gewartet habe? Ich hatte schon befürchtet Ihnen wäre etwas zugestossen! Ich bin, so schnell ich nur konnte, zu Ihnen gefahren, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht, ja? Schließlich wollen wir doch heute zusammen rocken." Die Alte neben mir hatte ich eigentlich vergessen, aber ich konnte sie schlecht ignorieren, wenn sie wie ein Maschinengewehr redete. "Ach nun, vergeben Sie dem jungen Mann doch, Frau Skye! Sehen Sie nicht, wie sehr er sich um sie bemüht? Lassen Sie sich auf einen hübschen Kaffee einladen und dann werden Sie schon sehen, dass er gar kein so schlechter Kerl ist. Zumeinerzeithatmanesnatürlichnichtnurbeieinemkaffeegelassenhachjaaberzumeinerzeitwarsoeineromanzezwischenchefundangestelltennatürlichundenkbarhätemansichdamalsauchnurgewagt..." "Sie missverstehen da was, Mrs. Oldbag. Er ist nicht mein Chef und ich bin nicht seine... Angestellte. Ich kann mich nicht mal an einen Arbeitsvertrag erinnern. Wie dumm von mir." Ich war wirklich ein friedfertiger Mensch, aber auch meine Geduld hatte irgendwann ein Ende. Also drehte ich mich kurz mit einem Schwiegersohnlächeln zu – Sie hieß Mrs. Oldbag, richtig? - und zwitscherte ein "Sie entschuldigen?" Ich schob Fräulein Skye in die Wohnung und schloss die Tür mit dem Fuß, bevor der Dinosaurier noch auf den Gedanken kam uns zu folgen. "Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich Sie gebeten heute um Sechs Uhr in mein Büro zu kommen, um mit mir ein Briefing durch zu führen. Liege ich da falsch? Nein. In diesem Briefing hätte ich Ihnen gerne erklärt, wie ich die Dinge mit meinem Detective handhabe und wäre den Arbeitsvertrag mit Ihnen durchgegangen. Unglücklicherweise sind Sie nicht erschienen, weshalb ich mich genötigt sah, bei Ihnen nach dem Rechten zu sehen. Und jetzt frage ich Sie ganz offen: Möchten Sie den Job immer noch? Wenn das der Fall sein sollte, dann werden Sie innerhalb von zehn Minuten gestiefelt und gespornt draußen sein und mit mir zum Tatort fahren. Andernfalls... muss ich wohl leider auf Sie verzichten, ja?" Ich hoffte ganz einfach, dass die Autorität in meiner Stimme und Mimik deutlich machte, dass ich verdammt noch mal arbeiten wollte und dass sie, Geflirte hin oder her, zu spät an ihrem ersten Arbeitstag war. Und damit dieser Eindruck nicht flöten ging, ließ ich sie da stehen und verließ die Wohnung wieder. Warum Mrs. Oldbag mich mit glasigen Augen und einer fieberhaften Röte auf dem Gesicht empfing, war mir schleierhaft, aber ich streckte den Daumen nach oben und beeilte mich die Treppe hinunter zu kommen. Mein Bike hatte ich schon viel zu lange unten stehen gelassen. Nachdem ich mich versichert hatte, dass mein liebreizender Detective auch den Weg zum Tatort gefunden hatte, fuhr ich zurück in mein Büro. Es dauerte eine Weile, bis ich den widerlichen Geschmack von Fräulein Skyes Knabberding los wurde. Dieser Keks war so süß, dass man ein Gefühl von rauschendem Zucker in den Adern bekam. Kein Wunder, dass sie permanent gereizt war. Und es war nicht die Norm, dass ich einen Tatort mit meiner Anwesenheit beehrte. Dieser Ermittlungsgaudi interessierte mich nicht sonderlich und außerdem war ich Daryans Arbeitsweise gewohnt: Schnell, gründlich und bedacht darauf, dass ihm niemand im Weg stand. Von Bedeutung waren für mich brauchbare Ergebnisse für die Verhandlung. Solange Fräulein Skye den Tatort rockte – und ich hatte heute gesehen, dass sie darin recht versiert war – widmete ich mich inzwischen einem anderen wichtigen Thema: Mein neuer Songtext. Eigentlich bevorzugte ich es Texte auf Kompositionen zu schreiben, aber am Tatort waren mir so viele schöne Zeilen eingefallen, dass es einer Katastrophe gleichkam, diese nicht festzuhalten, ja? Zwischendurch versuchte ich immer mal wieder Daryan zu erreichen. Leider erfolglos. Gegen Abend betrachtete ich die wohl 79. Version meiner lyrischen Ergüsse und war trotz aller Korrekturen nicht zufrieden. Vielleicht war ich auch zu angespannt, weil ich in wenigen Stunden schon wieder auf die Bühne musste. Und das warf gleich die nächste Frage auf: Warum dauerte die Ermittlung so lange? Die Umstände waren mir herzlich egal, aber ich wollte letztendlich noch einen Blick in den Fallbericht werfen, bevor ich das Büro verließ. Und endlich – ich war im Begriff zu gehen – betrat Fräulein Skye mein Büro. "Toxilogischer Befund, erster Bericht. Pathologischer Befund, noch ziemlich ungenau. Tatortbilder. Aktueller Bestand der Beweisliste. Und hier noch ein paar Meldungen aus der Forensik." Bevor ich mich versah, war das Fräulein Skye dabei, wieder aus meinem Büro zu rauschen. So reizvoll der Gedanke auch war, dass sie schnell zur Sache kam, ich konnte sie leider noch nicht ziehen lassen. "Ich finde es äußerst nobel, dass Sie umsonst für mich arbeiten möchten, aber ich muss darauf bestehen, dass Sie Ihren Arbeitsvertrag unterschreiben, ja?" Ich griff in meine Schreibtischschublade nach dem Vertrag nebst Ausweis und Dienstmarke und überließ ihr sogar meinen Kugelschreiber. "Nehmen Sie Sich ruhig Zeit beim Durchlesen. Nicht, dass Ihnen wieder etwas entgeht." Während sie mit dem Vertrag beschäftigt war, lehnte ich mich im Sessel zurück und blätterte die Dokumente durch. Das war alles noch recht... spekulativ. Wie schade. Aber wozu hatte ich einen Detective? "Sagen Sie mir, Fräulein Detective, was halten Sie davon?" Anstatt mir eine brauchbare Antwort zu geben, warf sie mir einen pikierten Blick zu. "Wissen Sie, ich habe heute noch nichts Anständiges gegessen. Gute Nacht, Gavin." Offenbar war sie sehr erpicht auf ihre emotionale Flexibilität und ich war gewillt Verständnis zu zeigen. Ich nahm meinen Schlüssel und verriegelte sorgsam mein Büro – immer zweimal, da ich keine Lust hatte meinen Detective auf einen vermeidbaren Fall von Gitarrendiebstahl ansetzen zu müssen. "Wie Sie wünschen, Fräulein Skye! Dann können Sie mir ja morgen früh um halb Sechs Ihre Meinung zu dem Fall sagen." Wenn sie flexibel sein wollte, dann wollte ich das umso mehr, ja? "Halb Sechs? Das machen Sie doch mit Absicht!" Natürlich machte ich das mit Absicht, aber ich war nicht verpflichtet das offen zuzugeben. "Kann ich Sie nach Hause fahren?" Ich stellte die Frage nicht, damit sie mein Angebot annahm – Nein, vielmehr hatte ich den Verdacht, dass sie auf Offerten reagierte wie der Pawlowsche Hund auf eine Klingel. Weniger sabbernd, mehr bissig. "Nein, Sie können mich nicht nach Hause fahren. Aber Sie können mich mal kreuzweise!" Ding. Ding. Ding – Volle Punktzahl, Gavin. "So schmeichelhaft das auch klingt, Fräulein Skye, ich bin doch dafür, dass wir uns erstmal näher kennen lernen, bevor ich auf Ihre Einladung eingehe, ja?", rief ich und sah dem Fräulein noch einen Moment hinterher. Mit Sicherheit würde sie mir in den nächsten Wochen noch ein wenig den Arbeitsalltag versüßen. Sie war nicht ganz der Detective, wie ich ihn mir vorstellte und dennoch hatte sie heute bewiesen, dass sie nicht auf den Kopf gefallen war. Wenn sie mir morgen pünktlich unter die Augen trat, könnte ich eventuell meine Meinung über ihre Arbeitsmoral noch ändern. Ich sah auf die Uhr – es war kurz nach Sieben. In einer Stunde musste ich beim Soundcheck sein. Die Konzerte der Gavinners begannen seit ein paar Monaten recht spät – niemals vor 22 Uhr, aber das ließ sich schlecht ändern, wenn man sich die außermusikalischen Aktivitäten von uns allen betrachtete. Unsere Fans schien das nicht zu stören – das Konzert war innerhalb von vier Stunden ausverkauft. Ohne Restbestände, ja? Leider hielt mich der Feierabendverkehr auf und ein paar kreischende Fräuleins, die es sich vor dem abgeriegelten Parkplatz am Hintereingang bequem gemacht hatten. Zum Glück war die Security zur Stelle, bevor sie mich von meiner Maschine reißen konnten. Ach, aber so etwas motivierte ungemein. Ich spürte schon jetzt, wie wir das Kolloseum zum beben brachten. Wobei mir Daryan wieder einfiel. Ich konnte unmöglich mit ihm auf die Bühne, bevor ich mich mit ihm ausgesprochen hatte. Anderfalls endete das womöglich in einem hörbaren Fiasko, das nur Skepsis bezüglich der horrenden Ticketpreise hervorgerufen hätte. Ich wollte, dass alles perfekt war, sobald die Vorgruppe die Bühne geräumt hatte. Als ich die Garderobe betrat, wusste ich, wer sich auf der Couch entspannte, ohne dass ich extra hinsehen musste. "Lenny, draußen gibt es Aschenbecher. Es ist nicht nötig, dass du unsere Garderobe vollqualmst, ja?" Ich lächelte unseren Keyboarder nett an, obwohl ich ihn lieber mit Eiswasser übergossen hätte. Der Geruch würde wahrscheinlich die nächsten Stunden in der Luft hängen und ich konnte es partout nicht ausstehen. Und tatsächlich verließ die brennende Zigarette den Raum, zusammen mit Lenny. Das machte es wesentlich einfacher mich auf die Songliste zu konzentrieren. Geplant waren 22 Songs und zwei Zugaben. Aber um ehrlich zu sein: Vielmehr freute ich mich, heute mit vier verschiedenen Gitarren rocken zu können. Um sicher zu gehen, dass auch auch alle Instrumente den Weg in die Halle gefunden hatten, begab ich mich zur Bühne. Was jetzt kam, war nur noch Routine: Gespräche mit den Tontechnikern, dem Tourmanager und das Stimmen der Instrumente. Auch die Bodengeräte funktionieren reibungslos. Normalerweise machte ich das mit Daryan und Ike, unserem Bassist, zusammen. Ike war da und auch Tjark spielte sich bereits am Schlagzeug warm, aber von Daryan fehlte jede Spur. Und so langsam wurde ich unruhig. Wie sollte ich einen Soundcheck abhalten, wenn die zweite Gitarre fehlte!? "Ich geh' noch mal eine rauchen", sagte Lenny. "'Nein!' Wir fangen jetzt mit dem Soundcheck an", stellte ich klar. "Wieso – der Pimmelkopf fehlt." Ich mochte meine Jungs wirklich, aber in Momenten wie diesen hätte ich Lenny gern den Hals umgedreht. "Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen. Wir fangen trotzdem an, ja?", sagte ich mit einer gehörigen Portion Zucker in der Stimme und wenn das passierte, wussten sie, dass jedes weitere Widerstandswort überflüssig war. In den folgenden drei Songs spielte ich Daryans Part – meinen kannte ich zu Genüge, allerdings dröhnten die Instrumente in meinem In-Ear dermaßen laut, dass ich meine Stimme beim Singen nicht mehr hörte. Aber für so etwas waren Soundchecks schließlich da und eine kurzer Wortwechsel mit dem Tonmeister schaffte dieses Problem schnell ad acta. Und gerade, als ich mir den Kopf darüber zerbrach, ob die fehlende Gitarre später richtig ausgepegelt sein würde, sah ich wie Daryan die Bühne betrat und mit einer Seelenruhe Geeter aus ihrem Gitarrenkoffer befreite. "Schön, dass du es geschafft hast!" Ich war sauer. Besonders, weil Daryan mich offensichtlich ignorierte und seine Gitarre stimmte. Als er dann endlich aufsah und nicht den Eindruck machte, als ob ihn diese peinliche Verspätung kümmerte, entschied ich, dass auch ich ignorant sein wollte. "Guilty love", kommandierte ich und ließ Tjark anzählen. Der Song war brandneu und als nächste Single vorgesehen. Ich war mir sicher, dass sie Platin holte, aber dreifach Platin war nun mal ein wenig... reizvoller, ja? Unser heutiger Auftritt entschied darüber, wie schnell die Internetportale mit schlecht aufgenommenen Handyvideos überflutet wurden. Aber so wie sich das jetzt anhörte, klang das nicht nach Platin, sondern bestenfalls Gold. Falsch gespielte Achtel – stand ich hier mit einer Schülerband auf der Bühne!? Ich brach den Song ab. "Im Takt, Daryan, bleib im Takt, ja? Was sollen denn die Fräuleins von uns denken?" "Ich polier' dir gleich mal die Fresse im Takt! Was die Fräuleins denken, interessiert mich 'n Scheiß!" "Nicht schon wieder ein Ehekrach...", murmelte jemand hinter mir. "Halt's Maul!" Tjark blinzelte irritiert, weil Daryan und ich ihn synchron angefahren hatten. Normalerweise vermied ich solch eine vulgäre Äußerung, aber sie war mir einfach in den Sinn gekommen. Und das war unter anderen Daryans Schuld. Ich löste die Gitarre von meinen Schultern und zerrte ihn an den Bühnenrand. "Du kommst zu spät, spielst falsch und führst dich auf wie ein zickiges Mädchen. Wenn du denkst, dass ich dich heute so auf die Bühne lasse, hast du dich geschni-" "Das hast du nicht zu entscheiden, Klav! Die Band sind wir fünf, nicht du." Wollte er mir unterstellen, dass ich Entscheidungen im Alleingang traf? "Richtig. Wir hatten aber auch mal geschworen immer unser Bestes zu geben, ja?" Ich sah ihn jetzt inständig an. "Daryan, weißt du eigentlich wie viel die hinteren Stehplätze kosten – 119 Dollar! Das heißt, die Leute da hinten werden vermutlich nichts sehen für ihr Geld, aber sie sind gekommen um uns zu hören. Warum spielst du nicht für sie?" Er wirkte immer noch beleidigt, aber zumindest war die Aggressivität aus seiner Körperhaltung gewichen und ich wollte die Gelegenheit nutzen. "Hör zu, das mit deiner Versetzung tut mir leid, ja? Aber vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit bis-" "Jetzt halt mal die Luft an, Gavin! Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist." Ach, tatsächlich? Daryan war wirklich unberechenbar. Er strich über Geeters Gitarrenhals, als ob er sie beruhigen müsse. "Weißt du, ich hab jetzt 'n größeres Büro. Nicht so 'ne Streichholzschachtel, die man kriegt, wenn man unter so 'nem Anfänger wie dir arbeitet." Das Lächeln auf meinem Gesicht wurde immer breiter. Genau dafür liebte ich Daryan. Er konnte einfach nicht nachtragend sein. Davon abgesehen trug ich wirklich keine Schuld. Ich legte meine Hand in seinen Nacken und schob ihn zurück in Richtung Bühne. "Na komm schon, mein kleines Mädchen", raunte ich ihm zu und ich erntete einen Klaps auf den Hinterkopf. Kurz nach Mitternacht betrat ich völlig verschwitzt die Garderobe. Ich hörte bis hier runter wie die Fans nach einer dritten Zugabe verlangten. Das klang wundervoll und ich musste zugeben, dass wir das Kolloseum verdammt gut gerockt hatten. Für einen kurzen Moment setzte ich mich auf die Couch und schloss die Augen. Zwar rauschte das Adrenalin noch immer durch meine Adern, aber ich spürte die körperliche Erschöpfung. In ein paar Stunden musste ich schon wieder im Büro sein und ich bereute schlagartig, dass ich einem gewissen Fräulein den Begriff von Pünktlichkeit beibringen wollte. Jemand warf mir ein Handtuch ins Gesicht. "Du siehst aus wie 'ne ölige Tussi", sagte Daryan. Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht und antwortete: "Muss ich Angst haben, dass du mich abschleppst, ja?" Ich wich einer halbherzig geworfenen Wasserflasche aus und zog mich um. Als ich fast aufbruchbereit war, ging die Tür auf. "Wo bleibt ihr denn? Die Aftershowparty hat angefangen!" Sowohl Daryan als auch ich sahen Ike mit einem Ich-höre-dich-aber-verstehe-kein-Wort-Blick an. Ike kratzte sich am Hinterkopf. "Das war so eine Idee von Carl..." - Carl war unser Tourmanager – "Er meinte, dass es eine gute Gelegenheit wäre Künstler und Fans zusammen zu bringen." Ich verstand immer noch nicht, was Ike von uns wollte. Wahrscheinlich war ich einfach nur zu müde. "Hat Carl den Fans gesagt, dass wir auf der Party sein werden?", fragte Daryan. "Ich dachte, ihr wüsstet Bescheid." Als Daryan sein schönstes Haifischgrinsen aufsetzte, konnte ich nicht anders als lachen, zumal ich begriffen hatte, welcher Ragtime hier geklimpert wurde. Jetzt wusste ich auch, warum sich die überteuerten Eintrittskarten so gut verkauften – Carls Strategie war ziemlich einfach: Er garantierte den Fans eine gemeinsame Aftershowparty mit den Gavinners. Aber schön, mir war es recht; immerhin hatte er mir den perfekten Grund geliefert ihn endlich zu feuern, ohne dass er auf eine Abfindung hoffen durfte. Ich erholte mich von meinem Lachanfall, dann raffte ich mich auf. "Geh zur Party, Ike", sagte ich und schloss die Tür. "Mann, der Sack hat sie nicht mehr alle." Daryan stand auf und ordnete seine Frisur. "Aber wenn die Ladies schon Spalier stehen, kann ich mir auch was aufreißen. Kommst du mit?" Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn ich keinen Arbeitstag und ein zweieinhalbstündiges Konzert hinter mir gehabt hätte, wäre ich nicht in Versuchung geraten. Das war zu Beginn meiner Rockstarkarriere noch aufregend gewesen, aber mittlerweile reizte es mich nicht mehr. Erstens ertrug ich dieses gehörgangmalträtierende Gequietsche aufgrund meiner Person nicht. Zweitens war ich ein ausgesprochener Ästhet und, wen auch immer ich mitnahm und sei es nur zur Bartoilette, ich konnte in 90% der Fälle sicher sein, dass das hübsche Fräulein in ordentlichem Licht nicht mehr ganz so hübsch aussah und bei allem Respekt, ich hasste Enttäuschungen. Drittens besaß ich nicht Daryans Bad Boy-Attitüde. Ich konnte ein junges Fräulein nicht einfach wieder vor die Tür setzen, nachdem ich mich ein wenig mit ihr vergnügt hatte. Was unweigerlich darin resultierte, dass ich mir am nächsten Morgen elendig lange Vorträge darüber anhören durfte, dass sie ja eigentlich gar nicht so ein leichtes Mädchen sei und große Ziele hatte (mit dem Chef einer Modelagentur schlafen, zum Beispiel). Zudem wurde meine Küche auf den Kopf gestellt, bei dem Versuch, mir ein Frühstück zu 'zaubern', was meist noch nicht einmal schmeckte, mein kostbarer Badezimmerspiegel wurde mit abgedroschenen Lippenstift-Botschaften beschmaddert und - und das war das wohl Schlimmste - ich hatte fremde Haare in meiner Bürste. Alles in allem, war es die Mühe wirklich nicht wert. Daryan klopfte mir zum Abschied auf's Schulterblatt. "War 'n guter Gig. Bis Morgen." "Viel Erfolg", sagte ich und ging mit aufkeimenden Kopfschmerzen die unterirdischen Schachtelgänge des Kolloseums ab. Alles, was ich jetzt wollte, war mein Bett. 02.Oct. 2025 - Ema (1/2) ------------------------ Um 4.30 Uhr brüllte mich Gloria Gaynor mit I will survive aus meinem Radiowecker an. Wie grausam konnte diese Welt sein? Das Lied war bald 50 Jahre alt und wurde immer noch gespielt. Wenigstens war ich wach und konnte die Frühaufsteher unter meinen Kraftreserven dazu bringen dieses Geplärre auszuschalten. Und dann war es auch schon vorbei mit der Munterkeit. Als ich ins Bad wollte, rannte ich gegen die Wand neben der Tür, versuchte mir mit Reisewaschmittel aus der Tube die Zähne zu putzen und stellte erst im Treppenhaus fest, dass ich keine Schuhe trug. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste: Um diese Zeit war es fast unmöglich, eine Kaffeequelle aufzutreiben, weil die Geschäfte noch geschlossen hatten. Glücklicherweise war der Starbucks gegenüber der Staatsanwaltschaft rund um die Uhr geöffnet. Bewaffnet mit Kaffee und einem Schokoladenmuffin öffnete ich pünklich Gavins Bürotür, aber nur einen Spalt. "Ich bin da. Wenn Sie was wollen, lassen Sie es mich wissen." Oder auch nicht. Immerhin hatte ich auf dem Präsidium meinen eigenen Arbeitsplatz, den ich Dank Gavin noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Ich schloss die Tür, biss in meinen Muffin und ging zum Fahrstuhl. "Ach, Fräulein Skye? Kommen Sie bitte noch mal in mein Büro, ja? Ich möchte gern mit Ihnen über den gestrigen Fall sprechen." Der Tag heute versprach noch beschissener zu werden als gestern! Zumindest fing er so an, wenn ich seinen affektierten Singsang-Ton hörte. Ich blieb stehen, als ob sich plötzlich Wurzeln um meine Füße gezogen hätten und drehte mich auf dem Absatz um. "Natürlich, Mr. Gavin", säuselte ich mit zusammengebissenen Zähnen und schleppte mich zurück Büro. Ich hoffte, dass es kein langes Gespräch wurde, setzte mich aber trotzdem auf den Stuhl. Zunächst stellte ich meinen Kaffebecher auf den Tisch, packte den angebissenen Muffin daneben und löste die Tasche von meiner Schulter. Während ich mir nach und nach Krümel aus dem Muffin pickte und in den Mund schob, wartete ich darauf, dass er endlich etwas sagte. Ich sah gar nicht ein, dass ich anfangen sollte. Und damit ich sein dämliches Grinsen nicht ertragen musste, betrachtete ich seine Gitarrensammlung an der Wand. War auch nicht viel spannender. Pf. Ich hörte, wie er in den Dokumenten blätterte. "Die Berichte sind noch unvollständig, aber Sie haben sich gestern am Tatort umgesehen, Fräulein Skye. Ich bin neugierig." Er schnipste mit den Fingern, sodass ich ihn ansah. "Sie haben sich doch Gedanken darüber gemacht, ja?" Ich wusste nicht warum, aber mir fiel zum ersten Mal auf, dass seine Augen blau waren. Mochte vielleicht daran liegen, dass er sich fast auf den Tisch legte. Ich tauschte den Muffin gegen den Kaffee. Argh! Zu bitter. Ich fummelte den Deckel ab und starrte fassungslos hinein. Hatte ich dem Möchtegernkaffeeverkäufer nicht ausdrücklich gesagt, dass ich Milch reinhaben wollte? Pf. Ich knallte den Kaffee genervt auf den Tisch. Und jetzt musste ich eine halbwegs annehmbare Antwort formulieren. "Keine Ahnung, was Sie von mir hören wollen. Ich weiß auch nicht mehr, als da drin steht. Dennoch..." Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme und musterte einen Punkt an der Wand links neben Gavin. "Ich hab viele, teilweise recht große Blutspuren gefunden, die nicht zur Leiche passen. Die Wunde war nicht sehr groß und das Opfer weitesgehend sauber. Nur ein kurzer Stich in die Milz. Damit ist man nicht mehr fähig viel zu laufen." Ich räusperte mich. "Ist nur so eine Vermutung, dass hier mindestens eine Leiche fehlt." Das war alles, was ich sagen konnte. Wenn Gavin mehr wissen wollte, musste er sich gedulden bis weitere Ergebnisse vorlagen. Weder ich, noch die Labortechniker waren Hellseher. Ich sah wieder zum Kaffee. Bevor ich hier noch einschlief, nahm ich lieber tapfer einen Schluck. "Achtung, Fräulein Detective! Wissen Sie, was ich jetzt von Ihnen erwarte?" Nein, und es war mir auch vollkommen Schnuppe. Im nächsten Moment starrte ich ihn an. Das war einfach... nicht normal!? Mr. Gavin spielte vor meinen Augen Luftgitarre! Als er fertig war, strahlte er mich glückselig an. "Heute Abend möchte ich, dass höchstens unser Mörder noch mehr über die verschollene Leiche weiß als Sie! Machen Sie sich an die Arbeit, ja?" Was zum-!? Ich schüttelte halb benommen den Kopf und stellte den Kaffee ab. "Na dann hoffe ich, dass Sie mehr Gründlichkeit an den Tag legen als unser Mörder", sagte ich. Bürokratisch gesehen war es sein Fall und nicht meiner (und ich wollte nicht wissen, wie viel die Differenz unserer Gehaltszettel betrug...) Gavin schien mir aber gar nicht mehr zuzuhören, stattdessen schrieb er hektisch auf einem Blatt Papier und murmelte: "My girlfriend is the stolen corpse? Nein... das rockt nicht... ich brauche einen besseren Titel..." Wenn ich ehrlich war, interessierte mich das Bruttoinlandsprodukt mehr als das, was in seinem kranken Hirn vor sich ging, also nahm ich meine Tasche und verließ das Büro. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, stieß ich mit jemanden zusammen. Anhand seiner Arbeitskleidung tippte ich darauf, dass er Starbucksmitarbeiter war. "Sorry, tut mir echt leid. Ich bringe den Kaffee Latte und einen Bagel für Mr. Gavin." Kaffee Latte? Ich lächelte hilfsbereit. "Da muss ein Missverständnis vorliegen. Mr. Gavin hat eine Lactose-Allergie." Ich nahm dem Burschen den Becher aus der Hand. Dann tat ich so, als ob mir ein Licht aufging und seufzte theatralisch. "Er ist so unvernünftig. Dabei sollte er mehr an seine Gesundheit denken, vor allen Dingen an seinen schlimmen Cholesterinspiegel..." Damit nahm ich ihm auch den Bagel ab. "Aber gehen Sie ruhig rein, damit er Sie bezahlen kann." Ich holte den Fahrstuhl und als die Türen sich schlossen, sah ich, dass der Bote immer noch an Ort und Stelle stand und mich verdattert musterte. Ich fand nicht, dass es Diebstahl war. Immerhin hatte ich Gavin meinen Kaffee blanko und den angebissenen Muffin zurück gelassen. Den kleinen Zwischensnack ließ ich mir während der zehn Minuten Fußweg zum Präsidium schmecken. Als ich die Kriminalabteilung betrat, zerrten mich die finsteren Klauen des Büroalltags in einen Abgrund voller Chaos. Mindestens zwanzig Telefone bimmelten gleichzeitig, neben mir ratterte ein Kopierer, vor mir fluchte ein Typ (scheinbar funktionierte der Drucker nicht mehr), und ich musste zur Seite springen um einem Stapel Akten auszuweichen, der von einer Frau erbarmungslos auf einem Rollwagen voran geprescht wurde. Nach meiner Pirouette stolperte ich über einen Drehstuhl und fand Halt, indem ich einen Monitor umarmte. "Willkommen an Board, Mädchen!" Ich sah zu der großen Hand, die mir aufhelfen wollte und dann zu der Person. "I-Inspektor Gumshoe!" Es war unmöglich ihn nicht zu erkennen. Das schlecht rasierte Gesicht wirkte trotz vermehrter Fältchen immer noch jungenhaft. Okay, den Trenchcoat hatte ich auch verschlissener in Erinnerung, aber sonst hatte er sich kaum verändert. Ich nahm seine Hand und ließ den Monitor los. "Bin jetzt Oberinspektor." "Wow, herzlichen Glückwunsch. Das ist... toll." Wer hätte das gedacht? Seine Brust bebte vor Stolz. "Da sagst du was. Eigentlich wollte ich ja-", er unterbrach sich und prüfte, ob uns jemand zuhörte, "Erzähl das bloß keinem, hörst du?" Ich nickte und ehrlich gesagt, war ich auch gespannt. "Als ich noch ein kleiner Junge war... wollte ich unbedingt Zauberkünstler werden. Aber behalt's für dich, okay?" Oh. Wahnsinn. "Okay", sagte ich. Er forderte mich auf, ihm zu folgen und als ich den links angrenzenden Raum betrat, war ich aufgrund der verräterischen Note sicher, dass es sich um die Kaffeeküche handelte. Gumshoe holte zwei Tassen aus einem Schrank und schenkte Kaffee ein. "Hab dich sofort erkannt, als ich deine Bewerbung las. Dachte mir auch gleich, dass dich der Himmel geschickt hat oder so." Er drückte mir eine Tasse in die Hand. "Warum das denn?" "Für Gavin ließ sich schlecht ein neuer Detective auftreiben. Hatte schon fast das Gefühl, die drücken sich alle, aber dann dachte ich, dass ein Neuling nicht nur am Schreibtisch versauern möchte." Also war es seine Schuld, dass ich Gavin jetzt am Hals hatte? Großartig. Ich konnte ihm nicht einmal böse sein, so wie er sich über seine Entscheidung freute, aber zu Dankeshymnen war ich im Moment einfach nicht fähig. Von daher beschränkte ich mich darauf, verbissen zu lächeln und Milch in meinen Kaffee zu kippen. "Es gibt nur ein Problem mit deinem Büro." Ich hatte ein Büro? Ich? "Wir strukturieren grad ein bisschen um. Deshalb musst du noch warten und erstmal im Großraumbüro dein Glück versuchen. Ich zeig dir deinen Platz." Ich schnappte mir den Kaffee und trabte ihm artig hinterher. Der Platz war gar nicht so übel. Zwar war ich auch hier nicht vor dem Krach gefeit, aber der Tisch stand etwas abseits am Fenster. Mich hätte es schlimmer treffen können. "Komm, ich zeig dir mal was", sagte er und fuhr den Computer hoch. Nebenbei kritzelte er mir das Passwort, mit dem ich mich einloggen konnte, auf einen Zettel: glorybadger. Meine innere Stimme legte mir nahe, das unkommentiert zu lassen. Viel mehr wollte ich jetzt das Programm bestaunen, das Gumshoe geöffnet hatte. "Willkommen bei Theurgical Informer!" "Was ist das?" Diese Software konnte quatschen – das machte mir Angst. Gumshoes zufriedenes Grunzen gleich noch mehr. "Das ist brandneu und wurde speziell für die Polizei entwickelt. Du kannst damit deinen Fall analysieren lassen. Das Programm hat sogar eine Spracherkennungsfunktion. Ziemlich genial, wenn du mich fragst." Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wenn ich richtig verstanden hatte, sollte mir diese Software das Denken abnehmen. Irgendwas piepste. "Schätze, ich muss dich dann mal allein lassen – muss jemanden anrufen", sagte er mit einem Blick auf sein... wie nannte man das?... Piepsding. Ich sah ihm nach. Pf. Zeit für Snackoos. Munch. Munch. Munch. "Möchten Sie einen Tatort rekonstruieren? Dann antworten Sie mit: Ja. Wenn Sie ein Fallschema erstellen wollen, antworten Sie bitte mit: Nein." Munch. Munch. Munch. "Sie möchten also einen Tatort rekonstruieren?" Munch. Munch. Munch. "Wunderbar! Handelt es sich bei der Tat um einen Mord? Dann antworten Sie mit: Ja. Wenn es sich bei der Tat um keinen Mord handelt, antworten Sie bitte mit: Nein." Munch. Munch. Munch. "Ich wiederhole: Es handelt sich bei der Tat um keinen Mord. Wenn Sie eine Korrektur wünschen, antworten Sie mit: Ja. Wenn Sie keine Korrektur wünschen, dann antworten Sie bitte mit: Nein." "Ja." "Wunderbar! Handelt es sich bei der Tat um einen Mord? Dann antworten Sie mit: Ja. Wenn es sich bei der Tat um keinen Mord handelt, antworten Sie bitte mit: Nein." "Ja." "Ich wiederhole: Es handelt sich bei der Tat um einen Mord. Wenn Sie eine Korrektur wünschen, antworten Sie mit: Ja. Wenn Sie keine Korrektur wünschen, dann antworten Sie bitte mit: Nein." "... Nein." "Wurde der Mord mit einer Handfeuerwaffe verübt? Dann antworten Sie mit: Ja. Wurde der Mord nicht mit einer Handfeuerwaffe verübt, antworten Sie bitte mit: Nein." Dieses Programm fing an mich zu nerven. Munch. Munch. Munch. "Ich wiederhole: Der Mord wurde nicht mit einer Handfeuerwaffe verübt. Wenn Sie eine Korrektur wünschen, antworten Sie mit: Ja. Wenn Sie keine Korrektur wünschen, antworten Sie mit: Nein." Ich drückte die ESC-Taste. "Willkommen bei Theurgical Informer!" Was zum-!? Ein surrendes Geräusch lenkte mich ab und ich sah zum Faxgerät. Oh. Ich nahm das Blatt zur Hand. Fräulein Skye, Sie haben noch keine Email-Adresse. Holen Sie das bitte nach, ja? Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich Sie heute Abend nicht in meinem Büro empfangen kann, weil mir andere Verpflichtungen dazwischen gekommen sind. Aber es spricht nichts dagegen, wenn wir das morgen früh um 6 Uhr bei einem Frühstück nachholen. Bei dieser Gelegenheit können wir gern über meine gesundheitliche Verfassung plaudern. Ich erwarte Sie pünktlich in meinem Büro. Klavier Gavin Glaubte er wirklich, dass ich den ganzen Tag darauf wartete, bei ihm zur Audienz zu erscheinen? Mein erster Impuls war, diesen Wisch zu zerreißen, doch ich wurde abermals abgelenkt: "Möchten Sie einen Tatort rekonstruieren? Dann antworten Sie mit: Ja. Wenn Sie ein Fallschema erstellen wollen, antworten Sie bitte mit: Nein." Ich schaltete den Monitor aus und schrieb auf die Rückseite des Faxes: Morgen um Sechs Uhr werde ich vermutlich pappsatt sein. Ansonsten interessiert mich Ihre Gesundheit nicht die Bohne und ich wäre überaus dankbar, wenn Sie die ganze Arbeit nicht an mir allein hingen ließen. Wenn Sie über den Fall sprechen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an und vereinbaren einen Termin zu einer angemessenen Uhrzeit im Polizeipräsidium. Skye Ich schickte das Fax ab und legte die Stirn auf die Tischplatte. Mein Chef war eine Katastrophe, mein Computer unbrauchbar wegen Software-Invasion, mir fehlte eine Leiche und ich hatte nicht mal einen Tatverdächtigen für die vorhandene. Jammern half mir im Moment nichts. Ich musste nachdenken. Munch. Munch. Munch. Die Frage war, ob die fehlende Leiche überhaupt mein Problem war, aber dazu musste ich erst nachweisen, dass die Person nicht im 16. Bezirk getötet wurde und das klang ziemlich unwahrscheinlich. Munch. Munch. Munch. Nur warum sollte jemand eine Leiche verschleppen? Gab es überhaupt eine weitere Leiche? Die Blutspuren waren immens, aber wenn man nicht an einer kritischen Stelle verletzt wurde, war ein Überleben trotz Blutverlust möglich. Munch. Munch. Munch. Ich griff zum Hörer und rief in der Forensik an. Vielleicht gab es dort neue Ergebnisse. Und nach fünf Minuten hatte ich tatsächlich eine neue Spur: Im 23. Bezirk wurde eine Leiche gefunden. Wenn ich Mr. Bennett Glauben schenken konnte, passte die Blutanalyse. Ich hatte also recht mit meiner Vermutung. Ha! Neben mir surrte das Faxgerät schon wieder. Ich freue mich wirklich sehr über Ihren Arbeitseifer, Fräulein Detective. Ich bin mir sicher, dass Sie gerade das Präsidium rocken, ja? Allerdings würde ich mir niemals anmaßen, Sie in Ihrem Allerheiligsten zu belästigen. Ein simpler formgerechter Bericht heute Abend auf meinem Schreibtisch wird mir genügen. Auch wenn ich es ein bisschen unpersönlich finde. Sie können ja ein wenig von Ihrem liebreizenden Parfum draufsprühen. Wie heißt diese Duftnote? Eau de Gallseife? Klavier Gavin Gavin war doch wirklich...! Ich riss mich vom Schreibtisch los um mir Kaffeenachschub zu holen und bemühte mich dann eine Antwort zu schreiben, ohne zu platzen: Es würde durchaus genügen, zukünftige Korrespondenzen über Schriftverkehr abzuhalten. Ich schicke den neuen Bericht an Sie raus, sobald ich ihn fertig habe. Unsere Leiche liegt übrigens im 23. Bezirk, falls Sie das interessiert. Skye PS: Wenn Ihnen meine Duftnote nicht penetrant genug ist, so muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich nicht vorhabe Ihr blumiges Altweiberwässerchen zu übertünchen. Ich hoffe, Sie verstehen das. Wehe, er gab jetzt nicht Ruhe. Und nun musste ich die Staatsanwaltschaft im 23. Bezirk kontaktieren. Immerhin hatten die meine Leichte. Die Nummer ließ ich mir von einem Kollegen raussuchen und als ich dem Freizeichen lauschte, fiel mir gleichzeitig ein, dass ich vergessen hatte zu fragen, wie mein Ansprechpartner hieß. Doch das erübrigte sich, als jemand sich am anderen Ende zu Wort meldete. "... Miles Edgeworth." Der Hörer fiel mir aus der Hand. 02.Oct. 2025 - Klavier (1/2) ---------------------------- Ich konnte diese grässlichen Polyphon-Melodien noch nie ausstehen, aber nach drei Stunden Schlaf schaffte es nur mein Handy mich todsicher aus dem Bett holen. Und damit mein Körper gar nicht erst auf die Idee kam, müde sein zu wollen, gönnte ich ihm zwanzig Minuten auf dem Laufband, eine kalte Dusche und eine halbe Grapefruit. Auf mich wartete ein uncooler Tag, bei dem ich mir keine Schnitzer erlauben durfte: Ich musste Carl loswerden, meinen Song fertig schreiben und mich obendrein versichern, dass die Tatortermittlung nicht hinkte. In der Tiefgarage betrachtete ich meinen Aston Martin. Dieser Wagen hatte mich ein Vermögen gekostet und stand seit einem Jahr fast unberührt auf seinem Platz, während meine Vendetta mich seit über zwei Jahren täglich begleitete. Vielleicht war es unfair, aber das Fahrgefühl unterschied sich nun mal komplett. Von all den Annehmlichkeiten auf der Welt, die ich haben konnte, interessierten mich nur jene, die mir Exklusivität versprachen. Ohne Ausnahme. Sobald ich mein Büro betreten hatte, prüfte ich die Ablage. Sie war leer. Mit Sicherheit änderte sich das in den nächsten Stunden. Ich orderte bei Starbucks ein Frühstück und fuhr meinen Computer hoch. Die eingegangen Emails verteilte ich auf meine drei Monitore. Die erste kam vom Hilton Hotel in Aspen: Meine Buchungsbestätigung für zwei Doppelzimmer vom 23. bis zum 27. Dezember. Ich wusste noch nicht, wen ich mitnehmen sollte. Daryan wäre meine erste Wahl gewesen, aber ich ließ mich eher in die geschlossene Anstalt einweisen, als 985 Meilen mit dem Auto zurück zu legen. Meine restlichen Bandkollegen kamen noch weniger in Frage. Ike war überzeugter Weihnachtsfan; ich wollte seinem – zugegeben niedlichen – Enthusiasmus nicht im Weg stehen. Tjark wiederum zog Unfälle magisch an; er schaffte es sogar zu stürzen, als er bei einem Videodreh durch Absicherungsseile in der Luft hing. Ich konnte keinen bandagierten Drummer gebrauchen, da ich für gewöhnlich nach Aspen zum Snowboarden reiste. Und Lenny? Ich vergötterte ihn wegen seiner musikalischen Genialität, absolut und unwiderruflich (welche Rockband konnte auf einen ausgebildeten Konzertpianist verweisen?), aber auf menschlicher Linie spielten wir Dissonanzen. Ich mochte ihn, und trotzdem war er mir einfach zu lethargisch, sodass ich mir wenig Spaß mit ihm erhoffte. Aber ich hatte noch Zeit eine Begleitung zu finden, die mich von Langweile abhielt. Der Show vom Vorjahr wollte ich keineswegs eine Zugabe nachkommen lassen, so reizvoll diese Liason auch war. Ich hatte fluchtartig die Heimreise antreten müssen, weil eine gewisse Dame die Grenzen nicht kannte, weder ihre, noch meine. Zum einen fand ich es lästig, dass eine atemberaubende Mittdreißigerin nach einer gemeinsamen Nacht Gluckenkomplexe entwickelte und ich sie deshalb nicht mehr ganz so atemberaubend fand, und obendrein besaß sie die Unverfrorenheit, gleichzeitig mit dem Vizepräsident eines Pharmakonzerns verheiratet zu sein. Ihr Beziehungsstatus war mir prinzipiell egal, nur wollte ich nicht der Fokus ihrer frustriert-feuchten Hausfrauenträume sein. Mir lag es schon fern Gitarren oder Hoteleinrichtungen zu zerdeppern, in Talkshows zu pöbeln, auf jedem Kontinent eine Villa zu kaufen oder Rauschmittelexzesse zu feiern. Genau so wenig brauchte ich Klischees in meinem Sexleben. Wenn ich das haben wollte, ginge es leichter, indem ich mir eine mondäne Managerin für die Band engagierte. Das wäre einfach nicht cool, ja? Apropos Manager, die nächste Mail stammte von Carl. Gestern um 18.56 Uhr eingetroffen: Hey Klav, mein Großer – wie geht's, wie steht's? Fit für heute Abend? Bestimmt. Ich weiß ja, dass auf dich Verlass ist. Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich es dir schon gesagt habe. Wollte nur sicher gehen für die Party heute Abend. Also lass dich mal ein paar Minuten bei den Fans blicken. Keine Sorge, die Security passt auf, dass sie dir nicht die Klamotten vom Leib reißen. Aber wenn sich die Aktion erst mal rumgesprochen hat, wird das 'ne richtig große Sache! Ich kann's ja gar nicht oft genug betonen, aber direkter Kontakt von Fan zu Künstler ist Gold wert. Die werden uns aus der Hand fressen. Ein paar Autogrammstunden könnten auch nicht schaden. Ich hab noch viele geile Ideen, aber schmeiß erstmal die Show heute Abend. Also, Hals und Beinbruch! Carl Der Mann war so was von gefeuert! Er war nicht nur dreist, sondern versuchte mich auch noch für dumm zu verkaufen. Natürlich hatte er mich über dieses kleine Spektakel nicht in Kenntnis gesetzt, statt dessen "informierte" er mich zu einer Zeit, in der ich meine Emails nicht mehr überprüfte – kurz vor dem Soundcheck. Einfach, weil er wusste, dass ich solche Aktionen nicht guthieß. Ich liebte meine Fans, aber hielt es für besser, mit keinem allzu persönlich zu werden. Und wer war ich, dass ich neuerdings Autogrammstunden gab!? Wir hatten eine Autogrammadresse, verdammt noch mal! Carl konnte von Glück reden, dass er nicht an mein 17-jähriges Ego geriet. Damals neigte ich zu einer theatralischen Willkür, die es gewissen Leuten unmöglich machte, jemals wieder einen Fuß in der Musikbranche zu fassen. Er hätte es zweifellos verdient – aber mittlerweile waren mir diese Ambitionen zu kindisch. Ich klickte die Mail weg und öffnete die letzte in meinem Postfach. Sie war auf Deutsch verfasst. Guten Abend Klavier, wie es scheint, bist du sehr beschäftigt. Es wäre schön, wenn ich nicht nur der Zeitung entnehmen müsste, was mein Bruderherz bewegt. Anlässlich deines 24. Geburtstages in nicht einmal zwei Wochen möchtest du mir sicher eine Einladung zukommen lassen. Sollte ich falsch informiert sein, korrigiere mich bitte. Herzlichst, Kristoph Es tat gut, ein paar Zeilen in meiner Muttersprache zu lesen. Wir hielten es mit dieser Tradition seit Jahren – unter uns sprachen wir kein Englisch. Und so aufgebracht ich vor wenigen Augenblicken noch war, Kristophs Mail beruhigte mich. Sehr sogar. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Meine Familie. Oder vielmehr das, was von ihr übrig blieb. Ich wollte nicht daran denken. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass 5.20 Uhr war und das brachte mich rasch auf andere Gedanken. Ich schaltete die Monitore ab und nahm mir den Fall zur Hand. Die Fakten waren auf den ersten Blick eindeutig: Das Opfer Louis Hiller verblutete bedingt durch einen Messerstich in die Milz. Die Tatwaffe wies keine Fingerabdrücke auf. Ich versuchte auf dem Untersuchungsprotokoll eine handschriftliche Notiz zu dechiffrieren. Wer auch immer das geschrieben hatte, benötigte dringend einen Kurs in Schönschrift. Einzig das Wort Blutspuren konnte ich noch erkennen. Ich nahm mir den Bericht über das Opfer zur Hand: Louis Hiller war ein Informatikstudent, 31 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen: Aids im fortgeschrittenen Stadium und Thrombozytenmangel. Medizin war nicht mein Fachgebiet, aber das war nicht nötig um zu wissen, dass dieser Gentleman ohnehin nicht mehr lange unter den Lebenden gerockt hätte. Aber schön, warum einfach, wenn ich es auch kompliziert haben konnte, ja? "Ich bin da. Wenn Sie was wollen, lassen Sie es mich wissen." Als ich den Kopf hob, sah ich nur noch, wie die Tür sich wieder schloss. Natürlich wollte ich etwas: Viele, viele Informationen. Ich zählte stumm bis Zehn, in dieser Zeit hatte sie es sicher bis zum Fahrstuhl oder Treppenabsatz geschafft. Dann erhob ich mich, öffnete die Tür und rief: "Ach, Fräulein Skye? Kommen Sie bitte noch mal in mein Büro, ja? Ich möchte gern mit Ihnen über den gestrigen Fall sprechen." Die Tür ließ ich offen stehen und und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch um mich dem Fall zu widmen. Doch ich vergaß für einen Moment die Fakten: Der Anblick des miesgelaunten Fräuleins mir gegenüber war herzerweichend. Ich lächelte in mich hinein und blätterte in den Papieren. "Die Berichte sind noch unvollständig, aber Sie haben sich gestern am Tatort umgesehen, Fräulein Skye. Ich bin neugierig." Sie sagte nichts, sondern sah sich in meinem Büro um, als säße sie hier zum ersten Mal. Was sollte das? Ich schnippte mit den Fingern und lehnte mich nach vorn. "Sie haben sich doch Gedanken darüber gemacht, ja?" Ich wollte wissen, wie sie dachte und was ich überhaupt von ihr erwarten konnte. Vielleicht war es wirklich noch etwas früh, denn jetzt galt ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Kaffee. Ihre Spielchen langweilten mich. Ich wollte eine Antwort. Jetzt. Sofort. Und eine gute, ja? "Keine Ahnung, was Sie von mir hören wollen. Ich weiß auch nicht mehr, als da drin steht. Dennoch... Ich hab viele, teilweise recht große Blutspuren gefunden, die nicht so richtig zur Leiche passen. Die Wunde war nicht sehr groß und das Opfer weitesgehend sauber. Nur ein kurzer Stich in die Milz. Damit ist man nicht mehr fähig viel zu laufen." Ach, das hier fing an interessant zu werden. Konnte es sein, dass... "Ist nur so eine Vermutung, dass hier mindestens eine Leiche fehlt." Richtig. Sie sprach genau das aus, was mir gerade durch den Kopf schoss. Damit hatten wir nicht nur eine Leiche ohne Täterprofil, sondern obendrein noch eine fehlende, inklusive mangelnder Fakten. Und trotzdem: Das rockte! Wenn Fräulein Skye mir demnächst einen Fall präsentierte, der mir und meiner Show im Gerichtssaal gebührte, konnte sie sich meiner Gunst sicher sein. "Achtung, Fräulein Detective! Wissen Sie, was ich jetzt von Ihnen erwarte?" Meine Laune erklimmte soeben einen Gipfel, auf dem ich schon die nächste Hitsingle hörte. Ich kam nicht umhin die neue Melodie mit der Luftgitarre zu performen. Endlich erschien alles in einem dramatischeren Licht. Ich spielte die imaginären Schlussakkorde und strahlte meine neue Partnerin mit einem Hunder-Watt-Lächeln an. "Heute Abend möchte ich, dass höchstens unser Mörder noch mehr über die verschollene Leiche weiß als Sie! Machen Sie sich an die Arbeit, ja?" Dieser Fall inspirierte mich zutiefst, als ob ein Tsunami über mich herein gebrochen wäre. Das musste ich sofort festhalten. Eigentlich hätte ich die Melodie zuerst notieren müssen, aber sie war so eingängig, dass ich dem Text Priorität gab. Ich holte mein Notizblatt von gestern hevor und begann zu schreiben. "My girlfriend is the stolen corpse? Nein... das rockt nicht... ich brauche einen besseren Titel..." Ach, was hielt ich mich auch am Titel auf! Der ergab sich später von selbst. Aber vielleicht sollte ich es zunächst mit der richtigen Metrik versuchen. Ich stand auf um mir eine Gitarre zu holen. Fräulein Skye war gegangen. Sie hatte ich völlig vergessen, aber es war ohnehin besser, wenn sie sich ihrer Arbeit widmete statt mir. Ich hob eine Akustik von der Wand, da ging die Tür auf. Der Starbucksazubi kam gerade richtig: Allmählich bekam ich Hunger, aber ich freute mich mehr auf meinen Kaffee. "Stellen Sie es einfach auf den Tisch, ja?" Er starrte mich an, als sei ich das jüngste Gericht. "Da war so 'ne Frau. Die sagte, dass Sie unsere Produkte gesundheitlich nicht vertragen und hat's dann mitgenommen." Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. Seit wann vertrug ich nicht- ... Ach, tatsächlich? "Eine Frau im... Kittel?" "Jaah, genau! Die kam gerade aus der Tür und meinte, dass Ihr Cholesterinspiegel zu hoch wäre und faselte noch was von 'ner Lactose-Sache." Das war zu viel für mich. Ich musste die Gitarre abstellen, damit sie mir vor Lachen nicht aus der Hand fiel. Nicht übel, Fräulein Skye. Gar nicht übel. "Sir? Das wären jetzt acht Dollar und zwanzig Cent." Immer noch lachend holte ich meine Brieftasche hervor. Alles, was ich hatte, war ein Hundert-Dollar-Schein. Ich trug nicht gern viel Bargeld mit mir herum, da ich die meisten Dinge mit der Karte bezahlte, aber für den Notfall hatte ich immer einen oder zwei Scheine in petto. Das hier war so ein Notfall. "Wären Sie so nett, das Gleiche noch einmal zu besorgen? Und wenn Sie es schaffen, sich von dubiosen Fräuleins in Kitteln fernzuhalten, dürfen Sie den Rest behalten, ja?" Ich gab ihm das Geld und wartete darauf, dass er ging. Erhöhter Cholesterinspiegel... Ich nahm mir die Akustik und sah gleichzeitig auf den Notizzettel. My girlfriend is a grumpy detective? Nein, lieber nicht. Bei so etwas dachte man nur an Trenchcoat und Stoppelbart. Schluss mit den albernen Gedanken, ich wollte mich auf meinen Songtext konzentrieren. Ich begann zu spielen und versuchte gleichzeitig etwas auf die Melodie zu singen: "In the middle of the cross-examination.... nah~... in the middle of the crossfire, he decides the game... Does.. Does he rember the weapon? Does he remeber the name? ...the culprit sweats bullets. Mr. attorney starts to pray. Cause....Cause... Cause everyone knows what he has to say..." Das klang mehr als armselig, aber immerhin war es ein Anfang. Eine Stunde später kaute ich zufrieden meinen Bagel und sandte eine SMS an Daryan: "Komm nicht zu spät zur Arbeit, Darling!" Ich wusste, dass er meine Nummer unter Barbie eingespeichert hatte und ein kleiner Teufel in mir hoffte, dass einer seiner Kollegen ihm eines Tages auf die Schliche kam. Als Nächstes druckte ich die Empfangsbestätigung des Hotels aus, setzte meine Unterschrift und schickte es mit meiner Kreditkartennummer per Fax nach Aspen. Und Kristoph erwartete auch noch eine Antwort von mir: Hey Kris, wie könnte ich dich jemals vergessen? Selbstverständlich musst du zu meiner Party kommen! Es werden ziemlich viele Leute da sein, auch die Jungs von meiner Band. Ich freu mich schon drauf. Liebe Grüße, Klavier Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Mir wäre es lieber gewesen, Kristoph an diesem Tag seperat zu treffen. Er und Daryan konnten sich auf den Tod nicht leiden und ich hoffte einfach, dass Kristoph von selbst absagte, wenn er wusste, dass Daryan auf die Party kam. Das war nicht fair, aber für alle das Beste. Vor allem für meine Nerven. Ich holte mein Handy hervor um Carl anzurufen. "... Thompson." Er klang verschlafen. Mich wunderte das nicht (vermutlich lag noch ein Groupie unter ihm). "Ich bin's, Klavier. Ich mach's kurz: Können wir uns heute treffen? Ich möchte etwas mit dir besprechen." "Ist es wichtig? Ich hab Termine, Mann." Natürlich hatte er die. Noch. "Es ist von außerordentlicher Bedeutsamkeit, ja? Ich habe eine Idee und ich möchte, dass du sie zuerst erfährst." "Ist es wenigstens 'ne gute Idee?" "Es ist die beste, die ich jemals hatte. Du wirst ausflippen... versprochen." "Also schön, wann?" "19 Uhr, im Manila. Ich freu mich." Dann legte ich auf. Der letzte Satz war nicht gelogen: Ich freute mich tatsächlich wie ein kleines Kind. Und damit nicht nur ich den ganzen Spaß kassierte, wollte ich Daryan bitten mitzukommen. Mir fiel ein, dass ich Fräulein Skye noch informieren musste. Nicht, dass sie heute Abend vor meiner verschlossenen Bürotür stand und deswegen Trübsal blies. Ich überflog das Intranet des Präsidiums, fand aber keine Email-Adresse. Daher schickte ich ein Fax: Fräulein Skye, Sie haben noch keine Email-Adresse. Holen Sie das bitte nach, ja? Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich Sie heute Abend nicht in meinem Büro empfangen kann, weil mir andere Verpflichtungen dazwischen gekommen sind. Aber es spricht nichts dagegen, wenn wir das morgen früh um 6 Uhr bei einem Frühstück nachholen. Bei dieser Gelegenheit können wir gern über meine gesundheitliche Verfassung plaudern. Ich erwarte Sie pünktlich in meinem Büro. Herzlichst, Klavier Gavin Es dauerte keine fünf Minuten bis eine Antwort bei mir eintraf: Morgen um Sechs Uhr werde ich vermutlich pappsatt sein. Ansonsten interessiert mich Ihre Gesundheit nicht die Bohne und ich wäre überaus dankbar, wenn Sie die ganze Arbeit nicht an mir allein hingen ließen. Wenn Sie über den Fall sprechen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an und vereinbaren einen Termin zu einer angemessenen Uhrzeit im Polizeipräsidium. Skye Ich musste schmunzeln, dann nahm ich mir sogleich ein neues Formblatt um ein weiteres Fax ins Präsidium zu schicken. Einen Augenblick lang starrte ich auf das Papier hinab und summte die neue Melodie vor mich hin. Dann beugte ich mich vor und füllte meine nächste "Liebesbotschaft" an das Fräulein Skye aus: Ich freue mich wirklich sehr über Ihren Arbeitseifer, Fräulein Detective. Ich bin mir sicher, dass Sie gerade das Präsidium rocken, ja? Allerdings würde ich mir niemals anmaßen, Sie in Ihrem Allerheiligsten zu belästigen. Ein simpler formgerechter Bericht heute Abend auf meinem Schreibtisch wird mir genügen. Auch wenn ich es ein bisschen unpersönlich finde. Sie können ja ein wenig von Ihrem liebreizenden Parfum draufsprühen. Wie heißt diese Duftnote? Eau de Gallseife? Klavier Gavin Und jetzt war ich wirklich gespannt auf ihre Antwort. Natürlich war dieses Geplänkel kein bisschen produktiv, aber es amüsierte mich. Davon abgesehen vertrat ich die Ansicht, dass zwischen Staatsanwalt und Detective ein solides Vertrauen herrschen sollte. Daryan kannte ich seit der Higschool. Ich war also unerfahren im Kennenlernen meiner Partner. Die Antwort ratterte durch mein Faxgerät. Ich zog das Blatt aus der Ablage. Es würde durchaus genügen, zukünftige Korrespondenzen über Schriftverkehr abzuhalten. Ich schicke den neuen Bericht an Sie raus, sobald ich ihn fertig habe. Unsere Leiche liegt übrigens im 23. Bezirk, falls Sie das interessiert. Skye PS: Wenn Ihnen meine Duftnote nicht penetrant genug ist, so muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich nicht vorhabe Ihr blumiges Altweiberwässerchen zu übertünchen. Ich hoffe, Sie verstehen das. Diesmal musste ich tatsächlich laut auflachen. "Achtung, Fräulein Detective! Sie sind heute besonders charming", flüsterte ich dem Papier zu. Die Leiche befand sich im 23. Bezirk? Vermutlich konnte es nicht schaden, meinem Detective ein wenig unter die Arme zu greifen. Eine telefonische Recherche beim Pförtner verriet mir, dass der Staatsanwalt für kriminaltechnische Angelegenheiten Miles Edgeworth hieß. Ich grübelte einen Moment. Dieser Name war mir nicht unbekannt, trotz dessen konnte ich ihm kein Gesicht zuordnen. Ich füllte ein Überführungsgesuch für die zweite Leiche aus, an das ich gleich noch ein Memo heftete mit der Bitte um kollegiale Unterstützung, soweit es die Kapazitäten im 23. Bezirk zuließen. Nicht, dass ich wirklich Hilfe von einem anderen Staatsanwalt benötigte, aber es konnte nie Schaden, sich neue Freunde zu machen. Außerdem erleichtete dieses Memo eventuell Fräulein Skyes Ermittlungen. Ich schickte das Gesuch per Fax zum 23. Bezirk vor und rief dann einen Stadtkurier, um die Reinschrift per Boten zu übermitteln. Und jetzt war es wieder Zeit für meinen Song. Leider konnte ich mich keine zehn Minuten damitbeschäftigen, da mein Telefon klingelte. Ein kurzer Blick auf die Digitalanzeige zeigte mir, dass der Anruf aus dem Distrikt kam - Fräulein Skye's Durchwahl (zumindest nahm ich das an, weil sie sich mit ihrer Faxnummer deckte). Ich lehnte mich entspannt zurück, ließ es ein paar Mal klingeln und hob dann mit gespielter Verwunderung ab. "Hatten Sie nicht eben noch vergeschlagen, unsere Unterhaltungen auf die romantische Kunst des Briefeschreibens zu beschränken? Sie müssen meine Stimme ja mächtig vermisst haben." "Ich soll Ihnen von Mr. Edgeworth ausrichten, dass die zukünftige Zusammenarbeit gebongt ist. Da Sie vermutlich schwer beschäftigt mit dem Versenden von Frühstückseinladungen sind, werde ich mich der Sache annehmen und Mr. Edgeworth nachher auf ein persönliches Gespräch treffen. Ist vielleicht besser so, weil ich ihn ohnehin schon seit ein paar Jahren kenne und Sie ihn nur unnötig verschrecken." Natürlich hatte ich nichts einzuwenden. Mir war es ganz recht, wenn sie selbstständig arbeitete, solange die Ergebnisse stimmten. Aber ganz so einfach konnte ich sie nicht davon kommen lassen. "Ich bin verletzt, Fräulein Detective! Kaum taucht eine alte Jugendliebe auf, bin ich bei Ihnen wieder abgeschrieben. Aber gehen Sie nur! Ich will Ihrem Glück nicht im Wege stehen. Solange Sie wieder zu mir zurück kommen, bin ich gerne bereit Ihnen Freiraum zu geben. Eine offene Beziehung steht uns eh viel besser, ja?" Ich konnte förmlich sehen, wie sich ihre Miene verfinsterte. Ob sie wohl gerade wieder auf diesem seltsamen Süßkram herumkaute? Ich musste mich stark anstrengen, um nicht zu feixen. "Wissen Sie, das ist wie mit arrangierten Ehen. Da kann man sich auch nicht aussuchen, mit wem man verflucht wird. Und nichts gegen eine offene Beziehung, nur glaube ich, dass Ihr ohnehin viel zu aufgeplustertes Ego einen Kratzer abbekäme und ich finde es generell nicht gut unschuldige Kinder zu behelligen. Aber ich werde Mr. Edgeworth sagen, dass Sie sich viel Mühe geben beim Erfahrung sammeln, womit Sie ihm zwar in zehn Jahren noch nicht das Wasser reichen können, aber wie sagt man so schön: Dabei sein ist alles!" Ich lachte. Nicht in meiner üblichen Flirt-Manier. Nein, ich lachte aus vollen Stücken. So spröde sie sich auch benahm, ihr Geist war in der Tat erfrischend. "Achtung, Fräulein Detective! Nicht, dass ich mich noch in Ihre Boshaftigkeit verliebe, ja? Sie wissen doch, was man über Männer sagt, die alles kriegen können, was sie wollen. Dann will ich Sie lieber nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten. Viel Spaß noch auf Ihrem Date und blamieren Sie mich nicht." Ich legte auf und betrachtete grinsend das Telefon. Auch wenn Daryan mir nach wie vor lieber war, konnte ich nicht leugnen, dass Ema Skye anfing bei mir Sympathiepunkte zu sammeln. Ein paar Stunden später beendete ich endlich die saubere Abschrift des Songentwurfs. Ich betrachtete prüfend mein Werk. Die Melodie war perfekt, definitiv. Allerdings kamen mir Zweifel beim Text auf, insbesondere, was den Titel anging. Ich brauchte eine zweite Meinung, also griff ich zum Handy und schickte eine SMS an Daryan: "Bist du im Präsidium? Ich will dich sofort sehen!" Zum Glück war Daryan ein Schnelltipper, daher musste ich auch nur eine halbe Minute unruhig durch mein Büro tigern. "Gavin, du nervst. Ich bin im Rodex." Keine zehn Minuten später hielt ich mit meinem Bike vor dem Rodex, ein nettes Café mit Dachterasse, nicht weit vom Präsidium. Ganz oben angelangt eilte ich auf seinen Tisch zu und überdeckte das vor ihm liegende Magazin mit dem Songentwurf. "Was hältst du davon? Und sei bitte ehrlich, ja?" Ich nahm Platz und trank einen Schluck von Daryans Orangensaft. "Du weißt, dass ich keine Noten lesen kann", sagte er genervt. Es stimmte: Daryan war ein begnadeter Gitarrist, beherrschte jedes noch so fiese Handling und wenn man einen verdammt guten Loop brauchte, fragte man am besten ihn. Nur verstand er von all dem nichts mehr, sobald es um Noten ging. Meistens übersetzte ich für ihn und Daryan konnte sich ohnehin über das Hören schnell Abfolgen einprägen. "Woah Klav, das ist fucking... süß!" Mit spitzer Zunge las er den Titel vor. "My best friend is the prosecution's witness. My best friend!? Geben wir jetzt Konzerte für Staceys Ponyhof?" Das war typisch Daryan. Nur weil er die Noten nicht entziffern konnte, zog er über den Text her. "Es ist noch ausbaufähig, aber die Melodie rockt. Hör mal!" Ich summte ihm zunächst die Hookline vor und danach seinen Part, obwohl es der Sache vielleicht nicht dienlich war. Mein Bariton klang nun mal eine Spur zu nett für eine Partitur, die Daryan spielen sollte. Ihm schien es zu gefallen, weil er nichts sagte. Ein schweigender Daryan war ein kreativer Daryan, ja? "Hey, wie wär's mit My filthy cock is the prosecution's cock-up. Abgefahren oder? Nein, sag nichts! Hier: My filthy dirty cock is the prosecution's witness. Du weißt, was ich meine. Pump mal ein bisschen mehr Aussage rein. Muss jetzt nicht unbedingt ein Schwanz drinstecken, sonst kommt's noch auf den Index, aber denk mal drüber nach." Ich sah ihn nachdenklich an. "Ein stärkeres Wort, ja?" Daryan hatte vollkommen recht, auch wenn seine lyrische Argumentation für meinen Geschmack zu freimütig klang. Alle meine Songs holten Platin, weil er ein unverbesserliches Gespür für den Markt hatte. Ich wollte alles, nur keine profanen Abgleisungen und Daryan war mein Detektor, das Zünglein an der Waage und die letzte Instanz. Es musste etwas sein, das tiefer ging, da lag er richtig und natürlich sollten die Fräuleins es gern mitsingen wollen. Aus irgendeinem Grund blieb mein Blick an Daryans Handy haften. Wenn man sich die SMS durchlas, die wir uns täglich schickten, könnte man glatt annehmen, dass Daryan und ich verliebte Turteltäubchen seien. Zudem spekulierten die Medien nur allzu gern darüber. Nicht, dass es mich sonderlich kümmerte. Wenn in einem Interview eine Frage diesbezüglich kam, kokettierte ich und gab nichtssagende Antworten wie "Er ist ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben" und schon war die Sache vom Tisch. Natürlich könnte ich alles verneinen, aber dann würden sich die Klatschblätter noch mehr auf dieses Gerücht einschießen und das belastete unsere Freundschaft nur unnötig. Deshalb hatte ich mir angewöhnt, hin und wieder einen Gerüchteknochen hinzuschmeißen, ohne etwas Konkretes zu sagen. "My boyfriend is the prosecution's witness", murmelte ich. "Bwahahahaha! Gavin, du willst sie schon wieder ärgern! Aber das ist nicht übel. Vielleicht könntest du den Text aus Sicht einer Frau schreiben. Wenn du schon wie eine aussiehst, kannst du sicher auch wie eine denken." Ich stützte mein Kinn auf die Hand und sah Daryan schmachtend an. "Soll ich dann von dir schreiben, ja?" Daryan griff nach der Speisekarte und fächelte sich Luft zu. "Oh ja, Baby, schreib über mich. Aber gib's mir richtig, Mann!" Er winkte eine Kellnerin an unseren Tisch. "Okay... Uhm~... ich nehm den Hawaii-Toast hier, das Buhl-", er hielt inne als ob er die Karte nicht verstand, ".. das Fischzeug. Ist ein Eintopf, oder? Ja, dann nehm ich das und noch so 'n Mascarapony mit Zitrone und Zimt." Die Kellnerin wiederholte: "Hawai-Toast, die Boullaibaise und einmal Mascarpone mit Zimt und Zitrone, richtig?" "Und 'ne Coke", fügte Daryan hinzu. "Was darf's bei Ihnen sein?" Ich musste einen schnellen Blick auf die Karte werfen. "Für mich bitte ein Boeuf Miroton und einen Eistee." Ich wartete, bis die Kellnerin sich entfernt hatte. "Was machst du heute Abend?" "Vergiss es, Klav. Ich gehe heute auf Hasenjagd und wenn du dabei bist, wird's nur unnötig kontraproduktiv." "Ich dachte, du hast dich gestern ausgetobt?" Er sah ein wenig beleidigt aus und mein Gefühl sagte mir, dass ich nicht wissen wollte, warum Daryan nicht zum Zug gekommen war. "Ich habe Carl für 19 Uhr ins Manila bestellt. Vielleicht möchtest du uns Gesellschaft leisten." Vermutlich hatte ich gerade ein Feuerwerk in Daryan entfacht, andernfalls hätte er mich nicht so angebrüllt. "Der kann froh sein, dass ich ihn nicht zu Haifutter verarbeitet hab! Der hat gestern minimum zehn Groupies abgefüllt und die Hälfte davon geknallt!" Autsch. "Und die anderen?" Ich wollte meinen Jungs nichts vorschreiben und dennoch bestand ich darauf, dass sie bezüglich ihres Privatlebens diskret vorgingen. "Lenny und Tjark sind abgehauen. Ich hab Ike nach Hause gefahren." Ich musste lachen. Unser süßer Youngster musste einen Kulturschock erlitten haben. "Glaubst du er ist-?" Wie ich es liebte, wenn Daryan sich nicht traute die Dinge beim Namen zu nennen. "Schwul? Wahrscheinlich. Und wir sollten Carl loswerden, bevor er auf die Idee kommt, Ike zu bekehren." Die Kellnerin brachte unsere Getränke. Das ging schnell. "Eistee und Cola, bitte sehr. K-Könnte ich vielleicht ein Autogramm haben?" Sie war vermutlich älter als wir, aber in diesem Moment wirkte sie wie ein beklemmtes Schulmädchen. "Klar, hast du 'nen Stift dabei?" Daryan unterschrieb artig auf ihrem Notizblock und ihrem Handy und ich machte von den beiden ein Foto, nachdem ich ebenfalls meine Autogramme verteilt hatte. Als sie noch ein Foto mit mir wollte, lehnte ich ab. Auf der Dachterrasse schlug mir der Wind um die Ohren: Ich wollte nicht wissen, wie schlimm meine Frisur aussah und außerdem zeichneten sich bei mir Schatten unter den Augen ab. Sie schien enttäuscht zu sein, daher lehnte ich mich nach vorn und raunte mit meiner GavinSexNow©-Stimme: "Ich kann es mir nicht leisten neben einem so schönen Fräulein zu verblassen." Daryan rollte mit Sicherheit schon wieder die Augen, aber ich war noch damit beschäftigt dieses Fotohandy mit einer anzüglichen Geste in ihre geschlossene Hand zu schieben. "Ein anderes Mal, ja?" Ich bekam keine Antwort, aber sie starrte mich an wie das Kaninchen die Schlange und verließ fast rennend die Dachterrasse. "Gavin, du bist widerlich. Die sah nicht mal ansatzweise gut aus." "Wirklich? Dann sollte ich sie mir lieber gleich aus dem Kopf schlagen", entgegnete ich und nahm einen Schluck von meinem Eistee. Ich wollte das Thema wieder auf Carl lenken. "Bezüglich heute Abend-", begann ich, stockte aber, als ich diese Stimmehörte. "Sie.... SIE! Wie können Sie es nur wagen! Weiß Ihr Freund davon? Wie viele haben Sie sich eigentlich noch geangelt?" Dieses Geschrei kam eindeutig von unten. "Was ist da los?", fragte Daryan. Mein Gehör war einfach zu sensibel, als dass ich nicht sofort erkannt hätte, wer da unten zeterte. "Ich denke nicht, dass du das wissen möchtest, ja?" Doch ich konnte Daryan nicht davon abhalten, zur Treppe zu gehen, zumal mir die nächsten Sätze durch das Ohr tanzten: "Ich habe überhaupt keine Ahnung wovon Sie sprechen oder was Sie von mir wollen, aber ich möchte Sie bitten, jetzt schleunigst zu verschwinden. Ich befinde mich nämlich in einer dienstlichen Besprechung!" "Dass ich nicht lache! Sie wissen genau wovon ich rede! Wenn Ihr Freund davon erfährt! Es wird dem armen Mann das Herz brechen! Wie können Sie nur so kaltblütig sein! Lassen Sie bloß die Finger von meinem Edgey-Poo, Sie unreifes Früchtchen!" Ich sah zu Daryan, der es sich auf dem Treppenabsatz bequem gemacht hatte um das Schauspiel zu bewundern. "Bwahahahahaha! Gavin, komm her. Das musst du dir ansehen. Da streiten sich zwei Frutten um 'nen Typ. So 'ne Kitteltussi und 'ne alte Schabracke. Boah, das sind keine Falten mehr, sondern Schluchten. Bwahahahahaha! Der Typ hat echt Nerven!" Ich wollte meinem besten Freund zurufen, dass es mich überhaupt nicht interessierte, als die Ereignisse sich überschlugen: Zuerst betrat ein sonderbar gekleideter Mann die Dachterrase, im nächsten Moment folgte ihm eine junge Frau. Nicht irgendeine, sondern mein Fräulein Detective höchstpersönlich. "Mr. Gavin?!" Ich war mindestens genau so überrumpelt. Und als ob das nicht genug wäre, musste ich mit ansehen, wie eine aufgebrachte Mrs. Oldbag Daryan beiseite stieß um die Terrasse schneller zu betreten. "Aus dem Weg!", rief sie und sobald sie mich erblickt hatte, ging sie auf mich zu. "Sie Armer!" Ich lief impulsiv rückwärts. Das hier war die versteckte Kamera, oder? 02. Oct. 2025 - Ema (2/2) ------------------------- Ich hob den Hörer wieder auf und japste nach Luft. Und dann, erst nach einigen Sekunden fiel mir ein, dass er mein komisches Verhalten gar nicht sehen konnte. Vermutlich hatte er schon aufgelegt. "Mr. Edgeworth?" Er hatte nicht aufgelegt, aber ich hörte auch nichts von ihm. "Ema Skye hier. Wahrscheinlich kennen Sie mich gar nicht mehr. Ist ne ganze Weile her. Ich war damals noch ziemlich jung. Und genau genommen ging es um meine Schwester..." Was redete ich denn da? Ganz ruhig, Ema. Es ist nur Mr. Edgeworth. Nur? Konzentrier dich auf die Fakten! "Also worauf ich hinaus wollte: Es geht um diese Leiche, die sich im 23. Bezirk befindet. Sie gehört offenbar zu den Blutspuren, die ich am Tatort eines anderen Mordfalls entdeckt habe." Ich hatte das blöde Gefühl, dass ich nur Unsinn redete. "Können Sie mir folgen, Mr. Edgeworth? I-Ich kann auch später noch mal anrufen. Bestimmt haben Sie zu tun... oder so." Jetzt vernahm ich etwas. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil es so leise klang, aber doch: Ich hörte ein amüsiertes Schnauben. "Ich kann Ihnen sehr gut folgen, Detective Skye. Im Übrigen möchte ich Ihnen ganz herzlich zu Ihrem Amtsantritt gratulieren. Staatsanwalt Gavin hat mir soeben das Überführungsgesuch zugefaxt. Sobald die Reinschrift hier eintrifft, kann die Leiche aus unserem Krematiorium abgeholt werden. Sie können Mr. Gavin von mir ausrichten, dass ich sein Memo gelesen habe und sehr gern bereit bin, mit ihm gemeinsam an diesem Fall zu arbeiten. Wenn auch nur, um der Neugier meines eigenen Detectives Genüge zu tun, vor dem Ihre Leiche buchstäblich aus dem Himmel fiel. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen, Detective Skye?" Meine Brust schwoll an vor Stolz: Detective Skye. Aus seinem Mund klang das wie ein Adelstitel. Allerings fiel auch Gavins Name, womit sich eine fette Gewitterwolke vor meine Sonnenscheinfront schob. Dank ihm war mein Anruf im 23. Bezirk völlig überflüssig und blamierte mich in Grund und Boden. Das konnte ich nicht so stehen lassen. "Eigentlich habe ich ziemlich viele Fragen. Mr. Gavin ist recht... ausgelastet. Das heißt – natürlich nur, wenn Sie Zeit haben! - also ich meine, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns auf ein persönliches Gespräch treffen um über den Fall zu sprechen?" Ich merkte, wie ich beim Reden immer leiser wurde. Wahrscheinlich würde er mir eine Absage erteilen. Kein Wunder – ein Mann seines Kalibers hatte eben zu tun. "Sicher. Wenn es Ihre Zeit zulässt, komme ich um Zwölf Uhr ins Präsidium. Ich muss mich jetzt leider verabschieden, weil ich noch eine Zeugenvernehmung vor mir habe. Bis später, Detective Skye." Er hatte aufgelegt. Zwölf Uhr? Hier? Mr. Edgeworth? Oh Gott... Gott! Ich schlug mir ein paar mal gegen die Stirn. Nein, das war definitiv kein Traum. Ich prüfte den Funkwecker auf meinem Schreibtisch. Ich hatte noch drei Stunden um mich vorzubereiten. Mr. Edgeworth würde sicher einen Blick in die Fallakte werfen und... nicht doch, wenn er meine grauenhafte Handschrift sah, rümpfte er doch nur mit der Nase. Vielleicht waren meine Gedanken albern, aber ich würde nie vergessen, wie er und Phoenix Wright vor neun Jahren im Fall SL-9 das Leben meiner Schwester retteten. Lana war zu Unrecht des Mordes angeklagt. Sie hatte das große Glück, Mr. Wright ihren Verteidiger nennen zu können. Und obwohl Miles Edgeworth in jenem schrecklichen Prozess die Anklage führte, war auch er schlussendlich nicht mehr von Lanas Schuld überzeugt. Stattdessen überführte er mit Mr. Wright den wahren Täter und verlor deshalb seinen Fall. Diese Heldentat war nicht mit allen Snackoos dieser Welt aufzuwiegen. Und ich hatte auch noch eine Heldentat zu absolvieren, bevor Mr. Edgeworth hier eintraf: Ich musste den Glimmerfop anrufen. In der Hoffnung, die immer kreativer werdenden Mordgedanken an meinem Chef für einen Moment zu unterdrücken, wählte ich seine Nummer... und knallte zwei Minuten später wutentbrannt den Hörer auf die Ladestation. Ich wünschte mir eine Nadel, eine verdammt große Nadel und mit der – ich schüttelte den Kopf und nahm mir die Fallakte zur Hand. Gavin konnte ich zu einem späteren Zeitpunkt mental verstümmeln. Nach Durchsicht der gesamten Unterlagen entschied ich, dass die Zeit zu knapp war um der Akte eine Rundumverschönerung zu gönnen. Statt dessen besserte ich nur die schlimmsten Stellen mit dem Tipp-Ex aus. Je näher die Uhr Richtung Mittagszeit tickte, desto nervöser wurde ich. Mr. Edgeworth war schon eine lebende Legende, als ich noch zur Schule ging. Ich fragte mich, ob er sich verändert hatte innerhalb der letzten Jahre, außer der Tatsache, dass er älter geworden war. Mit Sicherheit war er noch genau so brilliant und gutaussehend wie damals. Gegen 11.30 Uhr lagen meine Nerven endgültig blank und ich verließ meinen Schreibtisch. Irgendwo in der Kaffeeküche musste sich doch ein Baldriantee auftreiben lassen. Wie ein Hurrican durchwühlte ich alle Schränke und fand Kaffee, Kaffeepads, Instantkaffee, koffeinfreien Kaffee, Malzkaffee und – Oh Wunder! - Kaffeekekse. Diese Abteilung nahm den Begriff Kaffeeküche eindeutig zu ernst. Der Kühlschrank offenbarte mir neben Milch noch Maracujasaft. Na immerhin. Ich kam nicht dazu, mir ein Glas aus dem Schrank zu nehmen. Es wäre mir ohnehin aus der Hand gefallen. "Mr. Edgeworth! Sir!" Gumshoe bellte auf dem Flur wie ein Welpe, den man ein paar Stunden allein gelassen hatte. Und als ich meinen Kopf durch den Türrahmen steckte, vermisste ich bei ihm tatsächlichen einen wedelnden Schwanz, so freudig wie er Mr. Edgeworth umsprang. Er war viel zu früh dran! "Sagen Sie nichts! Sie wollen zurück, Sir! Zu mir!" Ich sah Mr. Edgeworth nur von hinten, aber so wie er die Arme verschränkte, konnte ich mir seinen Gesichtsausdruck ganz genau vorstellen. "Ich hoffe ernsthaft, dass Sie unter einem Berg Arbeit zusammenbrechen. Andernfalls muss ich den Polizeipräsident darüber in Kenntnis setzen, dass sich ein Teil seiner Oberinspektoren langweilt." "Aber Mr. Edgeworth, Sir! Ich wollte doch nur-" "Ich suche Detective Skye." Das war mein Stichwort. Zumindest sollte es das sein, denn meine Füße bewegten sich vor lauter Nervosität keinen Zentimeter. "Ich kümmere mich darum, Sir! EMA SKYE! HAT HIER JEMAND EMA SKYE GESEHEN? ICH WIEDERHOLE: HAT HIE-" "Vielen Dank, Inspektor. Ich werde mich selbst auf die Suche begeben." Mr. Edgeworth kam genau in meine Richtung! Ich zog prompt den Kopf zurück und wusste gleichzeitig, dass es albern war. Warum begrüßte ich ihn nicht einfach und ging mit ihm den Fall durch? Das konnte doch nicht so schwer sein. Ema, du bist erwachsen! Also reiß dich zusammen und sprich mit Mr. Edgeworth. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen... "Da Sie mir bis jetzt keinen Grund geliefert haben, würde ich gern davon absehen." Offensichtlich hatte ich laut gedacht. Ups. Mein offener Mund versuchte ein paar Erklärungen zu stammeln, während ich aus meinem Kaffeeküchenversteck stolperte. Ich starrte die Hand an, die er mir entgegen streckte und sah dann zu ihm auf. Mr. Edgeworth wirkte besorgt. "Geht es Ihnen nicht gut?" "Doch! Mir geht's echt super. Ich meine... ich bin wohlauf." Als ich seine Hand schüttelte, fiel mir auf, dass sie tadellos manikürt war. Im Gegensatz zu meiner. "Ihr erster Fall?" "Woher wissen Sie das?" "Mr. Edgeworth weiß alles! Dem entgeht nichts so leicht, das sag ich dir, Mädchen!" Ich sah verwundert zu Oberinspektor Gumshoe, der mit stolz geschwollener Brust wiederum Mr. Edgeworth ansah. "An die katastrophale Ermittlung Ihres ersten Falles will sich wohl niemand erinnern", erwiderte er spitz und fragte mich dann: "Wo befindet sich Ihr Büro?" Ich führte ihn zu meinem Schreibtisch und schaffte es gerade noch, unbemerkt zwei leere Snackootüten von der Oberfläche zu fegen, bevor er sich setzte. Als nächstes tauschten wir unsere Fallakten. Mr. Edgeworth begann sofort, die von mir geführte Akte zu studieren. Die ersten Minuten beobachtete ich ihn ganz genau, doch er schien wirklich nur zu lesen und hatte offensichtlich nichts an meiner Aktenführung auszusetzen. Das machte es mir um einiges leichter, mich auf die neuen Fakten zu konzentrieren. Meine fehlende Leiche hieß also Enzo Cadaverini, mit dem Vermerk, dass er der Großneffe von Bruto Cadaverini war. Vermutlich sollte mir das etwas sagen, aber so sehr ich auch darüber nachdachte, in meinem Gedächtnis wollte es einfach nicht klingeln. Diese Frage musste ich mir also für später aufheben. Ich las einen Vermerk dazu: Kitakis. Mit diesen kryptischen Andeutungen konnte ich überhaupt nichts anfangen. Ich kam mir unendlich dämlich vor. Die einzige Erkenntnis, die ich aus den Berichten entnehmen konnte, war, dass dieser Cadaverini vor Louis Hiller verstarb und nicht erstochen, sondern mit einer Schusswaffe getötet wurde. Ein Selbstmord war ausgeschlossen, da das Opfer an der Schussstelle keine Verbrennungsmerkmale aufwies, die ein Nahschuss mit sich brachte. Die Mordwaffe wurde nicht gefunden. Frustriert klappte ich die Akte zu und sah zu Mr. Edgeworth. Zu meiner Überraschung lächelte er. "Hab ich etwas Amüsantes überlesen?" "Es beruhigt mich nur, dass ich nicht der Einzige bin, der eine Fortsetzung dieser Akte wünscht. Sie lässt zu viele Fragen offen." "Können Sie mir etwas über diese Cadaverinis erzählen? Und hier ist noch ein Vermerk über... Kitakis." Ich tippte auf Pilze, die man gewöhnlich nicht zum Abendessen verzehrte. "Das sind sogenannte Clans. Nach unseren Kenntnissen die beiden größten in Los Angeles. Während sich die Cadaverinis hauptsächlich auf die Gebiete vom neunten bis zum sechzehnten Bezirk konzentrieren, betreiben die Kitakis ihr Geschäft innerhalb der letzten sechs Bezirke." Zwanzig bis Fünfundzwanzig also. Ich nahm mir etwas zu schreiben und gab Mr. Edgeworth zu verstehen, dass er weiter sprechen sollte. "Beide Parteien sind miteinander verfeindet. Sie pflegen ein einziges, stilles Abkommen miteinander: Betritt ein Mitglied das feindliche Gebiet, gilt er als vogelfrei und darf nicht gerächt werden, sofern er getötet wird." Dann war die Sache recht einfach: Enzo Cadaverini wurde ermordert, weil er in das Terrain der Kitakis eingedrungen war und... nein, das war unmöglich. "Aber er wurde doch im sechzehnten Bezirk getötet!" Wieder sah ich Mr. Edgeworth lächeln. "Ich sehe, Sie sind bei der Sache. Wollen Sie fortfahren?" Mein Hirn ratterte auf Hochtouren und ich hatte Mühe, meine Gedanken einigermaßen zu sortieren. Ich atmete tief durch und versuchte langsam zu sprechen. "Da Cadaverini noch vor Hiller verstarb, sich aber der Großteil seiner Blutspuren im 16. Bezirk befindet, können wir davon ausgehen, dass er auch dort erschossen wurde." Ich schaute noch einmal in Cadaverinis Obduktionsbericht. Da stand es! "Die Hauptschlagader am Hals wurde getroffen." Mr. Edgeworth nickte, schien aber nicht ganz zufrieden zu sein. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte fieberhaft, was ich übersehen hatte. Gerade jetzt hatte ich ein paar Snackoos bitter nötig. "Finden Sie es nicht auch merkwürdig, dass dem Opfer in den Hals geschossen wurde?", fragte er. Sicher, die Lieblingsstellen der Mörder waren zweifellos Kopf und Herz, hin und wieder andere Körperpartien, wenn der Schütze unerfahren war und der Rückschlag der Waffe sein Ziel verfehlte. Aber ich verstand nicht, worauf Mr. Edgeworth hinaus wollte. "Die Frage ist, mit welcher Absicht der erste Mord begangen wurde." "Aber wir konnten doch noch gar kein Täterprofil erstellen", widersprach ich und merkte zu spät, dass ich genervt klang. Dieses Großraumbüro machte mich wahnsinnig! Drei Inspektoren waren auf ihren Rollstühlen näher gerückt, weil es sie scheinbar brennend interessierte, was ich und Mr. Edgeworth zu besprechen hatten. Ein weiterer hämmerte wie ein Irrer auf seiner Computertastatur und nicht zu vergessen Miss Leadis, die schon seit Stunden ihr Handy mit einem Lautsprecher verwechselte. Mr. Edgeworth störte sich nicht an dem Krach oder ließ es sich nicht anmerken. Er strahlte auf seinem Stuhl eine Gelassenheit aus, die ich zwar bewunderte, aber nicht nachvollziehen konnte. Mit welcher Absicht wurde der erste Mord begangen? Ich betete diese Frage wie ein Mantra in meinem Kopf hoch und runter und weil mir die Antwort dazu absolut nicht einfallen wollte, widmete ich mich einer anderen Frage. "Warum geschah der zweite Mord?" "Selbstmord!" "Zeugenbeseitigung!" "Langweile!" Was zum-?! Es war schlimm genug, dass die Herrschaften nichts besseres zu tun hatten, als uns zu belauschen, aber dass sie sich jetzt noch einmischten, ging zu weit. Das hier war doch kein Zuschauerquiz. Mr. Edgeworth erhob sich. "Wie es aussieht, könnten wir beide eine Tasse Tee gebrauchen." Hinter mir hörte ich schweres Fußgetrappel. "Tee! Jawohl, Sir! Ich werde mich sofort darum kümmern." Oberinspektor Gumshoe hatte für meinen Geschmack zu gute Ohren. "So weit ich mich erinnere, ist dieses Präsidium nahezu teeabstinent", sagte Mr. Edgeworth und begann die Unterlagen in seine Tasche zu räumen. "He du!" Gumshoe zeigte auf Inspektor Lamole, der soeben das Großraumbüro betreten hatte. "Du gehst jetzt Tee kaufen. Das ist eine dienstliche Anweisung, hörst du! Und wenn ich Tee sage, dann meine ich verdammt guten Tee." Mr. Edgeworth legte eine Hand auf Gumshoes bebende Schulter. "Ihr Einsatz ehrt mich, aber Detective Skye und ich bevorzugen ein privateres Ambiente." Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Natürlich meinte er mit privat lediglich einen Ort, wo die Wände keine Ohren hatten, aber dennoch lief ich Gefahr, rot anzulaufen. Deshalb schnappte ich mir meine Sachen und verließ eilig das Großraumbüro. Unten auf der Straße musste ich nicht lange auf Mr. Edgeworth warten. Er öffnete mir die Beifahrertür eines schwarzen Sportwagens und ich nahm Platz. Prompt erinnerte ich mich an den roten Flitzer, den er zu der Zeit fuhr, als der SL-9 Fall verhandelt wurde. Der Wagen hatte damals für Aufsehen gesorgt, weil die vermeintliche Mordwaffe zusammen mit Lanas Halstuch im Auspuff gefunden wurde. "Wie läuft die Zusammenarbeit mit Staatsanwalt Gavin?" Ich riss mich aus meinen Gedanken und bemerkte erst jetzt, dass wir bereits fuhren. Welche Antwort sollte ich ihm geben – dass Gavin ein aufgeblasener, selbstverliebter Kotzbrocken war? Besser nicht, das wäre unprofessionell. Eine Lüge war jedoch in meinen Augen noch schlimmer. "Kennen Sie Mr. Gavin?", wich ich seiner Frage aus und als ich zu Mr. Edgeworth schielte, stellte ich beruhigt fest, dass er deswegen keine Mine verzog. "Nicht persönlich. Aber seinen Bruder kenne ich ganz gut." "Er hat einen Bruder!?" Ich klang viel zu entsetzt, als dass ich mich nicht bei Mr. Edgeworth verraten hätte. Verlegen räusperte ich mich. "Wusste ich gar nicht..." "Kristoph Gavin. Ein brillianter Strafverteidiger. Ihm eilt der Ruf voraus, der Beste im gesamten Westen zu sein." Tatsächlich versuchte ich mir Gavins Bruder vorzustellen. Der Gedanke, dass noch so ein Rockbarbie-Exemplar durch L.A. glitzerte, verstörte mich auf so vielen Ebenen. Besser, ich dachte erst gar nicht drüber nach. "Der beste Strafverteidiger ist und bleibt Phoenix Wright!", widersprach ich, nicht ohne Anflug von Stolz. "Wenn Sie das sagen", kam es kalt zurück. Seine Reaktion verwunderte mich. Selbstverständlich waren die beiden Rivalen im Gerichtssaal, aber damals hatte ich wirklich das Gefühl, dass sie sich mochten, oder zumindest respektierten. Allerdings war ich damals erst sechzehn Jahre alt. Vielleicht war auch etwas in meiner langen Abwesenheit passiert, aber so neugierig ich auch war, ich traute mich nicht, weiter nachzuhaken. Tatsächlich schwieg ich den Rest der kurzen Fahrt, zumal ich einfach das Gefühl nicht los wurde, etwas Falsches gesagt zu haben. Im Café besetzten wir einen abgelegenen Tisch an der Fensterseite. Die Bedienung kam und Mr.Edgeworth bestellte einen Tee, den ich nicht mal aussprechen konnte, von daher orderte ich ein Mineralwasser. Ich nahm die Fallunterlagen aus meiner Tasche, obwohl ich bezweifelte, dass mir ein Licht aufging, wenn ich den Kram noch mal las. "Also?" Mr. Edgeworth erwartete natürlich, dass ich mir meine Gedanken gemacht hatte. Am liebsten hätte den Kopf auf den Tisch gehauen, aber das half auch nichts. Mittlerweile musste er glauben, dass mein Kopf mit Holzwolle gefüllt war, so dumm wie ich mich anstellte. Es gab ganz offensichtlich Indizien und ich sah sie einfach nicht! "Ihre Schwester zeichnete gern ein Fallschema, wenn sie sich Widersprüche nicht erklären konnte oder vor einem Rätsel stand." "Und was tun Sie in so einem Fall?" Ich liebte meine Schwester, aber ihre Zeit als Oberstaatsanwältin war vorüber. Lana wurde nach dem SL-9 Fall zu zwei Jahren auf Bewährung wegen Beihilfe zur Vertuschung eines Mords verurteilt. Der Umstand, dass sie sich von Damon Gant erpressen ließ um mich zu schützen, bewahrte sie vor dem Knast. Aber mit diesem Führungszeugnis konnte sie nicht mal als Wachschutz aufwarten, also tat sie das, was wohl jede Frau in ihrer Lage getan hätte: Sie heiratete und wurde Mutter. Ich sah auf, als mein Mineralwasser auf den Tisch gestellt wurde. Mr. Edgeworth zog langsam und mit spitzen Fingern an dem Teebeutel, der in seiner Tasse schwamm. Ich ahnte, dass diesem Café ein üppiges Trinkgeld entging. "Was ich damit eigentlich ausdrücken wollte... ", sagte er und ließ von dem Teebeutel ab. "Wir alle haben unsere Methoden. Ich bevorzuge eine simple Kombinationsmethode basierend auf den Fakten. Es soll Menschen geben, die sich auf die Was wäre wenn-Frage berufen und aus unerklärlichen Gründen eine Antwort finden." Natürlich meinte er niemand Geringeren als Phoenix Wright und ich kam nicht umhin zu schmunzeln. Der Gedanke gefiel mir. Was wäre... "...Wenn Enzo Cadaverini nicht von einer dritten Person getötet wurde, sondern von Louis Hiller?" Mr. Edgeworth kommentierte das nicht, aber sein Blick sprach Bände: Beweisen Sie es. "Es ist doch merkwürdig, dass Cadaverini erschossen und Hiller erstochen wurde. Der Mörder hätte doch beide abknallen können." "Nicht, wenn ihm die Kugeln ausgegangen sind." Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. "Das können Sie nicht wissen", widersprach ich. "In Ihrer Beweisliste fehlt die Tatwaffe. Das heißt, sie wurde nicht gefunden. Das Messer hingegen steckte in Hillers Leiche. Weshalb wurde die Schusswaffe entfernt und das Messer nicht? Das kann doch nur bedeuten, dass-" Ich verstummte, weil Mr. Edgeworth die Hand hob. "Sie sind auf dem richtigen Weg, aber bevor Sie sich in Annahmen verrennen, überprüfen Sie Ihre Theorie." Vollkommen richtig. Ich zitterte ein wenig vor Aufregung, als ich mein Handy aus der Tasche nahm um Mr. Bennett aus der forensischen Abteilung zu erreichen. Ich verlangte eine weitere Obduktion auf Schmauchspuren an Hillers Händen. Sobald ich aufgelegt hatte, sah ich gespannt zu Mr. Edgeworth, der nahezu ritterlich seinen Tee probierte. "Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Hiller und Cadaverini wurden von der selben Person getötet. Aus Ihrer Beweisliste entnehme ich, dass Hillers Mörder Handschuhe trug aufgrund der fehlenden Fingerabdrücke. Zweite Annahme: Louis Hiller tötete Cadaverini. Hat er tatsächlich Schmauchspuren an den Händen, dann müssen Sie die mit der Mordwaffe in Verbindung bringen. Da die Waffe entwendet wurde, wird Ihre Theorie vorerst reine Spekulation bleiben. Und das führt uns zum Dritten: Hat Louis Hiller vielleicht selbst zum Tatzeitpunkt Handschuhe getragen oder nicht? Immerhin gehen wir davon aus, dass er einen Mord beabsichtigte." Ich sah meine Theorie zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Er hatte Recht: Wenn Louis Hiller tatsächlich Cadaverinis Mörder war und Handschuhe trug, hätten sie genau so entfernt werden können wie die Tatwaffe und das konnte ich schlecht beweisen. Ich wusste nicht, warum Mr. Edgeworth so wissend lächelte, aber das tat er sicher nicht, weil er sich an meiner Dummheit erfreute. "Weshalb wurde Cadaverini in den Hals geschossen?" Scheinbar hatte dieser Hals tatsächlich eine Bedeutung. Dafür gab es nur eine Erklärung. "Um einen möglichst hohen Blutverlust zu garantieren", antwortete ich. "Richtig. Und trotzdem wurde Cadaverinis Leiche verschleppt, direkt in das Gebiet der Kitakis. Das heißt, wir können davon-" Ich wusste nicht, weshalb Mr. Edgeworth so plötzlich inne hielt. Er wirkte regelrecht erstarrt. War ihm gerade ein Geistesblitz durch den Kopf geschossen? "Mr. Edgeworth?" Er reagierte nicht, sondern fixierte einen Punkt über meinem Kopf. Ich winkte langsam mit der Hand vor seinen Augen. "Mr. Edgeworth!" Nur um sicher zu gehen, dass hinter mir nicht der Geist von Elvis schwebte, drehte ich mich um. Hinter mir war ein Fenster und da war... nichts?! "Ist alles in Ordnung?" "Bitte verzeihen Sie, Detective Skye. Ich glaubte etwas gesehen zu haben, aber es war nur Einbildung. Wo waren wir?" Ich versuchte den Faden wieder aufzunehmen, aber meine Aufmerksamkeit klebte an dem wild baumelnden Glöckchen über der Eingangstür. Darunter stand eine schnaufende Mrs. Oldbag und erdolchte mich mit ihren Blicken. Und als sie auf unseren Tisch zugestapft kam, hoffte ich einfach, dass mein Wecker klingelte und mich aus diesem Albtraum riss. "SIE! Wie können Sie es nur wagen! Weiß Ihr Freund davon? Wie viele haben Sie sich eigentlich noch geangelt?Zumeinerzeithätteesdasnichtgegebenmädchendiesichsoetwaserlaubthabenwurdenvondenanständigenmännerngemiedenmitsolchenweibernwilldochkeinerwaszutunhabenjawohl..." Sie schimpfte dermaßen laut, dass nicht nur die Blicke aller Gäste auf uns ruhten, ich hätte schwören können, dass mein Mineralwasser zitterte. Ich warf einen panischen Blick zu Mr. Edgeworth, der peinlich berührt auf seinem Stuhl herum rutschte. "Mrs. Oldbag, ich habe überhaupt keine Ahnung wovon Sie sprechen oder was Sie von mir wollen, aber ich möchte Sie bitten, jetzt schleunigst zu verschwinden. Ich befinde mich nämlich in einer dienstlichen Besprechung!" Wenigstens klang ich autoritär. Dass Mrs. Oldbag eine neugierige Person war, hatte ich mittlerweile begriffen, aber es ging eindeutig zu weit, wenn sie anfing sich in mein Privatleben - oder noch schlimmer: In meinen Beruf - einzumischen. Sie begann wieder herzhaft zu schnaufen. "Dass ich nicht lache! Sie wissen genau wovon ich rede! Wenn Ihr Freund davon erfährt! Es wird dem armen Mann das Herz brechen! Wie können Sie nur so kaltblütig sein! Lassen Sie bloß die Finger von meinem Edgey-Poo, Sie unreifes Früchtchen! Sie würden ihn nur ruinieren!" Edgey-Poo. Irritiert sah ich zu Mr. Edgeworth, der sich mit einem "Meine Damen, bitte!" erhob. Ich wusste nicht, was mich fassungsloser machte – Mrs. Oldbags offensichtliche Bekanntschaft mit Mr. Edgeworth oder die Tatsache, dass die Gäste schon wild miteinander tuschelten. Kein Wunder bei dieser peinlichen Vorstellung. "Oh Edgey-Poo, du brauchst dich nicht zu sorgen! Deine Wendy hat alles im Griff!", flötete sie und lief rosa an. Mittlerweile war ich heillos überfordert. Zwei Kellner eilten auf uns zu und nach einem kurzen Wortwechsel mit Mr. Edgeworth, nahmen sie die alte Schachtel in Gewahrsam um sie zur Tür zu schleifen. "Lassen Sie mich los, Sie ungehobelter Klotz! Das ist eine Frechheit. Sie werden von meinem Anwalt hören, jawohl!" Das Personal hatte ernsthaft Schwierigkeiten, Mrs. Oldbag zu bändigen, die sich mit Zähnen und Klauen verteidigte, als ginge es um ihr Leben. "Kommen Sie", hörte ich Mr. Edgeworth neben mir und ich folgte ihm artig zu einer Treppe, die mit einem Schild gekennzeichnet war. Zur Dachterrasse. "Das ist mir außerordentlich peinlich", erklärte er, als wir hinaufstiegen. "Sie ist eine glühende Verehrerin... schickt mir jede Woche Blumen mit einer Karte. Vor Jahren war sie als Zeugin vor Gericht geladen und seitdem hält sie an der Vorstellung fest, dass ich ihre Gefühle erwidere und nur zu schüchtern sei, es zu zeigen." Ich musste die Lippen aufeinander pressen um nicht laut aufzulachen. In meinem Hirn ratterte ein Film, wie Mrs. Oldbag Hand in Hand mit ihrem Edgey-Poo durch ein Blumenfeld sprang. Zum Glück fragte er nicht, weshalb ich sie überhaupt kannte. Wir betraten die Dachterrasse und als ich mich nach einem freien Tisch umsah, traf mich der Schlag. "Mr. Gavin?!" Ich starrte ihn entsetzt an. Und der nächste Schlag folgte prompt: Ich hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, den beiden Männern zu entwischen, aber Mrs. Oldbag keuchte voller Inbrunst auf der obersten Treppenstufe. Sie sah Gavin, rannte auf ihn zu und ich wusste, dass es nur in einem Desaster enden konnte. "Sie Armer! Ich hätte es Ihnen ja lieber schonend beigebracht, aber nun sehen Sie ja selbst, was die kleine Damsell hinter Ihrem Rücken treibt! An meinen Edgey-Poo wollte sie sich ranmachen! Können Sie sich das vorstellen!? Wo Sie sich doch so um sie bemüht haben! Aber seien Sie nicht traurig, Sie haben wirklich was Besseres verdient!" Gavin ließ ihren Monolog mit einem wächsernen Lächeln über sich ergehen, dann legte er einen Arm um Mrs. Oldbag und führte sie zur Treppe zurück. "Das ist in der Tat bedauerlich, aber ich möchte mit Fräulein Skye gerne in Ruhe darüber reden. Zumal wir Ihnen schon genug Ihrer wertvollen Zeit gestohlen haben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. " Mit diesen Worten schob er sie in die Arme der Kellner, die nicht den Eindruck machten, als ob sie Mrs. Oldbag noch einmal laufen ließen. Ihr Gezeter hallte die Treppe abwärts und Gavin lauschte noch eine ganze Weile wie einem Lied, das erst langsam ausklingen musste. Dann drehte er sich mit einem strahlenden Lächeln um. "Fräulein Skye! Ich dachte Sie wären am arbeiten." Gavin konnte von Glück reden, dass er wenige Meter von mir entfernt stand, andernfalls hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. "Ich war am arbeiten, im Gegensatz zu Ihnen! Und Sie halten es nicht mal für nötig, Mrs. Oldbag darüber aufzuklären, dass sie absolut falsch liegt. Bin ja nur ich, die sich den Terror weiter antun muss, weil sie verdammt noch mal in meinem Haus wohnt! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?" Ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Person dermaßen angeschrien zu haben. Es war plötzlich totenstill auf dem Dach. Alles, was ich in diesem Moment realisierte, waren Gavins Augen. Ich wusste nicht, was es war, aber sein Blick erdolchte meine Wut erbarmungslos, und so sehr ich Godzilla vor ein paar Sekunden noch Konkurrenz gemacht hätte, mit einem Mal war ich auf Einzellergröße zusammen geschrumpft. Gerade, als ich begriff, was ich getan hatte, wandte er sich zu Mr. Edgeworth. "Ich bedaure, dass wir uns erst jetzt kennenlernen. Leider musste ich zusammen mit Detective Crescend eine dringliche Angelegenheit besprechen, so dass ich Sie nicht persönlich treffen konnte." Ich schenkte diesem 'Detective' nur einen flüchtigen Blick. Er erinnerte mich an einen Statist aus der Rocky Horror Show. Normalerweise hätte ich mich gefragt, weshalb er mich musterte, als sei ich ein widerliches Insekt, aber im Moment ärgerte ich mich maßlos über Gavin, der versuchte, Mr. Edgeworth mit dieser seriösen Masche um den Finger zu wickeln. "... Ich bitte vielmals um Entschuldigung, falls Detective Skye und ich Ihnen den Unmut von Mrs. Oldbag zugezogen haben. Die gute Frau hat es wohl missverstanden, als ich anbot, meinen Detective persönlich zu ihrem ersten Tatort zu fahren", säuselte Gavin. "Bevor Detective Skye und ich so rüde unterbrochen wurden, hat sie mir freundlicherweise einen Einblick in die Akten gegeben. Ich stehe Ihnen selbstverständlich für alle offenen Fragen zur Verfügung, wobei ich anmerken möchte, dass ich mit der Überführung des Leichnams die Fallbearbeitung gutes Gewissens an Detective Skye übergeben möchte. Sie hat sich wirklich empfohlen." Ich vernahm Mr. Edgeworth' Worte, aber ich konnte mich nicht mal ansatzweise über seine positive Resonanz freuen. Dieses Gespräch hatte für mich einen so üblen Beigeschmack, dass ich dem Glimmerfop am liebsten vor die Füße gekotzt hätte. "Es ist beruhigend zu hören, dass man sich auf seine Leute verlassen kann", sagte Gavin kühl. Das saß. Ich hatte mich hinreißen lassen, ihn im Beisein von Miles Edgeworth anzuschnauzen. Er hatte es definitiv verdient, aber es war falsch. Ich sah die Szene schon filmreif in meinem Kopf, wie Gavin mir wegen Diskreditierung eine Abmahnung verpasste. Viel demütigender fand ich jedoch, dass er jetzt den großen Staatsanwalt raushängen ließ, obwohl er keinen Finger krumm gemacht hatte. Das war einfach nicht fair! Und als ob der Kloß in meinem Hals nicht schon genug drückte, stiegen mir jetzt auch noch Tränen in die Augen. Besser, ich verschwand so schnell wie möglich, bevor ich wirklich noch vor Wut anfing zu weinen. Ich drückte Gavin meine Fallakte in die Hand, ohne ihn anzusehen. Tatsächlich konnte ich mir noch ein müdes Lächeln abringen. "Danke für Ihre Zusammenarbeit, Mr. Edgeworth." Ich drehte mich auf dem Absatz um und beeilte mich die Treppen hinunter zu kommen. Draußen stieg ich in das erstbeste Taxi. "Wo soll's hingehen?" "Irgend wohin, mir egal", sagte ich und verlor den Kampf gegen die Tränenarmee. "Kenne ich nicht", murmelte der Fahrer und lenkte den Wagen zur nächsten Kreuzung. Während der nächsten Minuten ziellosen Umherfahrens, warf er mir immer wieder misstrauische Blicke über den Rückspiegel zu. Heulende Fahrgäste ohne Ziel waren ihm scheinbar nicht geheuer. "Setzen Sie mich beim Polizeipräsidium im 16. Bezirk ab", sagte ich schließlich. "Haste was ausgefressen?" Ich antwortete nicht, sondern konzentrierte mich darauf, meinen Heulkrampf in den Griff zu kriegen. Immerhin hatte ich jetzt ein Ziel. Und einen Entschluss. Vor dem Präsidium bat ich den Taxifahrer zu warten. "Vergiss es, Mädchen. Ich mach dir nicht den Fluchtwagenfahrer. Du lässt vierzig Mäuse hier und steigst aus. Nicht, dass ich noch Ärger mit den Bullen kriege." Ich lehnte mich nach vorn und hielt ihm meine Dienstmarke vor die Nase. "Den haben Sie gleich, wenn Sie versuchen, mir für eine zehnminütige Fahrt vierzig Dollar abzuknöpfen. Ich werde darüber hinweg sehen, wenn Sie hier auf mich warten. Und denken Sie nicht mal daran, abzuhauen." Er konnte nicht wissen, dass ich meine Dienstmarke zum letzten Mal gezogen hatte. Im Großraumbüro stellte ich beruhigt fest, dass so ziemlich die meisten Kollegen ihre Mittagspause überzogen. Innerhalb von Minuten setzte ich ein Kündigungsschreiben auf und verfrachtete es ohne Korrekturlesen in einen Umschlag. Dann besah ich mir meinen Schreibtisch genauer und beschloss, dass ich meine Sachen morgen abholen wollte. Ich nahm die halbe Tüte Snackoos mit, die im obersten Schubfach auf mich wartete. Den Umschlag gab ich unten beim Pförtner ab, mit der Bitte, ihn bis spätestens heute Abend in Gavins Büro zu bringen. Und jetzt wollte ich nur noch nach Hause. Als ich nach draußen ging, stand meine Vierzig-Dollar-Limousine noch an Ort und Stelle. 02. Oct. 2025 - Klavier (2/2) ----------------------------- Situationen wie diese waren einfach nicht cool. Als ich hierher kam, wollte ich nichts weiter, als mit Daryan meinen neuen Song besprechen. Stattdessen sah ich mich mit einer Zusammenkunft konfrontiert, die grotesker nicht hätte sein können. Bevor sich die Dinge noch endgültig überschlugen, entschied ich, den größten Störfaktor in Gestalt dieses keifenden Dinosauriers, zu beseitigen. Als ich mich vergewissert hatte, dass Mrs. Oldbag den Weg nach draußen gefunden hatte, wollte ich verdammt noch mal wissen, was hier los war. Und wer war dazu besser geeignet, als mein liebreizender Detective? "Fräulein Skye! Ich dachte Sie wären am arbeiten." "Ich war am arbeiten, im Gegensatz zu Ihnen! Und Sie halten es nicht mal für nötig, Mrs. Oldbag darüber aufzuklären, dass sie absolut falsch liegt. Bin ja nur ich, die sich den Terror weiter antun muss, weil sie verdammt noch mal in meinem Haus wohnt! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?" Das war unschön. Es gab Momente, in denen ich ihre Impulsivität ganz unterhaltsam fand, aber wenn sie nicht bald ihr Temperament zügelte, würde ich andere Saiten aufziehen müssen. Um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, wandte ich mich von dem kochenden Fräulein ab und ließ ihrer Begleitung meine Aufmerksamkeit zukommen. "Ich bedaure, dass wir uns erst jetzt kennenlernen. Leider musste ich zusammen mit Detective Crescend eine dringliche Angelegenheit besprechen, so dass ich Sie nicht persönlich treffen konnte...." Mir hatte ein Blick auf Staatsanwalt Edgeworth genügt um zu realisieren, dass er zu den Gentlemen gehörte, die man weder mit Smalltalk noch mit Komplimenten beeindrucken konnte, von daher beließ ich es bei Sachlichkeit. Zumal mir nicht entgangen war, dass mein Erscheinungsbild außerordentlich dazu beitrug, dass er sich fragte, was er von mir halten sollte. "Bevor Detective Skye und ich so rüde unterbrochen wurden, hat sie mir freundlicherweise einen Einblick in die Akten gegeben. Ich stehe Ihnen selbstverständlich für alle offenen Fragen zur Verfügung, wobei ich anmerken möchte, dass ich mit der Überführung des Leichnams die Fallbearbeitung guten Gewissens an Detective Skye übergeben möchte. Sie hat sich wirklich empfohlen." Ach, hatte sie das? "Es ist beruhigend zu hören, dass man sich auf seine Leute verlassen kann." Das langte jetzt auch an Worten über Fräulein Skye. Erstens hatte sie sich gerade einen sehr uncoolen Schnitzer erlaubt und zum Zweiten wollte ich endlich den Fall zur Sprache bringen. Wenn sie sich so empfohlen hatte, konnte sie das auch gleich unter Beweis stellen, ja? Ich staunte nicht schlecht, als mir so plötzlich etwas in die Hand gedrückt wurde. Die Fallakte. "Danke für Ihre Zusammenarbeit, Mr. Edgeworth." Ich konnte nur noch zusehen, wie sie im Laufschritt die Dachterrasse verließ. Hinter mir hörte ich Daryan, der etwas keuchte, das verdächtig nach "Fuck!" klang. Ich wusste nicht, was Fräulein Skye mit ihrem melodramatischen Abgang bezweckte, aber für mich stand fest, dass sie sich hiermit eine Abmahnung eingehandelt hatte. Auf einer Blamagenskala von Eins bis Zehn hatte sie mir gerade eine formvollendete Zwanzig beschert. Herr Edgeworth räusperte sich dezent. "Vielleicht versuchen Sie zunächst die Differenzen zwischen Ihnen und Detective Skye zu klären. Ich überlasse Ihnen vorerst die Fallakte des 23. Bezirks. Übermitteln Sie einfach die Originale nach Abschluss des Falls an unser Archiv." Er öffnete seine Tasche und gab mir besagte Unterlagen. "Sollten sich noch weitere Fragen ergeben, können Sie mich jederzeit in meinem Büro kontaktieren. Alles Gute." Er reichte mir zum Abschied kollegial die Hand und nickte Daryan kurz zu, bevor auch er die Treppe abwärts nahm. "Manchmal will ich echt nicht in deiner Haut stecken, Klav." Natürlich wollte er das nicht. Ich knallte den bürokratischen Ballast auf den Tisch, ließ mich auf meinen Stuhl fallen und starrte finster in meinen Eistee. Daryan war so nett, die nächsten Minuten zu schweigen, was auch daran liegen mochte, dass unser bestelltes Essen gebracht wurde und er sich mit dem Appetit eines ausgehungerten Löwenrudels darüber hermachte. Ich nahm mir Edgeworth' Akte zur Hand und blätterte oberflächlich darin. Der Name Cadaverini sprang mir recht schnell ins Auge und mein erster Impuls war, den Fall einfach abzutreten. Kein Staatsanwalt in L.A. hatte noch Lust, Prozesse über tote Cadaverinis und Kitakis zu führen, da sie sich in aller Regelmäßigkeit über den Haufen schossen. "Isst du das noch?" Ich sah auf und weil Daryan noch einen hungrigen Eindruck machte, gab ich mein Boeuf Miroton zur Vernichtung frei. Und die Akte in meiner Hand flog lieblos auf den Tisch zurück. "Jetzt werd nicht sentimental." "Ach? Soll ich vor Begeisterung Detective Skye vielleicht eine Dankeskarte zukommen lassen? Oder hier!" Ich schlug mit der flachen Hand auf die oberste Akte. "Den toten Cadaverini dafür umarmen, dass er sich in meinem Bezirk abknallen ließ? Hör auf zu lachen, ja?" Daryans Gegacker war nicht gerade förderlich für meine Laune, auch wenn ich ihm nicht wirklich verübeln konnte, dass er sich über die Leiche amüsierte, mit der ich gesegnet wurde. "Die Serviette hat dir vorhin 'nen heißen Tipp gegeben. Kümmer dich um deinen Detective und dann kümmerst du dich um alles andere. Lass dir von dem Girly nicht so auf der Nase rumtanzen. Weißt du, was dein Problem ist? Du bist viel zu nett. Die Kleine kennt ihre Grenzen nicht. Zeig ihr die mal ganz deutlich." Aus Daryans Mund klang die Sache so klar und erfrischend wie eine sprudelnde Bergquelle. Ich stand auf und nahm die beiden Akten und den Songentwurf an mich. "Übernimmst du die Rechnung? Ich revanchier mich heute Abend", sagte ich beiläufig, als ich im Begriff war zu gehen. "He, Klav! Welcher Cadaverini war's eigentlich?", rief Daryan mir nach, kaum dass ich die Treppentür erreicht hatte. Ich hielt inne und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. "... Enzo." "Verdammt, den mochte ich ganz gern. Der hatte so geile Steel Samurai-Witze drauf." Was auch immer... Als ich das Rodex verließ, überlegte ich, ob ich zuerst in die Staatsanwaltschaft oder ins Präsidium fahren sollte. "Oh mein Gott, da ist er!" Großartig. Ich ohrfeigte mich in Gedanken, weil ich vorhin mein Bike so nachlässig auf der Straßenseite geparkt hatte, denn jetzt hatte ich ein gutes Dutzend kreischender Fräuleins am Hals. Es war nicht einfach, zu meinem Motorradsitz vorzudringen, zumal sie die Auffassung teilten, dass ich erfreuter war, je dichter sie mir ihre Fotohandys und Autogrammbücher vor das Gesicht hielten. Erst als ich die Fallakten unter meinen Sitz verfrachtet hatte, wandte ich mich meinen Fans zu um ein paar Autogramme zu unterschreiben. "Wann kommt eure neue Single?" "Ike ist so süß – hat er eine Freundin?" "Ist Daryan auch hier?" "Klavier, hast du mein Geschenk bekommen?" "Ich stand gestern in der ersten Reihe. Hast du mich gesehen?" "Kriege ich eine Widmung? K-a-t-h-l-y-n." Ich ließ mich dazu hinreißen, unter Kathlyns Widmung noch ein Herz zu malen, was darin endete, dass sie mit zitternden Fingern ihren Stift von mir entgegen nahm. "Klavier, ich auch! Ich hab keine Widmung. Gibst du mir auch eine?", kam es hysterisch von allen Seiten. Ich fand, dass es genug war. Mir klingelten die Ohren und außerdem hatte ich keine Zeit mehr. Die Proteste ignorierend, bestieg ich meine Maschine und als ich den Motor aufheulen ließ, nahmen auch die letzten Fräuleins Vernunft an und machten Platz, damit ich auf die Straße fahren konnte. Ich entschied, zuerst das Präsidium aufzusuchen, schon allein, weil ich sehr gespannt war auf Fräulein Skyes Erklärung zu ihrer oscarreifen Vorstellung. In der Eingangshalle des Präsidiums wurde ich vom Pförtner angehalten. "Jetzt nicht", versuchte ich ihn abzuwimmeln. "Ich habe hier etwas von Detective Ema Skye. Sie sagte, es sei dringend." Ich nahm ihm den unbeschrifteten weißen Umschlag ab und öffnete ihn mit meinem Motorradschlüssel. Die folgenden Zeilen ruinierten mir endgültig den Tag. "Atroquinin, meine Liebe." "Was haben Sie gesagt?" Der Pförtner sah mich verdutzt an, weil ich Deutsch gesprochen hatte, aber diese Worte waren auch gar nicht für ihn bestimmt. "Ist Detective Skye noch hier?" "Sie hat vor etwa einer halben Stunde das Präsidium verlassen." Aha. Wie feige. "Soll ich ihr eine Nachricht zukommen lassen, Mr. Gavin?" "Danke, nicht nötig." Ich ließ den Pförtner stehen und nahm den Fahrstuhl. Leider kannte ich mich im Präsidium nicht gut aus, weil ich eher selten hierher kam. Das machte es mir nicht unbedingt leicht, diesen Oberinspektor zu finden, dessen Namen ich ständig vergaß. Dann endlich – ich war mittlerweile im achten Stock angekommen – sah ich durch eine Glastür, die den Blick auf ein Großraumbüro frei gab, meinen gesuchten Mann. Scheinbar hatte er zu viel Zeit, denn als ich das Büro betrat, war er damit beschäftigt sieben oder acht Detectives mit einer Geschichte in seinen Bann zu schlagen. Sobald die ersten Zuhörer meine Anwesenheit bemerkten, wandten sie sich schnell anderen Dingen zu um zu demonstrieren, wie hart sie arbeiten konnten, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gab. "He, ich war noch nicht fertig! Das Beste kommt ja noch." Jetzt hatten auch die letzten Detectives ihre Monitore fixiert und Herr Scheherazade kratzte sich am Kopf angesichts seines abgesprungenen Publikums. "Auf diese Weise werden Sie die Masse niemals zum Tanzen bringen, Inspektor." "Ich weiß auch nicht, was... MR. GAVIN! Sie – ich, eh – ich meine Sie haben-" "Auf ein Wort, ja?", bat ich und steuerte die Schreibtischgruppe am Fenster an, weil dort niemand arbeitete und ich das Gespräch möglichst diskret halten wollte. Ich drehte den Umschlag mit Ema Skyes Kündigung in meinen Händen und obwohl ich vor wenigen Sekunden noch vorgehabt hatte, ihre Entscheidung unverzüglich weiterzuleiten, nagte etwas an meinem Bewusstsein. Mein Verstand sagte mir, dass sie nicht dafür geschaffen war, mit mir auf einer Bühne zu stehen. Mein Herz jedoch protestierte und wollte ihre Kündigung nicht akzeptieren. "Mr. Gavin?" Da ich mich nicht entscheiden konnte, wollte ich es der Schicksalsgöttin überlassen. Ich sah in das Gesicht des zermürbten Inspektors, der wohl eine Standpauke von mir erwartete. "Könnten Sie bitte versuchen, Detective Skye telefonisch zu kontaktieren?" "Ich glaube, sie und Mr. Edgeworth-" "... hatten eine Besprechung, richtig. Und jetzt möchte ich, dass Sie Detective Skye anrufen." Wahrscheinlich fragte er sich, weshalb ich mich nicht selbst ans Telefon klemmte, aber ich hatte meine Gründe. "Was soll ich ihr denn sagen?" "Dass der Pförtner ihren Umschlag nicht mehr findet." "Und was mache ich, wenn sie nicht zu Hause ist?" Mein Kiefer verspannte sich, weil ich die Zahnreihen zu stark aufeinander presste. "Sie wird ein Handy haben, ja? Von mir aus versuchen Sie es mit einer Brieftaube oder geben Sie Rauchzeichen." "Jetzt gleich?" "Ja, jetzt gleich", sagte ich gedehnt und endlich entfernte er sich um meinen Auftrag auszuführen. Mir blieb nichts anderes übrig, als hier zu warten und vor lauter Langweile, begann ich den Raum zu taxieren. Entgegen meiner Erwartung entdeckte ich tatsächlich etwas, das ich mir mal genauer ansehen wollte. Ich näherte mich dem Papierkorb, den ich soeben anvisiert hatte. Er quillte über mit diesen Plastiktütchen, die ich bisher nur in den Händen von Fräulein Skye gesehen hatte. Ein Blick auf die Schreibtischoberfläche offenbahrte mir eine dezente Krümelspur. Ohne Zweifel war dies der Arbeitsplatz von Fräulein Skye. Aber warum hatte sie kein eigenes Büro wie Daryan, als er noch mein Partner war? Ich griff nach einem Bilderrahmen, der neben der Tastatur stand und betrachtete das Foto. Es war schon etwas älter, die Farben wirkten verblichen. Ich sah zwei salutierende Personen, darunter eine junge Frau in Officer-Uniform; ihre zarten Gesichtszüge erinnerten mich sofort an jemanden, der bevorzugt Laborkittel trug. Und als ich das kleine, lachende Mädchen neben ihr betrachtete, tippte ich darauf, dass es sich bei dieser festgehaltenen Erinnerung um Fräulein Skye und ihre ältere Schwester handelte. Ich erinnerte mich, dass sie in ihrem Lebenslauf eine Schwester angegeben hatte. Weshalb ich unablässig dieses Bild anstarrte, auch nachdem ich es ausgiebig inspiziert hatte, wusste ich nicht. Aber je länger ich es betrachtete, desto lauter wurden die Sirenen in meinem Kopf. Ich hörte Quarten, nichts als Quarten von diesem Notarztwagen. Polizeibeamten gingen in unserem Haus ein und aus und Kristoph redete mit Engelszungen auf mich ein. "Klavier, du kannst da nicht rein!" "Lass mich los!" "Komm mit mir." "Nein, du sollst mich loslassen! Sie ist im Haus, stimmt's? Mama ist..." "Ich lasse dich los, wenn du dich beruhigst und mitkommst. Ich werde dir alles erklären." "Es ist Papas Schuld..." "Klavier, bitte! Du fantasierst." "Ich hasse dich!" Eine schallende Ohrfeige traf mein Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und hielt mit Daumen und Zeigefinger meinen Nasenrücken umklammert. Diese Erinnerung war... Ich musste mich setzen. "Ich hab's versucht. Ich hab's wirklich versucht, Mr. Gavin!" "... Was?" Ich öffnete die Augen und betrachtete unverwandt diesen Inspektor, der mit seiner gesamten Körpersprache signalisierte, wie verzweifelt er war. Ein einziges Häufchen Elend. "Ich konnte Detective Skye nicht erreichen. Ihr Handy ist aus. Und bei ihr zu Hause kam ich nicht durch, die Leitung war blockiert." Die Schicksalsgöttin hatte also für mich entschieden. Ich stellte den Bilderrahmen an seinen angestammten Platz zurück und händigte dem Inspektor den Umschlag aus, der das Unausweichliche verkündete. "Waaaaaaaaaaaas?", brüllte er, kaum dass er den kurzen Zweizeiler verdaut hatte. "Sie hat doch gerade erst angefangen!" "Bedauerlich. Und jetzt brauche ich einen neuen Detective!" "Ich verstehe das nicht...", murmelte er. Der Kerl fing an mich zu nerven. "Sie sind doch für Personalfragen zuständig. Treiben Sie mir einen guten Detective auf, vorzugsweise mit Diensterfahrung und das Ganze bis spätestens morgen Früh." "Bei allem Respekt, Mr. Gavin, aber ich muss das an den Polizeipräsident weiterleiten und auch Oberstaatsanwältin Freyer darüber informieren. Und die Kapazitäten in dieser Abteilung lassen kaum Spielräume." Ich lachte. "Achtung! Wagen Sie es nicht zu sagen, dass eine schnelle Entscheidung in diesem Präsidium unmöglich sei. Daryan Crescend konnte nicht schnell genug versetzt werden, ja?" Ich ging zur Tür und als ich die Klinke in der Hand hatte, drehte ich mich nochmals zu ihm um. "Wie heißen Sie?" "Gumshoe. Oberinspektor Dick Gumshoe." "Cooler Name! Den werde ich mir merken. Besonders, da Sie sich so für mich ins Zeug legen. Für den Fall, dass es mit meinem neuen Detective bis morgen Früh nichts wird, werde ich mich selbstverständlich beim Polizeipräsident für Sie und Ihre Vision als Alleinunterhalter stark machen, versprochen!" Vielleicht war es nicht die feine Art, ihn derart unter Druck zu setzen, aber ich ließ mich nicht zum Narren halten und außerdem wollte ich ihm einen Ansporn verschaffen. Drei Stunden später saß ich in meinem Büro und war damit beschäftigt, sämtliche Dokumente und Fotos der beiden Bezirksakten zu digitalisieren. Zwischendurch rief Mr. Bennett aus der Forensik an, weil er Fräulein Skye nicht erreichen konnte. In erster Linie aber, um zu bestätigen, dass bei Louis Hiller Schmauchspuren an Händen und Kleidung gefunden wurden. Mit dieser Info konnte ich noch nicht viel anfangen, von daher machte ich mir eine kleine Notiz um das Puzzlestück später einsetzen zu können. Und jetzt, da ich so fleißig alle Daten auf meinen Computer geladen hatte, wollte ich mir den Fall genauer ansehen. Es hatte seinen Grund, weshalb über meinem Schreibtisch drei Monitore hingen. Mittels Fernbedienung konnte ich eine große Bandbreite an Beweisen und Informationen analysieren, hinzufügen und zuordnen. Schon nach wenigen Minuten wurde mir klar, dass es sich hierbei nicht um einen klassischen Cadaverini-Fall handelte. Jemandem eine Kugel in den Hals zu jagen und ihn anschließend ein paar Bezirke weiter abzulegen, war an sich schon spektakulär, aber der Mörder wollte die Polizei unbedingt wissen lassen, dass er Cadaverini im sechzehnten Bezirk umgebracht hatte, ansonsten hätte er nicht so ein Blutbad veranstaltet. Und dann war da noch Louis Hiller, über dessen Rolle ich mir erst klar werden musste. Ich nahm mir meine Notiz zur Hand. Schmauchspuren. Nicht übel, Fräulein Skye. Unter dem Aspekt fing die Sache an interessant zu werden. Ich holte mir Hillers Bericht auf einen der Monitore. Gelesen hatte ich ihn schon einmal, aber nur flüchtig. Sein Führungszeugnis war blütenrein... ein mittelloser Student, der mit 31 Jahren noch immer bei seiner Mutter wohnte. Das einzig Aufregende in seinem Leben war sein desaströser Gesundheitszustand. Trotzdem musste ich der Sache nachgehen, also notierte ich auf meiner kleinen Ermittlungsliste die Untersuchungsanordnung zu Hillers Wohnung. Und selbstverständlich würde ich es mir nicht nehmen lassen, der liebreizenden Viola Cadaverini einen Besuch abzustatten um über ihre Familienangelegenheiten zu plaudern. Das Einzige, was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, war die verschwundene Mordwaffe. Ohne sie konnte ich derzeit keinen Bezug zu Cadaverinis Mörder herstellen, egal ob es sich um Hiller oder eine andere Person handelte. Bis in die frühen Morgenstunden klopfte ich die gesamten Falldokumente auf offensichtliche und versteckte Hinweise ab und ergänzte meine Ermittlungsliste. Irgendwann wurden mir dann doch die Augen schwer und als ich Gefahr lief den Weltrekord im Dauergähnen aufzustellen, ließ ich mich in meinen Sessel sinken und schloss für einen kurzen Moment die Augen... ... Das Telefon riss mich erbarmungslos aus meinem Sekundenschlaf. Ich raffte mich verärgert auf mit dem Gedanken, welcher Armleuchter zur nachtschlafenden Zeit in der Staatsanwaltschaft anrief, bis mir auffiel, dass es bereits hell draußen war. Noch halb benommen nahm ich den Hörer ab. "... Ja." "Hier ist Oberstaatsanwältin Freyer. Spreche ich mit Mr. Gavin?" Als ich diese süße Stimme hörte, war ich mit einem Schlag hellwach. "In der Tat. Das heißt, falls Sie es diesmal auf den jüngeren abgesehen haben." Diane Freyer war nicht nur meine Vorgesetzte, sondern auch eine gute Freundin meines Bruders. Kristoph hatte sie mir vorgestellt, als ich vor ein paar Monaten meine Staatsanwaltslaufbahn wieder aufnahm. Ich konnte mich nicht entsinnen, je eine Frau getroffen zu haben, die so viel Anmut und Feinfühligkeit besaß wie sie. Diane war dermaßen süß, dass ich allein vom Hinsehen Karies bekam. Ich war direkt ein bischen verknallt, ja? Unter normalen Umständen hätte ich sie sofort gedatet, mich störte ja nicht mal die Tatsache, dass sie in Kristophs Alter war, so Anfang Dreißig. Dianes berufliche Position verbot es mir einfach. Ach, und außerdem war sie überglücklich verheiratet. "Es ist schön, dass ich Sie gleich erreiche. Leider rufe ich in einer prekären Angelegenheit bezüglich des AK-416-Falls an. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr fallhabender Detective gestern die Kündigung eingereicht hat. Sie wissen, was das für Sie bedeutet?" Mein Mund fühlte sich plötzlich so trocken an, dass ich hart schlucken musste. Ich tastete blind nach der Wasserflasche auf meinem Tisch. Sie war leer. Ich hatte eine leise Ahnung, worauf Diane hinaus wollte, trotzdem sagte ich nichts. "Es tut mir leid, aber so wie die Dinge stehen, muss ich Sie von dem Fall abziehen." "Das ist doch lächerlich!", entfuhr es mir. Sie seufzte und es klang etwas mitleidig. "Sie wissen, dass ich viel von Ihnen halte, aber ich kann Sie nicht ohne Detective die Anklage führen lassen." Selbst jetzt klang ihre Stimme betörend in meinen Ohren, obwohl sie mir Dinge sagte, die ich absolut nicht hören wollte. Das - und nur das! - hielt mich davon ab, komplett aus der Haut zu fahren. "Mal unter uns... finden Sie das fair?" Ich versuchte das Gespräch auf eine vertraute, persönliche Ebene zu lenken. Ein halbgarer Trick aus der Mottenkiste und höchst unprofessionell, aber mir fiel im Moment nichts Besseres ein. "Ich kann Ihnen nicht folgen." "Es ist das Eine, wenn mir ein äußerst kompetenter Partner entrissen und mir dann jemand ohne Berufserfahrung vor die Nase gesetzt wird. Ich habe mich nie beschwert. Aber wenn mein Detective ohne nennenswerten Grund von Heute auf Morgen hinschmeißt, können Sie mich nicht dafür bestrafen!" Sie schien sich ihre Antwort gut zu überlegen, denn es war ausgesprochen still am Ende der Leitung. Gerade wollte ich in meiner Argumentation noch einmal nachsetzen, aber sie kam mir zuvor. "Ich kann gut verstehen, dass Sie sich beweisen wollen, nachdem Ihr Debut damals so viel Aufsehen erregt hatte. Aber ich frage Sie ganz offen: Brauchen Sie diesen Fall wirklich?" Ich stutzte, weil sie den Nagel so präzise auf den Kopf traf. Seit einer gefühlten Ewigkeit haftete mir der Ruf eines Wunderknaben an, weil ich in meinem ersten Prozess den ach so legendären Phoenix Wright gegen die Wand fuhr. Sowohl die Medien, als auch die juristische Fachwelt bestaunten damals dieses Kunststückchen, das keines war. Es war mir schleierhaft, weshalb Wright überhaupt so viel Aufmerksamkeit genossen hatte, denn in meinen Augen war er nichts weiter als ein schmieriger Winkeladvokat. Seine Fallstrategie entsprach einem wahllosen Herumstochern in Zeugenaussagen und Nebensächlichkeiten. Eine völlig veraltete und durchsichtige Methode, die heutzutage jedem Erstsemester ein müdes Lächeln entlockte. Obwohl mich das unendlich gelangweilt hatte, wäre das alles noch zu verschmerzen gewesen, aber dann hatte er etwas getan, dass ich ihm nie verzeihen würde: Er legte einen gefälschten Beweis vor. Zu seinem Pech flog der Schwindel auf und es kostete ihn seine Anwaltsmarke. Für Phoenix Wright hatte ich nur noch ein Wort übrig: Armselig. Und ich war es leid, ständig mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. "... Sind Sie noch dran?" "Sorry, ich war in Gedanken." "Darf ich auch daran Teil haben?" Ich lachte leise. "Sie haben mir gerade vor Augen geführt, wie sehr ich diesen Fall brauche." "Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun?" "Zeit. Geben Sie mir ein wenig Zeit, ja?" Die folgende Pause zog sich quälend lange hin. "Also schön, die Sache duldet eigentlich keinerlei Aufschub, aber wenn Sie bis heute Abend um 18 Uhr einen fallführenden Detective angeben können, bleibt die Anklage bei Ihnen." "... Diane, Sie rocken." "Ich weiß. Machen Sie das Beste draus." Mit diesen Worten legte sie auf und ich atmete hörbar aus. Diane gewährte mir nur ein knappes Zeitfenster, aber es war immerhin eine Chance und außerdem war der Tag noch jung. Nachdem ich mein Büro verlassen hatte, machte einen kurzen Abstecher zu Starbucks, weil ich einen starken Kaffee brauchte. Schon allein, weil Daryan gestern Abend sechs Anrufe und zwei SMS auf mein Handy abgefeuert hatte, die ich erst jetzt bemerkte, weil ich auf lautlos gestellt hatte um ungestört arbeiten zu können. Aus den Nachrichten "Beeil dich mal! Ich will Carl nicht vierteilen, bevor du da bist!" und "Klav, du Idiot! Warum hast du mich hängen lassen? Hab Carl zu Haifutter verarbeitet. Küss mir die Füße, Bitch!" las ich heraus, dass ich Daryan mindestens drei Stripperinnen und eine neue Fender spendieren musste, bevor er mir wieder mit mir redete. Das Treffen mit Carl hatte ich bei dem ganzen Stress völlig vergessen und es tat mir leid, dass Daryan sich allein mit ihm rumschlagen musste, aber ich hatte jetzt keine Zeit um meinem schlechten Gewissen nachzuhängen. Ich fuhr erneut zum Präsidium um diesem Gumshoe in Sachen 'Wo bleibt mein neuer Detective?' auf den Zahn zu fühlen. Zur Not würde ich einfach jemanden zwingen, für mich zu ermitteln. Als ich auf dem Parkplatz meinen Motorradschlüssel abzog, erblickte ich zu meiner Überraschung Fräulein Skye auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Na, wenn das mal kein Zufall war! Sie hatte mich bemerkt, kaum dass sie die Ampel überquert hatte. Für einen Moment hielt sie inne wie ein Kind, das bei einem Streich erwischt wurde, setzte dann aber ihre Schritte ziemlich energisch ins Präsidium fort. Ich folgte meinem Fräulein Ex-Detective in die Eingangshalle und da es nur einen Fahrstuhl gab, wollte ich ihr beim Warten etwas Gesellschaft leisten. Bei der Gelegenheit konnten wir gleich mal über unsere Differenzen plaudern, wie Staatsanwalt Edgeworth es so schön ausgedrückt hatte. Tatsächlich schielte sie kurz zum Treppenaufgang, aber für die acht Stockwerke war ich ihr wohl doch nicht unerträglich genug. "Guten Morgen, Fräulein Skye. Schön, Sie mal wieder zu sehen", durchbrach ich das Schweigen. "Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen." Sie schlug ein paar Mal recht dynamisch auf die Ruftaste, obwohl der Fahrstuhl längst unterwegs war. "Holen Sie Ihre Sachen ab?" "Was wollen Sie, Gavin?" "Betrachten Sie es als ein nettes, entspanntes Gespräch." "Wenn das meine Anwesenheit nicht einschließt, tun Sie sich keinen Zwang an." Ich fand das nicht nur kindisch, sondern wirklich respektlos, auch weil sie nicht mal den Anstand besaß, mir ins Gesicht zu sehen. Vielmehr musterte sie auf das Hartnäckigste die Fahrstuhltür. Ich ermahnte mich zur Ruhe, da der Impuls, Fräulein Skye ihren süßen Hals umzudrehen, immer stärker wurde. Als wir den Fahrstuhl endlich betreten konnten, wollte ich einen weiteren Versuch starten. Ich wartete, bis wir anfuhren und schlug einen äußerst sanften, versöhnlichen Ton an. "Wissen Sie, warum es keine Acapella-Rocker gibt? Weil nur eine eingeschworene Band richtig rockt." "Demzufolge rocken Sie kein bisschen, weil Sie eine ewig langweilige One Man Show sind", kam es patzig zurück. Damit hatte Fräulein Skye den Bogen überspannt. Sie fuhr erschrocken herum, als es einen heftigen Ruck gab und der Fahrstuhl stehen blieb. "Sind Sie wahnsinnig, Gavin!?" Ich nahm meinen Finger vom Tastentableau und zu meiner Genugtuung sah sie mich nun doch endlich an. Hatte auch lange genug gedauert. "Wir haben Klärungsbedarf, ja?" "Ich wüsste nicht, was wir noch zu klären hätten", sagte sie und als sie ihre Hand ausstreckte um den Fahrstuhl wieder in Gang zu setzen, packte ich sie am Oberarm und drückte sie außer Reichweite des Tableaus an die Fahrstuhlwand. "Sie hätten ein kompetenter Detective sein können, eine richtige Leadgitarre. Sie sind innovativ, aufmerksam und verfügen über einen fundierten Sachverstand. Nur haben Sie es scheinbar darauf abgesehen, meine Karriere zu versauen. Wissen Sie eigentlich, was ich Dank Ihnen für einen Ärger am Hals habe?" "Wissen Sie, wie egal mir das ist? Und jetzt lassen Sie mich los, bevor ich mich vergesse." Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich körperlich viel zu dicht aufgedrängt hatte. Ich nahm trotzdem nicht allzu viel Abstand. "Sie schulden mir eine Antwort, Fräulein Skye." "Ich schulde Ihnen gar nichts, Gavin!" "Für Sie immer noch Mr. Gavin! Kommen Sie endlich runter von Ihrem hohen Ross! Und ich will jetzt eine Erklärung hören, verdammt noch mal!" "Schreien Sie mich nicht so an!", brüllte sie zurück. Sie starrte mich an wie das Kaninchen die Schlange und ich bereute sofort, dass ich so laut geworden war. "Dann zwingen Sie mich bitte nicht dazu, ja?", sagte ich gedämpfter, obwohl ich mich immer noch höchst angrifflustig fühlte. "Ich habe nicht gekündigt um mich an Ihnen zu rächen." "Ach?" "Wir sind überhaupt nicht miteinander kompatibel. Kurz: Ich kann Sie nicht ausstehen!" In mir keimte das Bedürfnis auf, sie herzhaft auszulachen. Einer Zwölfjährigen hätte ich das gern abgekauft, aber Fräulein Skye war den Kinderschuhen entwachsen, also wollten wir auch wie Erwachsene reden, ja? "Das unterstreicht nur Ihre Unprofessionalität und ist kein Kündigungsgrund. Aber wo wir schon dabei sind – Was haben Sie gegen mich?" "Die komplette Liste aufzuzählen würde Stunden dauern." "Eine Kurzversion wird mir reichen. Los doch!" Es interessierte mich nicht im Geringsten, was sie an mir auszusetzen hatte, aber jetzt, da sie etwas zugänglicher geworden war, wollte ich ihr den kleinen Auftritt gönnen. "Sie sind arrogant, selbstgefällig, affektiert, verarschen mich am laufenden Band, Ihre Rockstarattitüde ist zum kotzen und was gestern Mittag angeht, muss ich wohl hoffentlich nicht noch ins Detail gehen!" Mit einem Lächeln lehnte ich mich seitlich gegen die Fahrstuhlwand. "Was war denn gestern Mittag?", sagte ich in einem Tonfall, der schwer nach Denken Sie mal genau nach! klang. "Sie haben mich vor Mr. Edgeworth total blamiert!" War das ihre einzige Sorge? "Verdrehen Sie bitte nicht die Tatsachen, Fräulein Skye. Sie hatten auf dem Dach einen Gefühlsausbruch, was Ihnen keiner nachtragen will, aber dann sind Sie einfach abgehauen und das geht nicht, ja? Ich kann Ihnen versichern, dass Staatsanwalt Edgeworth keinen Beifall geklatscht hat. Können Sie sich ausmalen, wie peinlich Ihre Vorstellung war?" Sie drehte ihren Kopf zur Seite und zog den charmantesten Schmollmund, den ich je gesehen hatte! Ich musste der Versuchung widerstehen, um Fräulein Skye einen Halbkreis zu drehen, nur um sie ausgiebiger zu betrachten, denn ich war noch nicht fertig. "Vorhin rief mich Oberstaatsanwältin Freyer an um mir mitzuteilen, dass ich vom Fall abgezogen werde. Und das alles nur, weil mein Detective aus einer kindischen Laune heraus hinschmeißt. Vielen Dank, Fräulein Skye. Coole Show, sehr coole Show." "Jetzt tun Sie nicht so, als ob Sie total unschuldig wären. Wenn Sie mich nicht ständig provoziert hätten, wäre das gar nicht erst passiert!" "Achtung! Hätte, Wäre und Wenn sind Geschwister, auf die kein Verlass ist." Fräulein Skye schnaubte verächtlich. "Hat eh keinen Sinn mehr, noch darüber zu diskutieren. Die Sache ist gegessen." Sie machte Anstalten an mir vorbei zu gehen und weil sie sicher im Sinn hatte, uns endlich in den achten Stock zu befördern, schnippste ich einmal mit den Fingern scharf vor ihren Augen. "Irrtum! Sie haben die einmalige und unwiderrufliche Gelegenheit, den Schaden zu begrenzen. Ziehen Sie Ihre Kündigung zurück!" "Damit Sie mich nach Belieben weiter veralbern können? Sie warten doch nur darauf, mir endlich Ihre Abmahnung reinzuwürgen!" "Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Idee kommen, aber ich hatte nicht vor, Ihnen eine Abmahnung zu erteilen." Das war gelogen. Um ehrlich zu sein, stand es sogar weit oben auf meiner Prioritätenliste, aber wenn es Fräulein Skye davon abhielt ihren wieder Job anzutreten, wollte ich gern darauf verzichten. Immerhin: Sie zog wieder den hübschen Schmollmund. Und jetzt wurde es Zeit, die letzten Register zu ziehen, damit die Sache endlich vom Tisch kam. Ich griff mit beiden Händen nach ihren Schultern, beugte mich nach vorn und sah ihr ernst in die Augen. "Wenn ich Sie in irgendeiner Weise verletzt haben sollte, dann tut mir das leid. Das war nicht meine Absicht... nicht wirklich. Sie haben so viel Potential und ich kann es nicht mit ansehen, wenn guter Wein vergossen wird. Bitte, Fräulein Skye, ich brauche Sie hier!" Ich konnte ihrem Blick kaum entnehmen, ob sie mir das gerade abgenommen hatte oder nicht, aber sie schien jedes Wort intensiv abzuwägen, andernfalls hätte ich nicht so lange auf meine Antwort warten müssen. Dramatisches Schweigen war wohl eine beliebte Frauendisziplin, aber nicht unbedingt förderlich für meine Nerven. "... In Ordnung." "In Ordnung? Etwas genauer bitte." "Ich ziehe meine Kündigung zurück – zufrieden?" Mehr als zufrieden! Ich spielte hinter ihrem Rücken eine glückselige Runde Luftgitarre, während sie den Fahrstuhl in Gang setzte und die Digitalanzeige beäugte. Und als ob sie ein weiteres Paar Augen im Hinterkopf trug, schoss sie pfeilschnell herum und zerrte mich an meinem Hemd zu sich runter. "Nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Sollten Sie mich jemals wieder so wahnsinnig machen, dass ich Sie selbst vor dem Richter als selbstgefälligen Windbeutel betiteln muss, ist unser Arbeitsverhältnis be-en-det!" Ich hätte ja gern etwas erwidert, aber in dem Moment öffnete sich der Fahrstuhl und gab die Sicht auf eine Menschentraube frei, hübsch angesammelt auf dem Flur des achten Stockwerks. Wir hatten den Lift wohl doch etwas zu lange beansprucht. Fräulein Skye ließ mein Hemd los, als hätte sie sich die Hand verbrannt und bahnte sich fast duckend einen Weg durch ihre Kollegschaft. Da die Augenpaare ihr nur bis zur nächsten Ecke folgen konnten, schnappten sie zurück zu mir. Ich schloss den einen Hemdknopf, der sich durch Fräulein Skyes Engagement aus seinem Loch befreit hatte. "Wir sind dann fertig. Sie können einsteigen", ermunterte ich die Damen und Herren. Ich fand Fräulein Skye an ihrem Schreibtisch, mit Zornesfalten und wieder mal auf diesem Süßkram kauend, aber – und das war die Hauptsache – sie war da! Ich zog mir einen Stuhl heran und wir spielten ein paar Minuten Wettglotzen, wobei Fräulein Skye darin nicht ganz so versiert war wie Daryan. Es gab sogar Gerüchte, wonach Tatverdächtige im Verhör mit ihm besonders schnell geständig waren. "Ich brauche die Akten zurück, damit ich den Fall bearbeiten kann", nuschelte sie in einen ihrer Kekse. "Verzichten wir erstmal auf das Kleingedruckte. Ich habe da etwas im Sinn mit mehr Unterhaltungspotential, ja?" Fräulein Skye hatte natürlich keine Ahnung, worauf ich hinaus wollte, von daher sah sie mich äußerst skeptisch an. "Nur ein kleiner Betriebsausflug zum Familiensitz der Cadaverinis." Ich erhob mich von meinem Stuhl und streckte mich ausgiebig. Die Nacht im Büro hatte ich nicht sehr bequem geschlafen, das merkte ich jetzt, wo mir der Rücken schmerzte. "Ich hole Sie in einer Stunde hier ab, Fräulein Skye. Vorher muss ich noch was Dringendes erledigen." Vielleicht war mein Vorhaben nicht von außerordentlicher Bedeutsamkeit, denn ich hatte nur das dringende Bedürfnis nach einer Dusche und frischen Klamotten, aber so genau musste ich ihr das nicht aufs Auge drücken. Aber Fräulein Skye wäre nicht Fräulein Skye, wenn sie auch hier nicht irgendetwas zu beanstanden hätte und so donnerte ihre Stimme über den verlassenen Flur der Abteilung Drei, während ich schon die ersten Stufen im Treppenhaus nahm. "Moment! Was meinen Sie mit abholen?! Nennen Sie mir einfach die Adresse, okay?" Als ich draußen mein Motorrad bestieg, fuhr ich nicht sofort los, sondern zückte mein Handy. "Flowership Company, Sie sprechen mit Hillary." "Einen wunderschönen Tag, Hillary. Hier ist Klavier Gavin." "Mr. Gavin! Was kann ich heute für Sie tun?" "Ich brauche einhundert Rote Rosen, langstielig, und ich will dreist sein: So schnell wie möglich." "Sie haben Glück, dass der Lieferant gerade da war. Holen Sie die Rosen ab oder sollen sie durch einen Boten überbracht werden?" "... Warten Sie. Streichen Sie die Rosen." Ein kleiner Teufel hatte mich geritten bei der Wahl meiner Blumen. Das hätte die Empfängerin nur unnötig in Verlegenheit gebracht. Ich überlegte fieberhaft nach einer passenden Alternative. "Vielleicht kann Ihnen helfen, Mr. Gavin?" "... Jasmin! Haben Sie Jasmin-Blumen da?" "Da muss ich leider passen, aber ich könnte jemanden zum Großmarkt schicken. Brauchen Sie die gleiche Menge?" "Ja, einhundert Stück. Fügen Sie bitte noch einen Dankesgruß hinzu, möglichst schlicht. Ach, und das Ganze geht dann per Bote an Diane Freyer." Ich buchstabierte ihr den Namen, ebenso die Adresse von Dianes Büro und ließ mir versichern, dass mein Blumengruß innerhalb der nächsten drei Stunden bei ihr ankam. Zufrieden drehte ich meinen Motorradschlüssel und hätte bei aller Euphorie, die mich gerade durchströmte, fast den armen Gumshoe über den Haufen gefahren. 03. Oct. 2025 - Ema ------------------- Munch. Munch. Munch. Ich saß draußen vor dem Präsidium auf einem verlassenen Fahrradständer und vertilgte meine zweite Tüte Snackoos. Munch. Munch. Munch. Als ich vor zwei Stunden herkam um meine Sachen abzuholen, hätte ich mit allem Möglichen gerechnet, aber ganz sicher nicht damit, dass Gavin es schaffen würde, mir meine Kündigung auszureden. Munch. Munch. Munch. Ich gab es ungern zu, aber ja, Gavin hatte Recht. Ein bischen zumindest. Ich hatte mir ein Eigentor geschossen, indem ich einfach vom Dach geflüchtet war und dann eine Kündigung hinterher geworfen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Munch. Munch. Munch. Gavin musste Oberinspektor Gumshoe ordentlich unter Druck gesetzt haben, denn als er mich vorhin im Großraumbüro erblickte hatte, konnte er sich nicht entscheiden, ob er mich anbrüllen oder sich über meine Anwesenheit freuen sollte. Munch. Munch. Munch. Die Snackootüte war schon wieder alle und ich durchwühlte meine Tasche nach der dritten, die noch da drin sein musste. Ich hatte sie gerade in die Hand bekommen, da setzte mein Herz kurz aus, weil ein lila Höllenfahrzeug mit ohrenbetäubendem Krach neben mir zum Stehen kam. "Müssen Sie mich so erschrecken!?" Gavin nahm den Helm ab und drehte den Schlüssel, womit sich wenigstens diese nervigen Motorgeräusche aus meinen Ohren verabschiedeten. "Schon startklar? Scheint, als wären Sie richtig heiß auf unseren Ausflug. Na dann will ich Sie nicht weiter auf die Folter spannen. Leider habe ich den Zweithelm vergessen. Sie müssen mit meinem Vorlieb nehmen, ja?" PF! So was Eingebildetes. Selbst sein Helm war mit diesem spitzgezackten 'G' verziert. Reichte ja schon, dass dieser Buchstabe an seiner protzigen Halskette baumelte. Und ich hatte ganz sicher nicht vor, mit dem Glimmerfop auf diesem noch protzigeren Motorrad durch die Gegend zu fahren. "Sagen Sie mir einfach, wo ich hin muss und wir treffen uns dort", schlug ich vor. "Wir wollen Ihre Spesenkosten nicht überstrapazieren, Fräulein Skye. Sie können nicht jedes Mal mit dem Taxi fahren." "Sie lassen mir ja keine Wahl. Der Bus ist Ihnen zu langsam und einen Führerschein habe ich nicht." Gavins Finger trommelten auf dem Helm einen kurzen, prägnanten Rhythmus. "Natürlich haben Sie eine Wahl. Ja oder Nein." "Ich werde keinen Fuß auf dieses Ding setzen!" "Sie sollen ja auch nicht drauf stehen, sondern sitzen. Wovor haben Sie Angst?" "Ich hab keine Angst", sagte ich hastig. Er betrachtete seinen Helm und sah mich dann auffordernd an. Munch. Munch. Munch. Ich sah ja ein, dass eine Befragung der Cadaverinis nötig war. Wir hatten einfach zu wenig Indizien und es gab keine Hinweise, dass Louis Hiller etwas mit Enzo Cadaverini zu tun hatte. Munch. Munch. Munch. Argh! Wieso konnte Gavin nicht einfach ein Auto fahren wie jeder andere auch? Munch. Munch. Munch. "Ich werde jetzt bis Drei zählen. Wenn Sie dann nicht hinter mir sitzen, werde ich persönlich nachhelfen. Haben Sie das, Fräulein? Eins... Zwei..." Persönlich?! "... Drei." "Schon gut!" Ich schnappte ihm unwirsch den Helm aus den Händen. Es war alles andere als einfach, meinen Kopf in dieses Teil zu pressen und sobald ich drinnen steckte, hatte ich das Gefühl, einen Betoneimer zu balancieren. Die Quetschung meiner Wangenknochen tat ihr Übriges. Mich hinter Gavin zu platzieren, bekam ich gerade noch auf die Reihe, aber er war mir viel zu nah. Ich schob meine Tasche zwischen uns. Er ließ den Motor an und neigte den Kopf nach hinten. "Sie müssen sich schon an mir festhalten, sonst verliere ich Sie auf halber Strecke." Ich hätte ihn lieber von hinten erwürgt, aber diese Motorvibrationen schüttelten meine Knochen und Muskeln auf das Übelste durch, sodass er es womöglich noch als Nackenmassage verstanden hätte. Widerwillig und eher halbherzig legte ich meine Hände an seine Hüften. "Ich fahr jetzt los, ja?" PF! Sollte das eine Warnung sein? Drohung! Die Startbeschleunigung dieses Ungeheuers war so brutal, dass ich mich reflexartig an Gavin klammerte. Ich musste die Augen zusammenkneifen, weil die vorbei zischenden Passanten, Gebäude und Bäume einen Kollateralschaden in meinem Magen verursachten. Jedes mal, wenn das Motorrad sich nur ein bischen in Richtung Boden neigte – welcher Idiot hatte die bescheuerten Kurven erfunden? – krallte ich mich ein wenig fester in Gavins Jacke. Wenn ich ihm schon nichts Körperliches antun konnte, so hoffte ich, dass er hiernach aussah wie ein Dompteur am ersten Ausbildungstag! Die Augen öffnete ich erst nach einer ganzen Weile wieder, als das Motorrad auf einer Geraden fuhr – auf dem Freeway! Lag der Sitz der Cadaverinis in Nebraska oder was?! Dieser Clan fuhrwerkte doch ohnenhin bei uns im sechzehnten Bezirk, also warum wohnten sie nicht dort? Ich bereute, dass ich die Augen geöffnet hatte, denn in meinem Kopf fuhr eine Achterbahn rauf und runter. Die Fragen konnte ich mir immer noch für später aufheben... falls ich je lebend von diesem Geschoss runter kam. Keine Ahnung, wie lange Gavin schon gefahren war oder wie viel Weg noch vor uns lag; irgendwann hatte ich jedes Zeitgespür verloren. Nach gefühlten drei Stunden war alles vorbei. Zögerlich und ganz taub von den Motorvibrationen, versuchte ich von diesem Ding runter zu klettern. Meine Knie wurden weich, als ich festen Boden unter meine Füße bekam. Mir ging es auch nicht besser, nachdem ich diesen Helm abgezogen hatte. "Alles in Ordnung?", hörte ich Gavin sagen und es klang, als ob er Meilen weit weg stand. "Klappe." Laufen war keine so gute Idee. Als Kind wollte ich immer wissen, wie es sich anfühlte, über Wackelpudding zu laufen – jetzt wusste ich es. Das Schlimmste war die Achterbahn in meinem Kopf, die sich langsam aber sicher in eine Loopingattraktion verwandelte. "Kann es sein, dass Sie zittern?" Oh, bitte! Konnte er die scheinheilige Tour nicht einfach lassen?! Ich schleppte mich zum nächsten Baum und ermahnte mich, dass frische Luft gut tat, und ich nur ruhig und gleichmäßig atmen müsse. Im nächsten Moment übergab ich mich über einen heruntergefallenen Ast. Damit minimierte sich wenigstens das drückende Gefühl in meinem Magen und die Loopingattraktion war auch pleite gegangen. Ein Stofftaschentuch wurde in mein Sichtfeld geschoben. Nachdem ich mir den Mund abgewischt hatte, inspizierte ich es kurz. Schon wieder grinste mich dieses 'G' auf dunkellila Hintergrund an. Zum Glück war mein Magen leer. "Wie fühlen Sie sich?" Ich starrte Gavin stocksauer an. Ihm kam natürlich nicht in den Sinn, mich einfach in Ruhe zu lassen, stattdessen trat er näher um mir aufzuhelfen. "Danke, ich kann allein gehen!" Das stimmte und als ich über den nächsten Ast stolperte, versuchte ich es wie Absicht aussehen zu lassen. Leider war Gavin darauf erpicht, mit mir Schritt zu halten. "So warten Sie doch." "Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen!" "Fräulein Skye, bitte." Er versuchte mich am Arm zurück zu halten, doch ich schüttelte ihn ab und setzte energisch meinen Weg fort. "Noch ein Wort von Ihnen und ich mache aus Ihrem Monster da hinten Altmetall!" "Dann zwei Worte, ja? Falsche Richtung." Ich blieb stehen, betrachtete die breitgefächerte Baumarmee vor meinen Augen und meine kombinationsbegabte Stimme flüsterte mir zu, dass die Cadaverinis vermutlich nicht im Wald lebten. "... Das wusste ich!" Die Gegenrichtung sah schon etwas zivilisierter aus: Umzäunte Einfamilienhäuser mit Vorgärten standen ordentlich aneinander gereiht. Das hier war so eine typische Kleinfamilienpampa mit immer netten Nachbarn, die immer nett grüßten und deren Pointe stets darin bestand, was der Quadratmeter Rollrasen gekostet hatte. Und hier sollte eine Verbrecherorganisation hausen? "Welches der Häuser ist es?"Gavins Blick ging an der Siedlung vorbei... sehr deutlich vorbei! "Da oben?", fragte ich entsetzt und zeigte überflüssigerweise auf ein riesiges Anwesen, das einsam auf einem Hügel stand und das ziemlich weit weg. "Wieso haben Sie Ihr Motorrad dann hier geparkt?" "Ich hänge daran", antwortete er nonchalant. Ich hatte keinen Schimmer, was er damit andeuten wollte. Es war ja nicht so, dass wir in einer zwielichtigen Hinterhofsgasse standen. Demnach war er nicht nur 'G' wie großkotzig, auch noch 'P' wie paranoid. Ich verspürte keine große Lust über diesen Hügel zu kraxeln, aber Gavin war schon ein gutes Stück voraus gegangen und bevor ich in dieser Pampa versauerte, beeilte ich mich, ihn einzuholen. "Wie sind die Cadaverinis denn so?" Als Mr. Edgeworth gestern von Clans gesprochen hatte, waren mir hierzu lauter alte Mafiafilme in den Sinn gekommen. "Man muss sich mit ihnen arrangieren, das ist alles." Ich beäugte Gavin skeptisch von der Seite. Gehörte er etwa zu der bestechlichen Sorte Staatsanwalt, die ein mildes Urteil in Aussicht stellten oder gar nicht erst Anklage erhoben, solange die Cadaverinis sich arrangierten? "Das sind Verbrecher." "Der Cadaverini-Clan hat seine eigene Auffassung von Recht und Moral." Also doch die Mafia. PF! Ich fragte mich, welche Unsummen von Schmiergeldern jährlich flossen, nur damit sie ihren Strafen entgingen. "Und welche Auffassung haben Sie von Recht und Moral, Mr. Gavin?" "Ich? Ich bitte Sie. Mich interessiert nur die Wahrheit." Und eine dämlichere Ausrede haben Sie nicht?, dachte ich bei mir, aber Gavin wirkte auf eine seltsame Art abwesend, von daher verkniff ich mir meine Spitze. Außerdem ging es immer steiler bergauf, was das Sprechen bei seinem Lauftempo erschwerte. Je dichter wir diesem Anwesen kamen, desto mulmiger wurde es mir. Was, wenn ich die falschen Fragen stellte? Die Villa sah von außen zwar harmlos aus – ganz hell mit Säulen und einer üppigen Terrasse – doch in der Küche kochte vielleicht der Kopf eines Jemanden, der zu viel wusste. Nach einer halben Stunde Fußmarsch näherten wir uns einer Steinmauer, sie war nicht hoch, vielleicht zwei Meter; und kaum, dass wir über die Auffahrt gingen, knirschte Kies unter meinen Sohlen. "Wie dekadent die Kugel brennt, der Tote schweigt nicht auf Papier, und wenn du gegen Winde drängst, so steht ein Gavin vor der Tür." Wer hatte da gesprochen? In der Nähe stand keine Person, der ich diese Stimme zuordnen konnte. Gavin hatte den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzogen und suchte die Umgebung ab; sein Blick blieb an der Mauer haften, die wir gerade passiert hatten: Jemand lag dort oben! Ein Bein baumelte hinab, das andere hatte der Mann angewinkelt. Seine Hand lag schützend über den Augen, damit die Mittagsstrahlen der Herbstsonne ihn nicht blendeten. Das hatte etwas von einem Panther, der sich zum Ruhen niedergelegt hatte und nur dessen zuckender Schwanz seine Wachsamkeit verriet. "Ich mag Ihren Sinn für Dramatik, Casey." Der Panther richtete sich auf und sprang vom Mauerwerk hinunter. Dann seufzte er theatralisch. "Ich bin solch ein Plappermaul. Reizend, dass Sie uns beehren, Klavier Gavin." Gavin missachtete die Hand, die ihm dieser Casey entgegen streckte. "Ladies first, möchte ich meinen." Ich konnte es gerade noch vermeiden, mit den Augen zu rollen – der Glimmerfop war schon unhöflich genug. "Wenn ich vorstellen darf, Fräulein Skye. Herr Justin Case." Ich lächelte verbissen, zum Zeichen, dass ich es vernommen hatte. Mr. Case trat vor und streckte nun mir seine Hand entgegen. "Für den Fall, nehmen Sie meine Karte." Zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger steckte tatsächlich eine Karte, aber ich hätte schwören können, dass seine Hand eben noch leer gewesen war. Wie hatte er.. .? "Stimmt etwas nicht?" Er neigte seinen Kopf näher zu meinem und schon meldete mein Hirn die nächste Irritation. Entweder trug er Kontaktlinsen oder es handelte sich hierbei um einen Gendefekt: Seine Augen waren so dunkel, dass ich nicht mal seine Pupillen erkennen konnte! Vielleicht wirkte es auch nur so, weil er ziemlich blass war. Alles in allem machte Mr. Case einen sehr vornehmen Eindruck auf mich. Der dunkelblaue Anzug saß wie maßgeschneidert und wenn man die schwarze Weste hinzunahm, erschien er wie ein Gentleman. Fehlte nur noch, dass er eine Taschenuhr aufklappte um uns zum Tee zu bitten. Dabei fiel mir ein, dass ich mich nicht sehr höflich benahm, wenn ich allzu lange seine Karte ignorierte, also nahm ich sie entgegen und schüttelte seine Hand. Die eine Seite der Karte zeigte ein merkwürdiges Emblem und die andere... nichts. War sie noch nicht fertig? Ich besah mir dieses Zeichen genauer: Eine Narrenkappe, umschlossen von einem Oval, in dessen Umrandung winzige Zahlen gestanzt waren. Ich wollte fast nach einer Lupe verlangen, aber konnte gerade noch erkennen, dass es sich um eine Handynummer handelte. "Fräulein Skye." Gavin und Mr. Case warteten an der Tür, also steckte ich die Karte weg und ging ihnen nach. Der Eingangsbereich war nicht sonderlich spannend: Knarzender Dielenboden und die Wände mit Landschaftsbildern vollgehangen. Imposant war höchstens die gewaltige Treppe mit den grauen Stufenteppichen, bei denen selbst Elefanten geräuschlos nach oben gekommen wären. Ich blickte verstohlen zu Mr. Case, den ich nicht richtig einzuschätzen vermochte. Da war zunächst die Tatsache, dass Gavin recht verhalten auf ihn reagiert hatte, dann die seltsame Visitenkarte und natürlich die Frage, was er mit den Cadaverinis zu tun hatte. "Sind Sie ein Freund der Familie, Mr. Case?" Meine Frage klang etwas zu beiläufig. Er hielt am unteren Treppenabsatz inne und drehte sich lächelnd zu mir um, obwohl seine Hand schon auf dem Geländer lag. "Beachten Sie mich nicht mehr als das Familieninventar." Hieß das jetzt Ja, ich bin ein Freund oder Nein, ich bin nur der Hausdiener oder Ich bin ein gesuchter Massenmörder und habe noch nicht alle Leichen vergraben? "Apropos Inventar, Casey", mischte Gavin sich ein. "Die Uhr steht Fräulein Skye besser, wenn ich das anmerken darf." Mr. Case betrachtete seine Handgelenk. "Es ist nicht ganz meine Farbe", sagte er gleichmütig. Was zum-?! Das war meine Uhr, die er am Handgelenk trug! "Geben Sie die her!", blaffte ich ihn an. Wann hatte er-? Oh, natürlich. Jetzt verstand ich auch, weshalb Gavin ihm nicht die Hand geben wollte. Und das mit der Karte war nur ein billiger Trick um mich abzulenken. Von wegen Gentleman – Justin Case war ein ausgekochter Dieb! Ich hörte Gavin lachen. "Nehmen Sie es ihm nicht übel. Es ist seine Art Hallo zu sagen, ja?" Schöne Art! Case warf mir die Uhr zu und schnalzte auch noch genießerisch mit der Zunge, dann nahm er die ersten Stufen. "Sie hätten mich wenigstens warnen können", zischte ich Gavin zu, als wir ihm langsam nach oben folgten. "Hätten Sie mir geglaubt?" Ich ließ das unkommentiert und durchwühlte meine Tasche. Nicht, dass diese diebische Elster mir noch mein Handy geklaut hatte oder sich gerade meine Snackoos schmecken ließ. Auf die Schnelle konnte ich nicht feststellen, dass etwas fehlte. War auch besser so für ihn. Und Eines musste ich ihm lassen: Seine Fingerfertigkeit war professionell. Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, wie er mir meine Uhr abgenommen hatte. Hmpf. Er führte uns in ein kleines, lichtdurchflutetes Zimmer, blieb jedoch im Türrahmen stehen. "Ich werde ihr sagen, dass Sie hier sind. Wobei ich nicht garantieren kann, dass sie Sie empfangen wird. Sie ist in Trauer." Ich wartete, bis Case verschwunden war und sah dann zu Gavin, der den Raum durchstreifte und diese kitschigen Möbel inspizierte. Solche hatte ich vor Jahren mal im Kunstunterricht in der Schule gesehen. Man nannte das Jugendstil oder so ähnlich. "Von wem sprach er gerade?" Als Gavin heute Vormittag erwähnt hatte, die Cadaverinis zu besuchen, hatte ich eine Kaschemme oder das finsterste Rattenloch erwartet – mit gorillamäßigen Schwerverbrechern, die Messer zwischen den Zähnen trugen, aber dieses Haus wirkte auf eine skurille Art freundlich und einladend... und verdächtig still, wenn man von dem Langfinger absah. "Viola Cadaverini. Sie ist der Kopf des Clans, seit ihr Großvater Bruto vor fünf Monaten das Zeitliche gesegnet hat." Bruto Cadaverini – sein Name stand in Mr. Edgeworth' Akte. "Ich wusste gar nicht, dass die Mafia so emanzipiert ist." Mehr hatte ich dazu nicht zu sagen. Falls diese Viola sich dazu herab ließ, mit uns zu sprechen, konnte ich mir mein eigenes Bild machen. Gavin gab es auf die Möbel zu begutachten und vermieste mir mit seiner Gestalt den Ausblick auf den Garten. Ich lehnte mich mit verschränkten Armen gegen das Fensterbrett. Gavin tat es mir gleich, sodass mir sein Aftershave in die Nase kroch. Konnte er sich nicht sein eigenes Fenster zum Langweilen suchen?! "Was machen wir, wenn sie nicht kommt?" "Dann werde ich sie per Vorladung zwingen müssen. In Violas Fall ist das ungünstig, ja? Sie wird dann immer etwas... dissonant." "Klingt, als hatten Sie schon oft mit ihr zu tun. Sie machen sich verdächtig, Mr. Gavin." Plötzlich hörte ich seine Stimme viel zu dicht an meinem Ohr. "Ist das ein neuer Punkt auf der charmanten Fräulein Skye-hasst-mich-Liste, ja?" Ich zupfte an meinem Ohrläppchen und rückte ein Stück von ihm ab. "Wenn Sie so weitermachen, können wir bald eine Buchreihe veröffentlichen", erwiderte ich honigsüß. "Ich steh auf Frauen mit einer geschickten Zunge, aber nehmen Sie den Mund nicht zu voll, bevor es peinlich wird." In meiner Hand begann es gefährlich zu kribbeln. "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mir das am Arsch vorbei geht", sagte ich betont gelangweilt. Er zog die Luft zwischen den Zähnen ein. "Das kann ich wirklich nicht. Ihr Kittel versperrt mir die Aussicht." Ich musste wirklich alles an Selbstbeherrschung opfern, damit ich Gavin für seine Anzüglichkeiten keine Ohrfeige verpasste, allein sein überhebliches Grinsen machte mich rasend! Sein Blick ging auf einmal zur Tür und als ich mich umdrehte, sah ich Case herein kommen, gefolgt von einer dürren Frau, die nicht viel größer als ein Kind war. Sie trug ein großes, mit Kuchen und Geschirr überladenes Tablett, und sah dabei so schwach aus, dass ich am liebsten auf sie zugeeilt wäre um ihr diese Last abzunehmen. "Setzen Sie sich... bitte... " Ich keuchte. Diese Stimme. Das Tablett in ihren Händen wog augenblicklich einige Gramm weniger und ich fragte mich, ob irgendwo zwischen den Kuchengabeln oder in der großen Kanne ein Messer versteckt lag. Eine Hand drückte mich mit sanfter Gewalt in Richtung des Sofas. Insgeheim war ich froh, dass Gavin mir die Entscheidung abnahm, von allein hätte ich keinen Fuß in ihre Nähe gesetzt. Als wir dann saßen, fühlte ich mich auf diesem Zweisitzer total eingeengt, der Glimmerfop machte sich mit dem angewinkelten Bein auf seinem Knie dermaßen breit, dass ich tief ins Polster sinken musste um wenigstens ein bischen Platz zu haben. "... Kaffee... ?" Sie füllte die Tassen, ohne unsere Antwort abzuwarten. Das war doch... normal, oder? Da war nichts drin außer Dihydroxyzimtsäure, Wasser und Koffein? Mir fiel ein, dass ich heute Morgen schon eine halbe Tasse getrunken hatte und da man es mit Genussmitteln nicht übertreiben sollte, beschloss ich, den Kaffee einfach zu ignorieren. Viola Cadaverini nahm auf der Kante ihres Polstersessels uns gegenüber Platz und legte die Hände in den Schoß. Mein Blick ging kurz zu Case, der etwas abseits am Fenster stand und den Eindruck vermittelte, als ginge ihn das hier nichts an. "Wo ist Mr. Crescend?", fragte sie in einer schneidenden Weise, die mir alle Nackenhaare in die Höhe trieben. Sie konnte nichts für ihre Stimme, aber sie klang so ölig und schnarrend, dass mein Bewusstsein panisch danach verlangte, auszubrechen um dann sterben zu können. "Mr. Crescend wurde mit anderen Dingen vertraut. Stören Sie sich nicht an Fräulein Skye, ja?" Musste er unbedingt ihre Aufmerksamkeit so direkt auf mich lenken?! Und was sollte das überhaupt heißen, sie solle sich nicht an mir stören? Viola begutachtete mich nur kurz, aber das reichte schon, um mein Bewusstsein qualvoll aufheulen zu lassen. Gavin gab einen Schuss Milch in seinen Kaffee und ich hielt kurz den Atem an, als er ihn tatsächlich probierte. "Zunächst möchte ich mein Beileid zum Tod Ihres Onkels kundtun", fuhr er fort und es klang nach Bedauern über schlechtes Wetter, wenn man ohnehin vorhatte, den Tag auf der Couch zu verbringen. "Leider muss ich darauf bestehen, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten, die uns zur Aufklärung bezüglich des Mordes an Enzo weiterhelfen können." Den unbequemen Fragenmarathon wollte ich Gavin überlassen, immerhin hatte er den Startschuss erteilt. Davon abgesehen hatte etwas anderes meine Aufmerksamkeit in Beschlag genommen: Ein hüpfendes JoJo am Fenster, bespielt von Justin Case. Viola Cadaverini war schon kein Nervenbalsam, aber bei diesem Kasper im Maßanzug wollte ich augenblicklich in die Tischkante beißen! Warum verließ er nicht einfach das Zimmer, wenn er sich langweilte? Case fing meinen Blick auf und lächelte spitz, dann ließ er sein Spielzeug einmal im Kreis tanzen und vollführte einige, schnell aufeinander folgende Tricks, dass ich mich fragte, warum dieses JoJo sich nicht verhedderte. Das war... gut. Als nächstes formte er eine schmale Ellipse und bewegte das JoJo so geschickt nach oben, dass es aussah, als ob jemand in eine Fahrradpedale trat. Ich fand es fast ein bischen schade, als er zum nächsten Trick überging. Er ließ ein kleines Karo entstehen und spann darum weitere Linien, sodass sie nach und nach ein Netz ergaben. Ganz plötzlich schubste er das Jojo in die Verflechtung, dann bewegte es sich nicht mehr. Wie eine Fliege, die in einem Spinnennetz klebte und auf ihren sicheren Tod wartete. Ich schluckte. "... Sie trinken Ihren Kaffee gar nicht..." Der Satz kroch mir eiskalt den Rücken runter, als hätte jemand mit furchtbar langen Fingernägeln über eine Schiefertafel gekratzt. "Doch", erwiderte ich mit piepsiger Heiserkeit und griff nach der Tasse. Mein Blick erhaschte kurz den Glimmerfop, der noch recht munter neben mir saß. Ich setzte die Tasse zum Trinken an, benetzte aber nur meine Lippen. "Hatte Ihr Onkel Streit mit Jemanden, so etwas wie einen Feind?", fragte Gavin. "Außer dem Gesindel der anderen Bezirke... Nein, ich glaube nicht." "Mit Gesindel meinen Sie die Kitakis?", fragte ich nach, nur um sicher zu gehen, dass Enzo Cadaverini nicht mit der halben Stadt im Clinch lag. "Bitte erwähnen Sie diesen Namen hier nicht, sonst..." Sonst hing mein Kopf mit Rasierklingen ausstaffiert als Mahnmal über der Eingangstür?! "... bekomme ich Migräne." Ach so. "Gibt es Hinweise darauf, dass er sich mit einem von ihnen treffen wollte in der Tatnacht?", hakte Gavin nach. "Nach meinen Kenntnissen war er mit Louis Hiller verabredet." Gavin sah mich für einen Moment bedeutungsvoll an, wobei ich keine Ahnung hatte, inwiefern er sich mit dem Fall auseinander gesetzt hatte. Fakt war, dass ich gestern bei Mr. Bennett eine Schmauchspuranalyse erfragt hatte. Dummerweise wusste ich nicht, ob hierzu schon ein Ergebnis vorlag, aber ich konnte jetzt auch nicht aufstehen und das Ganze telefonisch nachholen. "Ich bin sehr gespannt, was Sie uns über Louis Hiller zu erzählen haben, ja?" Gavin wurde von Viola von oben bis unten gemustert, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Und dann kratzten die Fingernägel wieder über die Schiefertafel, brachten meine Fußnägel zum Hochrollen und mein armes, kleines Bewusstsein kauerte wimmernd in der Ecke. Sie gackerte so unheimlich, dass ich mir nur noch die Ohren zuhalten wollte, einzig die Kaffeetasse in meiner Hand hielt mich davon ab. "Louis Hiller war ein Freak... in jeder Hinsicht... " Gavin nahm den Fuß von seinem Knie und lehnte sich nach vorn. "Ich hab was übrig für Freaks", sagte er begeistert, als hätte sie ihm gerade den Heiligen Gral vor die Nase gesetzt. Wenigstens führte es dazu, dass ich etwas mehr Platz für mich beanspruchen konnte. Viola wandte zum ersten Mal den Blick von uns ab und betrachtete den Tisch, während sie sprach: "Sie erinnern sich doch an den Prozess, bei dem Sie Anklage führten... gegen diesen Abschaum, der meinen Großvater ermordete... Ich werde niemals vergessen, dass Sie auf gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge plädiert haben, Mr. Gavin..." Er lächelte milde. "Ich verstehe Ihren Unmut, aber Ihr Großvater starb bei einem Schusswechsel, den er – zahlreichen Zeugen nach – sogar provoziert hatte. Aber was hat das mit Louis Hiller zu tun?" Viola sah vom Tisch auf. "Er tauchte keine drei Tage später bei uns auf... Darf es ein Stück Kuchen sein?... " "Ich bitte darum, ja?" Ich schaute irritiert zu, wie Gavin sich von Viola ein Stück von diesem Streuselkuchen geben ließ. Sicher, der Kuchen war schon angeschnitten, aber das hieß ja nicht, dass man den Tortenheber nicht als Mordwaffe gebrauchen konnte. Hinter Violas Kopf tänzelte eine Tasse: Case machte sich wieder über mich lustig, indem er mit seinem bescheuerten JoJo eine Tasse samt Untersetzer gebildet hatte und sie theatralisch hin- und herschwenkte. PF! Ich besah mir kurz die Tasse in meinen Händen und trank den Kaffee dann in einem Zug aus. Daraufhin lobte mich Case mit der verständlichsten aller pantomimischen Gesten und verneigte sich. So ein Blödaffe. Gavin hielt mir einen Teller unter die Nase. "Hier, probieren Sie mal." Der verräterische Duft von Zimt und warmen Äpfeln vereitelte mein Vorhaben, mich mit einer Diät rauszureden. Ich schielte kurz zu Gavins Teller. "Sie zuerst", flüsterte ich. Er ließ sich den ersten Happen schmecken und da er keine Anstalten machte, auf dem Teppich zu verrecken, schob ich mir ein Stück in den Mund. Das war der beste Apfelkuchen, den ich je gekostet hatte. "... Ich habe ihn selbst gebacken... nach alter Familientradition... Hi... Hi... Hi..." Prompt verirrten sich ein paar Krümel in meine Luftröhre, was damit endete, dass ich wild hustend vom Sofa rutschte. Nachdem ich mich von meinem Anfall erholt hatte, ließ ich mir von Case ein Glas Wasser geben und setzte mich zurück an meinen Platz. Hoffentlich war dieses Gespräch bald zu Ende, bevor mich dieses Gruselpüppchen ins Grab schaffte, ohne dass man sie dafür beschuldigen konnte. "Was wollte Hiller von Ihnen?", nahm Gavin das Gespräch wieder auf. "Er behauptete, dass er bei uns einsteigen wolle... angeblich um uns zu helfen... er wusste verdammt viel über uns. Zu viel." "Und Sie haben ihn am Leben gelassen, ja?", fragte er, als sei es die unnatürlichste Sache der Welt. "Wissen Sie, ich liebe dieses Geräusch, wenn eine Klinge durch die Kehle geht... Manchmal gurgeln sie... Manchmal auch nicht... Hi... Hi... Hi..." Der Apfelkuchen in meinem Magen fing an Kongareihe zu tanzen. Ich musste hier ganz dringend raus! Doch kaum dass ich ein Stück nach vorn gerutscht war um aufzustehen, hielt Gavin mich zurück, indem er seine Hand auf meine legte. Sein Blick ruhte starr auf Viola und er schüttelte dezent den Kopf. "Seine Fähigkeiten am Computer waren von großen Nutzen für uns... ein erstklassiker Cracker, der wusste, wie man Informationen beschaffte... Deshalb ließen wir ihn am Leben." "Und jetzt ist er tot." "Ich garantiere Ihnen, dass ich damit nichts zu tun habe... Auch wenn ich nicht abstreiten will, dass mir sein Tod gelegen kam. Hiller wurde mit der Zeit lästig." Gavins Hand verkrampfte sich und ich zog deshalb meine weg. Er schien irgendwas bemerkt zu haben, was mir entgangen war. "Hatten Louis Hiller und Ihr Onkel in letzter Zeit viel miteinander zu tun? Wurde Ihnen das vielleicht lästig?" Er klang immer noch freundlich, aber etwas in seiner Stimme hatte sich verändert, da lauerte Argwohn. Viola antwortete nicht, stattdessen drehte sie ihren Kopf zu Case, der daraufhin näher trat. Nachdem sie ihm etwas ins Ohr getuschelt hatte, verließ er das Zimmer. Sollte er jetzt etwa ein großes Messer holen, damit sie in den Genuss unserer gurgelnden Kehlen kam? "Ich habe etwas, das Sie vielleicht interessieren könnte, Mr. Gavin... Es kam heute Morgen per Eilbote... Hi... Hi... Hi..." Mit seiner Geduld war es auffallend vorbei, alle Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden, nicht einmal ein wächsernes Lächeln war noch übrig. Case kehrte mit einem Postumschlag zurück und überreichte ihn wortlos an Gavin. Aus dem Umschlag holte er ein Blatt Papier... und einen durchsichtigen Plastikbeutel mit einer Kurzwaffe! Ich riss Gavin den Beutel aus der Hand um mir die Pistole genauer anzusehen. Das war eine 9mm Glock 18C. Die kannte ich noch vom Schießstand in der Polizeischule, eine Vollautomatik, die gut in der Hand lag und durch ihren geringen Rückstoß eine solide Trefferquote hatte... selbst für unerfahrende Schützen. In meinem Hirn klingelte die Info über die Kugel, welche Enzo Cadaverini entnommen wurde: Eine 9mm Parabellum. Was zum-?! Gavin hielt mir das Papier vor die Nase. In fettgedruckter Computerschrift stand dort: Sobald Staatsanwalt Gavin bei Ihnen eintrifft, übermitteln Sie ihm bitte dieses kleine Zugeständnis meinerseits. Wenn Sie die Waffe berühren, sind Sie tot. "Was für ein krankes Spiel ist das?", fragte Gavin und sah Viola durchdringend an. "Dasselbe wollte ich Sie fragen...", erwiderte sie nüchtern. "Über die Frage können wir demnächst beim Haftrichter sinnieren, ja?" Gavin erhob sich und wandte sich zum Gehen. Ich war ziemlich erleichtert, dass ich hier endlich rauskonnte, also folgte ich ihm schnell. Wir waren noch nicht ganz bei der Tür angekommen, da hörte ich Jemanden lachen. Es war zur Abwechslung nicht dieses unheimliche Gackern, viel mehr klang es, als käme es aus tiefstem Herzen. "Nicht so schnell, kleiner Staatsanwalt." Justin Case spielte sein JoJo vor und zurück und musterte uns amüsiert. "Sie wollen einen Haftbefehl gegen Viola einleiten? Kommen Sie, wo bleibt denn da der Spaß?" Ich hatte keine Ahnung, weshalb Case sich ausgerechnet jetzt einmischte. "Ich kann mir ja zur Verhandlung eine Clownsnase aufsetzen, vielleicht wird es dann für Sie spaßiger." Case steckte seine JoJo weg und machte Eindruck, als denke er intensiv über Gavins Vorschlag nach. "Würden Sie das tun? Ich mag Sie, Klavier Gavin! Sie sind Jemand, der auch mal was riskiert und Opfer bringt. Auch wenn es heißt, eine Unschuldige anzuklagen. Der Fall muss schließlich vom Tisch, nicht wahr? Immer schnell und gründlich, unser kleiner Staatsanwalt. Weiter so!" "Sie können sich darauf verlassen, dass die Beweislast erdrückend sein wird... versprochen!" Case legte den Kopf schief und dann schlich sich gespielte Empörung auf sein Gesicht. "Nein! Sie haben ein Motiv. Was für ein gemeiner Hund Sie doch sind!" "... Von welchem Motiv sprechen Sie, Mr. Case?..." Viola saß immer noch unbewegt auf der Stuhlkante, die Hände im Schoß gefaltet. Case drehte sich zu ihr um und lächelte sie offenherzig an. "Sie waren vorhin etwas unpräzise bezüglich der toten Herrschaften. Und das hat den Staatsanwalt misstrauisch gemacht. Er glaubt, dass Sie Ihren Onkel ermordet haben oder einen Auftragskiller engagierten. Und bei der Gelegenheit hat sie wohl gleich noch Louis Hiller ausgeschaltet, Mr. Staatsanwalt?" Ich sah zu Gavin und verstand einfach nicht, wie er in dieser Situation noch ruhig bleiben konnte. Warum sagte er nichts? "... Weshalb sollte ich meinen Onkel tot sehen wollen?" "Nachdem der große Bruto – möge er in Frieden ruhen – so plötzlich abdanken musste, stand die Frage seines Nachfolgers im Raum. Zum Einen Sie, seine Lieblingsenkelin... und dann noch der Großneffe, von dem man sagte, er habe Führungsqualitäten. Der kleine Machtkampf wurde zum spannenden Zuschauersport für die Medien und natürlich auch für unsere Freunde von der Staatsanwaltschaft." "... Ich bin das Oberhaupt..." "Das weiß er, aber er wird behaupten, dass sie stets um Ihre Stellung fürchten mussten." Case drehte den Kopf zu uns und grinste spitzbübisch. "Alles richtig soweit?" "Absolut. Gut gesprochen, Casey." Wieso ließ Gavin sich von diesem Kasper so vorführen und stimmte ihm auch noch zu?! "Ich frage mich, was Sie eigentlich mit der ganzen Sache zu tun haben, Mr. Case. Wer sind Sie?" "... Mr. Case ist mein Anwalt... Haben Sie das nicht gewusst? Hi... Hi... Hi..." Mir blieb die Luft weg. Anwalt? Er?! "Das haben Sie sich doch gerade ausgedacht!" "Justin Case ist als Strafverteidiger exklusiv an die Cadaverinis gebunden, Fräulein Skye." Ich kam mir schon wieder unendlich dämlich vor. Wann wollte Gavin mir das mitteilen? "Genug herumgealbert!" Case trat dicht vor Gavin, dabei fiel mir auf, dass sie gleich groß waren. "Haben Sie vor Viola anzuklagen? Ja, nein, vielleicht?" "Ich will Ihnen die Überraschung nicht verderben. Wo bleibt denn da der Spaß?" "Klavier Gavin, Sie möchten sich vor Gericht nicht blamieren. Ich werde Sie in der Luft zerreißen", säuselte Case. "Damit kann ich leben." "... Mr. Case?... " Obwohl Sie nur ihren Anwalt gemeint hatte, drehten wir uns alle drei zu ihr um. "... Ich werde mich jetzt hinlegen... Bereiten Sie unserem Besuch einen würdigen Abschied..." Case hielt uns die Tür auf und begleitete uns auch jojospielend die Treppe hinunter. Draußen pfiff er anerkennend. "Wo haben Sie Ihre Vendetta geparkt?" "Nachdem Sie beim letzten Mal meine Maschine mit einem Einhorn und Glitzerpuder verziert haben, wollte ich Sie nicht wieder in Versuchung führen. Der Edding klebte ziemlich hartnäckig am Lack, ja?" Mit der Hand vor dem Mund musste ich mich abwenden, weil die Vorstellung eines funkelnden Einhorns auf Gavins Motorrad zu köstlich war. "Fräulein Skye, kommen Sie?" "Ich werde mir ein Taxi rufen. Und es ist mir egal, wie teuer die Rechnung wird. Ich fahre nie wieder mit Ihrem Monster!", stellte ich klar. Noch eine Fahrt auf diesem Höllenfahrzeug und ich war auf ein Spenderorgan angewiesen. "Wenn Sie in die Stadt wollen, kann ich Sie ein Stück mitnehmen", schlug Case vor und zeigte auf ein dunkelblaues Auto hinter sich. "Natürlich nur, wenn Ihr Partner nichts dagegen hat." Gavin zuckte mit den Schultern, anscheinend war es ihm gleichgültig. Das Angebot klang verlockend, aber Justin Case hatte mir meine Uhr geklaut, sich über mich lustig gemacht und war obendrein der Strafverteidiger einer blutrünstigen Sippschaft. Ich konnte mich wirklich nicht entscheiden, ob er oder Gavins Fahrkünste das kleinere Übel waren. Der Glimmerfop nahm mich beiseite um ein Gespräch unter vier Augen anzuzetteln. "Sie können sich den Rest des Tages freinehmen. Ich fahre jetzt in die Forensik und übergebe den Umschlag zur Analyse und fahre danach zum Gericht. Morgen Früh werden Sie eine Durchsuchungsanordnung zu Hillers Wohnung in Ihrem Fach finden. Ich werde Ihnen Mr. Bennett und zwei bis drei Leute seiner Abteilung zur Seite stellen. Kriegen Sie das hin, Fräulein Skye?" "Denke schon", murmelte ich und warf einen Blick zu Case, der, an sein Auto gelehnt, wieder irgendwelche Figuren mit seinem JoJo formte. "Und Sie meinen, ich kann zu ihm ins Auto steigen... ohne Bedenken?" Nicht, dass ich auf seine Meinung scharf war, aber er kannte ihn nun mal besser als ich. Gavin sah kurz grinsend zu Case, dann wieder zu mir. "Er ist ein Schlitzohr, aber er fände es sehr unspaßig, wenn Sie Angst vor ihm hätten, ja?" PF! Das klang so, als ob ich ein Hasenfuß wäre! Ich sah zu, wie Gavin sich mit großen Schritten entfernte und als er hinter der Mauer verschwand, schlenderte ich zu Case, der sein JoJo weg gesteckt hatte und mir die Beifahrertür offen hielt. 03. Oct. 2025 - Klavier ----------------------- Die Uhr in Mr. Bennetts Büro tickte ungewöhnlich laut. Ich saß hier nicht zum ersten Mal. Die forensische Abteilung gehörte zur wissenschaftlichen Fakultät, jedoch durfte man sie nur mit gesonderter Befugnis betreten. Mr. Bennett kratzte sich mit dem kleinen Finger am schlecht rasierten Kinn. "Eine 18er Glock. Und die haben Sie bei den Cadaverinis eingesammelt?" "Wurde ihnen angeblich zugesandt." Wir betrachteten eine Weile die Waffe auf dem Tisch, die noch in ihrem Plastikbeutel steckte. Daneben lag das Computerschreiben und der Umschlag. Mr. Bennett deutete auf die Briefmarke. "Nach Untersuchung der Waffe schlage ich eine Echtheitsprüfung der Stempelung vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Mordwaffe postalisch versendet." Ich lehnte mich nach vorn und tippte auf das Computerschreiben. "Sollte es sich hierbei um die Mordwaffe handeln, mache ich mir eher Gedanken um diese Nachricht." Mr. Bennett gönnte dem Papier einen flüchtigen Blick. Zuvor hatte er es auch nur gelesen und dann schnell beiseite gelegt, als stünden die Wettervorhersagen der nächsten drei Tage darauf geschrieben. "Mit Sicherheit werden wir das in die Analyse einbeziehen, aber machen Sie sich um Himmels Willen keine Hoffnung. Die Zeiten, in denen mit ausgeschnittenen Buchstaben hantiert wurde, sind vorbei. Da braucht nur eine Hautschuppe oder Textilfaser vom Verfasser unbemerkt aufs Papier kommen. Die Gefahr ist einfach zu groß." "Mir geht es nicht um DNA-Spuren. Mein Name steht da drauf, ja? Ich werde indirekt angesprochen!" War ich der Einzige, der sich darum scherte? Schon Fräulein Skye hatte bei dem Text keine Mine verzogen. Enzo Cadaverinis Leiche wurde über mehrere Bezirke verschleppt, von der Mordwaffe fehlte jede Spur und kaum, dass ich bei den Cadaverinis aufkreuzte, bekam ich ein kleines Zugeständnis. Für mich erhärtete sich der Verdacht, dass es sich um ein inszeniertes Spiel handelte, nur konnte ich noch nicht bestimmen, welche Rolle mir hierbei zugedacht wurde oder wer tatsächlich die Fäden aus dem Hintergrund zog. "Wessen DNA-Spuren werden berücksichtigt?", fragte er und nahm sich einen Taschencomputer zur Hand. "Meine, die von Detective Skye und Ihre. Unter Vorbehalt: Viola Cadaverini und ihr Anwalt Justin Case. Ich kann nicht ausschließen, dass die beiden direkt in den Fall involviert sind. Insbesondere Fräulein Cadaverini können wir in den Kreis der Tatverdächtigen einschließen. Sie hat ein Motiv, wobei ich bezweifle, dass ihre Fingerabdrücke auf der Waffe zu finden sind. Falls sie die Täterin ist und die Umschlagzustellung vorgetäuscht hat, wird sie Handschuhe getragen oder jemand anderen mit dem Mord beauftragt haben." Mr. Bennett tippte mit geübter Fingerfertigkeit die Informationen in seinen Computer. Nebenbei fragte er: "Haben Sie schon Untersuchungshaft für Viola Cadaverini beantragt?" Eine berechtigte Frage und dennoch war die Antwort ganz offensichtlich. "Die gegenwärtige Beweislage rechtfertigt keine Kautionssperre. Sie würde sich frei kaufen." Ich hätte als triftigen Grund die Verdunkelungsgefahr angeben können. Hierbei wurden Personen in Untersuchungshaft genommen, bei denen Verdacht bestand, dass sie Beweise oder Zeugen manipulierten, und somit die Wahrheitsfindung erschwerten. Aber der freiwillig übergebene Umschlag hebelte diesen Verdacht aus, und genau das ließ Viola in meinen Augen als tatverdächtig erscheinen. Viel mehr als das Motiv, ja? "Vor Morgen wird die Analyse nicht abgeschlossen sein. Was kann ich sonst noch für Sie tun, Mr. Gavin?" "Die Durchsuchung von Hillers Wohnung wird Morgen durchgeführt. Ich werde nachher den richterlichen Beschluss einholen. Ein kleines Team aus Ihrer Abteilung sollte genügen um Detective Skye in der Ermittlungsarbeit zu unterstützen." Ich erhob mich, denn vorerst gab es nichts mehr zu besprechen. "Sollten sich unerwartete Details ergeben, möchte ich sofort informiert werden. Haben Sie noch meine Handynummer?" Mr. Bennett nickte. "Hab sie vergessen zu löschen." Ach, natürlich. Ich erinnerte mich an den Bruto Cadaverini-Fall, bei dessen gemeinsamer Zusammenarbeit Mr. Bennett oftmals betonte, wie sehr ihm meine Arbeitsweise missfiel. Solange seine Arbeitsweise mir nicht in die Quere kam, war alles im Lot, ja? Mittlerweile hatte er begriffen, dass nach meiner Gitarre getanzt wurde, ob ihm der Song gefiel oder nicht. Nach meinem Besuch in der Forensik fuhr ich zum Gericht. Nicht mal eine Stunde hatte es gedauert, bis ich den Anordnungsdurchschlag in den Händen hielt. Das Original nahm den Weg über einen Kurier ins Präsidium. Ich hatte gerade das Gerichtsgebäude verlassen, als mein Handy klingelte. Das Display kündigte auf eine sehr nüchterne Weise die Auseinandersetzung mit Daryan an. Es war überhaupt nicht seine Art, mich zu kontaktieren, wenn er einen Groll gegen mich hegte, vielmehr schmollte er so lange, bis ich mich bei ihm meldete. Entweder steckte er in ernsten Schwierigkeiten oder er war entgegen meiner Erwartung nicht auf mich sauer. Die erste Option klang plausibler. "Daryan, was ist los?", fragte ich betont sacht, damit er gleich raushörte, dass ich ihm zur Seite stehen würde, egal was passiert war. "Schwing deinen Arsch ins Studio. Wir machen gerade das Album komplett." Hatte ich was verpasst? Die fehlenden zwei Songs der neuen Gavinners-Platte sollten erst nächste Woche aufgenommen werden. "Wieso?", war das Intelligenteste, das ich gerade über die Lippen bringen konnte. "Frag nicht, komm einfach her. Und es interessiert mich einen Scheiß, ob dir gerade jemand 'ne Knarre an den Kopf hält oder sich unter dir 'ne Tussi räkelt. Du bist in zehn Minuten hier, sonst kannst du dir zu Weihnachten ein neues Gesicht wünschen." "Warte mal, ich-" Klack. Das war... einfach Daryan, ja? Für ein ein paar Sekunden starrte ich etwas perplex mein Handy an, entschied dann aber, dass ich wohl besser seiner "Bitte" nachkam, denn für gewöhnlich neigte er nicht zu leeren Drohungen. Ich hatte Glück, dass der Nachmittagsverkehr in L.A. noch nicht angebrochen war, so konnte ich mit gnadenloser Geschwindigkeitsüberschreitung Daryans Ultimatum gerecht werden. Ich parkte mein Bike in der Tiefgarage des Studiokomplexes der HBC – unserem Plattenlabel. Als ich in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl stieg, hörte ich schon von weitem wie Lenny und Daryan am offenen Flurfenster diskutieren. "Wenn ich noch eine Session mit diesem Kind ertragen muss, geb ich mir die Kugel!" "Jetzt mach mal halb lang, Lenny. Kann ja nicht jeder so 'n Mozartverschnitt sein wie du. Ike kriegt das noch hin." "Er hat es noch nie hinbekommen! In jeder verdammten Aufnahme dieses armselige Gezupfe. Und wenn er dann mal begreift, wie talentfrei er ist, bricht er in Tränen aus. Ich will mir diesen Scheiß nicht mehr anhören." Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, weil mir die ewigen Diskussionen um Ike auf die Nerven gingen. Lenny hatte nicht Unrecht mit seiner Kritik; es gab etliche Bassisten, die besser spielten als Ike, aber selbst wenn seine Leistung mal im soliden Bereich lag, ließ mein bandeigener Konzertpianist kein gutes Haar an ihn. Lenny zündete sich eine Zigarette an und pustete den Qualm aus dem Fenster. Nachdem ich ihm im Studio absolutes Rauchverbot erteilt hatte, befriedigte er seine Sucht auf dem Flur. Ich ging auf die beiden zu und wurde von Daryan mit einem missbilligenden Blick begrüßt. "Das mit Carl tut mir leid", sagte ich. "Ich weiß, dass es dir leid tut. So wie jedes Mal", gab er beleidigt zurück. "Ich hatte Stress, okay? Ich mach's wieder gut." "Du kannst mir nicht jedes Mal 'ne neue Gitarre schenken! Und wir haben jetzt echt andere Probleme!" Von welchen Problemen er auch immer sprach, ich sah keine, außer dass jemand auf die hirnrissige Idee gekommen war, die Aufnahmen vorzuziehen. Dieser Druck war absolut unnötig. "Was macht ihr denn hier draußen auf dem Flur?" Ike hatte den Kopf aus der Studiotür gesteckt und betrachtete uns neugierig. Daryan rollte mit den Augen. "Wir häkeln Kondome. Und jetzt verpiss dich." "Ich will doch nur wissen, über was ihr redet." "Geh spielen, Ike", sagte Lenny genervt. "Ich hab schon alle Parts eingespielt." Daryan manövrierte Ikes Kopf mit dem Zeigefinger ins Studio und zog die Tür mit einem Knall zu. "Was ist hier los?", fragte ich nachdrücklich. Die Stimmung war für meinen Geschmack viel zu gereizt, als dass ich sie allein Ikes Basskünsten zuordnen wollte. "Die Plattenfirma macht Stress. Sie wollen das Album morgen zur Abnahme haben." "Seit wann?" "Seit Carl zur Chefetage gerannt ist und erzählt hat, er musste uns kündigen, weil wir angeblich undiszipliniert sind, in den Aufnahmen schlampen und uns zoffen. Klav, er hat uns beide beim letzten Soundcheck heimlich gefilmt! So ein richtig schönes Beweisvideo hat er zusammen geschnitten." Meine Hände wanderten wie von selbst durch meine Haare. Nie hätte ich damit gerechnet, dass er den Spieß auf diese Weise umdrehen würde. Ich konnte mir gut ausmalen, wie besagtes Beweisvideo ausgesehen haben musste. "Im Takt, Daryan, bleib im Takt, ja? Was sollen denn die Fräuleins von uns denken?" "Ich polier' dir gleich mal die Fresse im Takt! Was die Fräuleins denken, interessiert mich 'n Scheiß!" "Nicht schon wieder ein Ehekrach..." "Halt's Maul!" Und Schnitt. "Du kommst zu spät, spielst falsch und führst dich auf wie ein zickiges Mädchen. Wenn du denkst, dass ich dich heute so auf die Bühne lasse, hast du dich geschni-" "Das hast du nicht zu entscheiden, Klav! Die Band sind wir fünf, nicht du." Das war quasi ein bebildertes Totschlagargument, gegen das wir uns nicht wehren konnten! Carl hatte uns die letzten Wochen öfters mit der Kamera begleitet um den Fans auf der Gavinners Homepage einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen. Zwar war nie Videomaterial auf die Seite gelangt, das die Fans verunsichert hätte, doch gab es hin und wieder Situationen, in denen bei uns ein rauer Umgangston herrschte. Das waren nur musikalische Auseinandersetzungen, mit denen jede Band zu kämpfen hatte. Sobald die Signalleuchte über der Studiotür aus- oder die Spotlights in den Hallen angingen, waren wir ein eingeschworenes Team. Ich war dennoch sicher, dass Carl für die Firmenleitung noch Extramaterial aufbereitet hatte, in denen sich Ike spieltechnisch während der Proben oder Aufnahmen nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Er war unser kleines Problemkind, aber bis jetzt hatten wir es immer geschafft, dass es nie nach außen drang. "Klav, jetzt sag was! Ich stand vorhin mit Tjark vor den ganzen Bonzen, als die uns Carls Video gezeigt haben. Weißt du, wie die uns zur Sau gemacht haben?!" Daryan sah mich verzweifelt an. "Weiß Ike davon?", fragte ich. "Nee, wir haben ihm erzählt, dass wir das Album früher fertig kriegen wollen um 'ne bessere Promotionsphase abzupassen. Ich glaube, er hat's gefressen." Sie hatten genau richtig gehandelt. Ike war selbst für seine achtzehn Jahre zu naiv, um die Zusammenhänge richtig zu verstehen. Für ihn war Carl ein Mann, der immer ein aufbauendes Wort und einen Plan in petto hatte, zum Beispiel wenn wir Ike wieder und wieder vor Augen führten, dass er seine Spielfähigkeiten verbessern musste. Lenny nahm den letzten Zug von seiner Zigarette, dann warf er sie aus dem Fenster. "Gavin, wir müssen das jetzt irgendwie durchziehen. Das ist das beste Label, das wir je hatten." Ich konnte Lenny nur zustimmen. Die HBC verpflichtete ausschließlich die besten Rockbands der Vereinigten Staaten. Zweifelsohne waren die Gavinners das große Aushängeschild – innerhalb von sieben Jahren hatten wir fünfzehn Grammys und über achtzig Platinauszeichnungen für Singles und Alben abgeräumt. Wir waren der Inbegriff für kommerziellen Erfolg. Genau deshalb hatten wir das Privileg unsere Songs selbst zu schreiben, zu arrangieren und zu produzieren. Sie ließen uns freie Hand, solange wir ihnen das Gefühl vermittelten, dass wir genau wussten, was wir taten. Ich wollte auf keinen Fall, das sich das je änderte und ich ließ mir ganz sicher nicht von einem Carl Thompson Steine in den Weg legen. Trotzdem brachte ich nur mit Mühe ein zuversichtliches Lächeln auf mein Gesicht. "Wenn sie das Album morgen hören wollen, dann geben wir es ihnen, ja?" Gemeinsam mit Daryan und Lenny betrat ich das Studio, mit der Erwartung, dass es kein Problem darstellen dürfte, zwei Songs innerhalb der nächsten Stunden einzuspielen. Mit Sicherheit wartete auf Tjark eine Nachtschicht, was die Abmischung anging. Für gewöhnlich betreute er all unsere technischen Angelegenheiten im Studio – im Gegensatz zu mir verstand er sich hervorragend auf Tontechnik. Ich hatte weder das Talent, noch die Muse, mich damit mehr als oberflächlich auseinander zu setzen. Zerfledderte Pizzakartons türmten sich auf einem Tisch, abseits des Mischpults, und das kulinarische Durcheinander wurde noch ergänzt durch benutzte Plastikbecher und einem Haufen Kaffeepads neben der Espressomaschine. Unter dem Tisch stand wie üblich eine Getränkekiste. Ich nahm mir eine Flasche Wasser, weil mir meine Zunge fast am Gaumen klebte. Durch den Raum tröpfelte das gedämpfte Zupfen einer Bassgitarre. Ich mochte es gern, wenn Ike gedankenverloren vor sich hinspielte. Er war dann in seiner eigenen musikalischen Welt, die sich zwar von meiner komplett unterschied – aber es klang ganz nett, ja? Zwischen den Pappkartons entdeckte ich eine fast unberührte Brokkoli-Pizza. "Wir haben alle Parts eingespielt. Deine fehlen noch, aber vielleicht willst du erst mal reinhören?", hörte ich Tjark hinter mir sagen. Trotzdem ich ziemlich hungrig war, wandte ich mich von der Pizza ab und setzte mich neben ihn vor das Mischpult. Zu den fehlenden Songs gehörte Guilty Love. Wir hatten schon einmal ein Demo hierzu eingespielt, aber ich hatte noch eine zweite Version komponiert, in der das Keyboard einen leichteren, verspielteren Charakter trug und meine E-Gitarre wie ein Sturmfeuerwerk dazu brennen sollte. Und so wie es gerade aus den Monitoren dröhnte, traf es genau meine Vorstellung. Fehlte nur noch meine Gitarre, ja? Der zweite Song hieß Victim's Diary und war mein heißgeliebter Favorit unseres zwölften Studioalbums, einfach weil ich Tage damit zugebracht hatte, ihn optimal zu arrangieren. Letzendlich wollte ich einen Wettbewerb zwischen einer sehr dezenten Jazzgitarre und einem dominanten Bass. Man sah es Daryan vielleicht nicht an, aber er verstand sich großartig mit Jazzgitarren. Ich war äußerst gespannt, wie die Jungs meine Vision umgesetzt hatten. Die ersten Klänge waren sehr verheißungsvoll... das Schlagzeug schellte, die Gitarre seufzte, das Keyboard klang in seinen dunkelsten Akkorden und der Bass... war eingenickt. Vielleicht war es nur eine Sache der späteren Abmischung. "Nur Bass und Schlagzeug bitte", sagte ich zu Tjark. Doch auch hier dümpelte der Bass vor sich hin, als wäre er subtiles Beiwerk, zart gezupft und mit Rhythmusschwierigkeiten garniert. "Ike, was ist das?" "Bass und Schlagzeug, oder?" Er legte sein Instrument beiseite und griff nach einem Stapel Notenblätter. "Ich hab die Noten auswendig gelernt, ganz ehrlich! Und den Text hab ich mir auch angesehen." Seine Augen flackerten über das Papier, sicher mit dem Willen irgendeine falsch gespielte Note zu finden, aber darum ging es hier nicht. "Vergiss den Text. Das sind nur Wörter. Musik wurde dazu erschaffen um das auszudrücken, was man mit Worten nicht beschreib-" Ein Plektrum knallte gegen meine Stirn. "Hör auf rumzusülzen!" Daryans Gesichtsausdruck erinnerte mich unwilkürlich an Fräulein Skye, nachdem sie heute Morgen Bekanntschaft mit meiner Vendetta gemacht hatte. Er legte eine Hand auf Ikes Schulter. "Klav ist ein Ass an der Gitarre und ein verfickt guter Komponist, aber ein lausiger Texter, verstanden? Er schreibt kitschigen Bullshit." "Seine Metaphern sind so abgedroschen und schmalzig, dass der Boden klebt", ergänzte Lenny. Tjarks massige Gestalt brummte zustimmend. "Kein Wunder, wenn man die Sugars und Honeys in den Liedtexten zusammen zählt." "Das reicht jetzt, ja?", sagte ich mit Zucker in der Stimme, auch wenn ich die drei lieber in einen Sack gesteckt hätte um dann kräftig mit einer Gibson auszuholen. Ike betrachtete uns abwechselnd, als hätten wir ihm gerade offenbart, dass das Alphabet nur zehn Buchstaben hätte. "Aber Texte sind doch auch wichtig." Seine Naivität war zu süß. "Weshalb bist du Musiker, Ike?" Er wich meinem Blick aus und fuhr mit den Fingern über die Bass-Saiten, dann murmelte er etwas in der Art wie "Weil ich Musik liebe. Ich möchte die Menschen mit meiner Musik berühren." Autsch. Daryan konterte mit einer Lachtirade und wer wollte ihm das verübeln? Das war die dämliche Standartfloskel von Möchtegernstarletts, wie man sie in jedem Interview zu hören bekam. In einer Nachmittagstalkshow hätte er das erzählen können, die Leute erwarteten, dass man so einen Stuss von sich gab. "Du doch auch", sagte Ike, nun völlig verunsichert. Vielleicht war es nicht meine Aufgabe, seine Welt zu erschüttern, aber irgendwer musste dem Jungen die Augen öffnen. "Ich mache Musik, weil ich es kann, ja? Wenn ich die Menschen nur berühren wollte, hätte ich keinen einzigen Hit geschrieben. Ich will, dass sie süchtig sind nach meinen Songs, so dass ihnen die Wartezeit auf neues Material wie eine Qual erscheint. Die Leute kaufen meine Musik, weil ich sie in einen akustischen Drogenrausch versetze und nicht, weil sie meine Texte lieben. Genau deshalb bin ich Musiker." "Und damit dir die Weiber hinterher sabbern", fügte Daryan leicht genervt hinzu. Er lag goldrichtig, aber Ike schien ohnehin genug Input erhalten zu haben. Ich stand auf und öffnete die Tür zur Aufnahmekabine. "Sei ein Musiker, Ike." Ich sah ihn auffordernd an, während er sich wieder hilflos an seinen Bass klammerte. "Willst du nicht zuerst? Ich meine..." "Nein." Endlich nahm er seinen Bass und schlurfte in die Aufnahmekabine. Ich schloss die Tür hinter ihm und setzte mich wieder neben Tjark vor die Tonanlage. Ike hatte die Kopfhörer aufgesetzt und starrte wie hypnotsiert auf die elektronische Notenanzeige. Ich drückte auf die Sprechtaste. "Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich deine Partitur an erste Stelle gesetzt habe und nicht wie sonst über dem Schlagzeug. Das ist nicht üblich, aber ich wollte dir damit verdeutlichen, welche Rolle du in diesem Song einnimmst. Ike, du bist hier das Führungskommando, dann spiel bitte auch so." Die erste Stimme zu spielen war für ihn absolutes Neuland, vielleicht sah er mich deshalb so entsetzt an. "Du hast doch immer gesagt, dass ich mich ans Schlagzeug halten soll. Also dass Tjark der wichtigste Mann auf der Bühne ist. Mein Fundament, der Leuchtturm auf hoher See, die Kompassnadel.Das hast du gesagt und ich hab's auch so gemacht... denke ich." Das klang, als hätte er sich meinen Satz aufgeschrieben, eingerahmt und über das Bett gehangen. Den Tipp hatte ich ihm vor zwei Jahren gegeben, weil er sich regelmäßig von unseren exzessiven Gitarrenriffs außer Konzept bringen ließ, besonders bei Konzerten. Ike war jemand, der Sicherheiten brauchte, etwas Beständiges, an das er sich klammern konnte. "Das sind Grundlagen und ich empfinde es als Beleidigung uns allen gegenüber, dass du dich bei jedem Song wie eine Schnecke in dein Haus verziehst, aus Angst, du könntest etwas falsch machen. Du hast jetzt die Gelegenheit, zu zeigen, was du kannst und streckst nicht mal die Fühler aus. Was soll das?" Ich ging mit ihm nicht annähernd so hart ins Gericht, wie mir gerade zumute war. Er spielte seit zwei Jahren bei uns und hatte sich musikalisch kaum weiter entwickelt. Zudem kapierte er nicht mal ansatzweise, wie sehr er mir meinen Song ruinierte! Er schwieg, also sah ich mich gezwungen, wieder das Wort zu übernehmen. "Wir spielen dir jetzt das Schlagzeug rein. Und die Jazzgitarre. Versuch dich bitte mit dem Rhythmus zu arrangieren, wie er dort steht und nicht eine Sechzehntel davor oder daneben. Und du wirst der Gitarre entgegen steuern. Denk nicht mal daran, dich unterzuordnen, ja?" Ich deaktivierte die Sprechtaste und überließ Tjark die Mischpultregie. "Wenn der Knirps kapiert hat, was du ihm gerade vorgesungen hast, trage ich zur nächsten Aufnahme Ringellöckchen", sagte Daryan. "Das ist doch mal ein Ansporn", entgegnete ich und rollte mit dem Schemel zu dem Tisch mit den Pizzakartons, schließlich hatte ich Hunger. Lenny trat zu mir. "Du überforderst ihn mit dieser Basslinie, sie ist rhythmisch anspruchsvoll und obendrein willst du, dass er tonal spielt. Reduzier es doch einfach und gib dir oder Daryan den Angeberpart, sonst heult der Kleine wieder, weil er es nicht gebacken kriegt. Und überhaupt – soll er vor jeder Live Show einen Nervenzusammenbruch kriegen, weil er bei dem Song mal ein bischen gefordert wird?" Ich war noch mit Kauen beschäftigt, davon abgesehen hatte ich keine Lust ihm zu antworten. "Gavin, du bist einfach nur krank im Kopf! Wir hätten damals dutzende gut spielende Bassisten haben können, aber nein, es musste ja unbedingt dieses Kind sein. Wach endlich auf und schmeiß ihn raus." Lenny hatte wohl vergessen, dass es nicht allein meine Entscheidung gewesen war. Ich erinnerte mich sehr gut an jenen Tag vor zwei Jahren, als wir einen neuen Bassisten casten mussten. Mir hatte keiner von ihnen zugesagt und als der 16-jährige Ike verspätet und übernervös vor diesem Studio auftauchte, hatte ich ihn mir nur angehört, weil er so süß aussah wie ein Mädchen. Ich hatte es bildlich vor mir gesehen, wie wir mit seinem Gesicht noch mehr Platten verkauften. Leider waren seine Fähigkeiten am Bass viel zu bescheiden für meinen Geschmack, aber Daryan und Tjark waren der Auffassung, dass es bei ihm das schwache Nervenkostüm gewesen war. Ich hatte mich damals den beiden gebeugt. Mittlerweile spielte er ganz passabel, aber immer noch nicht auf dem Niveau, das den Gavinners gebührte. Das sollte sich mit dem heutigen Tag ändern. "Ike ist ein guter Bassist. Er weiß es nur noch nicht", sagte ich zu Lenny und nachdem meine Hände mit einem Taschentuch gesäubert hatte, ging ich zurück ans Mischpult. Ich verzichtete darauf, seine Spielergebnisse auseinander zu pflücken. Das war nur eine Übungssequenz, die er haben sollte um Sicherheit zu gewinnen. Ich fuhr die Instrumentenregler runter und drückte auf die Sprechtaste. "Brauchst du die Gitarre noch?" "Weiß nicht. Rhythmisch klappt's, aber das Gegensteuern ist schwer." "Natürlich ist es schwer, wenn du die Saiten zupfst." Als auf Ikes Gesicht der Ausdruck einer Erleuchtung schlich, hätte ich am liebsten mein eigenes Gesicht auf das Mischpult geknallt. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass sein musikalisches Verständnis dem eines Schimpansen glich. "Du meinst ich soll..." "Anschlagen, zerren, slapping. Willkommen im Grundkurs für Bassisten." Er schluckte sichtbar. "Kann ich, also ich meine, darf ich dann noch mal die Gitarre haben?" "Nein, darfst du nicht. Du willst die Gitarre oder du möchtest sie." Es stand ihm beihnahe auf der Stirn geschrieben, dass er nicht verstanden hatte, worauf ich hinaus wollte. "Du hast zwanzig Minuten, dann gehen wir in die Aufnahme", sagte ich schließlich und blockierte die Sprechfunktion um dann die Regler wieder hochzufahren. Daryan war inzwischen dazu übergegangen eine Rennsimulation auf seinem Handy zu spielen. Und da Ike sich beim Wandeln auf Erkenntnispfaden am besten zurecht fand, wenn man ihn in Ruhe ließ, leistete ich Daryan Gesellschaft. Der Einzige, der nicht zur Ruhe kam, war Lenny; er tigerte unruhig durch das Studio und unterbrach sich zwischendurch nur, um einen drakonischen Blick auf die Uhr oder Ike zu werfen. "Was soll diese musikalische Späterziehung? Gavin, uns rennt die Zeit weg! Du musst deine Parts auch noch einspielen und singen. Tjark wird außerdem mehr als ein paar Stunden brauchen um das Ganze zu mastern." "Reg dich ab. Wenn Klav meint, wir schaffen das, dann wird's so sein", sagte Tjark mit der Ruhe eines winterschlafenden Bären. Weitere Minuten vergingen, in denen ich Daryans Lamborghini mit den Augen und Ikes Spielversuchen mit den Ohren folgte. Der Bass klang jetzt souveräner, aber das war noch nicht die Liga, in die ich Ike katapultieren wollte. Es fehlte der Feinschliff... meine Handschrift, ja? Kaum hatte ich mich dem Mischpult wieder zugewandt, unterbrach Ike sein Spiel. Er lächelte und schien sichtlich zufrieden mit seiner neuen Spielweise. Musste er sich denn immer mit der erstbesten Steigerung zufrieden geben? Ich betrachtete ihn für einen Moment unschlüssig, dann aktivierte ich die Sprechtaste. "Ich bin schwer begeistert, dass du einen Rhythmus halten und Töne treffen kannst, aber wo bist du, Ike? Du spielst die Nummer runter, als sei es eine Notwendigkeit. Ich will von dir kein Pflichtbewusstsein, sondern echtes Herzblut." Er sagte nichts, aber durch die Glasscheibe sah ich, wie schwer er atmete. Entweder fühlte er sich ungerecht behandelt oder suchte nach der alles entscheidenen Lösung. "Wenn du ein Instrument nicht fühlst, solltest du es nicht anfassen. Glaub mir, wenn dein Bass sprechen könnte, würde er sagen 'Ike wir müssen uns trennen, weil du immer nachgibst.'" Plötzlich erschien es mir, als wäre er in sich zusammen gesunken. Seine Hand löste den Gurt von den Schultern und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ike stellte seinen Bass ab, und Daryan schoss wie eine Kanonenkugel von seinem Stuhl hoch und riss die Tonkabinentür vor ihm auf. "Was glaubst du, was du hier tust!?" "Lass mich..." "Einen Scheiß werde ich dich lassen!" Ike versuchte sich an Daryan vorbei zu schieben, doch dieser versperrte ihm den Weg. "Abhauen kannst du vergessen. Und Jammern steht heute auch nicht auf dem Programm!" Die Art wie Daryan Ike belehren wollte, gefiel mir nicht; das war mir eine Spur zu aggressiv und erinnerte mich an alte Highschoolzeiten, in denen er Schlägereien schon dann provozierte, wenn ihn jemand schief angesehen hatte. "Ich kann's nicht, okay? Ich weiß nicht wie ich's spielen soll. Nie seid ihr zufrieden!" Ike klang panisch und die erste tränenerstickte Nuance schwang in seiner Stimme mit, um im nächsten Moment unter Daryans Gebrüll unterzugehen. "Weil du nicht zuhörst! Wenn wir dir sagen, du spielst scheiße, dann tu,was wir dir sagen und fang nicht an zu heulen. Echt mal – wie alt bist du?" "Daryan...", sagte ich warnend und erhob mich vorsichtshalber von meinem Schemel. "Ihr seid auch nicht perfekt. Und trotzdem nörgelt ihr nur an mir rum! Du kannst ja nicht mal Noten lesen." Daryans Faust traf Ike so hart im Gesicht, dass er rücklings zu Boden fiel. Mit einem Satz war ich an Tür und konnte nur mit Mühe verhindern, dass er sich auf Ike stürzte. Glücklicherweise war Tjark mir gefolgt und übernahm den tobenden Daryan; ihm fiel es augenscheinlich leichter ihn im Zaum zu halten, da er doppelt so schwer war. "Nimm deine Griffel weg. Ich war noch nicht fertig!" Ich wandte mich Ike zu, der vornübergebeugt saß und sich das Gesicht abtastete. Nach ein paar Routinefragen konnte ich ausschließen, dass er eine Gehirnerschütterung davon getragen hatte, also half ich ihm auf und besah mir sein Gesicht. Ike klagte zwar über einen schmerzenden Wangenknochen, aber zu sehen war nichts. Es war gut möglich, dass sich das in den nächsten Stunden oder Tagen änderte. Tjark hatte Daryan inzwischen losgelassen; er starrte Ike zwar immer noch an wie eine Pumpgun, aber er vermittelte mir nicht mehr das Gefühl, dass er unseren Bassist in Stücke reißen wollte. "Ich hätte das nicht sagen sollen. Tut mir leid", murmelte Ike. "Vergiss es einfach", erwiderte Daryan und ging aus der Kabine. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und entriss Lenny ein Magazin, das die letzten Minuten wohl mehr Unterhaltungspotential hatte als der kleine Nahkampf. Ich sah Daryan an, wie zerknirscht er sich fühlte, aber im Moment war er einfach nicht fähig, sich zu entschuldigen. Dazu würde ich ihn später zwingen. "Ich versuch's noch mal", sagte Ike. "Kannst du spielen?" Ich war mir nicht sicher, ob er den Schlag wirklich verdaut hatte oder nur sich nur tapfer auf den Beinen hielt. Er nickte und schnallte sich den Bass um, sodass ich mit Tjark zurück in den Regieraum kehrte. Zunächst schwieg ich, weil die Situation mit Ike einfach zu verfahren war. So musste sich ein Mathelehrer fühlen, der seinem Schüler einfach nicht begreiflich machen konnte, dass Zwei plus Drei nicht Vier ergab. "Wie kann ich dir helfen?", fragte ich. "Ich verstehe nicht, wieso ich ohne Herzblut spiele. Ich geb mir richtig Mühe. Wie machst du es denn?" Er meinte diese Frage wirklich ernst und ich konnte mich nicht entsinnen, dass sie mir überhaupt jemals gestellt wurde, deshalb war es schon mal keine schlechte Frage. "Ich verrate dir mein Geheimnis, aber sag's nicht weiter, okay?" Der verschwörerische Ton in meiner Stimme war wohl übertrieben, denn Ike starrte mich an, als ob ich ihm gleich einen geheimen Masterplan offen legte. "Ich fasse meine Gitarren an, als seien sie meine Geliebten. Nur so kann ich ihnen Töne entlocken, die mir gefallen. Aber da ist noch jemand, der an deinem Liebesspiel teilnimmt: Der Zuhörer. Es liegt in deiner Hand, ob er nach einer Nummer mehr will. Im Moment klingst du wie ein belangloser Quickie, den er an jeder Straßenecke haben kann." Ike gab ein ersticktes Keuchen von sich und sah dann auf sein Instrument hinab, als sei es ganz plötzlich zu einer abartigen Spezies mutiert. "Ich gebe dir hiermit die Erlaubnis mich mit deinem Bass zu vögeln, aber bitte... mit Gefühl, ja?" Hinter mir hörte ich etwas zu Boden fallen, vermutlich das Magazin, welches gerade noch mit mäßigem Interesse durchgeblättert wurde. Keine zwei Sekunden später drängelten sich Lenny und Daryan ans Mischpult und starrten Ike mit offenen Mündern durch die Glasscheibe an. "Alter, der glüht heller als 'ne Signalleuchte." "Erinnere mich daran, dass ich dir nie wieder beim Gitarrespielen zuhöre, Gavin." Kurz nach Mitternacht saß ich im Manila und sah Daryan dabei zu, wie er seinen dritten Bourbon hinunter stürzte. Ich hielt mich an alkoholfreie Cocktails, weil ich ungern das Taxi nahm, um am nächsten Tag meine Vendetta von Telefonnummern, Liebesbekundungen oder Dessous zu befreien. Ich ließ mich in das Lounge-Sofa sinken und schloss die Augen. Die grünen und blauen Laserstrahlen blendeten entsetzlich in dem abgedunkelten Club. Im Manila wurde ausschließlich Elektromusik gespielt. Normalerweise mochte ich diesen Sound, aber gerade heute drohte ich von den sehr basslastigen Beats ernsthafte Herzrhythmusstörungen davon zu tragen. "Pennen kannst du zu Hause", nörgelte Daryan. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich jetzt friedlich in meinem Bett geschlummert, aber er war der Auffasung gewesen, dass wir die vollendete Studioarbeit hier ausklingen lassen mussten. Ich schlug die Augen auf und beobachtete, wie Daryan sich den Kopf nach einem Fräulein verdrehte und dann fluchte. Sie hatte sich zu einer Traube anderer Frauen gesellt. Vielleicht war Daryan nicht das Synonym für einfühlsam, aber auch er wusste, dass man als Mann besser einen Bogen um geballte Hühnerstallpower machte. "Wie nennen wir das Album überhaupt?", fragte er unvermittelt. Ich hatte mir darum noch keine Gedanken gemacht. "Wie wäre es mit 'Die Gitarre haut rein'? Das trifft die Sache ziemlich gut, ja?" Daryan verschränkte die Arme und und sah demonstrativ weg. Ich überließ ihn sich selbst, während ich mir vor lauter Langweile tatsächlich Gedanken über einen potentiellen Albumtitel machte. Gleichzeitig ruhten meine Augen auf den lasziven Bewegungen eines spärlich bekleideten Fräuleins. Sie tanzte auf einem Podest, das keine zehn Meter von uns entfernt stand und auch noch nicht lange, andernfalls wäre sie mir schon früher aufgefallen. "Das war so 'ne impulsive Sache, Mann. Wieso musste Ike auch so das Maul aufreißen?" "Er ist Achtzehn. Erwarte nicht, dass er dir das Ave Maria vorsummt, während du ihn bedrängst", antwortete ich, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Inzwischen hatte sie meine Beobachtung realisiert und war sehr bedacht darauf, dass ich es nicht mitbekam. Wenn sie zu mir sah, dann viel zu kurz und auch zu oft, als dass es wirklich als Desinteresse durchgegangen wäre. "Ich möchte, dass du dich bei ihm entschuldigst", sagte ich zu Daryan, weil er wieder den Schweigsamen mimte. "Du bist nicht meine Mutter! Und ja, ich werd mich bei ihm entschuldigen, aber glaub bloß nicht, ich mach das wegen dir. Ich mach's, weil ich es sowieso vorhatte, alles klar?" "Alles klar", sagte ich und schmunzelte in mich hinein. Der Grund, weshalb ich schon so lange mit Daryan befreundet war, lag in seiner durchsichtigen Unberechenbarkeit. Ich wusste fast immer, in welcher Windrichtung seine Nase lag, aber niemals wie weit sein Weg führte. Mein inneres Grinsen kehrte sich zu einem äußeren, als das tanzende Fräulein in ihre Bewegungen noch enthusiastischere Geschmeidigkeit feuerte. "Was ist eigentlich mit dir los? Seit du diesen Fall am Hals hast, wirkst du überfordert mit allem." Mit allem? Ich betrachtete Daryan nachdenklich. Für ihn musste es so aussehen, als hätte ich die Lage nicht im Griff: Mein Detective hatte versucht mich bloßzustellen und dann war da noch das verschwitzte Treffen mit Carl. Daryan kannte mich gut genug um zu wissen, dass ich meine auf Abwegen geratene Schäfchen immer selbst zur Rechenschaft zog. "Vielleicht hast du Recht. Ich hatte nicht alle Faktoren berücksichtigt. Mein Fehler." "Verarsch mich nicht, Klav. Du machst keine Fehler, jedenfalls keine im herkömmlichen Sinne." Sollte das jetzt ein Verhör werden? Er konnte wohl kaum erwarten, dass ich meine Schweigepflicht als Staatsanwalt verletzte oder mich zu etwas äußerte, das ihn partout nichts anging. "Nimm dich einfach ein bischen zurück, dann ist es weniger kompliziert. Die Aufnahmen sind durch und vorerst stehen keine Konzerte an. Den Rest schaffen wir auch mal ohne dich." Wie konnte ich nur einen Moment glauben, dass Daryan mich an den Pranger stellen würde? "Du schmeißt mich aus meiner eigenen Band?", fragte ich amüsiert. "Nicht offiziell. Und auch nur vorübergehend." Der Gedanke, ein Stück Verantwortung abzugeben, gefiel mir nicht und dennoch konnte ich nicht leugnen, dass er reizvoll war. "Einverstanden", antwortete ich schnell und der rationale Teufel in mir fiel in Ohnmacht, weil ich ihm nicht gestattete die möglichen Konsequenzen abzuwägen. Außerdem war das attraktive Fräulein etwas aus dem Takt gekommen, so wie ich sie plötzlich erneut zu meinem Fokus gekrönt hatte. Ach, wie unhöflich von mir. Daryan lehnte sich zu mir rüber. "Hör auf ihr Löcher in den Rock zu starren. Geh mal ran an die Braut." "Nein." Ich war kein überzeugter Tänzer. Hinzu kam, dass mir noch der Anreiz fehlte, sie anzusprechen. "Wie du willst. Ich muss mal aufs Klo." Konnte er seine menschlichen Bedürfnisse nicht wenigstens so lange zurück halten, bis ich mir über die Ausschlusskriterien in Bezug auf das junge Fräulein im Klaren war? Sie verfolgte Daryans Abgang mit den Augen und das rationale Teufelchen fiel wieder in Ohnmacht, als ich ihr per Handzeichen zu verstehen gab, dass sie zu mir kommen sollte. Selbstverständlich ließ sie sich nicht zweimal bitten. "Du hättest ihn nicht extra wegschicken müssen", sagte sie, kaum dass sie neben mir saß. Das war nicht der geschickteste Eisbrecher, aber ich ließ ihr diese Auffassung, indem ich ein verlegenes Lächeln auf mein Gesicht zauberte. Auch aus der Nähe betrachtet gab sie ein sehr attraktives Bild ab; alles an ihr wirkte sorgsam gepflegt und optimal in Szene gesetzt, angefangen beim freizügigen Dekolleté, bis hin zu den beinbrechenden Schuhabsätzen. "Ich habe es nicht so gern, wenn man mir permanent in den Ausschnitt starrt", sagte sie sichtlich gelassen. Mit nur einem Satz manövrierte sie sich von 'nicht sehr geschickt' zu 'fadenscheinig'. Bemerkenswert. Ich lehnte mich etwas näher zu ihr. "Entschuldige, dass mir deine sicher sehr intelligenten Augen noch nicht aufgefallen sind, aber das Licht in diesem Schuppen lässt es einfach nicht zu, ja?", Ganz minimal schürzte sie die Lippen, aber sie erwiderte nichts. "Möchtest du, dass ich mehr über dich erfahre? Wie du heißt, wie alt du bist, welche Musik du magst, wie sehr dich dein Ex verarscht hat, deine Lieblingsfarbe und generelle Einstellung zum Leben?" "Du findest dich wohl unglaublich witzig." "Um ehrlich zu sein, bin ich absolut nicht in Stimmung für Smalltalk oder tiefschürfende Gespräche. Also warum sagst du mir nicht einfach, was du von mir möchtest?" "Ich von dir? Du wolltest doch, dass ich hierher komme." Grinsend ließ ich mich wieder in das Sofa sinken. "Ich habe dir das lästige Kopfzerbrechen über einen Vorwand erspart. Im Gegenzug beantwortest du jetzt meine Frage." Sie drehte sich etwas von mir weg, wohl damit ich nicht mehr ihr Dekolleté bewunderte. Ihre braunen Locken fand ich aber auch ganz ansehlich. Mittlerweile fragte ich mich, wo Daryan steckte, und als ich mich erhob um ihm ein Stück entgegen zu laufen, hielt sie mich am Arm fest. "Fahr mich nach Hause und du bekommst deine Antwort." Jetzt war ich wohl an der Reihe, mich nicht zweimal bitten zu lassen. Ehe wir den Club verließen, steckte ich der Bedienung ein paar Geldscheine zu, mit der Bitte, Daryan darüber in Kenntnis zu setzen, dass meine Gitarre in seinem Auto lag. Jeder Dieb wäre gnadenlos enttäuscht gewesen, kein Wunder, bei diesen armseligen Codes, die wir Gavinners untereinander nutzten. Die Gitarre im Auto hieß nichts anderes, als dass Daryan mein Handy orten sollte. Das war eine Sicherheitsvorkehrung. Für den Fall, dass wir in unangenehme Situationen gerieten, trugen wir alle einen Ring an der rechten Hand, der sowohl elektrische Impulse empfangen als auch ausstrahlen konnte. Um ein Signal auszulösen, musste man den Sensor in einem bestimmten Rhythmus aktivieren, um einen Fehlalarm auszuschließen. Des weiteren waren die Sender und Empfänger unterschiedlich gekoppelt. Mein Ring sendete Impulse an Daryan und empfing wiederum nur die von Lenny. So konnten wir sofort feststellen, wer gerade in Not war. Dieses System hatte ich mit Tjark entwickelt, sobald wir die ersten Bekanntschaften mit Stalkern hinter uns hatten. Sie wohnte nicht weit entfernt vom Manila. Keine Viertelstunde später stand ich etwas verloren in ihrem Wohnzimmer, ihr erster Gang hatte kommentarlos in der Küche geendet. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich genauer umzusehen. Davon abgesehen stand ich unter Beobachtung: Eine dicke Katze lag auf der Couch, alle vier Beine von sich gestreckt, und taxierte mich kopfüber. Ich hatte noch nie viel für Tiere übrig. Kristoph besaß eine Hündin, die sich den Tag mit Kläffen und Beißen vertrieb, und das war für mich Grund genug, ihn bevorzugt außerhalb seines Heims zu treffen. Ein klimperndes Geräusch ließ mich aufhorchen. Ich ging aus dem Wohnzimmer und die offene Küchentür bestätigte mir, dass es Gläser waren, die aus einem Schrank geholt wurden. Ich lehnte mich in den Türrahmen und beobachtete, wie sie mit fahrigen Handbewegungen einen Korkenzieher auf eine Weinflasche zwängte. Zumindest versuchte sie es, die Flasche rutschte ihr beinahe aus dem Griff. Ich stieß mich vom Türrahmen ab und ging mit leisen Schritten auf sie zu, bis ich dicht hinter ihr stand. Die ungeöffnete Flasche nahm ich ihr aus den Händen. "Ich mag Rotwein nicht besonders." Am nächsten Morgen wurde ich von Vibrationen geweckt. Von äußerst haarigen Vibrationen. Die verdammte Katze lag auf meiner Brust und schnurrte. Ich versuchte das Vieh von mir zu schieben, aber es streckte sich nur genüsslich und versuchte mit der Pfote eine meiner Haarsträhnen zu erhaschen. Galten Katzen nicht als stolze Tiere? Ich griff nach der Katze und beförderte sie auf das Kopfkissen links neben mir. Dann stand ich auf und sammelte meine Klamotten ein um mich anzuziehen. Das Zimmer verließ ich nur halb angekleidet; Hemd, Jackett und Kette hatte ich wohl woanders fallen lassen. "... Das glaubst du nicht, Jessica. Klavier Gavin!", tönte es aus der Küche. Ich hielt inne in meinen Schritten und lauschte dem folgenden Quietschen, das mich stark an einen giggelnden Teenager erinnerte. "... Gestern im Manila. Erst dachte ich, es wäre nur ein Typ, der ihm ähnlich sieht. Er hat die ganze Zeit nur mich angestarrt, sonst keine. Dann wollte er, dass ich zu ihm komme. Wir haben ein bischen gequatscht und dann hat er mich nach Hause gefahren. Und jetzt halt dich fest: Er liegt in meinem Bett!" Wieder dieses Giggeln. "... Ja, haben wir... Jetzt sei doch nicht so neugierig!... Okay, aber du schwörst, dass du es für dich behältst. Ich weiß ja selbst noch nicht, was das zu bedeuten hat." Innerlich stöhnte ich und unterdrückte den Wunsch, meinen Kopf gegen die Wand zu hauen, gegen die ich gerade gelehnt stand. Das hier rockte überhaupt nicht. "Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Er war so fordernd, als ob er mich besitzen wollte." Hä? Hatten wir echt die gleiche Nacht hinter uns? "... Nein, er hat keine Tattoos. Piercings auch nicht.... Was? Na, was glaubst du denn?" Als sie erneut kicherte, stieß ich mich von der Wand ab und ging ein paar Schritte zurück. Bevor Jessica noch alle Einzelheiten meiner körperlichen Beschaffenheit erfuhr oder welche Positionen ihre Freundin letzte Nacht begleitet hatte, wollte ich eingreifen. Ich zog meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und warf ihn zu Boden, sodass er laut genug klirrte. "... Ich ruf dich später zurück." Kaum hatte ich ihn aufgehoben, da kam sie um die Ecke und empfing mich strahlend. "Morgen. Gut geschlafen?" "Deine Katze hat mich geweckt", gab ich freundlich zurück und lief an ihr vorbei, um den Rest meiner Klamotten zu suchen. "Kitty ist total verschmust. Ich hab vergessen die Schlafzimmertür zu schließen, das hat sie wohl ausgenutzt." "Steiler Name für eine Katze." "Findest du?" Ich entdeckte meine Sachen auf einem Stuhl in der Küche, sie wurden ordentlich über die Lehne gehangen. Sie räusperte sich hinter mir. "Deine Klamotten lagen auf dem Boden, also hab ich sie auf den Stuhl gepackt. Ich hoffe, das war okay?" "Danke." Mein Handy klingelte. "Ja?" "Hier spricht Simon Bennett." "Gibt's Neuigkeiten?" "Allerdings. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich das selbst ansehen. Wir sind immer noch in Hillers Wohnung." "Schicken Sie mir bitte die Adresse auf mein Handy. Ich bin in Kürze da." Mit gemischten Gefühlen steckte ich das Handy wieder weg und stieg in meine Boots. Was hatten sie gefunden, dass Mr. Bennett mich zur Durchsuchung bestellte? "Musst du los?", fragte sie leise. Ich nickte, zog mein Hemd an und hängte dann meine Kette um den Hals. "Du hast mir noch nicht deine Nummer gegeben", sagte sie. "Das weiß ich." Ich schnappte mir mein Jackett und ging Richtung Wohnungstür. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie mir folgte. "Okay! Der Sex mit dir war sowieso beschissen!" Prompt blieb ich stehen und drehte mich halb zu ihr um. "Verstehe. Dann werde ich mir beim nächsten Mal etwas mehr Mühe geben, ja?" "Beim nächsten Mal?" Hörte ich da Hoffnung aufkeimen? Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, als ob ich mir darüber Gedanken machte und sagte dann: "Vielleicht mit Jessica." Ich öffnete die Wohnungstür und lief mit schnellen Schritten die Treppen abwärts. "Klavier Gavin, du bist ein Riesenarschloch!", brüllte sie noch durch das Treppenhaus. Das konnte sie gern mit ihren Nachbarn besprechen, ich hatte dafür leider keine Zeit. Eine halbe Stunde später parkte ich mein Motorrad vor einem Bungalow in einem der Randbezirke von L.A. Fräulein Skye traf ich vor dem kleinen Haus an. Sie hatte ein Klemmbrett im Arm und machte sich eifrig Notizen. Sobald ich näher kam, musterte sie mich eingehender als sonst. "Wie sehen Sie denn aus?" Vermutlich glich meine Frisur einem Desaster, aber darum konnte ich mich später immer noch kümmern. "Darf ich erfahren, was Sie hier draußen machen?", fragte ich stattdessen. "Hillers Mutter macht mich wahnsinnig. Seit wir hier sind, heult sie ununterbrochen wie eine Sirene. Ich kann mich dabei kaum konzentrieren." Ich lehnte mich über das Klemmbrett um zu lesen, woran sie gerade schrieb, doch sie zog es unwirsch aus meinem Sichtfeld. "Warten Sie einfach, bis ich fertig bin. Inzwischen können Sie sich da drinnen umsehen." Vielleicht war es nicht die schlechteste Idee, mein Fräulein Detective in Ruhe zu lassen, denn sie steckte sich schon wieder einen von diesen Keksen in den Mund. Die Tür war nur angelehnt, also trat ich leise ein und musste feststellen, dass Fräulein Skye mit ihrer Beschwerde nicht übertrieben hatte. Eine Frau saß völlig aufgelöst an einem Tisch, vor ihr lag ein Berg Papiertaschentücher und sie weinte so hysterisch, dass man direkt Skrupel bekam, sie anzusprechen. Natürlich konnte ich ihren Kummer verstehen – sie hatte vor wenigen Tagen ihren einzigen Sohn verloren. "Mrs. Hiller? Ich bin Staatsanwalt Gavin", stellte ich mich vor. Sie hob den Kopf und betrachtete mich durch ihre tränenverschmierten Augen. Im nächsten Moment schrie sie wie eine Irre, sprang von ihrem Stuhl hoch und bevor ich mich versah, hatte sie ein Glas nach mir geworfen, das knapp neben mir an der Wand zerbrach. Erschrocken betrachtete ich die Scherben, als Nächstes flog die Tür hinter mir auf. Fräulein Skye verlor keine Zeit und nahm die Frau in einen Sicherungsgriff, da sie schon dabei war eine Vase auf mich abzufeuern. "Wenn Sie in Ihrem eigenen Haus randalieren, ist das Ihre Sache. Aber wenn Sie den fallhabenden Staatsanwalt körperlich attackieren, kriegen Sie ein großes Problem, Mrs. Hiller", sagte sie ruhig, aber streng. "Schaffen Sie den hier raus! Ich will ihn nicht in meinem Haus haben!", schrie Mrs. Hiller und versuchte sich Fräulein Skye zu entwinden. Ich wusste nicht, welcher Teufel diese Frau geritten hatte. Wir waren uns noch nie zuvor begegnet. "Mr. Gavin, jetzt gehen Sie schon!" Fräulein Skye deutete mit dem Kopf auf den Flur, von dem noch weitere Zimmer abgingen. Ich sah Mr. Bennet aus einem der hinteren Räume kommen und lief ihm entgegen. "Was ist passiert?", fragte er. "Sie hat ein Glas nach mir geworfen. Aus irgendeinem Grund scheint sie mich zu hassen." Mr. Bennett kratzte sich mit dem kleinen Finger über eine Augenbraue. "Kommen Sie mal mit, Gavin." Ich folgte ihm in das letzte Zimmer und sah... mich! Ich musste blinzeln, weil das selbst für meinen Geschmack zu krass war. Das gesamte Zimmer war mit Postern tapeziert. Auf den meisten war ich abgebildet, ein paar einzelne zeigten die Gavinners als Gruppe. Selbst an der Decke war kein Fleck Tapete mehr frei. "Louis Hiller war ein großer Fan von Ihnen." Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Die Schränke und Regale waren übersäht mit CDs und Konzert-DVDs in sämtlichen Editionen, die sich eigentlich nur in der Farbe unterschieden. Des weiteren türmten sich hier Merchandising-Berge mit Artikeln, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie gab. "Das hier haben wir unter seiner Computertastatur gefunden. Keiner von uns konnte es lesen." Mr. Bennett überreichte mir einen gefalteten Zettel. Der Text wurde handschriftlich auf Deutsch verfasst: Klavier, wenn du das liest, bin ich vermutlich schon tot. Bitte erfülle mir meinen letzten Wunsch und höre niemals auf Musik zu machen. Deine Klänge werden mich im Himmel erreichen. Dein größter Fan, Louis "Mr. Gavin?" Zum ersten Mal in meinem Leben fehlten mir die Worte. 04. Oct. 2025 - Ema ------------------- Die Mordwaffe war echt. Ich schüttelte bestimmt schon zum dritten Mal fassungslos den Kopf beim Lesen der forensichen Ergebnisse. Gestern noch hatte ich gedacht, dass das ein schlechter Scherz sein musste, aber es stand hier schwarz auf weiß: Die Glock wurde in kürzester Zeit zwei Mal abgefeuert und die Kugel aus Cadaverinis Leiche konnte auch verifiziert werden. Einerseits war es erfreulich, dass wir nun endlich die Mordwaffe hatten, andererseits war es gut möglich, dass sie als brauchbares Beweismaterial ausschied. Zunächst einmal war die Waffe ungewöhnlich sauber. Einzig die Schussrückstände aus jener Nacht und Hillers Fingerabdrücke waren darauf gefunden worden. Und dann kam noch hinzu, dass das Ding zwar zwei mal abgefeuert wurde, aber wir am Tatort nur eine Patronenhülse fanden. Ich konnte nur hoffen, dass Gavin nicht auf die Idee kam, mir deswegen die Hölle heiß zu machen (zumal auch das zweite Projektil fehlte...) Vermutlich hatte der Mörder die fehlende Hülse mitgenommen. Munch. Munch. Munch. Oh, und die Waffe wurde übrigens aus Fresno abgeschickt. Wenn der Poststempel eine Fälschung gewesen wäre, hätte mich das beruhigt, aber das war leider nicht der Fall. Munch. Munch. Munch. "Ich fasse es nicht, dass so was heute noch möglich ist!", blaffte ich das Papier an. "Machen die bei der Post gar keine Kontrollen mehr?" Mr. Bennett neben mir konzentrierte sich darauf, seinen Dodge auf der Fahrbahn zu behalten und gleichzeitig einen Radiosender zu finden, der nicht rauschte. Die Antenne schien kaputt zu sein. Ich war überrascht gewesen, als er mich vor einer halben Stunde allein vom Präsidium abholte, weil Gavin von zwei oder drei Forensikern gesprochen hatte. Wenn ich Mr. Bennett richtig verstanden hatte, war seine Abteilung gnadenlos unterbesetzt wegen Einsparungen und für einen Mordfall mit einer Cadaverini-Leiche wollte man wohl nur das nötigste Personal erübrigen. Hmpf. Mr. Bennett parkte seinen Dodge in einer Reihensiedlung Bungalows. Ich stopfte die Untersuchungserbenisse in meine Tasche und stieg aus. Meine Hände wurden leicht schwitzig, als wir über das Kopfsteinpflaster zur Eingangstür gingen. Das war meine erste Hausdurchsuchung. Ich wusste zwar, was ich zu tun hatte, aber nicht, was mich erwartete. Mr. Bennett drückte die Klingel, bevor ich es tun konnte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, blockiert von einer Kette, und die Augen eines pummeligen Frauengesichtes musterten mich misstrauisch. "Sind Sie Mrs Hiller?" "Was wollen Sie?" Ich zog aus meiner Tasche die Durchsuchungsanordnung und meinen Dienstausweis und hielt beides gut sichtbar vor den Spalt. "Ich bin Detective Skye und leite die Ermittlung im Mordfall Louis Hiller. Wir haben eine richterliche Befugnis, wonach wir uns in den Räumlichkeiten von Mr. Hiller einmal umsehen müssten." "Mein Sohn ist tot. Verschwinden Sie!" Ich sah Tränenspuren auf ihren Wangenknochen, obwohl die Tür einen Schatten auf ihr Gesicht warf. "Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, uns einzulassen. Möglicherweise befinden sich im Privatbesitz Ihres Sohnes Hinweise zum Mordgeschehen." Ohne ein weiteres Wort knallte sie die Tür zu. Na, das war ja super gelaufen. Ich hatte wirklich keine Lust, eine Einheit ranzutelefonieren, um die verdammte Tür aufbrechen zu lassen! Ich sah kurz ratlos zu Mr. Bennett, aber im nächsten Moment hörte ich die Türkette klappern. Sie bat uns stumm in das Haus. "Könnten Sie sich bitte ausweisen?", forderte ich die Frau auf. Sie wischte sich fahrig die Tränen aus dem Gesicht, lief dann zur Couch und durchwühlte ihre Handtasche. Ich betrachtete kurz die Wohnzimmereinrichtung mit den Holzmöbeln, die eher zweckmäßig wirkten, aber die Pflanzen verliehen dem Raum eine gemütliche Note. Links hinten sah ich eine Kochnische und einen kleinen Esstisch, auf dem sich zerknüllte Taschentücher türmten. Sie gab mir ihren Führerschein. "Vielen Dank, Mrs. Hiller", sagte ich, nachdem ich den Ausweis geprüft hatte und händigte ihr die Durchsuchungsanordnung zum Lesen aus. Ihre Augen flackerten kurz über den Text, dann gab sie ihn mir zurück. "Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen", sagte sie leise. "Im Prinzip steht dort, dass wir uns ausschließlich auf den Privatbereich Ihres Sohnes konzentrieren. Sie müssen also keine Angst haben, dass wir hier alles auf den Kopf stellen. Hatte er ein eigenes Zimmer?" Mrs. Hiller wies auf einen Flur, gegenüber der Eingangstür. "Ganz hinten, links." "Haben Sie irgendwas im Zimmer entfernt oder verändert in den letzten Tagen? Zum Beispiel Staub gewischt?" Mrs. Hiller schüttelte den Kopf. Sie wandte sich von uns ab und ich hörte erstickte Schluchzer. Mr. Bennett berührte mich am Arm, damit ich ihm folgte. Ich war ganz froh, aus ihrer unmittelbaren Nähe verschwinden zu können. Ihre Trauer war für mich mehr als verständlich, aber ich fühlte mich peinlich berührt, schon allein, weil mir für solche Situationen die Worte fehlten. Im Flur war das Licht nicht angeschaltet, im Halbdunkel konnte ich dennoch aufgehangene Fotografien ausmachen. Drei weitere Türen gingen hier ab, vermutlich zwei Schlafzimmer und ein Bad. Ich hatte keine Ahnung, weshalb Mr. Bennet wie angewachsen im Türrahmen stehen blieb. "Das... ist krank", hörte ich ihn sagen. Was auch immer er meinte – vielleicht war Hiller ein Messie oder pornosüchtig – ich musste trotzdem da rein. Also schob ich mich an Mr. Bennett vorbei, betrat das Zimmer... und hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, bevor sich der Eindruck für immer in mein Gedächtnis brannte: Das hier war mehr als krank. Überall an den Wänden hing Gavin! Und zwar in Form von Postern. Ich lachte hysterisch auf. Mr. Bennett schloss schnell die Tür hinter uns und gab mir zu verstehen, dass ich gefälligst leiser sein sollte. "Was ist das?", zischte ich. "Sieht so aus, als wäre Hiller ein Fan von Gavin gewesen. Machen Sie jetzt bitte keinen Aufstand. Es gibt eine Menge Leute, die ihn anhimmeln. Aus welchen Gründen auch immer." "Wer tapeziert sich denn bitte das Zimmer mit einem Staatsanwalt? Und wieso gibt es überhaupt Poster von ihm?!" So selbstverliebt konnte nicht mal der Glimmerfop sein. Mr. Bennett schwieg einen Moment und kratzte sich über die Augenbraue. "Wie lange waren Sie in Europa?" "Fast neun Jahre. Wieso?" "Gavin ist ziemlich berühmt. Nicht als Staatsanwalt, viel mehr als Rockstar." Das stimmte tatsächlich? Als Gavin bei unserem ersten Treffen mit dieser Rockstarnummer anfing, hielt ich das für einen schlechten Scherz. Ich dachte wirklich, er sei Hobbymusiker oder hing sich als Sammler sein Büro mit diesen Gitarren voll, aber dass er tatsächlich professionell Musik machte – PF! Ich beäugte wieder die Poster. "Ist das 'ne Band oder so was?" "Die Gavinners. Eine von diesen Krachbands, bei denen die Vögel aus dem Baum fallen, wenn man nicht schnell genug das Fenster schließt." Gavinners. So ziemlich der dämlichste Bandname, den ich je gehört hatte. Obendrein fragte ich mich, wie Gavin es bewerkstelligte, gleichzeitig Musiker und Staatsanwalt zu sein. Gaben Rockstars nicht normalerweise Konzerte und Interviews und drehten Musikvideos? Zumindest würde das erklären, weshalb er die Ermittlungsarbeit so gern an mir hängen ließ. "Fangen wir an", sagte ich zähneknirschend. Schließlich war ich nicht hier, um über diesen Rock'n'Roll-Staatsanwalt zu sinnieren. Die Tatsache, dass Gavin mich von all diesen Postern anglitzerte, machte die Sache nicht unbedingt leicht, aber wozu gab es Scheuklappen? Ich drehte mich um und entdeckte prompt etwas, das wirklich mit meinem Job heute zu tun hatte: Ein Schreibtisch mit einem Computer. "Den Rechner nehmen wir mit. Sehen Sie sich den Tisch an. Ich mache in der Zwischenzeit ein paar Bilder." Mr. Bennett öffnete seinen mitgebrachten Koffer und ich wandte mich ab, damit es mir nicht in den Fingern juckte, wenn ich Ninhydrin, Aluminiumpulver, Luminol und all die anderen schönen Reagenzien zu Gesicht bekam und ich wünschte mir einmal mehr, dass ich die Prüfung nicht in den Sand gesetzt hätte. Mein heutiges Arbeitshighlight bestand darin, Fotos zu machen und das wurde mir auch noch durch diese unsäglichen Poster vermiest. Hmpf. Ich nahm mir meine Digitalkamera zur Hand und machte zunächst ein paar Abschnittsbilder, bevor ich mich den Nahaufnahmen widmete. Dabei erkannte ich auf einem der Gruppenbilder eine weitere Person wieder. Richtig, das war der Kerl mit der unglücklichen Frisur, der mich auf der Dachterrasse so abfällig gemustert hatte. Dieser Rocky Horror-Verschnitt. Hatte Gavin ihn nicht als Detective bezeichnet? "Kennen Sie den?", fragte ich Mr. Bennett und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. Er sah von seinem Koffer auf. "Das ist Crescend. Gavins Ex-Detective. Wenn Sie mich fragen, war es ganz gut, dass man die beiden getrennt hat. Ein Jungspund mit Allüren ist schon kaum zu ertragen, aber die beiden zusammen waren schlimmer als ein Abrisskommando." Noch Jemand mit zu viel Zeit. Vielleicht sollte ich mir auch einen Zweitjob suchen. Als Snackoo-Botschafterin oder so etwas. Je mehr Bilder ich machte, desto unwohler fühlte ich mich. Teilweise war Gavin auf diesen Postern halbnackt, in diesen typischen Teeniezeitschrift-Oberkörperfrei-Ablichtungen und das war das Letzte, was ich vom Glimmerfop zu Gesicht bekommen wollte. Wenn ich ehrlich war, sah er schon ganz gut aus, aber er schien einer der Typen zu sein, die sich nur mühselig ein paar Muskeln an ihren sonst schmächtigen Körper antrainieren konnten. So was war genetisch bedingt und ich verwettete gedanklich ein Jahresabo Snackoos darauf, dass hier mit einem Bildbearbeitungsprogramm nachgeholfen wurde. "Skye?" Ich drehte mich zum Schreibtisch um. Mr. Bennett hielt ein Blatt Papier in der Hand. Ich trat neben ihn und warf einen Blick auf die handschriftlich verfasste Notiz. "Was steht da?", fragte ich. Das war kein Englisch, sondern irgendeine Sprache, die mir kein bisschen geläufig war. "Keine Ahnung. Gavin könnte es lesen. Ich glaube, der war Schweizer oder so." Ich betrachtete die erste Zeile: Klavier. Vermutlich gab es nicht viele, die mit so einem seltsamen Vornamen gesegnet waren. Das Schriftstück war wie ein Brief verfasst, unten prangerte der Name Louis. Und wenn man sich die Postersammlung betrachtete, konnte man wirklich darauf schließen, dass das eine an Gavin adressierte Nachricht war. "Was haben Sie vor?", fragte ich Mr. Bennett, der sein Handy hevorgeholt hatte. Er antwortete nicht und da es mehr als unprofessionell war, in sein Gespräch zu quatschen, hielt ich besser die Klappe. Ich musste gar nicht erst raten, wen er hierher bestellte, aber das Ganze gefiel mir ganz und gar nicht. "Muss das sein? Den Brief kann er uns später immer noch übersetzen!"Gavins Annwesenheit konnte ich hier absolut nicht gebrauchen. "Besser jetzt als später. Wenn da irgendwas Wichtiges drin steht, müssen wir noch mal hier anrücken und ich garantiere Ihnen, dass Gavin zur Diva mutiert, wenn solche Dinge passieren." Stimmte auch wiederum. Ich betrachtete noch einmal den Zettel. "Vielleicht war jemand hier. Wenn das Ding wirklich für Gavin bestimmt ist, wäre es schon die zweite Nachricht. Das Haus wirkt nicht sonderlich alarmgesichert." Ich merkte zu spät, dass ich an meinem Daumennagel kaute. Ich brauchte ein paar Snackoos, aber ich konnte in diesem Zimmer nicht einfach so herumkrümeln. "Schon möglich." Mr. Bennett beugte sich über seinen Koffer und nahm eine Dose Aluminiumpulver zur Hand. Bei der Abnahme der Fingerabdrücke wollte ich nicht blöd in der Gegend rumstehen, also konnte ich in der Zwischenzeit schon den bürokratischen Kram abwickeln. Ich notierte mir noch schnell die Seriennummer des Rechners für das Sicherstellungsprotokoll und verließ das Zimmer. Mrs. Hiller stand am Fenster neben der Kochnische und hielt in der Hand eine brennende Zigarette. Ich verweilte schweigend am Flureingang, unschlüssig, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht. Die Zigarette war fast vollständig abgebrannnt und die Glut drohte... nun ja, war soeben auf den Teppich gefallen. Wie aus einer Trance gerissen, drückte Mrs. Hiller die Zigarette hektisch in einen Aschenbecher aus und holte aus der Spüle einen Lappen um die Asche wegzuwischen. "Ist es okay, wenn ich Ihren Couchtisch mal kurz benutze? Ich muss etwas schreiben", fragte ich zögerlich. Sie wandte ihr Gesicht zu mir und erst jetzt sah ich, dass es vollkommen nass war. Sie nickte stumm und ich hielt es für besser, mich ebenso stumm an den Tisch zu setzen und mit meiner Arbeit anzufangen. Ich hatte kaum Datum und Uhrzeit für den Bericht notiert, als ich hörte, wie sie beherzt in ein Taschentuch schnäuzte und dann vor sich hin wimmerte. Natürlich war ihr Kummer nachzuvollziehen, aber ich hoffte, dass sie sich beruhigte, andernfalls konnte ich mich kein bisschen konzentrieren. "Ich hab Sie vorhin angelogen", unterbrach Mrs. Hiller nach ein paar Minuten ihren Heulkrampf. "Bitte?" "Ich... ich war in Louis' Zimmer und hab Wäsche in seinen Schrank geräumt. Die war noch im Trockner. Wissen Sie, ich hatte das einfach vergessen. Ich hab sie... aus dem Trockner genommen, gebügelt und in seinen Schrank gelegt." "Das ist in Ordnung", erwiderte ich. Sie schnäuzte erneut in ein Taschentuch und schien wirklich etwas besänftigter. Ich mühte mir ein Lächeln ab und beugte mich dann wieder über meinen Bericht. "Er hat diesen roten Pullover so gerne getragen. Seit Jahren hatte er den und ich durfte ihn nie wegwerfen, obwohl er schon so verwaschen ist." Ich sah auf und zwang mich wieder zu lächeln. Was sagte man in so einer Situation? Auf der Polizeiakademie brachten sie dir bei, wie man ein Verhör führte, eine Waffe handhabte und am Tatort ermittelte, aber nicht wie man mit den Angehörigen von Opfern umging. Oder sie hatten es bewusst ausgelassen. Jetzt saß ich hier und fühlte mich mit dieser Frau komplett überfordert. Am liebsten wäre ich einfach abgehauen, schon allein, weil sie mich plötzlich mit aufgerissenen Augen fixierte. "Sie wissen nichts über meinen Sohn. Gar nichts. Er ist Ihnen doch vollkommen egal. Suchen Sie überhaupt richtig nach dem Mörder?", keifte sie mich an. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Psychothriller. Der Wahnsinn in ihrem Blick gruselte mich und in ihrer Stimme lag für meinen Geschmack zu viel Aggressivität. Ich erhob mich und nahm die Unterlagen vom Couchtisch. "Ich bin kurz draußen, Mrs. Hiller", entschuldigte ich mich und steuerte die Tür an. Es war besser, wenn ich vorerst aus ihrem Sichtfeld verschwand, bevor sie auf die Idee kam, ihrer Wut Nachdruck zu verleihen. "Ja, verschwinden Sie nur! Und nehmen Sie den anderen gleich mit!", rief sie mir nach. Ich zog die Tür hinter mir nicht zu, sondern lehnte sie nur an, damit ich später nicht in Verlegenheit kam, Mrs. Hiller um einen erneuten Zutritt anbetteln zu müssen. Nachdem ich ein paar Snackoos gegessen hatte, klärte sich das Chaos in meinem Kopf und ich konnte mich wieder meinem Bericht widmen. Zum Glück hatte ich ein Klemmbrett bei mir. Eine Hauswand als Schreibunterlage hätte mein Schriftbild noch schlimmer aussehen lassen. Es war ohnehin schon kaum lesbar und mir graute es vor dem Gedanken, das Ganze später abtippen zu müssen. Bei Gelegenheit musste ich Gumshoe fragen, ob das Präsidium mir ein Taschen-Notebook zur Verfügung stellte. Ich war mit dem Bericht in etwa zur Hälfte fertig, als ich Gavinisches Motordonnern hörte. Oh Freude. Ich beendete meinen Satz und drehte dann den Kopf in Richtung Glimmerfop, der... merkwürdig aussah. Dieser Zopf, der sonst sorgsam gezwirbelt über seiner Schulter hing, war aufgedröselt und sah so gar nicht glimmerös aus, aber mir fiel auf, dass Gavins Haare fast länger als meine waren. Pf. Bestimmt war dieses Platinblond auch noch gefärbt. Nach einem kurzen, überflüssigen Wortwechsel, betrat er das Haus. Ich fischte einen Snackoo aus meiner Tasche und während ich ihn kaute, fragte ich mich, wie Mrs. Hiller wohl auf ihn reagieren mochte. Immerhin war Gavin der Dreh- und Angelpunkt im Zimmer ihres Sohnes. Entweder würde sie ihn wie eine Gottheit behandeln oder... Klirr! ... Oder auch nicht. Ich ließ das Klemmbrett und den Stift fallen und stieß die Tür auf. Mein Blick flog als erstes zu Gavin an der Wand, der wie versteinert ein zerbrochenes Glas musterte. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung, schoss auf Verdacht in Richtung von Mrs. Hiller und konnte sie gerade noch davon abhalten, eine Vase samt Blumen nach Gavin zu werfen. Tatsächlich versuchte Mrs. Hiller mir die Vase zu entreißen, weshalb ich mich gezwungen sah, ihr das Ding gewaltsam abzunehmen und sie mit einem Sicherungsgriff ruhig zu stellen. "Wenn Sie in Ihrem eigenen Haus randalieren, ist das allein Ihre Sorge. Aber wenn Sie den fallhabenden Staatsanwalt körperlich attackieren, kriegen Sie ein großes Problem, Mrs. Hiller." Ich klang wesentlich beherrschter, als mir zumute war. Gavin stand immer noch da wie in einem Wachsfigurenkabinett. "Jetzt gehen Sie schon, Mr. Gavin." Brauchte er eine Extraeinladung, oder was? Endlich bewegte er sich und ich atmete erleichtert aus, als er nicht mehr zu sehen war. "Kann ich Sie loslassen, ohne dass Sie ihn erneut angehen?", fragte ich Mrs. Hiller, die aufgehört hatte, sich in meinem Griff zu winden. Sie nickte und ich ließ von ihr ab. Erst jetzt merkte ich, dass der linke Ärmel meines Kittels bis zum Schulterblatt durchnässt war. Verdammtes Blumenwasser. Ich zog den Kittel aus. Brachte nicht sonderlich viel, weil meine Bluse darunter auch durchgeweicht war. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass Mrs. Hiller sich ihren Taschentüchern widmete und keine Küchenmesser wetzte, fragte ich mich, was Gavin zu diesem Brief sagte. Ich wollte gerade den Flur betreten, als er an mir vorbei rauschte. "Mitkommen." Auf dem Weg nach draußen sah ich, dass er den Brief bei sich führte. "Haben Sie was zu schreiben?", fragte er. Ich gab ihm meinen Stift und einen Notizblock. Er faltete den Brief an der Hauswand auseinander, legte den Block darüber und mit jedem Wort, das er übersetzte, lief es mir ein Stück mehr eiskalt den Rücken runter: Louis Hiller hatte gewusst, dass er sterben würde. "Welche Sprache ist das überhaupt?", murmelte ich, mehr um meine wirren Gedanken zu ordnen. "Deutsch. Absolut fehlerfreie Grammatik." Gavin gab mir die Übersetzung, den Brief und Stift zurück. "Sie werden jetzt mit Mrs. Hiller eine Zeugenvernehmung machen. Haben Sie ein Aufnahmegerät bei sich?" Ich brummte zustimmend, weil ich grundsätzlich ein Diktiergerät mit mir führte. Das Gespräch hätte ich lieber Gavin überlassen, aber so wie sie auf ihn reagierte, war das wohl nicht möglich. "Sie ist ziemlich labil. Ich weiß nicht, ob ich alles aus ihr rausbekomme", gab ich zu bedenken. "Gerade, weil sie so labil ist, haben Sie nur eine Gelegenheit. Enttäuschen Sie mich nicht, Fräulein Skye." "Ihre Worte sind echt aufbauend." Ich schob mir zwei Snackoos in den Mund. Er grinste und sein Blick blieb an der durchnässten Stelle meiner Kleidung hängen. "Kein Grund sich ins Hemd zu machen, ja?" Memo ans Hirn: Witz suchen. Munch. Munch. Munch. Er griff nach meinem Handgelenk und bevor der Wunsch vollendet war, ihm einfach meine Faust ins Gesicht zu donnern, begriff ich, dass er nur die Uhrzeit gecheckt hatte. "Fragen wird überbewertet, nehme ich an." "Ich sehe Sie in vier Stunden in meinem Büro. Viel Spaß mit Mrs. Hiller." Ich sparte mir einen Freudentanz, holte mein Klemmbrett von der Wiese und stieß die Tür ein wenig zu energisch auf, sodass Mrs. Hiller vor ihrem Berg Taschentücher zusammen zuckte. "Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen", sagte ich und bemühte mich, die Tür leise zu schließen. Mrs. Hiller blinzelte mich verwundert an. "Sie haben nichts falsch gemacht. Es geht um Ihren Sohn." Ich setzte mich zu ihr an den Esstisch und legte mein Zeug auf den freien Stuhl neben mir. Das Diktiergerät platzierte ich angeschaltet auf dem Fleckchen Tischplatte, das noch nicht mit benutzten Taschentüchern übersäht war. "Sie können jederzeit die Vernehmung abbrechen oder Aussagen verweigern, wenn Sie sich dadurch selbst belasten. Alles, was Sie sagen, muss der Wahrheit entsprechen. Falschaussagen können rechtliche Konsequenzen für Sie haben." Mrs. Hiller straffte den Rücken und knetete das Taschentuch in ihren Händen. Ich gab ihr den Brief ohne Übersetzung. "Das haben wir in seinem Zimmer gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte?" "Das ist Louis' Handschrift. Aber was steht denn da?" "Wir konnten es noch nicht übersetzen", log ich. Die Wahrheit hätte sie womöglich aufgeregt und ich hatte noch ein paar Fragen vor mir. Gewissheit hatten wir ohnehin erst nach der Schriftanalyse. "Wir haben die Vermutung, dass es sich bei dieser Sprache um Deutsch handelt. Ist die Sprache bei Ihnen in der Familie gängig?" "Nein. Louis war auch nie gut in Fremdsprachen. In Spanisch ist er immer durchgefallen." "Hatte er vielleicht einen Sprachkurs belegt?" Auch wenn sie mir das jetzt verneinte, konnte ein Anruf bei Hillers Universität nicht schaden. Ich machte mir eine Notiz, damit ich es später nicht vergaß. "Nicht, dass ich wüsste." "Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Sohn beschreiben?" Mrs. Hiller antwortete nicht sofort und ich sah, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten, die sie sich hektisch weg wischte. "Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Wir hatten ein gutes Verhältnis. Ich habe ihn über alles geliebt", sagte sie mit zittriger Stimme und ich befürchtete, dass ich hier nicht sehr weit kam. "Waren Sie alleinerziehend?" "Mein Mann hat uns sitzen gelassen, als Louis vier Jahre alt war. Dabei war er derjenige, der unbedingt ein Kind adoptieren wollte. Und dann, als er merkte, dass Kinder auch Verantwortung bedeuten, ist er einfach abgehauen." "Wusste Ihr Sohn von der Adoption?" "Ich habe es ihm erzählt, als er acht Jahre alt war." Dass Hiller adoptiert wurde, hörte ich zum ersten Mal und ich fragte mich, ob Gavin Bescheid wusste. "Hat er Verhaltensauffälligkeiten gezeigt vor seinem Tod?" "Ich weiß nicht. Er war in den letzten Monaten so viel unterwegs und kam oft nur zum Schlafen nach Hause. Er hatte immer gesagt, dass er in der Uni war oder bei Freunden. Manchmal war er tagelang weg." "Hat Sie das beunruhigt?" "Er wirkte glücklich, fast euphorisch. Da wollte ich ihm keine Vorhaltungen machen. Wissen Sie, Louis war früher so ein Einzelgänger und saß ständig vor seinem Computer. Er war erwachsen, was hätte ich denn sagen sollen?" Ihre Aussage passte mit dem zusammen, was wir gestern von Viola erfahren hatten. Er pflegte in den letzten Monaten intensiven Kontakt zum Cadaverini-Clan, was seine ständige Abwesenheit zu Hause erklärte. Trotzdem fragte ich mich, ob Hiller wirklich so blauaäugig und einsam war, dass er sich in den Kreisen einer Mafiafamilie glücklich fühlte. Violas schnarrende Stimme hallte durch meinen Kopf. Louis Hiller war ein Freak... in jeder Hinsicht. Und mir fiel wieder ein, wie sie Gavin in diesem Moment gemustert hatte. Sie hatte es gewusst. "Wie lange ging der Fankult um diese Band denn schon?" "Schon ziemlich lange." Mrs. Hiller stand auf, ging zur Küchenzeile und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. "Sechs Jahre. Vielleicht auch sieben." Sie kehrte mit einem Aschenbecher zurück an den Tisch. "Gab es Streit deswegen?" "Er hat sein ganzes Geld dafür ausgegeben. Einmal wollte er auf ein Konzert und weil er pleite war, hatte er mich gebeten ihm das Geld zu leihen. Das waren um die Hundert Dollar. Ich wollte es ihm nicht geben, da ist er ausgerastet." Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. "Ist er handgreiflich geworden?" "Ich kam ins Krankenhaus. Er hat sich tausend Mal entschuldigt." "Haben Sie damals Anzeige erstattet?" Sie schüttelte den Kopf. Glut fiel von ihrer Zigarette und sie klopfte hastig ihre Hose ab. "Ich bin heute so ein Tollpatsch." "Mrs. Hiller, kann es sein, dass ihr Sohn schwul war?", fragte ich vorsichtig. Die Poster in seinem Zimmer, insbesondere den halbnackten Glimmerfop, konnte ich beim besten Willen keinem Heterosexuellen zuordnen. Sie drückte die halb abgebrannte Zigarette im Aschenbecher aus. "Ich weiß es nicht. Er hat nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Einen Jungen auch nicht. Und wenn schon – ist das wichtig? Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt... sexuell aktiv war." "Ihr Sohn hatte Aids." Und da war er wieder. Dieser wahnsinnige Blick. "Das hatte er nicht!" "Vielleicht sollten Sie sich testen lassen. Nur zur Sicherheit." "Wie können Sie so was sagen?" Ihre Stimme überschlug sich beim Versuch mich gleichzeitig anzuschreien und den aufkeimenden Heulkrampf zu unterdrücken. Ich schaltete das Diktiergerät ab, das musste Gavin vorerst genügen. Als ich aufstand, hielt sie mich am Arm fest. "Das hätte mir doch unser Hausarzt gesagt!" Sie sah mich so verzweifelt an, dass ich mich nur noch hilflos fühlte. "Bitte lassen Sie sich testen", schloss ich die Vernehmung ab und machte mich daran, meinen Kram in die Tasche zu räumen. Mrs. Hiller weinte mittlerweile hemmungslos am Tisch. Großer Gott, diese Frau tat mir leid, aber ich konnte ihr einfach nicht helfen. Ich stellte mich in den Flur und rief im Präsidium an. Gumshoe versprach mir, in den nächsten Minuten Nummern von Psychologen herauszusuchen. Als Nächstes betrat ich Hillers Zimmer. Mr. Bennett sortierte etwas in seinem Koffer. "Und?" "Wir haben ein Problem." "Haben Sie was gefunden?" "Ich habe gar nichts gefunden, das ist das Problem. Hier hat jemand kräftig sauber gemacht." Es gab hier keine Fingerabdrücke? Das war... nahezu unmöglich? "Und das Bett?" "Keine Spuren, nicht mal ein Hautschüppchen. Die Matratze scheint nagelneu zu sein und die Bettwäsche ist so lupenrein, als ob sie vorher abgekocht wurde." Mir fiel ein, was Mrs. Hiller gesagt hatte bezüglich der Wäsche. "Waren Sie schon am Kleiderschrank?" "So weit war ich noch nicht." Er zeigte auf die Jalousien. "Selbst die wurden akurat gesäubert." Mr. Bennet schien wirklich verärgert. Ich sah dabei zu, wie er mit dem Aluminiumpulver zunächst die Griffe des Schranks behandelte. "Da ist was...", murmelte er. "Die Abdrücke gehören vermutlich zu Mrs. Hiller. Sie hat dort Wäsche eingeräumt." Nachdem er die Abdrücke vollständig abgenommen hatte, zog er sich die Handschuhe aus. "Scheint, als bräuchte ich doch eine Einheit aus der Forensik. Ich werde gleich ein paar Kollegen ranordern. Für Sie gibt es dann nicht mehr viel zu tun, Skye." Die spannenden Dinge waren natürlich für die anderen vorgesehen. Ich nahm mir das Sicherstellungsprotokoll zur Hand, setzte im Voraus meine Unterschrift und notierte die Seriennummer und die Mitnahme des Rechners und Hillers Brief. "Haben Sie schon was für die Vergleichsanalyse der Handschrift?", fragte ich. "Ein paar alte Studienaufzeichnungen." Das schrieb ich ebenfalls auf das Protokoll und gab den Durchschlag Mr. Bennett, damit er ihn später Mrs. Hiller aushändigte. Mein Handy vibrierte: Gumshoe hatte mir per Kurzmitteilung drei Nummern von Psychologen in der Nähe gegeben, darunter ein Krankenhaus. Ich übertrug die Nummern auf einen kleinen Zettel, den ich Mrs. Hiller zum Abschied gab. Als ich das Haus verließ, hoffte ich zweierlei Dinge: Dass sie sich Hilfe suchte und ich dieses Haus nie wieder betreten musste. Aus Gavins geschlossener Bürotür schepperte Rockmusik und ich fragte mich, wie seine Kollegen in den angrenzenden Räumen es schafften, ungestört zu arbeiten. Ich trat ein, als eine E-Gitarre auf ihrem Gipfel quietschte und am liebsten wäre ich wieder gegangen. Gavin lehnte rücklings an seinem Schreibtisch und las Dokumente. Vermutlich die Ergebnisse aus der Forensik von heute Morgen. Offensichtlich hatte er das Zeitfenster genutzt um sich eine Rundumverschönerung zu gönnen: Er hatte sich umgezogen und von der glimmerösen Frisur stand kein Härchen ab. Ich kramte aus meiner Tasche meine Snackoos und wartete darauf, dass Gavin endlich mit dem Lesen fertig wurde und sich erbarmte, diesen Krach abzustellen. Nach fünf Minuten war ich versucht, einen Snackoo nach ihm zu werfen, als er endlich nach einer Fernbedienung griff und die Musik abstellte. "Darüber reden wir gleich. Vorher will ich etwas anderes von Ihnen wissen", sagte er mit einem Wink zu dem Diktiergerät, das ich gerade auf seinen Tisch gelegt hatte. Über was wollte er denn sonst reden? Er wies auf einen Stuhl, auf dem ich dann auch artig Platz nahm. "Wie kann es sein, dass jemand, der die Polizeilaufbahn einschlägt, keinen Führerschein hat? Ich höre so was zum ersten Mal." Das traf mich ziemlich unvorbereitet. Gavin hatte Recht – es gehörte zum Ausbildungsverfahren dazu, aber erwartete er jetzt wirklich, dass ich ihm eine Erklärung lieferte, die nicht hirnrissig klang? "In meinem Jahrgang gab es extrem viele Schüler. Und der Typ, der uns auf der Akademie das Fahren beibringen sollte, war ständig krank und... ich schätze, das ist einfach untergegangen... Irgendwie. Und-" Ich unterbrach mein Gestammel und wich Gavins Blick – war das Fassungslosigkeit? - aus. Was war schon dabei, wenn ich keinen Führerschein hatte? Es gab eine Menge Leute, die nicht Autofahren konnten. Gut, diese Leute waren vermutlich keine Polizisten. "...Und?", hakte Gavin nach. Er würde wohl nicht locker lassen. Pf. "Sind Sie schon mal in London Auto gefahren? Ich dachte einfach, es wäre nicht so wichtig." "Nicht wichtig?" "Ich wollte keine Tatortermittlerin werden, sondern in die Forensik. Konnte ja keiner ahnen, dass die Prüfer so gemein sind", murmelte ich und steckte mir einen Snackoo in den Mund. Auf dem konnte ich wenigstens ärgerlich rumkauen, ohne dass ich ihm Rechenschaft ablegen musste. "Sie werden heute noch zur Zulassungsstelle gehen und sich für die Prüfung anmelden. In spätestens einer Woche möchte ich eine bestandene Theorie sehen. Haben Sie jemanden, der Ihnen ein paar Fahrstunden erteilen kann?" "In einer Woche?", fragte ich entsetzt. Das konnte nicht sein Ernst sein! "Ich bitte Sie, Fräulein Skye. Das sind ein paar Fragen, die Sie ankreuzen müssen. Und ich bezweifle, dass es Sie überfordern wird, wenn es nahezu jeder Highschoolschüler auf die Reihe bekommt." Gavin vergaß, dass Highschoolschüler nicht nebenbei damit beschäftigt waren, einem Mörder nachzujagen. Gerade jetzt hatte ich weder Zeit noch Nerven, Fragen aus einem Fahrschulkatalog zu büffeln. "Schätze, es bringt nicht viel, zu protestieren", murmelte ich leicht angesäuert. "Nicht, wenn es sich um eine dienstliche Anweisung handelt. Und sehen Sie es mal positiv: Sie bekommen Ihren eigenen Dienstwagen, sind mobil und nicht mehr darauf angewiesen, sich von Ihren Kollegen durch die Gegend kutschieren zu lassen." Blabla. Gavin sollte lieber betonen, dass ich nie wieder in die missliche Lage käme, auf seinem Motormonster um mein Leben fürchten zu müssen. "Wie schön, dass wir uns so einig sind, Fräulein Skye. Dann können wir uns jetzt den fallrelevanten Fragen zuwenden, ja?", fuhr er fort und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Ich sank etwas missmutig in meinen Stuhl und versuchte mir auszumalen, wie ich es verdammt noch mal schaffen sollte, für diese Prüfung zu lernen. Ich hatte ja jetzt schon kaum Freizeit. Etwas Schweres landete raschelnd in meinem Schoß: Eine prall gefüllte Snackootüte in XXL-Größe! Ich sah verwundert zu Gavin. "Und wofür ist die?" "Für Sie natürlich. Oder vielmehr für Ihren Verstand. Louis Hiller als Schützen in Betracht zu ziehen, wäre mir wohl erst wesentlich später in den Sinn gekommen." War das Gavins Vorstellung von Mitarbeitermotivation? Ich kam mir gerade wie ein Hund vor, dem man ein paar Leckerlis zuschob. Ich verzichtete trotzdem darauf, mich zu beschweren. Immerhin waren es Snackoos. Wuff. "Darf ich fragen, wie Sie auf diese Idee gekommen sind?" "Na ja", erwiderte ich zögerlich, "Ich wollte alle Eventualitäten ausschließen. Man soll ja alles in Betracht ziehen." Ich räusperte mich und hoffte einfach, dass Gavin mir das abkaufte. Dass die Schmauchspuranalyse an Hillers Händen mehr ins Blaue geraten und dem Gespräch mit Mr. Edgeworth zu verdanken war, musste ich Mr. Superkompetent ja nicht auf's Auge drücken. Nicht, seitdem ich mich gezwungen sah, in Rekordzeit meine Führerscheinprüfung zu absolvieren. "Sehr schön", sagte er schließlich. Wuff. Gavins Kopf neigte sich zur Tür, weil es geklopft hatte. "Herein." Auch mein Blick ging zur Tür und angesichts des eintretenden Besuchers ging mir auch fast die Kinnlade runter. Entweder spielten mir meine Augen einen Streich oder da kam tatsächlich ein Gavin-Duplikat in das Büro spaziert, nur anders gekleidet und mit einer Brille auf der Nase. "Kristoph." Gavin klang freundlich, aber wirkte überrascht. "Ich hoffe, dass ich nicht ungelegen komme." Der Mann vor mir sah aus, als hätte man dem Glimmerfop seine Blingbling-Accessoires weggenommen, in einen Anzug geprügelt und ihm ein Seriös-Gen in die DNA gepflanzt. Er rückte seine Brille zurecht, nachdem er mich kurz inspziert hatte. "Nun, Klavier, möchtest du sie mir nicht vorstellen?", unterbrach er das kurze Schweigen, das wohl aufgrund meines Starrens ausgebrochen war. "Sicher. Ema Skye, mein neuer Detective." Gavin wedelte knapp mit der Hand zwischen uns. "Und das ist mein Bruder Kristoph, Strafverteidiger." Erst jetzt fiel mir ein, dass Mr. Edgeworth ihn erwähnt hatte. Bei der verblüffenden Ähnlichkeit zum Glimmerfop hätte ich auch gleich darauf kommen können. "Sehr erfreut", begrüßte er mich und ich schüttelte kurz seine dargebotene Hand. "Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber Klaviers Bekanntschaften sind immer so erheiternd." Ach, waren sie das? Keine Sekunde später hatte er sein Augenmerk wieder auf seinen Bruder gerichtet. "Was ist denn mit deinem, ach, wie hieß er doch gleich?" "Daryan hat die Abteilung gewechselt. Was führt dich zu mir?" Kristoph Gavin fegte einen nicht vorhandenen Fussel vom seinem Schulterblatt, dann lächelte er herzlich. "Ich hätte anrufen sollen, nicht wahr?" Langsam, aber sicher fühlte ich mich überflüssig in diesem Büro und hätte mich ganz gern in Luft aufgelöst, während ich Gavins Bruder dabei beobachtete, wie er seinen Blick über das Mobilar schweifen ließ. War er hier zum ersten Mal oder tauschte der Glimmerfop regelmäßig seine Büromöbel aus? "Ich war gerade bei Diane und bei dem bezaubernden Duft, den das Jasmin-Bouquet in ihrem Büro verströmte , fühlte ich mich gleich an dich erinnert. Bei der Gelegenheit wollte ich einfach mal vorbeischauen und mich nach deinem Wohl erkundigen, mein Bruderherz." Gavin schmunzelte verhalten. "Wie aufmerksam von dir, Kristoph. Alles bestens, danke der Nachfrage." Kurzes Schweigen folgte, als wartete sein Bruder auf einen Zusatz. "Das freut mich", sagte er schließlich, ging dann zur Fensterfront und fuhr fort: "Mrs. Coltrane ließ mir mitteilen, dass du ihr immer noch keine Rückmeldung bezüglich deines Erscheinens zu ihrer alljährlichen Wohltätigkeitkeitsveranstaltung hast zukommen lassen." Als auch nach mehreren Sekunden keine Antwort kam, hörte Kristoph Gavin auf, die Aussicht zu bewundern und wandte sich wieder dem Raum zu. "Du hattest sicher deine Gründe. Ich habe, in Anbetracht der Dringlichkeit, dein Kommen für morgen Abend bestätigt. Solltest du dich übergangen fühlen, steht es dir natürlich frei, wieder abzusagen." Wahrscheinlich täuschte ich mich und ich kannte Kristoph Gavin nicht, aber für mich klang das untererschwellig wie Denk nicht mal daran abzusagen. "Ich werde da sein. Danke, Kristoph." Gavins Bruder lächelte wieder herzlich, dann betrachtete er mich kurz. "Ich will auch gar nicht weiter deine kostbare Zeit beanspruchen." "Du störst mich nicht", sagte Gavin ein wenig hastig. "Ich weiß, Klavier, aber ich habe auch noch etwas zu tun." Kristoph Gavin schlenderte zur Tür und wartete, bis sie ihm geöffnet wurde. "Wir sehen uns morgen. Sollte dir etwas dazwischen kommen, lass es mich wissen." "Sicher. Komm gut nach Hause, ja?", erwiderte Gavin, ließ seinen Bruder austreten und schloss dann sacht die Tür. Vielleicht war mein Eindruck falsch, aber dafür, dass die beiden Geschwister waren, gingen sie merkwürdig steif miteinander um. Wann auch immer ich Lana verabschiedete, entließ ich sie niemals ohne Umarmung. Aber es konnte auch daran liegen, dass meine Anwesenheit gestört hatte. "Sie sehen Ihrem Bruder verdammt ähnlich", kommentierte ich Kristoph Gavins Blitzbesuch. "Bitte denken Sie nicht einmal daran, dass er mein Zwillingsbruder sein könnte. Er ist acht Jahre älter als ich." Das klang, als ob er diese Bemerkung schon viel zu oft gehört hatte, von daher beließ ich es dabei und zuckte mit den Schultern. Gavin setzte sich auf seinen Schreibtisch und sah mich auffordernd an. "Wie war's mit Mrs. Hiller?" Ich deutete auif das Diktiergerät. "Viel Spaß." Als meine Stimme vom Band ertönte, hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten. Es war schon komisch, dass die eigene Stimme immer so fremd klang, wenn man gezwungen war, sie zu hören. Ich schnappte mir meine XXL-Snackootüte und schlenderte im Büro umher. Gavins Büroeinrichtung war zum Großteil ziemlich albern (wobei ich ihn um diesen Massagesessel beneidete – PF!), aber dieser Panoramaausblick auf LAs Straßen war schlichtweg gigantisch. Munch. Munch. Munch. Die Fenster bei uns im Großraumbüro waren so klein, dass es einer Frechheit gleichkam, das als Ausblick zu bezeichnen. Munch. Munch. Munch. Unten tummelte sich das Chaos des Nachmittagsverkehrs. Durfte ich mir meinen Dienstwagen eigentlich aussuchen, wenn ich den Führerschein hatte? Munch. Munch. Munch. Vermutlich nicht. "Mrs. Hiller, kann es sein, dass Ihr Sohn schwul war?" Ich drehte mich von der Fensterfront weg, weil Gavin gleich mit dem Band fertig sein würde und nahm die Richtung zu meinem angestammten Platz. Im Vorbeigehen fiel mir auf, dass er mich mit verschränkten Armen intensiv musterte. Wie lange starrte er mich schon so an? Wenn er mir jetzt erzählte, dass ich die Vernehmung völlig falsch geführt hatte und sie somit unbrauchbar war, würde ich ihm jeden einzelnen Snackoo meiner XXL-Tüte in sein Grinsegesicht werfen – und ich hatte ja noch nicht viele gegessen. Munch. Als das Band endlich schwieg, ruhten seine Augen immer noch auf mir. So langsam fand ich das unangenehm. "Hab ich was falsch gemacht?" Er lächelte. "Ein bisschen knapp, ja? Aber viel mehr hätte selbst ich nicht aus ihr rausbekommen." Klang nach Gavinischem Lob. Wuff. Er gab mir das Diktiergerät zurück. "Ich brauche das in zweifacher schriftlicher Ausführung und eine digitale Kopie." "Ich bin nicht Ihre Sekretärin, Mr. Gavin." "Dann suchen Sie sich jemanden, der das für Sie macht." Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. "Schon mal ein Täterprofil erstellt?" "In der Theorie? Gefühlte hundert Mal." "Ich bin mir sicher, dass Sie nur darauf brennen, das Ganze in der Praxis zu versuchen. Bis morgen sollten Sie das hinkriegen, ja?" Schön, das hieß also, dass ich noch lange nicht Feierabend hatte. Munch. Munch. Munch. "Und ich möchte, dass Sie sich darauf vorbereiten, als Sachverständige vor Gericht auszusagen." Munch. Munch. Munch. "Hören Sie mir zu?" "Sicher, Mr. Gavin. Sie möchten, dass ich in der Verhandlung aussage. Ist angekommen. Oder brauchen Sie das auch noch schriftlich?" Kurz zuckte es um seine Mundwinkel, aber er sagte nichts. Vielmehr durchlöcherte er mich wieder mit diesem Blick. Herrgottnochmal, konnte er keine braunen Augen haben? Dieses stechende Blau nervte mich maßlos. "Ich habe eine Frage an Sie, Fräulein Skye." Ich atmete etwas schwerfällig aus und schmiss den Snackoo, den ich mir gerade in den Mund schieben wollte, zurück in die Tüte. "Würden Sie mit mir schlafen?" "Was?" Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Frage auch inhaltlich zu mir durchgesickert war. "Ob Sie mit mir schlafen würden. Ja oder nein? Tipp am Rande: Das ist kein Angebot." Ich starrte ihn an. Das war sein Ernst?! Ich griff in die Tüte und feuerte eine volle Hand Snackoos in seine Richtung. "Sie sind nicht witzig, Gavin. Nicht im Geringsten." In aller Seelenruhe fegte er die Snackoos von seinen Sachen. Ein paar musste er sich aus den Haaren ziehen. "Warum so erbost?" "Fahren Sie zur Hölle!" Ich sprang auf, mit dem Vorhaben, aus seinem Büro zu stürmen. Viel lieber hätte ich eine von seinen scheiß Klampfen gegriffen und ihn damit quer durch die Staatsanwaltschaft gejagt. Ich wusste nicht, wie er es geschafft hatte, aber Gavin war vor mir an der Tür und lehnte sich dagegen, bevor ich sie aufreißen konnte. "Weg von der Tür", sagte ich betont ruhig. "Nicht bevor wir meine Frage geklärt haben." "Ich habe zwar keinen Führerschein, aber sehr wohl einen Waffenschein. Ich bezweifle, dass Sie jemand vermissen wird." Er rührte sich keinen Millimeter von der Stelle und ich fragte mich, ob ein Mord an Gavin nicht doch eher unter "Zum Wohle der Gesellschaft" fallen würde. "Wow, jetzt werden Sie persönlich, aber so dramatisch wollte ich es gar nicht haben. Am besten wir fangen damit an, dass Sie mir sagen, weshalb Sie so aufgebracht sind." Wie bitte?! "Meine Frage war anmaßend und indiskret, wenn ich Ihren Wutausbruch richtig interpretiert habe", fuhr Gavin fort, weil ich ihm nicht antwortete. "Manche würden das sexuelle Belästigung bezeichnen!" Er zog die Luft zwischen den Zähnen ein. "Aus Ihrer emotionsgeladenen Sicht vielleicht. Juristisch gesehen: Nein." Ich schielte tatsächlich kurz zu seinen Gitarren, weil das Bedürfnis immer größer wurde, hier einfach irgendwas kaputt zu schlagen. "Können Sie sich vorstellen, dass jemand wie Justin Case Ihnen eine anmaßende Frage stellt? Zum Beispiel während der Verhandlung, wenn Sie Ihre Aussage machen?" "Ich glaube nicht, dass er mir vor dem Richter eine so bescheuerte Frage stellen wird!" "Vielleicht nicht diese Frage, aber eine andere, die Sie anmaßend finden werden." Er kam die wenigen Schritte, die zwischen uns lagen, auf mich zu. "Eine Frage, die möglicherweise auf Ihre berufliche Kompetenz abzielt und Sie so richtig schön verärgern wird, Fräulein Skye." "Wenn das passiert, liegt es an Ihnen, Einspruch zu erheben." "Ich kann Einspruch erheben, aber ich kann nicht garantieren, dass Sie auf weitere seiner Fragen nicht genau so verärgert reagieren. Was glauben Sie, macht das für einen Eindruck auf den Richter?" Ich verschränkte die Arme und versteifte mich darauf, die Tür anzustarren. Vielleicht hatte Gavin nicht total Unrecht, aber das hätte er mir auch so sagen können, statt mich mit dieser lächerlichen Provokation zu reizen. "Wenn ich sage, dass Sie sich auf Ihre Aussage vorbereiten sollen, dann nicht nur inhaltlich, vor allen Dingen mental. Die meisten Menschen sind wie ein offenes Buch, aber Sie sind durchsichtig wie ein Glas Wasser. Das reinste Vergnügen für einen Verteidiger." "Ja, danke, ich hab's kapiert!", blaffte ich ihn an und erntete prompt ein süffisantes Grinsen. "Ich meine: Darf ich jetzt bitte, bitte gehen?", setzte ich übertrieben freundlich nach. "Sie dürfen." Er ging zu seinem Schreibtisch und ich wandte mich augenrollend zur Tür und hasste ihn dafür, dass es ihm offensichtlich einen Riesenspaß machte, mich ständig zu belehren. "Ihre Tasche", hörte ich ihn sagen. Ich stapfte zum Stuhl, riss meine Tasche an mich und öffnete die Tür. "Wir fahren morgen nach Fresno." Ich hielt inne. "Fresno?" Und wieso wir? Er hielt eine Fotografie vom Mordwaffen-Umschlag in die Höhe. Oh, richtig. Der verifizierte Poststempel. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hole ich Sie morgen Früh um sechs Uhr ab. Die Fahrtzeit beträgt fast vier Stunden und ich muss am Abend wieder hier sein." "Können Sie nicht allein hinfahren?" "Fräulein Skye, Sie sind die Ermittlerin und ich der Staatsanwalt. Das heißt, Sie ermitteln, ich klage an. Ich bin nicht derjenige, der nach Fresno muss, aber ich bin so nett, Sie dort hin zu fahren." Hoffentlich erwartete er jetzt nicht, dass ich vor Glückseligkeit in den Himmel schwebte. "Ich glaube nicht, dass ich noch eine Fahrt auf Ihrem Motormonster ertragen kann." "Wären Ihnen vier Räder lieber?" Eigentlich war mir gar nichts lieb, das seine Anwesenheit implizierte, aber ich nickte einfach mal, schon allein, weil ich die Diskussionen mit ihm satt hatte. "Bis morgen", sagte er. Weshalb er so feierlich grinste, war mir schleierhaft. Die Aussicht, einen ganzen Tag mit dem Glimmerfop abspulen zu müssen, war alles andere als toll. Mit einem Krachen zog ich die Bürotür hinter mir zu. 05. Oct. 2025 - Klavier ----------------------- Heute war einer der Tage, an dem ich lieber im Bett geblieben wäre. Eine für L.A. untypisch beißende Kälte zog durch die Straßen, getrieben von einem peitschenden Regen, wie ich ihn hier seit drei oder vier Jahren nicht mehr erlebt hatte. Ich steckte gerade eine Zapfpistole in das Tankrohr meines Aston Martins und hatte das dringende Bedürfnis wegen der Kälte im Kreis zu rennen, damit mir wärmer wurde. Nachdem ich das Auto vollgetankt hatte, konnte ich nicht eilig genug den Shop betreten. Ein junges Fräulein stand hinter der Verkaufstheke, das Gesicht in die Hände gestützt und in einer Zeitung vertieft. Ich schlenderte zur Getränkeabteilung und schnappte mir eine Flasche Wasser. Mein Blick ging nur zufällig zur Printauslage, umso mehr blieb er dort haften: Irgendein Paparazzo zählte wohl gerade einen Haufen Dollars, weil er mich vorgestern Nacht beim Verlassen des Manilas mit seiner Kamera erwischt hatte. Selbstverständlich mit meinem brünett gelockten One Night Stand an der Hand. Ich trat näher und meine Augen registrierten auf die Schnelle fünf oder sechs Zeitungen mit Titeln wie Ist sie die Neue an Gavins Seite? und Wer ist die schöne Unbekannte? Selbst die L.A.Times hatte es sich nicht nehmen lassen, mich als Tagesaufhänger zu missbrauchen. Die "schöne Unbekannte" hieß Vivian Alvarado - letztendlich erfuhr ich doch ihren Namen, obwohl ich nie darum gebeten hatte. Ich wandte mich von der Zeitungsauslage ab und trug meine Wasserflasche zur Kasse. Die Verkäuferin war immer noch mit Lesen beschäftigt. Über Kopf sah ich, dass sie sich brennend für den Artikel interessierte, der zu dem Foto mit mir und Vivian Alvarado gehörte. Sie seufzte schwer. Ich presste amüsiert die Lippen zusammen, weil ich in ihrem Beisein problemlos die Tankstelle hätte ausrauben können. Da ich nicht ewig Zeit hatte, stellte ich die Wasserflasche mittig auf die Zeitung, sodass sie endlich zu mir aufsah. "Morgen", sagte ich und wartete die üblichen fünf Sekunden ab, die die Leute brauchten um meine Anwesenheit zu verdauen. Nachdem sie mit aufgerissen Augen mehrmals das Zeitungsfoto mit mir verglichen hatte, während ihr Mund ein lautloses O wie Oh, mein Gott formte, deutete ich mit dem Zeigefinger auf die Wasserflasche und dann nach draußen in Richtung meines Autos. "Hi", hauchte sie. "Hi. Säule fünf", erwiderte ich und versuchte dabei ihr zartes Stimmchen zu imitieren. Sie nickte wie fremdgesteuert, wobei ihr verträumter Blick dem Ganzen noch die Krone aufsetzte. Ich lehnte mich etwas nach vorn und sagte: "Wenn Sie es schaffen, mir noch zwei Kaffee Latte fertig zu machen, gehe ich hier als rundum glücklicher Kunde raus... versprochen." "Zwei?" Sie reckte kurz den Hals nach meinem Wagen, als erwartete sie, dass ihr jemand vom Beifahrersitz zuwinken würde. "Falls es möglich ist, noch vor der nächsten Sonnenfinsternis." Ich hatte fast das Bedürfnis zu applaudieren, als sie sich endlich den Kaffeeautomat bediente und anfing eine Art Schachtel zu falten. Nach ein paar Handgriffen sah es dann wie ein Getränkehalter mit Trageschlauf aus. Wie praktisch. Als ich meine Brieftasche hervor holte, säuselte sie "Geht auf's Haus." Es war immer wieder erstaunlich, dass die Leute einem alles Mögliche schenken oder erlassen wollten, wenn man ohnehin schon in Geld schwamm. "Gehört Ihnen die Tankstelle?" "Nein", hauchte sie zurück, wieder mit diesem verklärten Blick. "Dann fände ich es sehr uncool, wenn das auf Sie zurück fallen könnte, ja?", sagte ich und schob ihr meine Amex zu. Ich hatte auf mein GavinSexNow©-Timbre verzichtet, sonst wäre sie noch an Ort und Stelle umgekippt. Es war noch nicht ganz sechs Uhr, als ich den Motor vor Fräulein Skyes Apartement abschaltete. Ich nahm mir einen der Kaffeebecher und ließ das Navigationssystem die Route nach Fresno berechnen. Die Haustür öffnete sich. Vermutlich gab es nicht viele Leute, die Sonntags in aller Herrgottsfrühe ihren Briefkasten beehrten – Mrs. Oldbag gehörte dazu. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, als kaffeetrinkend auf Fräulein Skye zu warten, genoss ich die kleine Show, die sich mir bot. In meinem Kopf spielte ich die Quinten des Pink Panther Themes, so wie Mrs. Oldbag mit einer Taschenlampe in einen der Briefkästen leuchtete. Das war ohne Zweifel nicht ihr eigener, denn den hatte sie zuvor geöffnet. Sie sah kurz nach links und rechts, und steckte dann etwas in den Briefkasten, das ich von meiner Position aus nicht wirklich erkennen konnte – ich tippte auf Papier. Eine Nachricht? Die Haustür öffnete sich erneut. Mrs. Oldbag zuckte zusammen und verbarg die Taschenlampe hinter ihrem Rücken. Da es Fräulein Skye war, die die Tür geöffnet hatte, ließ ich kurz die Blinker aufleuchten. Es war immer noch dunkel und ich bezweifelte, dass sie mich hinter der Windschutzscheibe erkennen konnte, zumal ich kein Licht im Wagen angeschaltet hatte. Mein Fräulein Detective ließ sich ohne Begrüßung auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür lautstark zu. "Neugierige Gewitterziege!", fluchte sie in Richtung von Mrs. Oldbag, die mittlerweile das Kinn zur Straße gereckt hatte. Anscheinend war sie sehr erpicht darauf zu erfahren, zu wem Fräulein Skye ins Auto gestiegen war. "Wir könnten ein bisschen auf- und abspringen", schlug ich vor und bei der Vorstellung, wie Mrs. Oldbag wohl auf einen wackelnden Wagen reagiert hätte, musste ich breit grinsen. "Unterstehen Sie sich. Ich will hier noch eine Weile wohnen." Sie wuchtete den Anschnallgurt in das Gurtschloss. Was gab es Schöneres als frühmorgendlich ein Fräulein Skye in Hochstimmung neben sich zu haben? Ich deutete auf den zweiten Kaffee, den ich in den Getränkehalter am Beifahrersitz gestellt hatte. "Der ist für Sie, ja?" "Danke", brummte sie. "Ich hab das Täterprofil erstellt. Hab den Ausdruck mitgebracht." "Ich bin sehr gespannt." Ich leerte meinen Kaffee, warf den Pappbecher auf die Rückbank und startete den Wagen. Kurz nach zehn Uhr saßen wir in einem Fresnoer Café bei einem Frühstück. Mit Sicherheit war das kein Privatausflug, aber ich konnte mir vorstellen, dass ein ausgehungertes Fräulein Skye ein sehr unerträgliches Fräulein Skye war und außerdem wollte ich in Ruhe ihr Täterprofil begutachten. Der Kellner war so nett gewesen uns ein abgeschiedenes Plätzchen im zweiten Stock zu empfehlen, wo wir nicht Gefahr liefen, von ein paar kreischenden Fans überrascht zu werden. Bevor ich einen genaueren Blick auf das Täterprofil werfen konnte, rief Madison – meine Pressesprecherin – an. Sie war nicht sehr erfreut, dass ihr Telefon aufgrund der Schlagzeilen ununterbrochen klingelte. Ich gab ihr die Anweisung, weder Stellungnahmen noch Dementi rauszugeben. In solchen Fällen ließ ich die Medien bevorzugt am langen Arm verhungern. Sobald ich das Gespräch beendet hatte, schaltete ich mein Handy aus, damit ich ungestört das Täterprofil studieren konnte. Laut Fräulein Skyes Überlegungen war der Täter ein männlicher Weißer und zwischen 20 und 40 Jahren alt. Des Weiteren stufte sie ihn als so genannten "Mischtyptäter" mit überdurchschnittlicher Intelligenz ein, der sowohl Hiller als auch Cadaverini kannte. In Zusammenhang mit der Nachricht, die der Täter mit der Mordwaffe verschickte, schlussfolgerte sie, dass er sich überlegen und kontrollierend fühlte und eventuell Versuche startete, die Ermittlungsarbeit zu verfolgen. Der Täter hatte wahrscheinlich einen Komplizen gehabt um den Abtransport von Cadaverinis Leiche zu gewährleisten. Als Helfer zog Fräulein Skye Louis Hiller in Erwägung und gab als mögliches Transportmittel einen Kleinwagen an, da sich in direkter Nähe des Tatorts eine Straße befand. Ihre Schlussüberlegungen bestanden darin, dass Hiller und die unbekannte Person den Mord an Cadaverini geplant hatten und besagte Person X nach erfolgreichem Leichentransport Louis Hiller erstach und mit dem Auto flüchtete. Das klang doch schon recht annehmbar, mit einer winzigen Ausnahme. Ich trank einen Schluck von meinem Orangensaft und beobachtete mein Fräulein Detective über den Rand des Glases, wie sie einen riesigen Blaubeerpfannkuchen zerhackstückelte. Nachdem sie mir netterweise eins von den ürsprünglich vier Croissants übrig gelassen hatte und ich die kläglichen Reste in der Schüssel mit Rührei betrachtete, tippte ich darauf, dass sie wirklich hungrig war. "Wie viele Mägen haben Sie eigentlich?" "Wollen Sie mir unterstellen, ich sei verfressen?" "Wie könnte ich? Ich bewundere Ihren ausgeprägten Appetit. Und wenn Sie mich fragen, wiegen Sie kein Gramm zu viel." Fräulein Skye massakrierte ihren Pfannkuchen noch ein wenig energischer. Ich war mir fast sicher, dass sie dabei mein Gesicht vor Augen hatte. "Weshalb schließen Sie einen weiblichen Täter so kategorisch aus?", fragte ich. Sie zog eine Augenbraue nach oben und senkte die Gabel, die sie gerade in den Mund schieben wollte. "Sie verdächtigen Viola nicht ernsthaft?" "Natürlich verdächtige ich sie. Wieso auch nicht?" Sie schüttelte den Kopf. "Der Stich ging zwischen der elften und zwölften Rippe in die Milz. Es braucht mehr als nur ein bisschen Kraft um Rippen mit einem Messer zu durchstoßen. Eine Frau wie Viola? Ich bitte Sie, Mr. Gavin." "Unterschätzen Sie sie bitte niemals. Wir reden hier von Viola, die auf gurgelnde Kehlen steht." "Es ist für Frauen eher untypisch einen geplanten Mord mit Brachialgewalt zu begehen." "Bravo, Sie klingen wie eine eifrige Musterschülerin, ja? Stand in Ihren Lehrbüchen, dass Frauen bevorzugt vergiften und ersticken? Oder lieber töten lassen? Dass sie einen starken persönlichen Bezug zum Opfer brauchen und fast immer im häuslichen Umfeld zuschlagen?" Sie knallte die Gabel auf den Teller, stützte sich auf ihre Unterarme und sah mich herausfordernd an. "Wenn Sie alles besser wissen, weshalb fragen Sie mich überhaupt nach meiner Meinung?" Ein Grinsen konnte ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen. "Gehen wir mal nach Lehrplan vor, ja?", sagte ich und langte fast gleichzeitig nach dem Brotkorb, bevor Fräulein Skye sich auch noch das letzte Croissant zu Eigen machte. "Wann töten Frauen? Wenn sie sich aus einer misslichen Lage befreien wollen, aus einer Defensive heraus, um sich nicht beherrschen zu lassen, kombiniert mit dem psychosozialen Defizit, keine Problemlösungen entwickeln zu können." Fräulein Skye schmollte leicht, aber murmelte dann: "Weiter." "Sie haben Justin Case zugehört, nehme ich an. Viola stand unter massivem Hierarchiedruck innerhalb der Cadaverinis. Enzo stellte für sie ein Problem dar. Und dann tauchte auch noch ein übereifriger Cracker auf, dessen Fähigkeiten für den Clan zwar wertvoll waren, aber gleichzeitig eine Gefahr darstellten. Sie wird Louis Hiller für ihre Zwecke eingespannt haben." "Fragt sich nur, wie Sie das beweisen wollen." "Ich muss gar nichts beweisen. Sie hatte Zugang zum Tatort, sie hat ein Motiv, die Gelegenheit, die Mittel, stand mit beiden Opfern in Verbindung und der einzige Augenzeuge heißt Hiller und ist tot. Das reicht für eine Anklage." Wenn ich ehrlich war, missfiel mir die amerikanische Prozessordnung, wonach nicht die Schuld des Angeklagten nachgewiesen werden musste, sondern seine Unschuld – aber in diesem Fall kam sie mir ausnahmsweise entgegen. Ich leerte den Orangensaft und ließ mir mein Croissant schmecken, während ich Fräulein Skye dabei beobachtete wie sie schweigend in ihrem letzten Stückchen Pfannkuchen herum stocherte. Sie schmollte nicht mehr, aber wirklich überzeugt von meiner Lieblingstatverdächtigen schien sie nicht. Etwa zehn Minuten später bat ich um die Rechnung. Ich hatte kaum dem Kellner meine Amex überlassen, als Fräulein Skye sich überdeutlich räusperte. "Sie wollen nicht etwa für uns beide bezahlen?" "Wo ist das Problem?" "Ich hab selber Geld!" "Könnten Sie noch den hübschen Schmollmund dazu ziehen? Das rundet das Bild ab, ja?" Sie funkelte mich fuchsteufelswild an und ich hielt es für besser, einzulenken: "Ich setze es auf Spesenrechnung, okay?" Fräulein Skye ließ sich das augenscheinlich durch den Kopf gehen. Eins, zwei... fünf... sieben... zehn... zwölf... "In Ordnung." "Sie sind ein mutiges Fräulein. Rocken Sie weiter so." "Rocken Sie einfach hier raus, Gavin." Natürlich hatte ich nicht vor, eine Spesenabrechnung aufzumachen. Die machte ich nie, weil es mit lästiger Bürokratie verbunden war und es mich nicht interessierte, ob da 50 Dollar mehr oder weniger auf meinem Konto lagen. Die Postfiliale, aus der die Mordwaffe abgeschickt worden war, lag gleich gegenüber. Eine ältere Dame und ein Mann mittleren Alters wurden gerade am Schalter bedient. Weiter hinten stand eine Tür offen und ich sah einen sehr übergewichtigen Mitarbeiter, der auf einem Tisch saß, Zeitung las und sich einen Donut schmecken ließ. Fräulein Skye hatte ihn auch bemerkt. Mit einem stillen Abkommen gingen wir nach hinten und kassierten irritierte Blicke des Postbeamten am Schalter, die Fräulein Skye mit dem Ausklappen ihrer Polizeimarke beantwortete. Ich klopfte an den Türrahmen des Hinterzimmers, damit der unbeschäftige Mitarbeiter uns seine Aufmerksamkeit schenkte. Leider sah er nicht mal von seinem Magazin auf, stattdessen biss er in seinen Donut. "Is' Pause. Wenn Se was verschick'n woll'n, fragen Se mal besser Dwight." "Kriminalpolizei", erwiderte Fräulein Skye. Der Klops zuckte zusammen. Im nächsten Moment rutschte das Magazin auf den Boden. "Ich hab doch gesagt, dass ich nich' wusste, dass sie 'ne Prostituierte... HEY! Dich kenn' ich doch!" Er quälte sich vom Tisch auf den Boden, watschelte ein paar Schritte auf uns zu und begutachtete mich von oben bis unten. "Krass! Wo is'n mein Handy? Ich hab's voll verlegt. DWIGHT! Kannste mir mal dein Handy leihen? Ich will 'n Foto mit-" "Könnten wir uns ein bisschen diskreter unterhalten?", unterbrach ich ihn und betrat den Pausenraum. "Klaro, alles was du willst." Fräulein Skye schloss die Tür hinter uns. "Ich bin Howard. Kannst Howie sagen." Er grinste verschwörerisch über das ganze Gesicht. "Wir haben ein paar Fragen bezüglich einer Postsendung, die am 3.Oktober in Los Angeles per Eilbote zugestellt wurde", sagte Fräulein Skye. "Das Päckchen wurde in dieser Filiale aufgegeben." Sie holte eine vergrößerte Fotografie des Poststempels aus ihrer Tasche und gab sie Howard. "Wir möchten gern wissen, wer am Tag zuvor hier gearbeitet hat." Howard kratzte sich am Kinn und ich lehnte mich etwas zurück, bevor seine zahlreich sprießenden Pickel einen Würgereflex in mir auslösten. "Am 2. Oktober? Da war ich hier ziemlich allein, weil's Dwight nich' so gut ging, ne? Jimmy war zwischendurch hier. Hat mir 'n bisschen geholfen, obwohl er Urlaub hat. Richtiger Freund, der Jimmy." "Könnten Sie bitte nachsehen, um welche Uhrzeit die Sendung angenommen wurde und von wem?" "Da müsst' ich an den Computer. Wartet hier." Howard watschelte mit der Fotografie nach draußen und schloss die Tür, nachdem er er uns bestimmt drei oder vier Mal schmierig lächelnd zugenickt hatte. Fräulein Skye schüttelte sich, als ob sie jemand gezwungen hatte, bittere Medizin zu schlucken. Mir ging es in etwa genau so. Sie begann, sich im Pausenraum umzusehen. Durchsuchen durften wir zum jetzigen Zeitpunkt nichts, aber es konnte nicht schaden, hier und da einen oberflächlichen Blick zu riskieren. Leider geriet dieses heruntergefallene Magazin in mein Sichtfeld. Ich war weiß Gott kein Kind von Traurigkeit, aber die sexuellen Vorlieben so mancher Mitbürger wollte man einfach nicht auf's Auge gedrückt bekommen. Mit dem Fuß schob ich das Pornomagazin mit den nackten Omas unter den Tisch, damit mir weitere unfreiwillige Blicke erspart blieben. "Die haben hier Mitarbeiter des Monats", hörte ich Fräulein Skye aus der anderen Ecke des Zimmers sagen. Ich betrachtete die altersschwache Kaffeemaschine, die zuletzt wohl vor fünf Jahren gereinigt wurde. "M-Mr. Gavin?" Ich drehte mich zu Fräulein Skye herum, die eine Reihe gerahmter Bilder mit einer Mischung aus Unglaube und Entsetzen betrachtete. Ich trat neben sie und in jenem Moment, in dem ich sah, was sie sah, packte mich ebenso der Unglaube. Ich sah in das lächelnde Antlitz von Louis Hiller. Fräulein Skye deutete auf das Schild unter dem Portrait: Mitarbeiter des Monats 25/08: James Lowery Die Tür hinter uns wurde aufgerissen. Fräulein Skye und ich zuckten gleichzeitig zusammen. "Musste dich irgendwie vertan haben. Steht nix im Computer. Es wurde nix gescannt und auch nix gebongt. Also wurde es nich' aufgegeben." In diesem Moment war mir die Registrierung der Postsendung fast egal. "Howard, dieser Mann hier..." "Oh, du meinst Jimmy." "Jimmy?" "Is' nur sein Spitzname. Jimmy, Howie – verstehste? Nur Dwighty machen wir nich'. Dwight mag's nich' so." "Wie lange arbeitet er hier schon?", fragte ich. "Zehn Jahre. Oder nee, waren's elf?" Howard ging zurück zur Tür und riss sie auf. "DWIGHT! Wie lange arbeitet Jimmy schon hier?" Noch ein paar Dezibel lauter und die Filiale wäre in ihren Grundmauern erzittert. Ich ging ihm nach und drückte die Tür wieder ins Schloss. "Also schon eine halbe Ewigkeit? Das heißt, er wohnt hier in Fresno?" Meine Frage musste sich für ihn lächerlich anhören, denn er sah mich höchst irritiert an. "Er hat 'ne Wohnung hier in der Nähe. Is' kürzlich erst umgezogen. Die Bude davor hatte er ziemlich lange. Klar, dass er 'n Tapetenwechsel wollte." Gedankenfetzen in meinem Kopf schossen kreuz und quer. Sie zielten darauf ab, sich zusammen zu fügen und ein Puzzle zu formen, dessen Motiv ich nicht kannte. Oder besser nicht kennen wollte. "Sie haben gesagt, dass James Lowery am 2. Oktober hier war, trotz seines Urlaubs." "Hat mich auch ziemlich gewundert. Ich mein', er wollt' nach Hawaii. Jimmy hat immer von Hawaii geträumt. Hat ewig drauf gespart, ne?" "Welchen Eindruck hat er denn auf Sie an dem Tag gemacht?", fragte Fräulein Skye, die näher zu mir und Howard getreten war. "Jetzt, wo ich so drüber nachdenk'... 'N bisschen durch 'n Wind war er ja schon. Sagte, er hat sein' Flug verpasst und dass er's nich' mehr ändern kann. Aber hat ihn hart getroffen. Hab's gespürt. Der war so von der Rolle, dass er nich' mehr wusste, wo vorn und hinten is' hier im Laden." "Also war er keine große Hilfe?", fragte ich. "Nich' wirklich. Hab ihn zur Packstation geschickt. Irgendwann is' er dann gegangen." "Bei dieser Packstation werden alle aufgegebenen Postsendungen gelagert?" "Jup. Später werden se dann nach Örtlichkeit'n sortiert, gestempelt und verladen." Für einen kurzen, bitteren Moment schloss ich die Augen. Das passte natürlich alles so wunderbar ins Bild und ich hätte mich am liebsten geohrfeigt, weil ich zu nachlässig gewesen war. "Wofür is'n das überhaupt wichtig? Ich mein', hat er was ausgefressen? Wär' so gar nich' seine Art. Jimmy is'n prima Kerl. Würde nie 'n krummes Ding dreh'n." Fräulein Skye kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Gab sie sich die Schuld, weil sie diejenige war, die Mrs. Hiller befragt hatte? Ich schob alle frustrierenden Gedanken beiseite. Ich musste handeln und zwar so schnell wie möglich. "Howard, bitte drucken Sie uns die Personalakte von James Lowery aus, inklusive Anschrift, Telefonnummer und Arbeitsvertrag. Des Weiteren eine schriftliche Auflistung der am Schalter abgegebenen Postsendungen und eine Liste mit den jeweils gestempelten, ja?" Obwohl Howard nicht wusste, was hier vor sich ging, schien er begriffen zu haben, dass sein guter Kumpel Jimmy in ernsten Schwierigkeiten steckte. "Dann bin ich noch mal weg, ne?", sagte er mit hängenden Schultern. Mir tat er ein wenig leid, so verunsichert, wie er den Raum verließ. "Verdammter Mist!", fluchte Fräulein Skye. "Das ist doch idiotisch! Keiner hat gewusst, dass Hiller..." "Einen Zwilling hat? Ich höre davon auch zum ersten Mal." "Auf jeden Fall ist das kein Zufall. Das Problem ist, dass James Lowery über alle Berge sein wird!" Sie kramte in ihrer Tasche und holte ihre Kekse hervor. Als nächstes sah und hörte ich sie ununterbrochen kauen. "Ich frage mich, weshalb Mrs. Hiller nichts gesagt hat", murmelte ich. "Ruhe, bitte! Ich esse." "Ja, das sehe ich." Vermutlich meinte sie eher Ruhe bitte, ich muss nachdenken. "Kontaktieren Sie Mr. Bennett und schildern Sie ihm die Lage. Er soll umgehend ein zweites Verhör mit Mrs. Hiller führen und die zuständige Adoptionsstelle ausquetschen. Ich rufe jetzt beim nächsten Bezirksgericht an", entschied ich kurzerhand. "Wieso beim Gericht?!" "Weil wir unter den Umständen nicht einfach vor Lowerys Tür aufkreuzen können. Ich brauche eine polizeiliche Einheit in der Rückhand." Ich durfte zwar keine Zeit verlieren, aber vorerst war ich auf die Hilfe eines in Fresno ansässigen Richters angewiesen. Knapp zwei Stunden später saß ich mit Fräulein Skye in Richter Spelfields Büro und beobachtete mit wachsender Ungeduld, wie er die digitale Fallakte aus Los Angeles auf seinem Rechner studierte. Mr. Bennett hatte auf meine Anweisung alle fallrelevanten Dokumente an ein verschlüsseltes Email-Fach gesandt. Zuletzt besah sich Richter Spelfield die von Howard erstellten Unterlagen aus der Postfiliale. Dann endlich – mir kam es wie eine quälend lange Ewigkeit vor – nahm er mit Sorgesfalten auf der Stirn seine Brille ab und griff zum Telefonhörer. "Achtes Bezirksgericht, Richter Malcom Spelfield am Apparat. Bei mir sitzt Bezirksstaatsanwalt Gavin aus Los Angeles, dessen Ermittlungen im Zuge eines Mordes nach Fresno geführt haben. In der aktuellen Sach- und Beweislage besteht dringender Tatverdacht und Gefahr im Verzug gegen einen Mann namens James Lowery. Schicken Sie unverzüglich eine bewaffnete Sondereinheit in die East McKenzie Avenue 5. Weitere Anweisungen wird Staatsanwalt Gavin vor Ort geben." Nachdem Richter Spelfield aufgelegt hatte, atmete ich kurz durch. So kurzfristig eine Vorsprache bei ihm zu bekommen und obendrein festzustellen, dass er zu den Personen gehörte, die nicht lange fackelten, sondern Taten sprechen ließen, war ein absoluter Glücksfall. "Vielen Dank", war alles, was ich gerade hervorbringen konnte. Er nickte und zog die Tastatur auf seinem Tisch zu sich. "Ich stelle Ihnen noch schnell eine Durchsuchungsanordnung aus." Die sechsköpfige Sondereinheit wartete zwei Straßen entfernt von Lowerys Wohnblock. Ich vereinbarte mit den Herrschaften, dass zunächst nur ich, Fräulein Skye und der Einsatzleiter, Detective Trawler, zur Wohnung vordringen würden. Die anderen sollten sich für einen möglichen Zugriff vor dem Haus bereit halten. Nachdem wir alle potentiellen Fluchtwege überprüft hatten, konnten wir mit Sicherheit sagen, dass die Eingangstür unten die einzige Möglichkeit war, das Haus zu betreten und wieder zu verlassen. Fräulein Skye stattete man mit einer Beretta 92 aus. Während sie den Gürtelholster anlegte, fragte ich mich, ob so ein zierliches Fräulein wirklich mit einer Waffe hantieren konnte. Der Gedanke war albern, aber in meiner Vorstellung passte es nicht zu ihr. Indem wir bei einem Nachbarn klingelten, gelangten wir in das Treppenhaus. Fräulein Skye und ich postierten uns jeweils rechts und links von Lowerys Wohnungstür, Trawler etwas versetzt am oberen Treppenabsatz in unmittelbarer Zugriffsnähe. Zunächst legte ich das Ohr an die Tür um vorab verräterische Geräusche ausmachen zu können. Ich vernahm nichts, also klingelte ich. Keine Reaktion. Nach einer halben Minute klingelte ich erneut. Als auch der fünfte oder sechste Versuch nichts brachte, musste ich die erste Warnung ausrufen. "Kriminalpolizei. Mr. Lowery öffnen Sie bitte innerhalb einer Minute die Tür. Ansonsten sehen wir uns gezwungen, sie aufzubrechen." Wir warteten fast zwei Minuten. Mein letzer Klingelruf folgte. "Mr. Lowery. Letzte Verwarnung. Sie haben zehn Sekunden." Ich gab Trawler ein Zeichen, der daraufhin zwei der fünf postierten Detectives via Funk zum Türaufbruch nach oben dirigierte. Sie kamen schnell und fast lautlos. "Aufbrechen", entschied ich und wich zurück um den Detectives Platz zu machen. Die folgende Prozedur ging ziemlich flink und ich war der Einzige, der draußen stehen blieb, sobald die Tür offen stand und die anderen die Wohnung stürmten. Ich lauerte auf verräterische Zeichen, die nach Festnahme klangen, doch alles, was ich hörte, war ein zweifach krachendes Geräusch. Vermutlich Türen, die aufgetreten wurden. "Mr. Gavin", hörte ich Fräulein Skye rufen. Das hieß dann wohl, dass Lowery aller Hoffnung zutrotz nicht zu Hause war. Als ich die Wohnung betrat, überrollte mich das nächste unschöne Desaster: Die Wohnung war leerstehend. Fassungslos durchstreifte ich die zwei Räume und betrat sogar überflüssigerweise das Badezimmer. Alles nur um mich vom Eindruck zu überzeugen, dass hier niemand wohnte. Im Moment hatte ich verloren. Lowery war mir mindestens drei Schritte voraus. Diese Erkenntnis traf mich so sehr, dass ich die Badezimmertür mit einem frustierten Faustschlag signierte. Es war fast 19 Uhr, als ich mit dem Wagen vor dem Präsidium in Los Angeles hielt. Alles was ich innerhalb der letzten Stunden erwirken konnte, war, James Lowery auf die generalstaatliche Fahndungsliste Kaliforniens zu setzen. Natürlich hatten wir es uns nicht nehmen lassen, Lowerys Nachbarn auszuquetschen, von denen zwei der Meinung waren, dass er diese Wohnung bezogen und auch regelmäßig betreten hatte. Ein Telefonat mit dem Vermieter bestätigte, dass Lowery vor vier Monaten die Wohnung übernommen hatte. Ich sah zu Fräulein Skye auf dem Beifahrersitz, die nicht einfach wortlos ausgestiegen war, sobald der Wagen stand. Tatsächlich machte sie einen recht geknickten Eindruck. "Dieser Fall wird immer abstruser", sagte sie leise zum Amaturenbrett. "Das trifft den Nagel auf den Kopf", erwiderte ich mit einem müden Lächeln. "Besprechen Sie mit Mr. Bennett alle Zwischenergebnisse. Ich werde morgen Früh weitere Entscheidungen treffen." "Zumindest kann man wohl Ihnen eine erholsame Nacht wünschen, Mr. Gavin", sagte sie schnippisch und öffnete mit der Skyeschen Durchschlagskraft die Beifahrertür. "Wenn Sie maßgeblich am Ermittlungserfolg teilhaben, winkt Ihnen ein Bonus." Sie hatte schon die Beine aus dem Wagen geschwungen, aber hielt dann doch in ihrer Bewegung inne. "Pfff. Wie viel?" "Dreihundert Dollar." "Fünfhundert. Mit Gavinischer Nervpauschale siebenhundert." Ich musste leise lachen. "Vierhundert. Gute Nacht, Fräulein Skye." Ich kniff kurz die Augen zusammen, als die Beifahrertür krachend ins Schloss fiel. Das klang schmerzhaft. Für mich stand noch der unbequeme Teil des Tages in Form dieser lästigen Wohltätigkeitsveranstaltung an. Ich hätte mich gern darum gedrückt und gehofft, dass meine fehlende Rückmeldung zur Einladung unbemerkt blieb, aber Mrs. Coltrane hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, Kristoph zu behelligen. Und mein Bruderherz bestand natürlich darauf, dass ich mich blicken ließ. Zu allem Überfluss würde ich es nicht rechtzeitig auf die Veranstaltung schaffen. Der Empfang war für 20 Uhr angesetzt und ich musste nach Hause um mich umzuziehen. Da auf der Einladung um Abendgarderobe gebeten wurde und ich Mrs. Coltranes Vorliebe für pompös aufgezogene Festlichkeiten die letzten sechs Jahre ertragen durfte, wusste ich, dass keiner der geladenen Herrschaften ohne Smoking aufschlagen würde. Als sich der Fahrstuhl zu meiner Penthousewohnung öffnete, stellte ich fest, dass überall Licht brannte. Hatte ich heute Morgen vergessen, es auszuschalten? Doch dann sah ich, wie ein Wischeimer und ein Mopp aus meinem Badezimmer getragen wurden. Ich war nicht minder überrascht, meine Hauswirtschafterin um diese Uhrzeit noch anzutreffen. Normalerweise kam sie vormittags oder nachmittags an drei Tagen die Woche. "Was machen Sie denn noch hier?", fragte ich Mereille. Sie stellte den Eimer ab, wischte sich über die Stirn und lächelte mich matt an. "Sohn krank. Viel Fieber. Deshalb ich arbeiten heute spät." "Ein Anruf hätte genügt, ja? Wenn Sie bei Ihren Kindern sein müssen, dann kann alles andere warten." "Wenn ich sagen, ich arbeiten für Mr. Gahwien, dann ich arbeiten." Ich musste über ihren Eifer schmunzeln. Mereille stammte aus Borginien und war vor drei Jahren mit ihren beiden Kindern nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert, um ihrem Bruder näher zu sein, der wohl schon ein Jahrzehnt hier lebte. "Wer kümmert sich denn jetzt um Ihren Sohn?" "Seines Schwester passen auf." Ich nickte nur. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich eigentlich keine Zeit zum Plaudern hatte und steuerte das Schlafzimmer mit meinem begehbaren Kleiderschrank an. Mein Klamottenbestand war mehr als üppig, allerdings nicht, was die heutige Kleiderordnung betraf. Folglich hatte ich relativ schnell die Kleiderhülle mit dem Smoking zur Hand. Das einzige weiße Hemd mit Umschlagmanschetten, das ich besaß, musste ich allerdings eine Weile suchen. Dummerweise hing es leicht gequetscht auf der Kleiderstange zwischen all den anderen Hemden. "Sie gehen für Tanz?", hörte ich Mereille hinter mir, als ich das Hemd heraus zerrte. "So was in der Art", murmelte ich. Sie trat näher und begutachtete die kleinen Fältchen auf dem Stoff. "Sie sich machen schön. Ich dampfen das für Sie." Meine Rettung! Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein Bügeleisen angefasst. Und ich wollte nicht ausgrechnet an diesem Hemd meine Premiere feiern. "Danke, Sie sind ein Schatz", sagte ich freudestrahlend. Mereille winkte nur ab, bescheiden wie sie war, und wuselte mit meinem Hemd davon. Ich nutzte das zweite Bad, das an mein Schlafzimmer grenzte, für eine Dusche und eine gründliche Gesichtsrasur. Nachdem ich mich halb angekleidet und vorab schon meine Haare gerichtet hatte, ging ich mit dem Smokingjackett zurück ins Wohnzimmer, wo mir Mereille das frisch gebügelte Hemd reichte. Es war noch warm, als ich es anzog. Gleichzeitig schrieb ich im Schnelltippverfahren eine SMS an Kristoph, dass ich mich um eine halbe Stunde verspäten würde. Dann begann der alljährliche Kampf mit dieser grässlichen Fliege. Ich hatte bis heute nicht gelernt, wie man sie richtig band. "Können Sie Fliegen binden?", fragte ich Mereille, in der Hoffnung, dass sie auch hier mehr Handfertigkeiten besaß als ich. "Mann tragen für große Tag eines Tunika in Borginien." Das hieß dann wohl nein. Bereits zum zweiten Mal öffnete ich den Fliegenknoten, weil meine Bindung schon wieder in einer Schieflage endete. "Mr. Gahwien, ich müssen schimpfen mit Sie. Was sein das?" Sie zeigte anklagend auf meinen Küchenbereich, der offen im Wohnzimmer integiert lag. Ich sah sie fragend an, weil meine Küche so aussah wie seit vier Jahren schon. "Ich nie müssen putzen. Immer leer. Niemand kochen." Jetzt verstand ich, worauf sie hinaus wollte und kam nicht umhin zu lächeln. "Brauchen gutes Frau für Mr. Gahwien zu kochen, damit essen richtig." Ihre Sorge um mein Wohlergehen war niedlich, aber ich aß fast immer außerhalb und in den heimischen Momenten beanspruchte ich einen Lieferservice. Ich hatte keine Ahnung vom Kochen und zu wenig Interesse, es wirklich zu lernen. Meine freie Zeit konnte ich mit spannenderen Dingen zubringen. "Ich werde mich bei Gelegenheit mal umsehen", schwindelte ich, um sie etwas zu besänftigen. "Amerika immer Stress. Viel laut. Müssen mehr hören Lamiroir. Dann wissen, was sein Ruhe in Kopf." Fast jedes Mal, wenn ich mich mit Mereille unterhielt, erwähnte sie diese Sängerin, die in Borginien wohl eine große Berühmheit war. So wie sie von Lamiroir schwärmte, kam mir der Gedanke, dass ich mir bei Gelegenheit wirklich mal ihre Musik anhören sollte. Ich begutachtete mein Bindungswerk im Spiegel. Die Fliege saß relativ gerade. "Lassen so. Sein gut." Sie hatte Recht. Besser würde ich es wohl heute nicht mehr hinbekommen. "Und jetzt Sie versprechen zu besorgen gutes Koch. In mein Sprache." Natürlich ließ mich Mereille in ihrer Hartnäckigkeit nicht so einfach davon kommen. Sie arbeitete seit zwei Jahren für mich und um die Kommunikation etwas zu verbessern, hatte ich mich entschieden Borginisch zu lernen. Zum Einen machte sie das glücklich, weil sie immerzu in höchsten Tönen von ihrer Heimat sprach und zum anderen klang Borginisch auf eine ganz eigene Art exotisch und geheimnisvoll, mit einer wunderschönen Sprachmelodie. Leider war Borginisch verflucht kompliziert, deshalb musste ich einen Moment überlegen, bevor ich zum Sprechen ansetzte. "ﮃⱦ ﮃ...ӝȜ...Ѭ₫₰ٶ" Ich war mir nicht sicher, ob das gerade richtig war. Die Gewissheit hatte ich, als ich einen leicht irritierten Blick von Mereille kassierte. "Okay, was hab ich gesagt?" "Sagen, dass Elefant nehmen Milch von Baum." Genau das war das Fatale an dieser Sprache: Der kleinste Fehler veränderte manchmal den gesamten Sinn. Ich ließ mir den Satz noch mal durch den Kopf gehen und hatte den Fehler dann ausgemacht. "ﮃⱦ₫₰ٶ ӝ... ѬʆȜ" "Jetzt Sie haben richtig. Werden besser mit Aussprache." Mereille lächelte zufrieden und gab mir das Smokingjackett. "Machen gutes Tanz jetzt. Ich wünschen Spaß." Die nächsten Stunden hätte ich lieber über borginische Kochrezepte geplaudert als mich von Mrs. Coltrane belagern zu lassen, aber dann hätte Mereille wohl noch eine Diskussion über das Fehlen von amerikanischem Pflichtgefühl vom Zaun gebrochen. Kristoph hatte auf meine SMS geantwortet: Kein Problem. Fahr vorsichtig. Ich schnappte meine Schlüssel und mein Handy und verabschiedete mich von Mereille. Die Veranstaltung war diesmal in die Walt Disney Concert Hall verlegt worden. Die Strecke kannte ich praktisch auswendig, weil die Gavinners im Zuge einer speziellen Konzertreihe mit den Philharmonikern vor drei Jahren ganze zehn Mal dort gespielt hatten. Und der Aston Martin bekam heute seinen zweiten Einsatz, weil ich unmöglich mit dem Smoking auf meiner Vendetta anrauschen konnte. Ein Portier öffnete mir die Tür zum Foyer. "Guten Abend, Mr. Gavin." "Guten Abend." Die Eingangshalle wirkte verlassen, mit Ausnahme meines Bruders, der mit gemäßigten Schritten und einem ebenso gemäßigten Lächeln auf mich zukam. Es überraschte mich nicht, dass er mich bereits hier empfing. Oder besser gesagt: abfing. "Du hast sie schon wieder falsch gebunden", stellte er fest, wobei er alles andere als vorwurfsvoll klang. Kristoph hob beide Hände, zum Zeichen, dass er meine Fliege richten wollte. Ich trat näher und ließ zu, dass er den Knoten öffnete um die Bindungsprozedur von vorn zu beginnen. "Du siehst müde aus, Klavier." "Ich hab mich so sehr auf heute Abend gefreut, dass ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen konnte." "Natürlich", erwiderte er schmunzelnd. Ich bewunderte Kristoph für seine geschickte Fingerfertigkeit. Nach nicht mal einer Minute betrachtete ich das – natürlich perfekte – Ergebnis im spiegelnden Glas der Eingangstür. "Da du ausgerechnet heute mit diesen unerfreulichen Schlagzeilen bedacht wurdest, halte ich es für angebracht, wenn du deine Unterredungen mit den weiblichen Gästen dezent gestaltest." Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass Kristoph es zur Sprache brachte, schließlich war das der einzige Grund, weshalb er mich hier abgefangen hatte. "Es ist nur ein gut gemeinter Rat, Klavier." "Ich hab dich schon verstanden", sagte ich nicht minder freundlich, obwohl ich wusste, dass er nicht nur um meinen Ruf besorgt war. "Vielleicht magst du gern vergessen, woher du kommst. Aber du solltest niemals vergessen, wohin du gehen möchtest." Kristoph sprach gern in der Familientradition der Gavins. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und nahm sein Gesicht in meine Hände, wie ich es als kleiner Junge schon bei ihm getan hatte. Nur musste ich ihn heute nicht mehr auf meine Augenhöhe zerren. "Kristoph, keine Schlagzeile der Welt wird mich davon abhalten, mein Bruderherz glücklich zu machen." Er lächelte und legte eine Hand auf meinen Kopf. Auch das war Tradition zwischen uns. Die geladenen Gäste hielten sich natürlich nicht im Konzertsaal auf, sondern in einer der größeren Nebenaulen. Das Erste, was ich machte, nachdem Kristoph die große Portaltür aufgezogen hatte, war die Anzahl der Gäste zu schätzen. Das mussten mehr als dreihundert Leute sein. Mrs. Coltrane war bekannt dafür, dass sie jeden belästigte, der Geld, Rang und Namen hatte, aber der heutige Empfang übertraf größentechnisch alle Jahre zuvor. Kristoph nutzte diese Gelegenheit immer wieder auf's Neue um wichtige Kontakte herzustellen. Und ich nutzte hier jedes Jahr die Gelegenheit, um mich im Versteckspielen zu üben. Eine Stunde musste ich bleiben, alles andere verstieß gegen die Etikette. "Oooooh, da ist er ja!" Meine Fleisch gewordene Nemisis rauschte in einem schwarzen Paillettenkleid auf mich zu. "Klavier, es ist so wundervoll, dass Sie trotz aller zeitlichen Engpässe meine kleine Veranstaltung beehren", flötete Mrs. Coltrane und zwang mir links und rechts ein Bussi auf die Wange. Ich fragte mich jedes Mal, weshalb sie so viel Zeit in die Planung von rauschenden Festen investierte, aber sich nicht einmal fünf Sekunden über ihre gesellschaftlichen Fettnäpfchen Gedanken machte. "Da Sie sich meine Anwesenheit so ausdrücklich gewünscht haben, konnte ich schlecht nein sagen", entgegnete ich mit einem gequälten Lächeln. Dummerweise hatte Mrs. Coltrane ihren Fanclub stets im Schlepptau – ein halbes Dutzend gackernder, schlecht beschäftiger Ehegattinen von Vorstandsvorsitzenden, die mich und Kristoph jetzt zum Fokus ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit gekrönt hatten. "Sie sehen Ihrem Bruder immer ähnlicher. So wohlgeratene Mannsbilder. Ganz die Mama, alle beide. Sophie wäre sicher stolz. Sie war ja auch eine absolute Schönheit." Ich musste aufpassen, dass mir das gequälte Lächeln nicht aus dem Gesicht rutschte. "Das war sie", würgte Kristoph Mrs. Coltranes Versuch, zum xten Mal Anteilnahme am Tod unserer Mutter zu heucheln, ab. "Wie ich sehe, lassen Sie heute die Philharmoniker aufspielen." "Aber ja, aber ja! Es hat mich Wochen gekostet einen geeigneten Termin zu finden. Diese Musiker sind immer so schrecklich ausgebucht, müssen Sie wissen. Aber es hat sich doch gelohnt, nicht wahr?" Sie klimperte mit den Augen in die Runde und erhielt prompt seufzende Zustimmung ihres Fanclubs. Mein Handy klingelte. Wer auch immer mich gerade anrufen wollte, hatte sich in meiner Gunst sehr weit nach oben gespielt. "Sie entschuldigen mich", sagte ich zu den Damen und entfernte mich mit schnellen Schritten um das Gespräch entgegen zu nehmen. "Ja?" "Du siehst scheiße aus, Gavin." Lenny. Es überraschte mich nicht, dass er zugegen war. Nicht, weil er zu den Gavinners gehörte, sondern weil sein Name als Konzertpianist in gewissen Kreisen viel zu bedeutsam war, um ihn ignorieren zu können. "Wo bist du?" "Schau mal nach links." Er stand draußen auf der Terrasse - natürlich rauchend - und winkte mir durch die verglaste Tür zu. In der Hoffnung, dass der Hühnerstall mich nicht dabei beobachtete, stahl ich mich auf die Terrasse um Lenny Gesellschaft zu leisten. "Danke für deine Rettung", sagte ich. Er verzog den Mund nur zu einem spöttischen Grinsen und zog an seiner Zigarette. Wir stellten uns etwas abseits. Lenny schwang sich auf das Steingeländer, um obenauf zu sitzen, ich lehnte mich dagegen. Die kühle Luft prickelte auf meinem Gesicht und ich genoss die Stille, die hier draußen herrschte. "Wusstest du, dass Daryan sich neuerdings als Tourmanager aufspielt?", unterbrach er das Schweigen, nachdem er seine Zigarette weggeschnippt hatte. "Klär mich auf." "Er hat mich heute bestimmt acht Mal angerufen. Jedes Mal mit einer anderen hirnrissigen Idee für die nächste Tour. Und jetzt fängt er an, mit Veranstaltern zu verhandeln." "Lass ihn", meinte ich nur. "Er ist derzeit schlecht ausgelastet." Daryan beklagte sich zwar nicht, aber ich wusste, dass er nur zähneknirschend seine Verbannung an den Schreibtisch ertrug. Folglich steckte er jetzt seine überschüssige Energie in die Band. "Oh, ich vergaß! Du findest für alles eine Rechtfertigung. Konsequenzen werden ja nur gezogen, wenn dir etwas gegen den Strich geht." Ich wusste, worauf Lenny anspielte, ohne dass er das Kind beim Namen nannte. "Du kannst du mir gern alles an den Kopf werfen, was du möchtest. Aber ich habe ihn damals nicht gebeten, zu gehen, ja?" Vor zwei Jahren hatte ich mich mit unserem damaligen Bassisten in einem Streit überworfen, was damit endete, dass Vincent wutentbrannt die Band verlassen hatte. Alle Versuche der Jungs, ihn damals umzustimmen, waren gnadenlos gescheitert. Ebenso ihr Bemühen, mich dahin zu kriegen, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Auf seinen Austritt hatte ich mit einem Bassistencasting reagiert und das war es, was Lenny mir bis heute vorwarf. So stur ich damals auch gewesen war, heute konnte ich seinen Frust verstehen. Zwischen ihm und Vincent hatte eine ganz ähnliche Verbundenheit geherrscht, wie zwischen mir und Daryan und ich wusste, dass der Tag niemals kommen würde, an dem er Ike als vollwertiges Bandmitglied akzeptierte. "Vielleicht sollte jemand Daryan ein wenig auf die Finger gucken", lenkte ich ein. "Bevor wir die Tour aus Jugendschutzgründen absagen müssen." "Keine Playmates inmitten von bunten Wassersprengern? Jammerschade", frotzelte er und zündete sich eine neue Zigarette an. "Das hat er nicht ernst gemeint, oder?" "Und ob. Mein Favorit war allerdings seine Idee, die Zuckerschnecken vollkommen nackt auf die Bühne zu stellen und die zensurbedürftigen Körperstellen nur mit Laserprojektion des Gavinners-Emblems zu überdecken." "Red es ihm aus, ja?" "Weshalb sollte ich deine Drecksarbeit machen?" Ich musste grinsen, weil ich erst jetzt registrierte, dass ich von Daryan herein gelegt worden war. "Weil er mir vorgestern Nacht das Versprechen abgenommen hat, dass ich mich vorübergehend aus allen Entscheidungen raushalte." "Clever von ihm." Durch die Terrassentür sah ich etwas: Dunkelblondes, hochgestecktes Haar, das zu einer zierlichen Frau gehörte. Sie stand bei Kristoph. Zwar sah ich sie nur von hinten, aber ich war mir sicher, dass es Diane Freyer war. Mit einem Mal fand ich es gar nicht mehr so schrecklich, hierher gekommen zu sein. "Gavin, du willst nicht ernsthaft wieder da rein", murmelte Lenny, kaum dass ich ein paar Schritte auf die Tür zugegangen war. "Ich muss noch den Scheck ausstellen", versuchte ich mich zu rechtfertigen, obwohl ihm der Grund vermutlich egal war. "Ich hau gleich ab. Viel Spaß noch", sagte er und schlug in meine Hand ein. Ich ließ Lenny zurück, der sicher noch aufrauchen wollte, und öffnete die Terrassentür. Kristoph erblickte mich sofort und fast im gleichen Moment drehte sich auch Diane um und lächelte mir zu. Sie sah absolut umwerfend aus in diesem mintgrünen Kleid. Noch während ich mich den beiden näherte, änderte sich Kristophs Blick in eine stumme Frage und ich ahnte, dass ich anfing auf sehr dünnem Eis zu wandeln. Allein die Tatsache, dass ich Diane Blumen hatte zukommen lassen, musste ihn außerordentlich misstrauisch gemacht haben. "Ich hab mein Scheckbuch vergessen. Könntest du mir aushelfen, Kristoph?", log ich. "Natürlich. Der Garderobiere verwahrt meinen Mantel. Ich bin sofort wieder da", sagte er und entfernte sich mit einem Nicken. Das ging ja leichter, als ich dachte. Fast zu leicht. Ich hatte gerade meinen Blick auf Diane neben mir gerichtet, als die glockenhelle Stimme von Mrs. Coltrane in meinen Nacken wehte. "Oooooohhh, Klavier! Hier sind Sie! Wir haben Sie schon überall gesucht." Ein wenig verärgert drehte ich mich zu Mrs. Coltrane und ihrem Fanclub um. Kristoph hatte sie wohl kommen sehen und lachte sich wahrscheinlich gerade ins Fäustchen. "Wir haben uns gefragt, ob Sie uns die Ehre erweisen würden, ein Stück zum Besten zu geben. Kristoph erzählte mir einmal in aller Vertraulichkeit, dass Sie ein kleiner Charmeur an den Tasten sind. Wir haben hier einen echten Bechstein. Das sollte Sie doch reizen. Kennen Sie Clair de Lune?" Fast hätte ich mich bei meinem unterdrückten Lachanfall verschluckt und ich konnte es gerade noch in ein dezentes Husten verwandeln. "Sicher kenne ich es, Mrs. Coltrane." "Wie wunderbar! Sie würden mir ja solch eine Freude bereiten, wenn Sie es für mich spielen könnten. Wissen Sie, ich liebe Debussy." Sie sprach den Namen vollkommen falsch aus, aber das kümmerte mich im Moment weniger. Fakt war, dass ich keine Lust hatte, für Mrs. Coltrane zu spielen und sie und ihre Anhängsel einfach nur loswerden wollte, damit ich ein paar Worte mit Diane wechseln konnte. Leider klimperte mich dieses Weib unbeirrt an und ich konnte ihr einfach kein schlichtes Nein an den Kopf werfen. Nicht unter diesen Umständen. Die Terrassentür öffnete sich und ein kleiner Teufel warf mir einen Rettungsanker zu. "Ich würde wahnsinnig gern für Sie spielen. Aber warum ich, wenn mein geschätzter Bandkollege und Konzertpianist Lenarius Kamisic das viel besser könnte, ja?" Den letzten Teil des Satzes hatte ich etwas lauter als nötig gesprochen, sodass Lenny an der Tür zur Salzsäule erstarrte. Zum Einen hasste er es bei seinem richtigen Vornamen genannt zu werden und die Tatsache, dass ihn mittlerweile eine ganze Armee von Augenpaaren musterte, schien ihm auch nicht zu gefallen. Ich ging auf ihn zu und führte ihn zu Mrs. Coltrane und den anderen. "Gavin, was soll das?", zischte er mir leise zu, doch ich ignorierte es. "Mrs. Coltrane möchte so gern Clair de Lune hören. Und wer könnte es besser spielen als du?", sagte ich für alle hörbar und mit einer affektierten Feierlichkeit, die Mrs. Coltrane in nichts nachstand. Sie machte große Augen. "Ich wusste ja gar nicht, dass Sie gekommen sind, Mr. Kamisic. Ich habe Sie den ganzen Abend nicht gesehen!" Kein Wunder. Vermutlich hatte er die ganze Zeit seine eigene, private Nikotinparty auf der Terrasse gefeiert. "Sie müssen unbedingt spielen! Ich werde den Musikern noch schnell sagen, dass sie einen Moment unterbrechen sollen." Sie wuselte in heller Aufregung davon und ihre Anhängsel folgten ihr auf dem Tritt. Damit war ich wohl aus dem Schneider. Ich lächelte sogar noch zufrieden, als Lenny mich unsanft am Kragen gepackt hatte und mir das Hemd zerknitterte. "Nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht umbringen sollte. Ich hasse Debussy!" "Und ich hasse diese Fliege. Du machst mir trotzdem nicht die Freude, sie einfach abzureißen, ja?" Er ließ mich los. Ich fing Dianes Blick auf, die uns mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Die Musik hörte auf zu spielen. Kurz darauf stand auch schon Mrs. Coltrane wieder neben uns. "Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!", bellte sie in die Aula, sodass alle Gespräche nach und nach verstummten. "Mit Freuden darf ich verkünden, dass der hochgeschätzte Lenarius Kamisic heute für uns spielen wird. Nämlich mein absolutes Lieblingsstück Clair de Lune-" "Welches in Wahrheit nur ihr zweitliebstes Stück ist, wie sie mir in aller Bescheidenheit verraten hat." Mrs. Coltrane sah mich höchst verwundert an, weil ich ihr so einfach ins Wort gefallen war. "Und deshalb wird Mr. Kamisic auch ihrem guten Geschmack nachkommen und Fantaisie Impromptu von Chopin zum Besten geben." Ich erntete den nächsten verwunderten Blick. Diesmal von Lenny. Ich wusste, dass er Chopin verehrte und seine Stücke als musikalisches Heiligtum betrachtete. Fantaisie Impromptu kannte er zudem auswendig. Auf der letzten Gavinners-Tour hatte er sich regelmäßig einen Spaß daraus gemacht, Daryan während der Soundchecks mit diesem Stück in den Wahnsinn zu treiben, weil dieser klassische Musik abgrundtief hasste. Unter Applaus ging Lenny vor zum Flügel, gefolgt von einer immer noch irritiert wirkenden Mrs. Coltrane. Ich sah Kristoph am anderen Ende der Aula. Aus der Entfernung konnte ich nicht deuten, wie er die Szenerie bewertete. "Welches Problem gibt es eigentlich mit Clair de Lune?", fragte Diane zu meiner Rechten. "Gar keins, schätze ich." Leichter Spott zog sich um ihre Mundwinkel. Nach all dem Firlefanz kaufte sie mir das natürlich nicht ab. Ich beugte mich etwas zu ihr runter und sagte gedämpft: "Lenny kann diesem Stück nicht sehr viel abgewinnen. Er bezeichnet es als Hausfrauenklassik." "Verstehe. Und als was bezeichnen Sie dieses Stück, Mr. Gavin?" Für einen Moment verlor ich mich in ihren grünen Augen. "Als ein Stück, das ich lange nicht mehr gespielt habe", wich ich ihrer Frage aus. "Spielen Sie so schlecht?" "Für ein ungeübtes Ohr vielleicht nicht, aber es gibt keinen Grund, die Gäste mit meinem Amateurspiel zu belästigen, wenn wir einen so begnadeten Pianist wie Lenny hier haben." Wie um meine Aussage zu unterstreichen, ertönten die ersten Klänge von Fantaisie Impromptu. Diane wandte sich in Richtung des Flügels und ich bekam einen sehr verführerischen Anblick ihres Rückens geboten. Das Kleid gab nicht viel Einblick, aber die bloße Haut ihrer Schulter- und Nackenpartie genügte, damit ich in Gedanken den Mann verfluchte, der sie eines Tages geheiratet hatte, bevor ich sie kennen lernen durfte. Ich ging einen Schritt auf sie zu, sodass ich etwas dichter hinter ihr stand. Diane war das nicht entgangen, denn als nächstes bemerkte sie: "Er spielt fantastisch." "Meine Rede", erwiderte ich nur, wobei meine Augen regelrecht an diesem Reißverschluss klebten, der nur dazu existierte, damit man ihn aufzog... "Ich habe gehört, dass Ihre Mutter eine ganz ausgezeichnete Pianistin war." Mit einem Schlag hatte sich mein Gehirn in die Gegenwart zurück gemeldet. Ich fragte mich, ob Kristoph ihr davon erzählt hatte. Immerhin waren die beiden gut befreundet. "Ja. Allerdings hatte sie mit 20 Jahren einen Skiunfall und sich dabei die rechte Hand verletzt. Danach unterrichtete sie nur noch." Diane wandte sich zu mir um, obwohl Lenny noch spielte und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Hauch Betroffenheit wider. Ich war dankbar, dass sie es dabei beließ und keine überflüssigen Beileidsbekundungen aussprach. "Die Blumen, die Sie mir geschickt haben, sind wunderschön. Vielen Dank." "Nur eine kleine Aufmerksamkeit." Wenn sie gewusst hätte, dass ich zuerst Rosen schicken wollte, wäre ich ernsthaft in Erklärungsnot geraten. "Zwei Bouquets sind keine Kleinigkeit. Aber wie gesagt, vielen Dank." Zwei? Hatte Hillary mich am Telefon missverstanden? "Oh, und die Pralinen konnte ich leider nicht annehmen. Ich habe sie meinem Gärtner geschenkt. Der ist ganz vernarrt in süße Sachen." Gerade jetzt war ich auch ganz vernarrt in etwas Süßes, trotzdem verwirrte mich ihre Aussage. "Ich habe keine Pralinen geschickt. Ich weiß, dass Sie Diabetikerin sind." Das hatte sie mir mal bei einem gemeinsamen Dinner mit Kristoph verraten, als ich sie damit aufzog, dass sie das Dessert wohl aus Figurgründen verweigerte. Diane zuckte lächelnd mit den Schultern. "Dann betrachte ich es als kleine Zugabe vom Floristen." Bei Gelegenheit musste ich mich bei Hillary erkundigen, ob sie das Konzept ihres Unternehmens geändert hatte. Lenny spielte die letzten Takte und kaum, dass er geendet hatte, sprang er vom Flügel auf, verneigte sich nur miminal für den anerkennenden Applaus und verließ schnurstracks die Aula. Ob es daran lag, dass er vor Mrs. Coltranes Lobhudeleien flüchtete oder vielleicht ungestört seine Rache an mir schmieden wollte, wusste ich nicht. Aber er würde sich heute nicht mehr blicken lassen, so viel stand fest. "Jetzt, wo er weg ist, könnten Sie doch spielen." Diane sah mich herausfordernd an. Ich genoss das Gefühl, dass sie meine Gesellschaft mochte, aber auch jetzt wollte ich mich nicht an den Flügel setzen. "Genau so gut könnte ich Ihr Kleid anziehen und versuchen darin hinreißend auszusehen, ja?" Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet, und ich fragte mich, ob ich nicht doch einen Schritt zu weit gegangen war. "Versuchen Sie gerade mit mir zu flirten?" Ihre Mimik wirkte nur gespielt argwöhnisch, was mich ein wenig erleichterte. "Um ehrlich zu sein, kann ich mich nur schlecht zurückhalten, aber mein Bruder hat mir heute Flirtverbot erteilt. Schauen Sie mal: Er guckt schon ganz böse." Ich wies in die Richtung von Kristoph, der uns tatsächlich beobachtete, obwohl er gerade in ein Gespräch mit zwei anderen Herrschaften verwickelt war. Und um ihn ein bisschen zu ärgern, winkte ich ihm zu. Wenn Kristoph gewusst hätte, dass ich mir gerade in 3D und Dolby Surround vorstellte, wie sie nackt unter mir stöhnte, wäre er wohl nicht so großzügig gewesen, uns in Ruhe zu lassen. "Ooooooooooohh, Klavier!" Nicht schon wieder. Diane kicherte leise neben mir. "Hat er nicht ganz wunderbar gespielt? Aber ich muss schon sagen, dass ich fast einen Herzinfarkt erlitten habe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie beide sich auf ein anderes Lied geeinigt hatten. Das nächste Mal müssen Sie mich vorwarnen, Sie Schlingel!" Weshalb ihr Fanclub in haltloses Gegacker ausbrach, war mir schleierhaft, deshalb lächelte ich auch nur müde. "Aber jetzt müssen Sie Clair de Lune spielen. Ich sage nur: Der Bechstein!" Auch meine Geduld hatte irgendwann ein Ende. "Wie konnte ich nur den Bechstein vergessen, ja? Vorher müsste ich allerdings die Toilette aufsuchen. Sie entschuldigen mich?" Ich schob Diane außer Hörweite des Hühnerhaufens. "Ich werde jetzt gehen. Danke für den kleinen Plausch und Ihnen noch einen schönen Abend." "Wie schäbig von Ihnen. Wenn Mrs. Coltrane feststellt, dass Sie sie angelogen haben, wird es ihr das Herz brechen", zog sie mich auf. "Ich sagte, dass ich die Toilette aufsuche. Wo ich das tue, ist mir überlassen." "Kommen Sie gut nach Hause." Diane wandte sich lächelnd von mir ab und ich sah noch, wie sie zwischen einer Traube anderer Gäste verschwand, bevor ich mich in die Richtung von Kristoph bewegte. Als ob er nur darauf gewartet hatte, stand er allein in der Nähe der Portaltür. Er reichte mir sein Scheckbuch. "Wie es scheint, amüsierst du dich gut." Ich schrieb einen Scheck über 100.000 Dollar aus, obwohl ich mich nicht einmal erkundigt hatte, für welchen Zweck das Geld gesammelt wurde. Ich tippte darauf, dass Mrs. Coltrane sich wie üblich auf Kinder in der Dritten Welt festgelegt hatte, weil sie sich mit den mitleidserregenden Geschichten mehr Anerkennung erhoffte. Dass sie mit dieser Veranstaltung jedes Jahr mehrere zehntausend Dollar in den Wind schoss, schien sie dabei zu vergessen. "Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich mich heute früher davon stehle", sagte ich und gab Kristoph den Scheck, damit er ihn später Mrs. Coltrane aushändigte. Er schüttelte dezent den Kopf und ich wusste, dass er mein plötzliches Verschwinden angemessen entschuldigen würde. "Soll ich dich noch zu deinem Wagen begleiten?" "Nicht nötig." Ich öffnete die Portaltür. "Lass uns bald wieder auf ein gemeinsames Mittagessen treffen", schlug Kristoph vor. "Ich ruf dich an, ja?" Als ich den Aston Martin rückwärts ausparkte und in die Auffahrt lenkte, zerrte ich die Fliege von meinem Hals. Dingelingelingelinglingling. Ich murrte halb benommen, aber hielt die Augen geschlossen. Dingelingelingelinglingling. Großer Gott...! Ich blinzelte verschlafen zum Wecker auf meinem Nachttisch. Es war kurz nach vier Uhr. Dingelingelingelinglingling. Wer auch immer mich um diese Zeit aus dem Bett klingelte, würde sein blaues Wunder erleben, wenn das kein Notfall war. Noch etwas schlaftrunken ging ich aus dem Schlafzimmer in Richtung des Fahrstuhls und schaltete den kleinen Monitor ein um zu sehen, wer unten stand. Ich sah zwei Polizisten, die ich nicht kannte, aber sie waren uniformiert. Ich drückte auf die Sprechtaste. "Es ist vier Uhr morgens, Gentlemen." "Lassen Sie mich da ran. Gehen Sie weg!", hörte ich eine quäkige, unfreiwillig komische Stimme. Bebrillte Glubschaugen schoben sich in das Sichtfeld der Kamera. Ach, war das nicht der Typ aus der Staatsanwaltschaft, den alle nur den Kükenstreichler nannten? Wie hieß der noch gleich – Wilfried Blame? "Mr. Gavin, hier ist Staatsanwalt Winston Payne. Öffnen Sie sofort die Tür!" Ich hatte keine Ahnung, was diese Witzfigur zur nachtschlafenden Zeit von mir wollte, aber bevor ich mit ihm an der Sprechanlage darüber disktutierte, konnte ich ihm das auch ins Gesicht sagen. "Nehmen Sie den Fahrstuhl ganz rechts und drücken Sie bitte keinen der Knöpfe", wies ich ihn an und schickte den Fahrstuhl mit einem digitalen Rückholbefehl nach unten. Bevor sie oben eintrafen, bequemte ich mich in mein Schlafzimmer um mir ein T-Shirt überzuwerfen, weil ich nur eine Boxershorts trug. Payne empfing mich mit einem selbstgefälligen Grinsen, sobald er den Fahrstuhl verlassen hatte. "Vielleicht möchten Sie sich etwas anziehen, bevor Sie uns begleiten, Mr. Gavin?" "Gern, wenn Sie mir verraten, was dieser Auftritt zu bedeuten hat." "Jetzt stellen Sie sich mal nicht dumm, Mr. Gavin. Sie sind natürlich verhaftet." Bitte was? Ich stieß ein unamüsiertes Keuchen aus. "Falls das ein Scherz sein soll, dann versuchen Sie es einfach noch einmal zu einer angemessenen Uhrzeit, damit ich auch darüber lachen kann, ja? Ansonsten möchte ich Sie bitten, jetzt zu gehen." "Ich dachte mir schon, dass Sie alles abstreiten werden." Er zog aus der Innentasche seines Jacketts einen Brief und gab ihn mir. Genervt faltete ich das Papier auseinander und überflog die Zeilen... las dann langsamer... dann noch langsamer... und dann noch einmal den Brief gänzlich, weil ich einfach nicht glauben wollte, was da stand. Das hier war ein Haftbefehl. Zweifellos echt. Und man beschuldigte mich des zweiffachen Mordes an Vivian Alvarado und Blake Morris. Vivian...! "Sie wurde ermordet?", murmelte ich fassungslos und mehr zu mir selbst. "Jetzt tun Sie nicht so überrascht. Sie haben Pralinen mit Cyanid an dieses arme, junge Ding geschickt und obendrein das Gleiche bei Oberstaatsanwältin Freyer versucht. Nur blieb diese verschont, weil sie unwissend die Pralinen ihrem Gärtner gegeben hat. Ihr schmutziger Mordplan hat den Falschen getroffen, Mr. Gavin." In meinem Kopf breitete sich eine quälende Leere aus und ich war nahe einer Ohnmacht. Ich wusste nicht, ob ich bestürzt, wütend, verstört oder alles gleichzeitig sein sollte. Im Moment wusste ich gar nichts mehr. 06. Oct. 2025 - Ema ------------------- Als ich an diesem Morgen aus dem Schlaf gerissen wurde, fühlte ich mich alt. Alt und krank. Definitiv urlaubsreif. Irgendjemand stand vor der Tür und klingelte Sturm. Ich wusste nicht, wie spät es war, nur, dass ich es letzte Nacht nicht mehr in mein Schafzimmer geschafft hatte. Langsam quälte ich mich vom Sofa hoch und entschied im gleichen Moment, von meinem nächsten Gehalt eines zu kaufen, bei dem sich meine Wirbelsäule nicht wie eine Ziehharmonika benahm. Und falls das Geld nicht reichen sollte, würde ich einfach den Glimmerfop zwingen, mir seinen sauteuren Bürofernsehsessel zu schenken. Immerhin war es komplett seine Schuld, dass ich neuerdings übermüdet auf dem Sofa einschlief. Als ich die Tür öffnete und sah, wer davor stand, kam mir der Gedanke, dass Gavin so ziemlich an allem beteiligt schien, was mir regelmäßig den Tag vermieste. „Ich verlange auf der Stelle, dass Sie ausziehen!“ Mrs. Oldbag schnaufte voller Inbrunst auf meiner Türschwelle. Wie schön. „Darf es sonst noch was sein? Ein Tässchen Zucker vielleicht?“, fragte ich und beobachtete, wie sie kurz in ihrem Schimpftiradensturzflug strauchelte. Ich hätte sie gern in diesem Zustand eingefroren, denn im nächsten Moment hatte sie sich schon wieder gefangen. „Das ist eine Frechheit! Ich werde mich bei der Hausverwaltung beschweren, darauf können Sie Gift nehmen. Nichtsahnend schalte ich die Nachrichten ein und da zeigen sie dieses pinkfarbene Pony. Der kam mir gleich so verdächtig vor. Dabei habe ich mir noch gesagt: Wendy, es kommt nicht immer aufs Aussehen an. Pah, geblendet wurde ich von meiner Menschenfreundlichkeit. An Edgey-Wedgeys verzweifeltem Blick auf der Dachterrasse hätte ich es erkennen müssen. Ich bin mir sicher, dass er diesem Satanistenmusiker bereits auf der Spur war. Wenn ich daran denke, was meinem Edgey-Poo alles hätte zustoßen können!“ Mein Handy dudelte mit dem Steel Samurai-Theme auf dem Couchtisch. Der Ritter von Neo Olde Tokyo kam mir gerade recht. „ … Und nur, damit er die Gewissheit hat, dass ich ihm zur Seite stehen werde, habe ich ihm drei Sträuße Everlasting Lovedance zukommen lassen. Das sind ganz kostbare Herbstblumen, müssen Sie wissen, und … He, ich bin noch nicht fertig, Sie dumme Gans!“ Meine geschlossene Wohnungstür hatte mehr Geduld für ihre Empörung, die offensichtlich darauf basierte, dass sie Gavin nicht mehr ausstehen konnte. Ich löste die Steckverbindung an meiner Klingel, damit Mrs. Oldbag sich leise an ihr abreagieren mochte und ging an mein Handy. „Skye.“ „Guten Morgen, Detective Skye. Hier spricht Oberstaatsanwältin Diane Freyer. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Sie bitten, aufgrund der jüngsten Ereignisse zu einer Anhörung in mein Büro zu kommen.“ Mir stockte der Atem. Wieso musste ich zu einer Anhörung? Und wer war diese… Oberstaatsanwältin? „Ich verstehe nicht ganz. Von welchem Ereignis sprechen Sie?“ „Staatsanwalt Gavin wurde vergangene Nacht unter Mordverdacht festgenommen. Hat man Sie nicht informiert?“ „Nein.“ Das ergab überhaupt keinen Sinn. War das ein billiger Scherzanruf, oder was? „Schalten Sie die Nachrichten ein.“ Ich zögerte, zerrte dann aber meine Fernbedienung aus der Sofaritze und schaltete CNN ein. Eine Sondersendung wurde ausgestrahlt. Den Worten des Nachrichtensprechers konnte ich kaum folgen; stattdessen war ich dazu verdammt, auf das eingeblendete Bild oben rechts zu starren, das meinen Chef zeigte. Den Glimmerfop. Staatsanwalt Gavin oder nach seinem eigenen Credo: Ein berühmter Rockstar. „Kann ich Sie in fünf Minuten zurückrufen?“, murmelte ich in mein Handy. „Nehmen Sie sich zehn Minuten.“ Ohne ein weiteres Wort legte ich auf. Scheiße. Und durchatmen. Ich stellte den Fernseher lauter. „ … Zum weiteren Sachverhalt bezieht Gavins Anwalt keine Stellung. Wir schalten live zum sechzehnten Bezirksgericht, wo Staatsanwalt Winston Payne gerade das Gebäude verlässt.“ Ein kleiner Mann mit schütterem Haar und Hornbrille drängte energisch Kameras beiseite, dabei schüttelte er süffisant grinsend immer wieder den Kopf. „Kein Kommentar, hören Sie? Kein Kommentar.“ Ich wollte aber einen Kommentar, verdammt noch mal! Nach weiteren Minuten reißerischer Berichterstattung, die kaum Informationen preis gab, schaltete ich den Fernseher ab. Das kam mir alles so unwirklich vor. Gavin passte in etwa so gut in ein Mörderprofil wie das Krümelmonster zu den Weight Watchers. Doch genauer betrachtet… kannte ich Gavin überhaupt nicht. Ich arbeitete erst seit einer Woche mit ihm zusammen (auch wenn die Zeit mit ihm alles andere als kurzweilig gewesen war…). Was wusste ich schon, was hinter dieser aufgeblasenen, glimmerösen Fassade tatsächlich lauerte? Ich brauchte Informationen fernab der Boulevardmedien. Natürlich hätte ich diese Oberstaatsanwältin befragen können, aber mir fiel eine weitere Quelle ein, die ich mühelos ausquetschen konnte. Ich wählte die Nummer vom Distrikt und nach dem zweiten Klingeln nahm Gumshoe ab. „Ich nehme an, du weißt Bescheid.“ Er klang bedrückt. „Ja, aber genau genommen-“ „Schätze, damit bist du vorerst an den Schreibtisch getackert. Vielleicht bindet dich Staatsanwalt Gavins Nachfolger wieder in die Ermittlung ein. Der Fall wurde vorerst zurück gestellt.“ Das ging schnell. „Inspektor Gumshoe, ich-“ „Passt gar nicht zu ihm, wenn du mich fragst. Der Junge machte immer so ’nen gewissenhaften Eindruck auf mich.“ „Sie müssen mir helfen!“, bellte ich und in meiner Dringlichkeit klang ich vielleicht etwas zu aufgeregt. „Klar, schieß los. Aber eins sag’ ich dir, Mädchen. Wenn du auch vorhast, jemanden mit Pralinen zu vergiften, werde ich dir nicht als Handlanger dienen!“ Vergiftete Pralinen? „Gavin hat jemanden vergiftet?“ „He, ich dachte, du wüsstest Bescheid. Falls nicht, sag ich kein Wort mehr. Ist alles streng geheim.“ So geheim, dass es für eine Sondersendung auf CNN reichte. Obwohl sie nicht sehr informativ war, so viel musste ich zugeben. Ich musste es schaffen, Informationen aus Gumshoe heraus zu kitzeln. Ein Sache kam mir jedenfalls merkwürdig vor: Wie konnte so schnell die Substanz identifiziert werden, mit der das Opfer umgebracht worden war? Auf die Schnelle fiel mir nur eine Möglichkeit ein. „Wenn ich mich recht entsinne, war es eine Cyanid-Vergiftung.“ Ich tat einfach so, als wüsste ich Bescheid. Einen Giftmord im Labor nachzuweisen, dauerte seine Zeit, aber Cyanid hatte die Eigenschaft, dem Blut seines Opfers eine helle kirschrote Farbe zu verpassen. Bestätigungstests waren hierfür zeitaufwändig, aber eine Cyanidvergiftung war so eindeutig, dass man für die Ermittlung den toxikologischen Befund nur pro forma einholte. „Er hat sie eiskalt vergiftet mit dem Zeug. Erst diese Studentin, die angeblich seine Freundin gewesen sein soll. Und dann der missglückte Anschlag auf Oberstaatsanwältin Freyer. Letztendlich musste ihr Gärtner dran glauben, weil er die Pralinen gegessen hatte.“ Gavins Freundin. Vielleicht war er mir nicht sonderlich sympathisch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das seine bevorzugte Art war, Beziehungen zu beenden. Ebenso versuchte ich mir gerade einen Reim auf seine Beweggründe am versuchten Freyer-Mord zu machen. „Welche Motive lastet man Gavin an?“ „Das weiß keiner so genau. Außer Payne vielleicht.“ Wenn es nicht mal ein offensichtliches Motiv gab, noch nicht mal eines, das auf einem dummen Gerücht basierte, wieso ging der Verdacht so schnell auf Gavin? Ich seufzte. „Dann werde ich ihn selbst fragen müssen.“ „Wen – Staatsanwalt Gavin? Schlag dir das aus dem Kopf, Mädchen. Der darf höchstens mit seinem Anwalt sprechen und wenn du-“ „Tut mir leid, ich muss auflegen“, sagte ich hastig, weil mein Handy meldete, dass ein weiterer Anrufer in der Leitung war. Ich drückte Inspektor Gumshoe weg und nahm das andere Gespräch entgegen. „Ich wollte Sie gerade zurückrufen“, log ich in den Hörer. „Können Sie es einrichten um zwölf Uhr in mein Büro zu kommen?“ „Ich werde kommen, allerdings möchte ich vorher mit Staatsanwalt Gavin sprechen.“ Die Oberstaatsanwältin schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Ich fürchte, das kann ich nicht erlauben.“ Wieso nicht?! „Bitte, ich muss dringend mit ihm sprechen. Nur zehn Minuten.“ „Ich sehe Sie um zwölf Uhr in meinem Büro, Detective.“ Dann legte sie einfach auf. Was zur Hölle war hier eigentlich los? Ich fühlte mich wie ein unmündiges Kind und entwickelte spontan den Wunsch, diese dumme Kuh von Oberstaatsanwältin zu fragen, mit welchem Recht sie mir verbot mit Gavin zu sprechen. Recht oder Unrecht, das ist egal. Sie macht ihren Job. Es war, als ob Lanas Stimme in meinem Kopf mit mir schimpfte. Das letzte Mal, als ich die Untersuchungshaft betreten hatte, war ich sechzehn Jahre alt und an meiner Seite Phoenix Wright. Wie einfach wäre es jetzt in die Kanzlei Wright&Partner zu spazieren und ihn zu bitten, alles wieder in Ordnung zu bringen. Was soll er in Ordnung bringen, Ema? Ja, was eigentlich? Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war fast neun Uhr. Mit dem Bus würde ich fünfzehn Minuten bis zur Strafanstalt brauchen, vielleicht auch zwanzig. Ich hörte auf wie eine Irre durch mein Wohnzimmer zu tigern und fasste mir an den Kopf. Ich hatte nicht wirklich vor, auf gut Glück zur Strafanstalt zu fahren, wenn mich niemand zu Gavin vorlassen würde? Es war schlichtweg hirnrissig, doch welche Alternative hatte ich denn, außer däumchendrehend meine Anhörung abzuwarten? Während ich dabei war Handy, Schlüssel und den Restbestand Snackoos in meine Tasche zu verfrachten, machte ich mir noch einmal bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, was ich hier tat und obendrein eine Antwort zu einer Frage suchte, die ich nicht einmal genauer spezifizieren konnte. Noch nicht. Im Bus versuchte ich die Fakten in meinem Kopf zu sortieren. Gavin wurde des Mordes verdächtigt. War er schuldig? Unklar. Der Zeitpunkt? Auf grausame Weise ungünstig. Die Ermittlung in Fresno hatte uns zu dem Namen James Lowery geführt. Ich wiederum hegte seit kürzerem den Verdacht, dass unser Mörder im Hiller-Fall Möglichkeiten hatte, die Ermittlung zu verfolgen. Es lag auf der Hand, dass er uns einen Strich durch die Rechnung machen wollte, aber das passte nicht zu all der Vorsicht, mit der er bislang vorgegangen war. Dann hätte er gleich einen weiteren Liebesbrief verfassen können: Hallo, ich bin James Lowery und Sie sind mir soeben auf die Schliche gekommen. Auf ein erfolgreiches Gegeneinander und viel Glück bei der weiteren Ermittlung. Oder so ähnlich. Vielleicht war es auch Viola Cadaverinis Art, Gavin mitzuteilen, dass sie es nicht begrüßte, wenn er sie als Mörderin im Hiller-Fall in Erwägung zog. Klang ganz plausibel, selbst ohne Beweise. Oh, und obendrein fand ich es angebracht in Paranoia auszubrechen – wer wusste schon, ob auf mich nicht auch noch eine Abstrafung wartete. Der Bus hielt etwa dreihundert Meter von der Strafanstalt entfernt, aber was ich von hier aus erkennen konnte, entmutigte mich auf der Stelle: Eine riesige Menschenansammlung tummelte sich vor dem Gebäude, bestehend aus Fotografen, Fernsehcrews, lautstark protestierenden Fans und eine beträchtliche Anzahl gaffender Passanten. Die Hälfte des Weges legte ich noch zurück, dann hielt ich inne. Munch. Munch. Munch. Ich ließ mich auf einen Bordstein sinken und versuchte durch die Menschen hindurch zu starren, um wenigstens den Besuchereingang ausmachen zu können. Munch. Munch. Munch. Die Leute drängelten. Aus verschiedenen Ecken ertönten schlachtrufähnliche Gesänge von Gavins zahlreichen Fans. Ein Durchkommen war schier unmöglich. Da hätte selbst den Steel Samurai das Grauen gepackt. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Slurp. Munch. Munch. Munch. Sluuuuuuuuuuuuuuuurp. Munch. Sluuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuurp. Wie in Zeitlupe neigte ich meinen Kopf zu einem durchsichtigen Plastikbecher mit einer Restpfütze rosafarbener Flüssigkeit. Am Strohhalm dieser akustischen Nervtirade nuckelte… ein Kasper im Maßanzug, Justin Case. „Ihr Jojo war mir sympathischer.“ Case umklammerte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken. „Eiskalt. Farblich ein Spektakel, aber bissig im Genuss. Hüten Sie sich vor Slushies.“ „Weshalb trinken Sie es dann?“ „Ich bin süchtig danach.“ Er nahm sich die Zeit einen nahestehenden Papierkorb anzupeilen. Und traf. Kein Kunststück, denn heute war es ausgesprochen windstill. Das Anpeilen wiederum hatte etwas Raubkatzenartiges und mir drängte sich der Verdacht auf, dass Justin Case ohne Publikum den Becher höchst zivilisiert im Papierkorb versenkt hätte. Beim wiederholten Anblick der drängelnden Masse fand ich, dass meine Ratio weiß Gott hätte lauter brüllen können, als ich beschlossen hatte zur Strafanstalt zu fahren. Ich versuchte mich daran zu erinnern, weshalb ich mit Gavin sprechen wollte. Wenn er des Mordes verdächtigt wurde, dann war das tragisch, aber war das wirklich mein Problem? Munch. Munch. Munch. Gott verdammt, ja war es! Ich hatte noch keinen stichhalten Beweis, aber all das musste mit dem Hiller-Fall zu tun haben. Genau jenem, dessentwegen ich schon nach wenigen Tagen hoffnungslos überarbeitet war. Und den ließ ich mir jetzt nicht mehr wegnehmen. „Das ist etwas für echte Profis, Ema Skye.“ Ich wusste nicht, was mich mehr aufregte. Sein Grinsegesicht so dicht über meiner Schulter, was obendrein ein Déjà-vu an meinen ersten Arbeitstag mit Gavin auslöste, oder die herablassende Nuance in seiner Stimme. „Was soll das Theater?“ Er imitierte Töne, die Quizshowteilnehmern um die Ohren gehauen wurden, wenn sie die falsche Antwort gaben. „Sie sind eine miserable Spielerin. Versuchen Sie es noch einmal.“ Ich presste die Kieferreihen fest aufeinander. „Ziehen Sie eine Karte.“ Auf seiner ausgestreckten Handinnenfläche lag eine einzige Karte. Der Joker. Wieso überraschte mich das nicht? „Darf man nicht normalerweise zwischen mehreren Karten wählen?“ „Schon wieder spielen Sie miserabel.“ Das Spiel war mir zu dumm. Ich erhob mich wortlos; gleichzeitig griff Case nach einem Aktenkoffer, der wohl die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, ohne dass es mir aufgefallen war. „Na schön“, schnaubte ich. „Wie komme ich da rein?“ Auf die Antwort war ich gespannt, auch wenn er mich anscheinend nur veralbern wollte. „Ziehen Sie den Joker.“ Ich nahm ihm die Karte ungeduldig aus der Hand. „Klavier Gavin nutzt stets den Backstage-Eingang. Warum tun Sie es ihm nicht gleich?“ Sollte das jetzt der ultimative Geheimtipp gewesen sein? „Begleiten Sie mich ein Stück.“ Hmpf. Als Frage hätte mir die plumpe Aufforderung besser gefallen. Meine Füße hatten nichts zu beanstanden, denn im nächsten Moment trabte ich Case auch schon artig hinterher. Sein Weg führte ein ganzes Stück an der Menschenhorde vorbei und erst, als wir um die Ecke bogen, sah ich die Pforte, welche inmitten der gewaltigen Mauern lächerlich klein wirkte. „Meekins.“ Ich zuckte hinter Case’ Schulter zusammen, weil mir eine jaulende Sirene fast das Trommelfell zerfetzte. „Mr. Case, Sir! Gelöst. Ich hab’s endlich gelöst!“ Meekins schlug mit der Faust in die offene Hand. Diese Geste kannte ich irgendwoher, genau wie sein Gesicht und die Sirene. Meekins, Meekins… Woher nur? „Hatten Sie Spaß?“, fragte Case und es klang gelangweilt. Er stellte seinen Aktenkoffer auf das am Pförtnerhaus befestigte Brettchen. „Und ob. Schau mir ins Gesicht. Die Dreizehn findest du dort nicht. Ein schwieriges Rätsel, Sir.“ Case entnahm seinem Aktenkoffer einen Umschlag und legte ihn ins Pförtnerhaus. „Ein Bittbrief von Viola Cadaverini für die Angelegenheit um Miguel Cadaverini.“ Meekins wirkte für einen Moment vor den Kopf gestoßen, öffnete dann aber den Umschlag um den Brief zu lesen. Schau mir ins Gesicht. Die Dreizehn… fast hätte ich laut aufgelacht. Durch das Schiebefenster konnte ich allein zwei Digitaluhren im Inneren des Pförtnerhauses ausmachen. Ich fragte mich, wie lange dieser arme Tropf über das Rätsel sinniert hatte. „In Ordnung, Mr. Case. Ich öffne die Schleuse.“ Case verneigte sich dezent und nahm Violas Brief wieder an sich. Gemeinsam wandten wir uns dem Tor zu. Ein kaum sichtbarer Spalt hatte sich geöffnet, als mich das Jaulen der Sirene von hinten überrollte. „HAAALT!!“ Ich musste dem Drang widerstehen meine Hände wie ein frisch ertappter Schwerverbrecher an den Hinterkopf zu legen. „Und ich hatte schon fast den Glauben an unsere Justiz verloren“, sagte Case. Im Gegensatz zu mir lächelte er spitz und drehte sich zurück zum Pförtnerhaus. „Ja, Meekins?“ „Sie da!“ Das galt wohl mir. „Sie… Sie müssen sich ausweisen. Wir haben hier strenge Vorschriften.“ So streng konnten die nicht sein, wenn er meine Anwesenheit erst jetzt bemerkte. Ich kramte meinen Dienstausweis hervor. „Also, äh, Detective… Skye. Was soll ich sagen, Sie… SKYE?! Yowowowowowowow!!“ Was zum-?! Versuchte der sich gerade mit dem Lanyard seines Funkgeräts zu strangulieren? „Meekins, Sie beeindrucken mich. Kaum den Namen gesehen und schon schlussfolgern Sie auf Generalstaatsanwältin Skye.“ „Oh, äh, danke Sir, ich… GENAU! Die Generalstaatsanwältin war’s!!“ In diesem Moment wurde mir alles ein bisschen zu viel. Wieso wusste Case über meine Schwester Bescheid? War er ein mieser Schnüffler, oder was? Andererseits hatte wohl jeder Anwalt schon einmal vom SL-9 Fall gehört. Und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mike Meekins. Natürlich. Der unglückselige Typ, der wegen der SL-9 Neuverhandlung unverschuldet in der Strafanstalt gesessen hatte. Kein Wunder, dass seine Synapsen bei dem Namen Skye höchste Alarmstufe generierten. Auch wenn Case dem Ganzen unbedingt nachhelfen musste. „Lana Skye ist meine ältere Schwester.“ Die Generalstaatsanwältin ließ ich weg, denn das war sie seit neun Jahren nicht mehr. Und Skye hieß sie auch nicht mehr, aber das war eine andere Geschichte. „In welcher Angelegenheit sind Sie hier?“, fragte Meekins misstrauisch. Ich hatte das blöde Gefühl, dass Ich muss mit dem Glimmerfop sprechen kein Anliegen war, mit dem ich hier so einfach durchspazieren konnte. „Miguel Cadaverini vermisst seine Verlobte schmerzlich.“ Seine was?! „Sie kennen die Cadaverinis. Sehr familienorientiert.“ Case schnalzte mit der Zunge, während Meekins hart schluckte. „D-Dann sollte sie den Besuchereingang nehmen, oder nicht?“ „Unter normalen Umständen sollte sie das, aber ich schätze, das wird heute ein schwieriges Unterfangen bei all den Pilgern, die den Besuchereingang wegen des prominenten Neuzugangs belagern.“ „Ich bin mir sicher, sie wird es schaffen.“ Meekins wirkte kein bisschen überzeugt von seinen Worten, aber sie ließen keinen Zweifel zu, dass er mich die Schleuse nicht passieren lassen würde. Ich vernahm ein resigniertes Seufzen von Case und sah, wie er sich abwandte. „Verstehe. Haben Sie Dank. Falls wir uns nicht mehr sehen, werde ich stets an Sie gedenken, wenn ich eine Uhr erblicke.“ „Yowowowowowowowowowowow!!“ Meekins stürzte fast aus dem Pförtnerhaus bei dem Versuch, Case an den Schultern zu umklammern. „Mr. Case, Siiir!! Sie wollen mich an die Familie verraten?!“ „Ich bitte Sie. Werfen Sie einen Blick nach links zur Straße. In dem blauen Wagen mit den abgedunkelten Scheiben sitzen zwei Cousins von Viola Cadaverini, die sich davon überzeugen möchten, dass Miguel noch heute seine Verlobte zu Gesicht bekommt.“ Tatsächlich stand so ein Wagen am Straßenrand. Ich hätte schwören können, dass es genau jener war, mit dem Case mich nach der Befragung im Cadaverini-Anwesen in die Stadt mitgenommen hatte. „Das heißt, wenn sie draußen bleibt…“ „Es könnte sein, dass Sie in nächster Zeit über Schlafstörungen und Magenkrämpfe klagen und versucht sind, nicht ohne Begleitung durch die Straßen zu gehen. Vielleicht überprüfen Sie mehrmals täglich die Bremsen an Ihrem Fahrrad. Aber seien Sie unbesorgt. Meistens verlieren die Cadaverinis das Interesse nach vier bis sechs Jahren.“ Ganz langsam ließ Meekins von Case ab. Er war kreidebleich. „Ich schätze, in dem Fall mache ich eine Ausnahme. Schon die zweite heute.“ „Was meinen Sie?“, fragte ich. „Vor zehn Minuten kam Detective Crescend vorbei. Er sagte, dass er mich mit seinem Jahresvorrat Haarspray einsprüht und anzündet, wenn ich ihn nicht durchlasse.“ „Öffnen Sie die Schleuse, Meekins.“ Ich blieb noch einen Augenblick stehen und sah in das bedröppelte Gesicht des Pförtners. Bei dem Gedanken, dass man diesen Mann ziemlich leicht dazu zwingen konnte, gegen seine Arbeitsmoral zu verstoßen, fragte ich mich, ob ich zukünftig die Wahl hatte, eine Menge heiße Luft zu produzieren oder diese einzuatmen. Hinter der Schleuse lag ein Weg aus Streusand, umgeben von gelblichem, schlecht gepflegtem Rasen. Ich wusste erst nicht, weshalb ich so schnell lief, denn Case hatte es nicht eilig. Dann fiel mir ein, dass ich hier nicht mit dem Glimmerfop Schritt halten musste, also mäßigte ich mein Lauftempo etwas. „Danke, dass Sie mir helfen, Mr. Case, aber warum tun Sie das?“ „Bedanken Sie sich nicht. Sie sind noch lange nicht durch.“ Richtig. Ich erinnerte mich an den gemeinsamen Besuch mit Phoenix Wright vor neun Jahren. In dem Gebäude, auf das wir gerade zugingen, musste ich meine nicht vorhandene Besuchererlaubnis vorzeigen. „Das ist vollkommen idiotisch.“ Case drehte sich zu mir herum, weil ich stehen geblieben war. „Sie geben auf, Ema Skye?“ „Vielleicht war es einfach Meekins zu verschaukeln, aber die Beamten da drin werden von mir eine Besuchererlaubnis sehen wollen. Die kann ich schlecht herbeizaubern.“ „Das dachte ich mir“, erwiderte Case mit einer Mischung aus Blasiertheit und Langeweile. In seiner Hand lag das Jojo. Er spielte nicht damit, sondern balancierte es gedankenverloren auf seinen Fingerkuppen. „Sie sind fürs Denken begabt. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen muss.“ „Und Sie sind erstaunlich gut informiert für jemanden, der offiziell als nicht involviert gilt, Mr. Case.“ „Es war Ihr Partner, der mich als Involvierten gekennzeichnet hat. So lange Klavier Gavin glaubt, Viola als Hauptverdächtige brandmarken zu können, glaube ich nicht, dass sich mein Interesse am Fall mindern wird.“ Case war also auch zu der Erkenntnis gelangt, dass die Anschuldigung gegen Gavin in direktem Zusammenhang mit dem Hiller Fall stand. Ich kannte ihn nicht lange genug, um abschätzen zu können, welchen Vorteil er daraus zog, mir zu helfen, aber ich war mir sicher, dass er es nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit tat. „Im Moment darf wohl niemand mit Gavin sprechen, außer seinem Anwalt“, erinnerte ich mich laut an Gumshoes Worte. Das Jojo kam ins Rollen und rotierte knapp über dem Boden in einem Leerlauf. „Grundsätzlich ist der große, böse Wolf nicht der Beamte, der Ihre Besuchererlaubnis sehen möchte. Sie müssen am Staatsanwalt vorbei.“ „Soll ich Payne mit Wein und Kuchen bestechen, damit ich in Rapunzels Turm darf, oder was?“ „Winston Payne ist ein zahnloser Wolf, den Sie in keinster Weiser beachten müssen. Konzentrieren Sie sich auf die Alphawölfin.“ „Oberstaatsanwältin Freyer.“ Das Jojo schnappte zurück in Case’ Hand und verschwand anschließend in seiner Hosentasche. „Erraten.“ Case wusste nicht, dass ich zu einer Anhörung geladen war. Wieso nur wurde ich das Gefühl nicht los, dass er Schnüfflerqualitäten besaß, die mir kein bisschen geheuer vorkamen? Ich dachte an das Handy in meiner Tasche und daran, dass ich es gar nicht richtig versucht hatte. „Etwas Zerstreuung?“, fragte er freundlich. Ich blickte zu Case auf, der wiederum amüsiert auf mich hinab sah. „Bitte?“ „Ob Sie Zerstreuung mögen.“ Wieder mal brannte mir die Frage auf den Lippen, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Das Gleiche galt für mich, sofern ich vorhatte, mich weiter mit ihm zu unterhalten. Case öffnete seinen Aktenkoffer und gab mir zwei Tageszeitungen, die ich mehr aus Reflex entgegen nahm. Dann wies er auf das vor uns liegende Gebäude. „Wenn wir langsam gehen, wird es etwa zwei Minuten dauern, bis wir die Tür erreicht haben. Sie dürfen mir noch eine Frage stellen und ich werde sie beantworten. Sobald wir durch die Tür sind, bin ich nur noch Miguel Cadaverinis Strafverteidiger. Wählen Sie Ihre Frage klug, Ema Skye.“ Eine Frage. Ich fing an das Papier in meinen Händen zu kneten, als ich sah, wie Case sich in Zeitlupentempo auf die Tür zu bewegte. Das Ganze glich einem Schreittanz und es fehlte nicht viel, dass ich in meinem Kopf eine alberne Pirouette visualisiert hätte. Ich folgte ihm und zermarterte mir das Hirn über eine beschissene Frage, die ich ihm stellen konnte. Eine zu Gavins mysteriöser Verhaftung konnte ich mir sparen, denn die konnte ich nur klären, wenn ich es schaffte, eine Besuchszeit zu ergattern (denn ich war mir nicht mal sicher, ob man mir später in der Anhörung meine Fragen beantworten wollte). Also konnte ich ihn genau so gut zu seiner Lieblingssportmannschaft befragen oder welche Sendungen er im Fernsehen mochte oder welche politische Einstellung er hatte oder… „Weshalb arbeiten Sie für die Cadaverinis?“ Im ersten Moment wollte ich mir vor die Stirn hauen, weil Case diese Frage mit einem Halbsatz abfertigen konnte. Aber nun hatte ich sie gestellt und wenn ich ehrlich war, interessierte es mich wirklich. Mir fiel erst jetzt auf, dass Case abrupt stehen geblieben war und was sich in seiner Mimik spiegelte, überraschte mich. Es schien, als wären seine Lachmuskeln mit Gift injiziert und lahm gelegt worden. Übrig waren nur die spitze Kontur seines Gesichts und diese unfassbar dunklen, leblosen Augen, deren Pupillen ich noch immer nicht ausmachen konnte. „Was glauben Sie, weshalb ein Gepard eine Gazelle reißt?“ „Weil er Hunger hat.“ „Warum frisst er dann kein Aas?“ Case mit seinem hüpfenden Jojo war mir lieber als jener Case, der heute nur mit Metaphern um sich schmiss und ich bereute, dass ich nicht einfach nach seinem Lieblingssport gefragt hatte. „Weil ein Gepard ein Raubtier ist und es in seiner Natur liegt Beute zu reißen“, erwiderte ich genervt. „Sie wollen mir nicht ernsthaft erzählen, dass Sie sich Ihr Schicksal nicht selbst ausgesucht haben?“ Leben kehrte in sein Gesicht zurück, so theatralisch, dass das immer spitzer werdende Grinsen zu einer skurrilen Fratze heranwuchs. „Ein Gepard ist ein Gepard. Das ist alles. Bitte nach Ihnen, Ema Skye.“ Case zog die Tür auf. Ich war noch nicht ganz über die Schwelle getreten, als mir das Gebrüll einer schneidenden Stimme um die Ohren flog. „Das, was ihr hier treibt, ist gegen die Menschheit! Ich bin sein bester Freund und er hat das Recht mich zu sehen. Und jetzt lasst mich endlich durch, ihr Pisser!“ „CRESCEND! Halt die Luft an und scher dich hier raus oder ich reiße dir deinen gottverdammten Arsch auf!“ Ich hatte einen Vorraum betreten und sah, dass Gavins merkwürdig frisiertes Accessoire dabei war, sich mit einem Beamten anzulegen, der groß und breit wie ein Mammut war und dessen Gesicht an eine riesige Scheibe Rote Bete mit Schnurrbart erinnerte. Vielleicht hätte ich in Gegenwart dieses Hünen meine Klappe nicht so weit aufgerissen, aber mich genau so weit wie Crescend zurückgebogen, wenn sich so jemand vor mir aufgebaut hätte. „Ganz cool, Mann. Kein Grund zum ausrasten. Soll ich dir ’nen Kaffee holen?“ Zur roten Gesichtsfarbe des Beamten gesellten sich immer größer werdende weiße Flecken. „Ich hol dir einen“, entschied Crescend kurzerhand. Kaum hatte er dem Koloss den Rücken zugewandt, verdrehte er die Augen und stiefelte mit riesigen Schritten auf einen Getränkeautomaten zu. Pling. Eine Münze rollte über den Boden direkt vor Crescends Füße. Er verzog angewidert die Mundwinkel, sobald er sah, aus welcher Richtung sie kam. „Dir ist was aus der Tasche gefallen, du Witzpille“, giftete er Case an. „Wollen Sie nachsehen?“ Crescend schlenderte augenscheinlich gelassen zu uns hinüber, doch etwas in mir wäre gern einen Satz zurück gesprungen. „Ich kann dich nicht leiden, Casey. Und dich auch nicht, Skye.“ Ich hätte gern erwidert, dass es mir vollkommen egal war, aber seine aufdringliche Aggressivität verschlug mir die Sprache. Zumal das auch die ersten Worte überhaupt waren, die er an mich gerichtet hatte. Case lachte leise, aber voller Heiterkeit. „Autsch. Ihre Giftpfeile treffen mich tief. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ „Ich hab dich im Auge, Mann. Du und deine dreckige Sippschaft habt doch eure Finger im Spiel. Sollte sich rausstellen, dass Klavs Verhaftung auf euer Konto geht, mach ich jeden einzelnen von euch kalt.“ Case schürzte die Lippen, als müsste er Crescends Worte genauestens abwägen. „Ich werde Ihre Grüße an die Familie ausrichten. Genießen Sie den Tag, Daryan Crescend.“ Ich hätte nicht gedacht, dass in mir einmal der Wunsch aufkäme, Case zum Bleiben überreden zu wollen. Als er mit seinem Aktenkoffer davon schlenderte und den Beamten weiter hinten schriftliche Dokumente vorlegte, fühlte ich mich auf eine blöde Art allein gelassen. „Ich weiß, was du vorhast. Ich sag’s dir lieber gleich: Keine Chance.“ Case hatte gesagt, dass ich an dieser Oberstaatsanwältin vorbei musste. Ich hatte ihr nicht wirklich erklärt, weshalb ich mit Gavin sprechen wollte, nur dass ich… es musste. Nicht sehr überzeugend. Ich drehte mich von Crescend weg, der mich abfällig musterte und ging zurück vor die Tür. Die Luft war feucht; ich roch noch immer den Regen, der gestern über L.A. herein gebrochen war. Hinter einer geschlossenen Schleuse, inmitten von Mauern, stand ich und obwohl ich wusste, dass ich nicht gefangen war, konnte ich mich nicht von dem Gefühl befreien, keinen Schritt vorwärts machen zu können. Etwas in meinen Gedanken blitze auf. Schimmerndes, mit Stolz poliertes Metall. Er hatte nie aufgegeben, weil er nicht aufgeben konnte. Phoenix Wright hatte selbst dann noch um meine Schwester gekämpft, als sie ihr Bestmöglichstes tat um sich mit den damaligen Falschanschuldigungen selbst zu geißeln. Und wenn ich genauer darüber nachdachte, hatte ich damals auch nicht aufgeben wollen. Mit einem Male sah ich mein sechzehnjähriges Selbst vor Augen, mit dem unerschütterlichen Glauben an die Unschuld meiner Schwester. Ich nahm das Handy aus meiner Tasche und auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es doppelt so schwer wog wie sonst, wählte ich entschlossen die Rufwiederholung. „Sechzehntes Bezirksgericht, Diane Freyer.“ „Detective Ema Skye hier. Ich wollte mich erkundigen, weshalb ich zu einer Anhörung vorgeladen werde, mit der ich ganz offensichtlich nicht in Verbindung stehe.“ Ich war verblüfft, welch eisigen Klang meine Stimme annehmen konnte. „Ihre Frage ist berechtigt, Detective. Ich möchte Sie anhören, weil Sie diejenige sind, welche Staatsanwalt Gavin in den vergangenen Tagen aus unmittelbarer Nähe erlebt hat.“ Unmittelbare Nähe… PFFF. Als ob ich je die Alternative gehabt hätte, den Glimmerfop auf größtmöglichen Abstand zu bekommen. „Ich will an dieser Stelle betonen, dass Staatsanwalt Payne es nicht für nötig erachtet, dass Sie vorsprechen. Mir sind die Differenzen zwischen Ihnen und Staatsanwalt Gavin nicht entgangen, aber ich halte es für unklug, Ihre Eindrücke außer Acht zu lassen.“ Verdammt. Auf eine unwillkommene Weise fühlte ich mich gebauchpinselt. „Sie sind nicht wirklich von seiner Schuld überzeugt“, mutmaßte ich. „Darüber kann ich nicht urteilen.“ „Das kann ich auch nicht. Und alles, was ich zu sagen habe, gründet auf einem Verdacht, den ich in keinster Weise beweisen kann.“ „Von welchem Verdacht sprechen Sie?“ „Der Louis Hiller-Fall ist viel zu dicht an Gavins Person geknüpft. Erst gestern haben wir einen möglichen Tatverdächtigen identifiziert, von dem ich glaube, dass er ein persönliches Motiv gegen Gavin führt. Ich bitte Sie. Es ist lächerlich, wie schnell der Giftmordverdacht auf ihn gefallen ist.“ „Und was erhoffen Sie sich von mir?“ „Ich muss Staatsanwalt Gavin selbst befragen. Erst dann kann ich Ihnen eine hilfreiche Antwort in der Anhörung geben.“ Sie schwieg. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen? Es war jedenfalls kein gutes Zeichen, dass ich mich mit meinem Versprechen gewaltig aus dem Fenster lehnte. „Bitte. Mir reichen wenige Minuten. Sie können auch selbst dem Gespräch beiwohnen“, versuchte ich sie zu überzeugen. „Wie weit haben Sie es bis zur Strafanstalt?“, fragte sie schließlich. War ich tatsächlich dabei die unüberwindbare Mauer zu durchbrechen? „Ich bin vor Ort.“ Sie seufzte genervt auf. „Gedulden Sie sich ein paar Minuten. Ich werde telefonisch eine Sondererlaubnis anordnen.“ Ich hatte es geschafft?! „Ich… wow… Vielen Dank“, stammelte ich in einen Anflug von Verlegenheit. „Geben Sie dem Pförtner am Personaleingang Bescheid, damit er Sie durchlässt.“ „In Ordnung.“ Mike Meekins war dem Ganzen schon unfreiwillig zuvor gekommen, aber ich hielt besser die Klappe, bevor ich seinen Job und meine hart erkämpfte Besuchererlaubnis riskierte. „Viel Erfolg.“ Ich schob das Handy in meine Hosentasche und der Mut hatte mich wieder eingeholt. Wenn ich Pech hatte, lieferte mir das Gespräch mit Gavin keinerlei Erkenntnisse, keinen Fortschritt und überhaupt eine faustdicke Blamage bei der Oberstaatsanwältin, aber ich war schon zu weit gekommen um zurückrudern zu wollen. Im Vorraum stand Crescend an die Wand gelehnt, nippte an einem Plastikbecher und traktierte die Rote Bete mit bösen Blicken. Die Zeitungen zerknitterten zunehmend in meiner linken Hand; wenn ich nicht aufpasste, ruinierten meine verschwitzten Hände die Lesbarkeit. Case hatte sie mir nicht zufällig gegeben, dessen war ich mir sicher. Als ich auf der Titelseite der gestrigen L.A.Times Gavin in Begleitung einer jungen Frau sah, fühlte ich mich bestätigt. War das Gavins besagte Freundin? Ich überflog den Artikel. Davon abgesehen, dass haufenweise Worte für die Spekulation um einen Schnappschuss verschwendet worden waren, hatte ich nicht den Eindruck, dass Gavin diese Vivian Alvarado besonders lange gekannt hatte. Es war lächerlich, wie viel Aufhebens um ein Foto und zwei Namen gemacht wurde. Ich schlug die zweite Zeitung auf; es war die heutige Ausgabe der L.A. Times. Gavins Verhaftung kam wohl zu spät für die Schlussredaktion, denn ich fand keinen zwanzigseitigen Sonderbericht. Beim weiteren Durchblättern fragte ich mich, ob das für Case eine Art Suchrätsel darstellen sollte, denn von Gavin war in diesem Blatt keine Spur. Dann fand ich doch etwas im Kulturteil über eine Wohltätigkeitsveranstaltung, die gestern stattgefunden hatte. Das zugehörige Bild erinnerte ein wenig an ein Familientreffen: Die Gebrüder Gavin waren nur durch die Farbe ihrer Smokings zu unterscheiden und an der Brille, die Kristoph Gavin auf der Nase trug. Die Frau neben ihnen war ebenfalls äußerst blond, äußerst hübsch und mir kein bisschen bekannt, bis ich die Bildunterschrift las: Diane Freyer. Ich fragte mich, was es mit dieser Verbindung wohl auf sich hatte. „Ema Skye?“, rief jemand durch den Vorraum. Ich sah hinüber zu dem großen Beamten mit dem Schnurrbart, der mit einem Telefonhörer am Ohr akribisch den Raum sondierte. Seine Gesichtsfarbe hatte mittlerweile von Roter Bete zu Erdbeerjoghurt mit Sahne gewechselt, aber ich hätte schwören können, dass sein Schnurrbart anfing zu zittern. „Ich wiederhole: Detective Ema Skye.“ Ich meldete mich zögerlich und mit gekrümmtem Zeigefinger. Mit dem Kopf deutete er mir näher zu kommen, gleichzeitig hörte ich, wie ein Plastikbecher zornig zusammengedrückt wurde. Eine halbe Stunde später saß ich hinter der Glasscheibe auf der Besucherseite. Eine Beamtin hatte mich hierher gebracht und mich gebeten zu warten. Ich hatte das Unmögliche geschafft und konnte dennoch meine innere Anspannung nicht abschütteln. Mir klingelte immer noch Crescends Gezeter in den Ohren. Er hatte sich entsetzlich darüber aufgeregt, wie unfair es sei, dass ich zu Gavin vorgelassen wurde, während er dazu verdammt war, nach Informationen zu lechzen. Im Anschluss hatte er mich mit Botschaften für den Glimmerfop bombardiert. „Und sag ihm, dass ich hinter ihm stehe und ihn da raushole, notfalls mit Gewalt“, hatte er mir mit wichtiger Miene erklärt und mir war nichts anderes übrig geblieben, als seine Worte einfach abzunicken. Jetzt wartete ich darauf, dass die Tür auf der anderen Seite aufging. Wenn ich daran dachte, dass Gavin mir gestern noch in einem Café gegenüber gesessen, den Klugscheißer gespielt und sich über mein Essverhalten lustig gemacht hatte, oder dass wir überhaupt stundenlang nebeneinander im Auto gesessen hatten. Und mit einem Mal galt er als potentiell gefährlich. Das war absurd. Ich begann fortwährend auf meine Uhr zu starren, weil sich so gar nichts im Raum bewegen wollte. Der Minutenzeiger war gerade zum neunten Male vorgerückt, als die Tür endlich aufging. Ein untersetzter, stämmiger Wärter führte Gavin hinein und mit Erleichterung stellte ich fest, dass er keine Handschellen trug. Als er zum Tisch trat und sich dabei die Handgelenke rieb, erkannte ich, dass sie ihm draußen abgenommen worden waren. Er sah deutlich mitgenommen aus. Keine Schatten unter den Augen, aber die gavinische Haarpracht lag jenseits der Glimmerösität. Sein Lächeln wirkte abgekämpft. Wahrscheinlich hatte man ihn stundenlang verhört. „Sie machen keine halben Sachen, Fräulein Skye. Wie haben Sie das fertig gebracht?“ „Kinderspiel“, sagte ich matt lächelnd. „Ich soll Sie von Crescend grüßen.“ „Darf ich annehmen, dass er die wachhabenden Beamten drangsaliert?“ „So in etwa.“ Um Gavins Mundwinkel zuckte es und fast hätte es zu einem Lächeln gereicht, da lehnte er sich zurück und sagte leise: „Richten Sie ihm bitte aus, dass es mir gut geht, ja?“ Ich nickte. „Kann Ihr Anwalt etwas erreichen?“ „Kristoph prüft derzeit die Indizien, die gegen Paynes Anschuldigung sprechen.“ „Sie lassen sich von Ihren Bruder vertreten?!“ „Ich lasse mich vom besten Strafverteidiger vertreten, den diese Stadt zu bieten hat.“ Ich fragte mich, weshalb er nicht Phoenix Wright beauftragte, aber ich hielt mich zurück, denn es war Gavins gutes Recht, sich seinen Verteidiger selbst auszusuchen. „Haben Sie schon eine Vermutung, wer Ihnen das in die Schuhe schieben will?“ „Weshalb sind Sie davon überzeugt, dass ich es nicht getan habe?“ Ich konnte seine Verbitterung wegen der üblen Situation verstehen, aber jetzt war wirklich der falsche Zeitpunkt, meine Loyalität zu hinterfragen. Immerhin hatte ich den Entschluss gefasst, an Gavins Unschuld zu glauben. „Jemand wie Sie würde glasklare Spuren hinterlassen. In Ihrem Fall Glitzerstaub, ein goldenes Haar oder eine Parfumwolke.“ Gavin mühte sich ein Lächeln ab. Mit den Gedanken schien er jedoch woanders zu sein. „Diane Freyer hat mich zu einer Anhörung geladen.“ Bildete ich mir das ein oder bebte da etwas in Gavin; eine Art Bestie, die in einen viel zu kleinen Käfig gesperrt war? „Mr. Gavin?“ „Sie hätte tot sein können. Genau wie dieses Mädchen.“ „Sie meinen Vivian Alvarado.“ Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, durch sein Haar und hielt inne, sobald er den Kopf in den Nacken gelegt hatte. „Ich kannte sie kaum. Es war ein One Night Stand. Wäre diese Belanglosigkeit nicht in den Medien thematisiert worden, hätte ich nicht einmal ihren Namen gewusst.“ Bloß keine peinlichen Details, dachte ich im ersten Moment, aber Gavin war vermutlich auch nicht scharf darauf, sein Liebesleben auszuwerten. Er musste es. Wenigstens bestätigte sich meine Vermutung, wonach Gavin dieses Mädchen kaum gekannt hatte und in Folge dessen kaum ein plausibles Mordmotiv entwickeln konnte. Ein eifersüchtiger Exfreund oder durchgeknallter Gavinners-Fan kam schon eher in Frage. Ich legte beide Ausgaben der L.A. Times auf den Tisch. „Sie wurden abgelichtet. Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen jemand gefolgt ist?“ „Ich weiß es nicht. Mir fahren ständig irgendwelche Leute hinterher, dass ich gar keine Notiz mehr davon nehme.“ „Ihr Motorrad fällt auf, Mr. Gavin. Es ist… lila.“ „Die Auffälligkeit meines Bikes kann dazu geführt haben, dass jemand mit Leichtigkeit Vivian Alvarados Adresse heraus bekommen konnte. Den Namen hat die Presse nachgeliefert. Aber was ist mit Diane Freyer? Offiziell besteht keine Verbindung zwischen mir und ihr.“ Ich blätterte zum Bild der Wohltätigkeitsveranstaltung vor und hielt es gegen die Glasscheibe. „Scheinbar haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, Fräulein Skye“, bemerkte Gavin stirnrunzelnd und mit einer Spur Ärgernis in der Stimme. „Leider muss ich Sie enttäuschen. Vor drei Tagen habe ich Blumen an Diane Freyer schicken lassen. Auf diesem Wege sind die vergifteten Pralinen in Ihren Besitz gelangt.“ „Vielleicht hat Sie jemand im Laden belauscht, als Sie die Bestellung aufgegeben haben?“ „Ausgeschlossen. Ich habe alles von meinem Handy arrangiert.“ Somit verkleinerte sich der Kreis der Verdächtigen massiv. In Frage kamen nur noch Angestellte des Floristen, eventuell ein Bote… oder jemand, der es fertig brachte, Gavin zu überwachen. „Auf die Idee, dass jemand Ihr Handy verwanzen könnte, sind Sie nie gekommen, oder?“ Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich mich so darüber freute sein breites, selbstgefälliges Grinsen zu sehen. Vielleicht, weil mir ein wenig der Glitzergavin fehlte. „Fräulein Skye, ich bin eine sehr begehrte Persönlichkeit. Ich führe mit meinem Handy eine Zwangsehe, ja? Glauben Sie ernsthaft, ich würde es gedankenverloren irgendwo-“ Gavin stutzte – wieso? Dann ging plötzlich alles ganz schnell. RUMS! Der Tisch auf seiner Seite war gut einen Meter gegen die nächste Wand geflogen. Bevor ich mir erklären konnte, woher er so viel Kraft nahm, lag Gavin am Boden. Er wehrte sich nicht, als der Wärter ihm die Handschellen anlegte. „Ihr Gespräch ist vorbei, Gavin. Zurück in die Zelle.“ „Officer, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht Ihr ganzes Gewicht auf mich stemmen würden“, erwiderte er gequält. „Mr. Gavin!“ Hilflos starrte ich durch die Glasscheibe auf ihn hinab. Weshalb hatte er so plötzlich die Fassung verloren? „Das Bike! Eine Wanze, ein Sender, irgendwas in der Richtung. Ich hab die Bestellung gemacht, als ich auf meiner Vendetta saß.“ Und wahrscheinlich war er auch mit dem Motormonster unterwegs, als er Vivian Alvarado bei sich hatte. Mich überkam leichte Panik, als der Wärter Gavin zur Tür zerrte. „Wo steht das Teil?“ „In meiner Tiefgarage. Fragen Sie Daryan.“ Das Herz wummerte mir an den Brustkorb, die Rippen entlang und nahm auch noch den Weg aufwärts zu meinem Hals. Die Tür war zu und Gavin nicht mehr zu sehen. Ein kleiner Teil von mir war froh darüber, denn für einen Augenblick hatte er mir wirklich Angst gemacht, trotz Glasscheibe und Wärter. Ich kannte Gavin gerade eine Woche, aber bislang war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass er zu den Menschen gehörte, die wohl niemals die Beherrschung verloren. Vermutlich wäre ich an seiner Stelle schon viel früher ausgeflippt. Die Vorstellung, dass vielleicht schon seit einer halben Ewigkeit so ein Ding an dem Motorrad klebte, kam einer Katastrophe gleich. Ich holte gerade meine Tasche aus dem Schließfach der Sicherheitsschleuse, als mir einfiel, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, Gavins Motorrad zu inspizieren. Selbst wenn Crescend mir verriet, wo Gavin wohnte, konnte ich wohl kaum ungestört herum schnüffeln. Ich war mir sicher, dass Payne Gavins Wohnräume von der Polizei auf den Kopf stellen ließ. Ob sie auch die Tiefgarage in Beschlag genommen hatten, musste ich heraus finden, wenn ich von der Anhörung zurück war – meine Uhr sagte mir, dass ich nur noch eine halbe Stunde hatte. Ich hielt Ausschau nach Crescend, als ich in den Vorraum zurückkehrte. Wie bestellt und nicht abgeholt lehnte er mit verschränkten Armen an derselben Wand. Die Rote Bete hatte es noch immer nicht geschafft ihn rauszuschmeißen, aber das war auch ganz gut so. Sobald Crescend mich erspäht hatte, stieß er sich von der Wand ab und eilte auf mich zu. „Was hat er gesagt? Geht’s ihm gut? Behandeln sie ihn anständig?“ Ich deutete ihm, mir nach draußen zu folgen. Er trottete mir wie ein treudoofer Köter hinterher. „Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es eine Art Wanze an Gavins Motorrad“, erklärte ich etwas atemlos. „Jemand sollte sich das Ding ansehen. Das Ganze ist dringend und ich muss gleich zu einer Anhörung wegen Gavins Verfahren.“ „Ich mach’s.“ „Danke. Das Motorrad steht in seiner Tiefgarage. Weißt du, wo ich das Büro von Oberstaatsanwältin Freyer finde?“ In meiner Schusseligkeit hatte ich vergessen zu fragen, wo sich ihr Büro überhaupt befand. „Die Freyer sitzt im Bezirksgericht. Ich fahr dich schnell hin.“ Obwohl Crescend mich nach wie vor beäugte, als sei ich ein widerliches Insekt, war ich erstaunt, wie kooperativ er sich geben konnte, wenn es um Gavin ging. Als wir uns der Schleuse näherten sah ich, wie Mike Meekins sich im Pförtnerhaus abduckte. Kaum, dass wir über die Straße gegangen waren, drehte ich mich noch einmal herum und konnte zumindest ein Stück seiner Mütze nach oben wandern sehen. Insgeheim wünschte ich ihm ein paar Wochen Urlaub. Crescend fuhr einen breiten Chevrolet, der Gavins Motormonster in Sachen Albernheit gehörig Konkurrenz machte. In den Farben blau, weiß und schwarz bildete der Wagen ein weit aufgerissenes Haimaul. Als ich die Beifahrertür öffnen wollte, fuhr Crescend mir dazwischen. „Fick dich, Skye. Du sitzt hinten.“ „Vorne sitzt niemand.“ Ich sah nur einen Gitarrenkoffer, der – warum auch immer – angeschnallt war und genau so gut im Kofferraum Platz gefunden hätte. „Bist du blind? Das ist Geeters Platz.“ Großartig. Ich hatte keine Lust mit einem Idioten zu diskutieren, der seiner Gitarre einen Namen gab und ihr den Beifahrersitz reservierte. Etwas widerwillig schmiss ich mich auf die Rückbank. Mit den Gedanken war ich ohnehin bei der Anhörung, sodass ich beschloss Crescend einfach auszublenden. Das funktionierte so lange, bis er losfuhr. Falls ich je geglaubt hatte, dass Gavin der mieseste Fahrer Kaliforniens war, wurde ich gerade eines besseren belehrt – Crescend fuhr wie ein gestochenes Pferd. Er wechselte innerhalb weniger Sekunden mehrmals die Spur, ignorierte zwei Rote Ampeln und bog mit angezogener Handbremse und völlig überhöhtem Tempo in die Kurven, dass die Reifen qualmten und der Wagen ausscherte. Dazu grölte er aus vollen Lungen Sweet Child O’Mine von Guns N’Roses aus dem Radio mit und versuchte sogar das Gitarrensolo stimmlich zu imitieren. Ich hoffte ernsthaft, dass er bei den Gavinners nicht die Lead Vocals inne hatte. Nach nicht einmal zwei Minuten war mir speiübel. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als Crescend seitwärts in eine viel zu kleine Parklücke schoss. In meiner Vorstellung hörte und sah ich Glas splittern und Airbags aufgehen. Nichts davon geschah. „Leck mich am Arsch – zwei Zentimeter! Guck dir das an, Skye.“ Ich öffnete zaghaft meine zusammen gekniffenen Augen und sah Crescends Hintern. Mit dem Oberkörper hatte er sich aus dem Autofenster gelehnt um sein „Werk“ zu begutachten. Ich stieg wortlos und mit zitternden Beinen aus dem Wagen. Crescend fuhr an, noch ehe ich die Tür richtig zugeschlagen hatte. Vor dem Büro der Oberstaatsanwältin saß ich auf einer harten Holzbank und brachte die letzten freien Minuten damit zu, meinen Restbestand Snackoos zu vertilgen und Crescend bei der Suche nach dem Wanzending mental anzufeuern. Vielleicht wollte ich mich an ein Stück Hoffnung klammern, weil mich die heiligen Hallen des Bezirksgerichts einschüchterten. Die viel zu hohen Wände mit der Kirschholzverkleidung riefen unwillkommene Erinnerungen wach. Damals nach dem Prozessausgang hatte ich nicht mehr viel mit Lana sprechen können. Sie hatte ganz kurzfristig einen Neubeginn geplant, der darin bestand, dass ich weit weg auf einem katholischen Mädcheninternat in Bristol die Schule fertig machen sollte. Sie war nicht allzu betrübt gewesen, als ich vorgeschlagen hatte meine Ausbildung in London zu absolvieren. Während meiner Abwesenheit hatte sie Jake Marshall geheiratet und mit ihm zwei Töchter in die Welt gesetzt, die ich zwei Mal während der Frühlingsferien zu Gesicht bekommen hatte. Jeden Januar bekam ich von den beiden eine merkwürdig bekritzelte Geburtstagskarte zugeschickt. Etwas in mir rüttelte an meinem Gewissen, dass es doch nett war, wenn zwei kleine Mädchen mir eine Freude machen wollten. Der andere, wesentlich größere Teil von mir konnte Kinder nicht ausstehen, insbesondere dann, wenn sie mich Tante Ema nannten. Gerade war ich von der Holzbank aufgestanden um zu testen ob die schwerfällig aussehende Bürotür der Oberstaatsanwältin meine Klopfversuche akustisch verschlucken würde, als selbige aufgedrückt wurde. „Detective.“ Diane Freyer empfing mich mit einem verhaltenen Lächeln und einem äußerst sanften Händedruck. Ich musste mir verkneifen, sie von oben bis unten zu mustern. Sie war auffallend hübsch mit ihrem dunkelblonden Haar und den zarten Gesichtszügen, die wohl nur bei einer Puppe ebenmäßiger sein konnten. Ich ging durch die Tür und stellte fest, dass wir nicht allein waren. In einer dunkelbraunen Ledersitzgruppe erkannte ich Winston Payne, der viel kleiner und schmächtiger wirkte als heute Morgen im Fernsehen. Etwas abseits in einem Sessel saß Kristoph Gavin. Ich betrachtete kurz die Teetasse vor Payne auf dem Couchtisch – Gavins Bruder wiederum nippte sein Wasser wie einen erlesenen Wein. Ich verstand diese Gelassenheit nicht. Dass Payne zugegen war, sollte mich nicht verwundern, aber dass Kristoph Gavin offenbar Zeit fand eine Teestunde abzuhalten, während der Glimmerfop in einer Zelle versauerte, ärgerte mich mehr als mir lieb war. Meinem sicher fassungslosen Blick begegnete er freundlich und er erhob sich sogar, sodass ich zu ihm aufblicken musste. „Es freut mich, Sie wieder zu sehen, Miss Skye. Auch wenn die Umstände weniger erfreulich sind.“ Kristoph Gavins herzliches Lächeln war geeignet um gefrorene Butter zu erweichen, einen Tiger handzahm zu bekommen und Atomkriege zu verhindern. „Nehmen Sie Platz, Detective. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte Diane Freyer vom anderen Ende des Büros. „Ein Wasser bitte“, sagte ich mit Blick auf Kristoph Gavins Wasserglas. Blubberbläschenfrei. „Mit Kohlensäure.“ Sie orderte telefonisch mein Mineralwasser und gesellte sich zu uns in die Ledersitzgruppe. „Ich möchte betonen, dass dieses Gespräch überhaupt nicht vonnöten ist“, begann Payne. „Als erfahrener Staatsanwalt kann ich Ihnen versichern, dass alles mit rechten Dingen zugeht und die Beweise die Sachlage klar und deutlich unterstreichen.“ „Das sagten Sie bereits. Wir möchten Sie nicht von Ihrer Ermittlungsarbeit abhalten. Wenn Sie noch Angelegenheiten zu regeln haben, verstehe ich das“, erwiderte Diane Freyer freundlich, aber kühl. Payne fegte mit der Hand eine Haarsträhne hinter seine Schulter. „Glücklicherweise pflegte ich solche Dinge schnell und präzise abzuschließen.“ Ich fand, dass seine Stimme klang, als ob man permanent auf ein erkältungsgeplagtes Meerschwein trat. „Detective Skye, Sie haben seit Ihrem Dienstantritt vor einer Woche intensiv mit Staatsanwalt Gavin zusammen gearbeitet. Vielleicht beschreiben Sie kurz Ihre Eindrücke.“ Obwohl ich geahnt hatte, dass man mir genau diese Frage stellen würde, fühlte ich mich gerade kaum in der Lage vernünftige Sätze zu formulieren. Ich zwang mich, Diane Freyer fest in die Augen zu blicken. „Wir haben am Hiller-Fall gearbeitet. Der Fall ist ziemlich undurchsichtig, weshalb wir noch keine großen Fortschritte erzielt haben. An Gavins Verhalten ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“ Dass Gavin aufgeblasen und nervtötend sein konnte, schien jedenfalls nichts Außergewöhnliches zu sein. Eine junge, mollige Frau betrat mit einem Tablett das Büro. Nachdem sie es abgestellt hatte, verließ sie mit scheuem Blick prompt wieder das Zimmer. Kristoph Gavin beugte sich vor, öffnete die Wasserflasche und füllte das gebrachte Glas zur Hälfte. Ich bedankte mich kaum hörbar. „Sie erzählten vorhin am Telefon, dass Sie einen Zusammenhang zwischen dem Hiller-Fall und Gavins Verhaftung vermuten“, fuhr Diane Freyer fort. „Ich nehme an, dass es eine Verbindung gibt.“ „Oh, Sie nehmen es an. Ich bin mir sicher, dass Sie es auch beweisen wollen“, höhnte Payne. Beweisen? Ich hatte keine Beweise, nur ein Wasserglas in der Hand, das ich gerade in einem Zug leerte um einen Augenblick Zeit zu schinden. Inmitten von zwei Staatsanwälten und einem Strafverteidiger fühlte ich mich wie ein Rülpser in der Sinfonie. Kristoph Gavin war so aufmerksam mein Glas nachzufüllen. Da ich nicht das Gefühl hatte auf der Gewinnerseite zu stehen, konnte ich auch gleich eine Bombe zünden. „Ein Mann namens James Lowery hat die vergifteten Pralinen in Umlauf gebracht um Gavin zu belasten. Er ist der Tatverdächtige im Hiller-Fall.“ „Unmöglich“, quiekte Payne. „Wo sind Ihre Beweise?“ „Ich habe noch keinen Beweis. Höchstwahrscheinlich befindet sich an Gavins Motorrad ein Sender- und Empfängermodell, das es ihm ermöglichte Gavin zu überwachen. Gavin nutzt dieses Fahrzeug sehr oft, was Lowery wohl nicht entgangen ist.“ „Warum fragen wir nicht einfach Mr. Lowery?“, frotzelte Payne. „Wir konnten ihn noch nicht festnehmen.“ Payne setzte zu einer weiteren Stichelei an, weshalb ich lauter wurde: „Detective Crescend ist auf dem Weg zu Gavins Motorrad. Ich bitte um etwas Geduld.“ „Bis dahin sehen wir uns einfach die Fakten an“, wandte Kristoph Gavin freundlich ein. Inzwischen hatte er eine Mappe auf dem Schoß zu liegen, in der er vorsichtig blätterte als handelte es sich um eine wertvolle Bücherantiquität. „Ah ja“, säuselte er und entnahm ein einzelnes Dokument, das er vor uns auf den Tisch legte. „Die Zeugenaussage von Hillary Dixon, der Geschäftsführerin der Flowership Company. Klavier Gavin beauftragte sie am 3. Oktober 2025 gegen 11.15 Uhr mit der Auslieferung von 100 Jasmin-Blumen. Als Empfängerin gab er Diane Freyer an, des Weiteren nannte er als Lieferanschrift das Büro der Empfängerin.“ Payne unterbrach ihn. „Die Fakten sind uns allen bekannt, Mr. Gavin.“ „Ich möchte sicherstellen, dass sie von allen richtig verstanden wurden“, erwiderte er gelassen und mir entging nicht die Spitze, die er gerade versuchte in Paynes Kehle zu stoßen. „Gegen 12.30 Uhr kehrte ein Mitarbeiter der Flowership Company mit den georderten Blumen vom Großmarkt in die Filiale zurück. Mrs. Dixon brauchte nach eigener Aussage eine halbe Stunde um daraus ein Bouquet zu fertigen. Nachdem sie gegen 13 Uhr einen Boten schickte, der das Bouquet überbringen sollte, erhielt sie gegen 14 Uhr einen Anruf, wonach der Bote überfallen wurde und jemand die Blumen mitgenommen hatte.“ Payne quiekte erneut auf. „Davon höre ich zum ersten Mal!“ „Gewiss sind es Tatsachen, die die Ereignisse in ein neues Licht rücken, Mr. Payne. Die hört man nicht so gern.“ Auf dem Schreibtisch der Oberstaatsanwältin standen zwei Vasen mit weißen Blumen, die mir auf den ersten Blick verrieten, dass sie Seltenheitswert besaßen und eine hübsche Stange Geld gekostet hatten. „Die Blumen wurden ausgeliefert“, stellte ich nüchtern fest. „Da hören Sie es“, sagte Payne. Diane Freyer rieb sich in einem Anflug von Müdigkeit die Augen. „Hier stellt sich nicht die Frage, ob die Blumen ausgeliefert wurden, sondern von wem. Tatsächlich bekam ich zwei Bouquets zugestellt, von zwei verschiedenen Boten.“ „Wie…?“, begann ich, doch Kristoph Gavin hob beschwichtigend die Hand und nahm ein weiteres Dokument aus seiner Mappe. „Ich habe Hillary Dixon ein zweites Mal befragt. Sie sagte aus, dass sie ein zweites Bouquet als Entschädigung fertigte und einen anderen Boten schickte.“ „Konnten Sie den ersten Boten identifizieren?“, wandte ich mich an Diane Freyer. „Es war ein Mann. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Ich glaube, er trug eine Baseballmütze.“ Payne rückte fahrig seine Brille zurecht. Er schien aufgewühlt und kämpfte mit den Worten. „Mr. Gavin, wollen Sie etwa behaupten, dass jemand den Boten niederschlug, das Bouquet stahl und somit in Klavier Gavins Namen vergiftete Pralinen an die Oberstaatsanwältin überbrachte?“ „Ich nehme an, das wäre eine vorzügliche Gelegenheit meinen Bruder zu belasten.“ „Ihr Bruder ist in jeder Hinsicht schuldig. Die Motive sprechen für sich.“ „Sie werden mir sicher erläutern, welchen Grund mein Bruder gehabt haben soll, gleich einen Doppelmord zu begehen.“ „Liegt das nicht auf der Hand? Eine unerwiderte Liebe zu dieser armen Studentin und Machtgelüste auf die Position der Oberstaatsanwältin. Ruhm und Rachegefühle haben schon so manchen in Versuchung geführt.“ Kristoph Gavin schwenkte abermals das Wasserglas in seiner Hand. Er betrachtete den Inhalt, als schwömme darin eine geheimnisvolle Amphibienart. „Wir können von Glück reden, dass Sie bislang nur die Gelegenheit hatten, gegen meinen Bruder einen Haftbefehl einzuholen. Ich kann Ihnen nur nahe legen, nicht auch noch Anklage gegen ihn zu erheben. Andernfalls könnte der Ausgang für Sie ein unrühmliches Ende nehmen.“ „Um Himmels Willen! Sie wollen nicht ernsthaft Ihren eigenen Bruder vor Gericht vertreten?“ „Es gibt kein Gesetz, welches mir das untersagt. Davon abgesehen wird das nicht nötig sein.“ „Was erlauben Sie sich?!“ Payne schnappte nach Luft. Vielleicht stellte er sich gerade die gleiche Frage wie ich - bluffte Kristoph Gavin nur oder hatte er tatsächlich alle Zügel straff in der Hand? „Mein Bruder ist priviligiert geboren. Darüber hinaus verfügt er über Begabungen, die ihm abseits der Gavin-Prestige beachtlichen Erfolg beschert haben. Ruhm und Anerkennung bei den Damen sind keine Dinge, nach denen er sich sehnt.“ Payne schnaubte unbeeindruckt. „Haltlos. Diese Behauptungen sind haltlos, finden Sie nicht auch?“ Kristoph Gavins Züge wurden härter; er missbilligte Payne mit einem herablassenden Blick, der einen aufmerksamen Gesprächsteilnehmer ausdrücklich gewarnt hätte. „Welcher Mörder schickt seinem zuckerkranken Opfer Pralinen um es zu vergiften?“ „Ich denke, kein Mörder würde so - … Was sagen Sie da?!“ Payne starrte Gavin an, wie ich mich gerade fühlte. Ich sah zu Diane Freyer, die unbeeindruckt und mit wachem Blick der Auseinandersetzung folgte. „Sagen Sie, stimmt das?“, fragte Payne. Sie nickte. „Mein Bruder war darüber informiert. Vielleicht haben Sie ja eine Erklärung dafür, weshalb er sie ausgerechnet mit Pralinen vergiften wollte, die sie niemals gegessen hätte?“ „Wahrscheinlich hat er es... vergessen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die gleichen Pralinen in den Besitz von Vivian Alvarado gelangten. Klavier Gavin ist der einzige Mensch, der zu beiden Personen Kontakt pflegte.“ Fast hätte ich „Überwachung!“ gerufen, doch ich konnte mich gerade noch zurück halten. Kristoph Gavin betrachtete seelenruhig seine perfekt manikürten Fingernägel. „Der Beweis, der meinen Bruder letztendlich entlastet wird derzeit in der technischen Forensik von Mr. Filching untersucht. Ich habe hier ein Untersuchungsprotokoll, welches besagt, dass ein technisches Gerät am Motorrad von Klavier Gavin gefunden wurde, das über eine Abhörfunktion und einen Peilsender verfügt.“ Ich konnte nicht anders als mich über den Tisch zu lehnen und Kristoph Gavin das Papier aus der Hand zu reißen. Er wusste schon lange vor mir, dass Gavin überwacht worden war! Ein bisschen fassungslos las ich die Gegenzeichnung von einem Mr. Filching und... Mr. Bennett. Hmpf. Ich dachte kurz an Crescend, der mich sicher verfluchte und für dämlich erklärte, wenn er an dem Motormonster nichts finden konnte. Wenigstens hatte ich recht gehabt: Die erste, oberflächliche Idenifizierung besagte, dass es sich um ein UMTS-Modell mit einem Mikrofon handelte. Eines musste ich Gavins Bruder lassen. Er arbeitete derart schnell und gründlich, dass ich so langsam nachvollziehen konnte, weshalb Mr. Edgeworth ihn als Besten in der westlichen Region bezeichnet hatte. „Genug!“ Payne war aufgesprungen. „Wenn Sie behaupten, dass jemand anderes die vergifteten Pralinen geschickt hat, möchte ich auf der Stelle wissen, wen Sie damit belasten wollen.“ „James Lowery vielleicht?“, warf ich ein. „Ich habe meinen Bruder ausreichend entlastet und wenn er nicht unverzüglich aus der Untersuchungshaft entlassen wird, sehe ich mich gezwungen, andere Schritte einzuleiten.“ Die Worte galten Payne, dennoch sah Kristoph Gavin die Oberstaatsanwältin eindringlich an. Vermutlich hatte sie in dieser Sache das letzte Wort. Sie schien die Fakten einige Sekunden abzuwägen und atmete dann schwerfällig aus. „Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Wenn Sie keinen eindeutigen Gegenbeweis vorbringen, Mr. Payne, werde ich Staatsanwalt Gavin aus der Haftanstalt entlassen.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Payne noch einen brauchbaren Trumpf im Ärmel hatte, dennoch pochte mein Herz vor lauter Nervosität. Nebenbei wischte ich meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab. “Mr. Payne?“ “Nun, ich- … Unter diesen Umständen schlage ich vor, dass Mr. Gavin vorläufig entlassen wird.“ Ich atmete kaum hörbar aus. Payne wechselte einige scheue Blicke zwischen Kristoph Gavin und der Oberstaatsanwältin. „Guten Tag, Mr. Gavin. Mrs. Freyer.“ Nur ihr nickte er zum Abschied, bevor er mit langsamen, beinahe hinkenden Schritten das Büro verließ. Die nächsten Minuten war Diane Freyer damit beschäftigt, ein Schriftstück aufzusetzen, das die Freilassung des Glimmerfops erwirken sollte. Bis sie zum Hörer griff um einen Kurier zu bestellen, war es ausgesprochen still im Zimmer. Wann immer ich einen kurzen Blick auf Kristoph Gavin warf, beantwortete er meine stummen Fragen mit einem stoischen Lächeln. Ich sah es bildlich vor mir, wie er Stunden zuvor seinem Bruder seelenruhig in der Haftanstalt gegenüber gesessen hatte und ihn in ein Fragefeuer verwickelte, das alle Anhaltspunkte hervorbrachte, mit denen Kristoph Gavin jemanden wie Payne an seiner Berufswahl zweifeln ließ. “Wo haben Sie studiert?“, platzte es aus mir heraus. “In Stanford, Miss Skye.“ “Oh. Gut.“ Ich räusperte mich. Stanford. Natürlich. „Ich nehme an, Ihr Bruder war auch in Stanford.“ “Klavier hat ein gesondertes Ausbildungsverfahren in Deutschland absolviert.“ Hatte Mr. Bennett nicht erzählt, dass Gavin Schweizer war? Bei diesen Europäern sah wohl keiner vernünftig durch. Alle Köpfe drehten sich gleichzeitig zur Tür, weil es geklopft hatte. Herein kam ein Mann, den ich anhand seiner Uniform als Pförtner identifizierte. „Verzeihung, Mrs. Freyer. Unten wurde eine Nachricht für Sie abgegeben mit der dringenden Bitte, sie umgehend zu lesen.“ „Danke, Mr. Parker.“ Sie öffnete den Umschlag, sobald der Pförtner die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es konnte keine gute Nachricht sein, so wie sich ihre Brauen beim Lesen zusammenzogen. „Detective Skye.“ Ich stand auf. Sie gab mir wortlos das Schreiben. Die fettgedruckten Buchstaben verrieten mir sofort, wer diese Zeilen aufgesetzt hatte. Mit der Festnahme von Klavier Gavin haben Sie einen Ermittlungsfehler begangen. Die Cyanidvergiftungen sollten Staatsanwalt Gavin nicht belasten, sondern an seine Aufmerksamkeit für die wichtigen Dinge appellieren. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Unannehmlichkeiten bereitet habe. Damit ausgeschlossen werden kann, dass ich ein Trittbrettfahrer bin, habe ich einen eindeutigen Hinweis in der Asbury Street für Sie hinterlassen. Sie haben drei Stunden um Staatsanwalt Gavin aus der Haftanstalt zu entlassen. Geschieht das nicht, werde ich weitere Vergiftungen in Betracht ziehen. Ich stürzte zur Tür und brüllte nach dem Pförtner. “Wer hat diese Nachricht überbracht?” Am anderen Ende des Ganges war er stehen geblieben. Er kam zurück und sagte: “Ein Junge. Acht Jahre, höchstens zehn. Er sagte, es sei eine wichtige Nachricht für seine Tante.” Er warf einen hilflosen Blick zum Türrahmen, in den sich Diane Freyer mit verschränkten Armen gelehnt hatte. “Ich habe keinen Neffen”, stellte sie klar. “Wie hat der Junge ausgesehen?” “Trug ein rotes Cappi, glaube ich. Könnte auch orange gewesen sein. Hatte eine Tüte mit braunen Bonbons bei sich.” Bonbons. Im nächsten Augenblick sprintete ich die verschachtelten Gänge des Bezirksgericht ab. Draußen schaffte ich es fast die gewaltige Steintreppe abwärts zu segeln, bei dem Versuch die Stufen in Rekordgeschwindigkeit zu nehmen. Ich musste diesen Jungen finden. Er war nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit gerade James Lowery begegnet. Womöglich schwebte er in Lebensgefahr! Die Straßen waren voll mit Passanten. Ich rannte die Beverly Road westwärts ab, drehte mich nach allen Seiten nach einem rötlichen Basecap um und überlegte fieberhaft, wo der Junge hingelaufen war. Denk nach, Ema. Denk nach. Mit meiner dürftigen Beschreibung fragte ich ein paar Leute. Niemand hatte ihn gesehen. Verdammt. Mein Handy klingelte. “Skye.” “Diane Freyer. Ein Suchtrupp ist auf dem Weg. Mr. Parker erwähnte, dass der Junge einen Flyer für die Mall bei sich hatte. Eine Autogrammstunde oder etwas in der Richtung.” “Danke.” Ich legte auf und begann wieder zu rennen. Die ganze Zeit war ich in die falsche Richtung gelaufen. Das Beverly Center war zwar ausgeschildert, aber gut zehn Straßen entfernt. Als die Seitenstiche zunehmend beißender wurden, bereute ich zum ersten Mal, dass ich weder Auto noch Führerschein besaß. Nach ein paar weiteren Minuten Sprint konnte ich endlich die riesige Drehtür des Einkaufzentrums aus der Ferne erkennen. Langsam aber sicher war meine Kondition am Ende. Ich war nie unsportlich gewesen, aber der Lauf hatte mich geschafft. Mir war schwindelig und ich rang nach Atem. Am Eingang hing ein großes Plakat mit einem breit grinsenden Sal Manella, dem Regisseur der neuen Actionserie Titan Ranger. Die Autogrammstunde mit ihm fand in einem Computerspielgeschäft statt. Dummerweise befand sich der Laden ganz oben in der fünften Etage, sodass ich beim Rolltreppenaufwärtsrennen einige Passanten beiseite schubsen musste. Die Menschenandrang oben war enorm. Eine gut fünfzig Meter lange Schlange erstreckte sich über den kreisrunden Gang. Ich begann ganz hinten nach einem roten Basecap Ausschau zu halten und wann immer ich eins entdeckte, musste ich feststellen, dass der Träger zu jung, zu alt oder zu weiblich war. Dann endlich sah ich ihn. Er stand im mittleren Drittel der Schlange und versuchte mit seinem Handy Fotos über die Köpfe der vor ihm stehenden Leute hinweg zu machen. Ich trat näher und sah in der Gesäßtasche seiner Jeans einen Flyer... und etwas, das verdächtig nach Süßkram aussah. “He, was soll das? Lassen Sie mich los!”, protestierte er, als ich ihn aus der Schlange zog. “Mitkommen.” Ich zerrte ihn am Oberarm etwas abseits der Leute, vor eine Drogerie. “Sind Sie irre? Wer sind Sie?” “Detective Skye. Ich habe ein paar Fragen an dich.” Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Unglaube und Trotz. Im nächsten Moment trat er mir vors Schienbein. “Sie haben keine Waffe. Also sind Sie kein Cop. Und ich will nicht mit Ihnen reden.” Schmerz durchzuckte mein Schienbein und ich fragte mich, ob der Knirps zu viel CSI im Fernsehen geguckt hatte. Er wandte sich von mir ab um in die Schlange zurück zu kehren. Gerade noch rechtzeitig griff ich nach der Tüte mit den Schokoladenbonbons und zog sie aus seiner Tasche. “Das sind meine! Geben Sie die her oder ich rufe die Polizei.” Es waren Momente wie diese, die mir vor Augen führten, weshalb ich Kinder nicht leiden konnte. Ich hielt ihm meine Dienstmarke vor die Nase. “Kleiner, ich bin die Polizei. Jemand hat dir heute einen Brief gegeben, den du im Bezirksgericht abliefern solltest, stimmt's?” “Woher wissen Sie das?” “Wer hat dir diesen Brief gegeben?” Der Junge starrte auf seine Schuhe und zuckte mit den Schultern. “Du hast ihn von einem Mann bekommen.” “Darf ich nicht sagen.” “Warum nicht?” “Er sagte, es wäre eine Überraschung. Ein Geheimnis. Und ich verrate keine Geheimnisse.” “Finde ich gut”, lobte ich ihn scheinheilig. Er blickte von seinen Schuhen auf. “Sind Sie hinter ihm her?” “Ja.” “Ist er ein Verbrecher?” “Darf ich nicht sagen.” “Oh.” Ich hielt die Tüte mit den Schokoladenbonbons hoch. “Hast du die von ihm?” Er antwortete nicht, stattdessen flackerten seine Augen von der Tüte zu seinen Schuhen. Das war ein klares Ja. “Ich kann dir die Bonbons leider nicht zurückgeben.” “Die gehören mir!” Ich konnte ihm nicht sagen, dass sie höchstwahrscheinlich vergiftet waren. Aus meiner Hosentasche fummelte ich einen Fünf-Dollar-Schein. “Hier, kauf dir neue.” “Sie sind ganz schön geizig. Er hat mir nen Zwanziger gegeben.” Prompt stülpte er die Lippen nach innen, weil er das nicht hatte sagen wollen. Vielleicht war es nicht fair, seine Raffgier auszunutzen, aber es gab Momente, in denen unorthodoxe Methoden angebracht waren. “Ich gebe dir fünfzig Dollar, wenn du mit mir aufs Revier kommst.” “Ein richtiges Polizeirevier?” Innerlich verdrehte ich die Augen. “Ja.” “Rufen Sie meine Mum an?” “Das muss ich wohl.” “Ich hab mein Autogramm noch nicht.” Genervt sah ich zu der Schlange, die sich augenscheinlich noch mal verdoppelt hatte. “Ich besorg dir eins von Klavier Gavin.” “Der von den Gavinners? Den kennen Sie?!” Ich hätte die Frage lieber verneint, aber wenn Gavins Name dazu führte, dass die Nervtröte endlich mitkam, konnte ich mir ausnahmsweise ein Nicken abringen. “Meine Schwester findet den süß. Ich finde ihn scheiße”, sagte er angewidert. Sympathische Antwort. Leider kontraproduktiv. “Daryan Crescend ist cool. Kennen Sie den auch?” “Ja. Sozusagen ein Kollege von mir.” “Ich will später auch mal Polizist werden.” “Na los, Kleiner. Wir gehen.” Mit einer Hand in seinem Rücken dirigierte ich ihn zur Rolltreppe. Im Laufen versuchte ich Diane Freyers Nummer in meinem Handy rauszusuchen um einen Wagen mit Fahrer zu ordern. “Ich heiße Matt.” “Freut mich.” “Krieg ich ein Foto mit Daryan?” “Von mir aus.” “Und Sie kennen ihn wirklich?” “Ja.” “Wehe, Sie schwindeln mich an.” “Tu ich nicht.” “Und ich krieg wirklich fünfzig Dollar?” “Ja.” “Fahren wir in einem richtigen Polizeiauto?” “... Jaa.” “Können wir die Sirene anmachen?” “...” “Sie müssen meine Mum noch anrufen.” Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Über die neuen Erkenntnisse konnte ich mich freuen oder auch nicht. Aber genau genommen traute ich ihnen nur nicht. James Lowery hatte unvorsichtig gehandelt. Einen winzigen Teil seiner Planung hatte er dem kleinen Matt in die Hände gelegt. So wie es aussah, veränderte es alles. Matt drückte sich gerade die Nase am Snackautomat im Präsidium platt. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. In der Asbury Street hatte man eine Katze in einem Müllcontainer gefunden. Sie wurde mit Cyanid vergiftet. Wir konnten noch nicht identifizieren, wem das Tier gehörte, aber die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass es sich um die Katze von Vivian Alvorado handelte. In ihrer Wohnung befanden sich Fressnapf, Kratzbaum und Katzenspielzeug und außerdem weiße Tierhaare. Auf den ersten Blick war es nur eine Katze, aber die Tatsache, dass James Lowery sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hatte, gefiel mir nicht. Es musste ihm gefallen haben, die gleichen Quadratmeter abzugehen, die Gavin zuvor betreten hatte. Wie ich es vermutet hatte, waren die Schokoladenbonbons vergiftet. James Lowery hatte Matt nicht beliebig für seine Zwecke ausgewählt, dessen war ich mir sicher. "Wann kommt meine Mum?" Matt machte sich nicht die Mühe, von dem Süßigkeitenautomat auch nur einen Millimeter abzuweichen. "Ich konnte noch nicht mit ihr sprechen", gab ich zu. Tatsächlich hatte ich in den vergangenen drei Stunden mehr als zehn Mal versucht sie anzurufen, bekam aber nur die Mailbox ans Ohr. Ich hatte ihr zwei Nachrichten hinterlassen. Matt zuckte mit den Schultern. "Das ist normal. Sie arbeitet viel." "Was macht sie?" "Sie ist Kellnerin. Früher hat sie bei Blurrys gearbeitet. Jetzt ist sie irgendwo anders." Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen und nickte mit dem Kopf zum Süßigkeitenautomat. "Hast du dir was ausgesucht?" "Jelly Bellys." Ich stand auf und fischte meinen Restbestand Kleingeld aus der Hosentasche. Meine Tasche inklusive Portemonnaie lag noch immer in Diane Freyers Büro. Ich hatte Matt bislang nur oberflächlich zu den heutigen Geschehnissen befragt. Für ein richtiges Verhör brauchte ich die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten. Wenn sich seine Mutter nicht innerhalb der nächsten Stunde bei mir meldete, musste ich sie wohl polizeilich suchen lassen. Matt hatte die Jelly Beans aus dem Ausgabefach gegrapscht und ich wollte mit ihm zurück an meinen Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln sah ich die Tür zum Treppenhaus aufgehen. Jemand betrat den Flur. Als ich meinen Kopf drehte, hätte ich es für das Normalste der Welt halten müssen, doch gerade heute kam es mir so unwirklich vor. Einzig Matts verblüfftes Quieken versicherte mir, dass ich mir das nicht einbildete. Gavins Entlassung musste zügig erfolgt sein; er hatte Zeit gehabt sich umzuziehen und überhaupt sah er glimmeröser denn je aus. "Schön, dass Sie wieder da sind", sagte ich tonlos, doch es war ehrlich gemeint. Gavin lächelte. Es wirkte gezwungen. Er schenkte Matt nur einen flüchtigen Blick, als dieser seine Schachtel fallen ließ und seine Jelly Beans kreuz und quer über den Boden kullerten. "Was ist los?", fragte ich Gavin. Das Blau seiner Augen leuchtete stechend. Darin lag Wut, gepaart mit Angriffslust. "James Lowery wurde vor einer halben Stunde festgenommen." 06.Oct.2025 - Klavier --------------------- "Sieh dir die Männer gut an, Matt. Erkennst du einen von ihnen wieder?" Seit zwei Stunden schon beobachtete ich, wie Daryan versuchte aus Matt Caruso Informationen zu kitzeln. Letztendlich hatten wir eine Gegenüberstellung veranlasst, in der Hoffnung, dass der kleine Matt unter den fünf Männern James Lowery identifizierte. Auf seinem jungen Gesicht lag Anstrengung, die einem Erwachsenen gebührte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns helfen wollte. Vor allem schien er selig, wegen des gemeinsamen Fotos mit Daryan und der fünfzig Dollar, die Fräulein Skye von mir eingefordert hatte. Ich hätte auch eine Million Dollar bezahlt, wenn es dazu führte, dass ich Lowery für das rankriegte, was er getan hatte. "Ich weiß nicht", hörte ich Matt murmeln. "Schatz, sieh ganz genau hin. Ich bin mir sicher, dass du ihn wiedererkennst." Ms. Caruso hatte die Worte zu ihrem Sohn gesagt, dabei aber mich angesehen. Nachdem wir sie endlich erreichen konnten, versuchte sie die fürsorgliche Mutter zu spielen. Die Nummer nahm ich ihr nicht ab. Ich war kein Experte in Kindererziehungsfragen, aber ein Junge in Matts Alter gehörte um die Mittagszeit in die Schule und nicht in ein Einkaufszentrum, wo Fräulein Skye ihn aufgegriffen hatte. Aus den Gesprächen, die sie und Daryan mit ihm geführt hatten, ging außerdem hervor, dass er sehr oft allein gelassen wurde. Ich drückte auf die Sprechtaste zum Gegenüberstellungsraum. "Setzen Sie den Männern bitte die Basecaps auf." Der zuständige Beamte mit dem In-Ear hatte verstanden und verteilte die Mützen an die Männer. Matt hatte berichtet, dass er von einem Mann mit Basecap angesprochen wurde, der darüber hinaus mit roter Farbe geschminkt war, um den Titan Ranger zu imitieren. Eine clevere Maskerade, die mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte. Wir hatten vorab alle Männer schminken lassen, wie Matt es beschrieben hatte. Geholfen hatte ihm das leider nicht, und auch nachdem alle Herrschaften mit Kopfbedeckungen ausgerüstet waren, wirkte er ratlos. "Nummer zwei und drei sind es nicht", sagte er schließlich. Ich war mir sicher, dass er das schon ohne Mütze festgestellt hatte, denn besagte Männer entfielen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit. Nummer zwei war augenscheinlich zwei Köpfe kleiner als die anderen und Nummer drei hatte rotes Haar. Matt hatte deutlich einen dunkelhaarigen Mann in Erinnerung. "Weißt du noch, was der Fremde zu dir sagte?", fragte ich ihn. "Er fragte, ob ich mir 20 Dollar verdienen will." Wieder drückte ich auf die Verbindungstaste um den Männern eine Sprechprobe abzunehmen. "Die Stimme von Nummer eins ist zu hoch", sagte Matt, nachdem alle den gleichen Satz gesagt hatten. Blieben noch Nummer vier und fünf. Dummerweise ähnelten sie sich sowohl in Statur als auch Haar- und Stimmfarbe. Lowery hatte gottverdammtes Glück. Gerade jetzt wünschte ich mir eine Falltür für den Platz mit der Nummer vier, unter der ausgehungerte Krokodile warteten. "Vielen Dank, Matt", sagte ich schließlich. Ich drückte die Sprechtaste. "Bringen Sie Nummer vier in Vernehmungszelle neun. Der Rest kann gehen." Für die Verhandlung konnte ich Matt als Zeugen nicht gebrauchen, aber das war mir sogar ganz lieb. Es war vollkommen ausreichend, seine Aussage schriftlich in die Beweisliste aufzunehmen. "Gut gemacht, Kleiner", sagte Daryan und legte eine Hand auf Matts Schulter. "Sie können jetzt gehen. Detective Crescend wird sie nach draußen begleiten", sagte ich mit einem Seitenblick auf Ms. Caruso. Und jetzt war es endgültig Zeit, mir Lowery vorzuknöpfen. Daryan hielt mich am Arm zurück. "Wehe, du fängst ohne mich an", zischte er mir zu. "Mir ist es lieber, wenn du dich raushältst, ja?", versuchte ich es auf die nette Tour. Ich hatte Daryan lediglich darum gebeten, mit Matt die Zeugenvernehmung zu machen, weil der Kleine völlig von ihm angetan war und das seine Redseligkeit anspornte. Für alles Weitere kam Daryan nicht in Frage, weil er kein ermittelnder Detective in diesem Fall war. Und so sehr ich mir auch wünschte, dass er auf mich hören würde, wusste ich jetzt schon, dass ich gegen Daryans Sturheit keine Chance hatte. Ich betrat das Vernehmungszimmer und begann zu sprechen, noch ehe ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. "Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, jederzeit mit einem Anwalt zu sprechen, vor jeder Vernehmung, bevor Sie auf eine Frage antworten oder während jeder Vernehmung. Falls Sie einen Anwalt wünschen, ihn aber nicht bezahlen können, werden Ihnen keine Fragen gestellt, und das Gericht wird ersucht, Ihnen einen Anwalt zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie sich einverstanden erklären, Fragen zu beantworten, können Sie die Beantwortung jederzeit unterbrechen und einen Anwalt verlangen. In diesem Fall werden Ihnen keine weiteren Fragen mehr gestellt." Ich konnte diese Worte mittlerweile im Schlaf herbeibeten; für das Verhör waren sie sinnloses Gewäsch, denn die Befragten verlangten meist vorher nach einem Anwalt oder hatten mich stets irritiert angeblinzelt. James Lowery hatte nichts von alledem getan. Weder hatte er eine Regung gezeigt, als ich den Raum betreten hatte, noch zu mir aufgesehen, während ich ihm seine Rechte vorbetete. "Möchten Sie einen Anwalt sprechen?" Keine Antwort. Ich nahm ihm gegenüber Platz und schob ihm ein Dokument und einen Kugelschreiber zu. "Unterschreiben Sie, wenn Sie Ihre Rechte vollständig verstanden haben. Und dann nehmen Sie bitte die Mütze ab." Er rührte sich nicht. Die Mütze saß so tief in seinem Gesicht, dass ich lediglich seine Kinnpartie erkennen konnte. Ich wusste, weshalb ich Daryan immer die Verhöre überlassen hatte. Diese albernen Spielchen in den Befragungen waren mir zuwider. "Mr. Lowery, nehmen Sie die Mütze ab. Sonst werde ich es tun." Nur mühselig konnte ich die Wut in meiner Stimme verbergen. Dieser Mann hatte vermutlich vier Menschenleben und eine Katze auf dem Gewissen und versucht ein Kind zu töten. Hinzu kam seine kranke Vorstellung, daraus ein Spiel zu kreiieren, bei dem die Opfer gesichtslose Figuren waren, die er nach Belieben ausscheiden ließ um mich zum Handeln zu zwingen. Letztendlich hatte er es geschafft, dass ich ihm gegenüber saß. Ich war kurz davor, aufzuspringen und den Raum zu verlassen, doch ich sah, wie die Mütze auf den Tisch gelegt wurde. Mein erster Impuls war, ihn zu bitten, das Ding wieder aufzusetzen. James Lowery hatte in jeder Hinsicht durchschnittliche Gesichtszüge, die seinem toten Bruder ähnelten, wie es nur bei eineiigen Zwillingen möglich war. Im ersten Moment wollte ich es auf das Licht schieben, dachte an eine optische Täuschung oder dass ich übermüdet war. Seine Augen waren dunkelbraun und ein Teil davon, vielleicht ein Achtel, stach in blau hervor. War das möglich...? "Tragen Sie Kontaktlinsen, Mr. Lowery?" Wieder antwortete er mir nicht. Ich tippte auf das Blatt. "Unterschreiben Sie. Ich bin gleich zurück." Ich stand auf, öffnete die Tür und musste mich anhalten, sie nicht ins Schloss zu knallen. Ich hatte mich ohnehin schon bei Lowery verraten. "Klav, was wird das?" Daryan lümmelte mit hochgelegten Füßen vor der verspiegelten Scheibe und sah mich entsetzt an. Ich ignorierte ihn, stattdessen heftete ich meine Augen auf die verstreute Akte des Louis Hiller-Falls. Nacheinander grapschte ich wahllos nach dem Fallprotokoll, Hillers Obduktionsbericht und ich besah mir Bilder. Erst jene von Lowery, dann verglich ich sie mit denen von Hiller. Braun und Blau, kein Zweifel. "Hey Gavin, ich rede mit dir!" Ich fragte mich, weshalb mich diese Belanglosigkeit so aus der Bahn warf. Es war eine harmlose Besonderheit. Nur eine Augenfarbe. Fakt war, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, nur konnte ich gerade nicht einordnen, woher ich sie kannte. Jeder ambitionierte Hobbypsychologe hätte mir Angst vor Lowery unterstellt, aber das war zu einfach. Im Moment wollte ich verdammt noch mal eine Antwort auf meine Frage. Ich wühlte hektischer durch den Papierstapel; überhaupt war es mir schleierhaft, wie sich jemand in diesem Blätterchaos zurecht finden konnte. "Wenn du nicht den Mund aufmachst, kann dir keiner helfen." "Daryan, tu mir den Gefallen und halt die Klappe." Wir lebten seit fast drei Jahrzehnten in einem digitalen Zeitalter und als Resultat besah ich mir eine dermaßen schlecht strukturierte Akte, deren herausstechendste Eigenschaft die unleserliche Handschrift meines Detectives war. Diese Hieroglyphen waren an Schlampigkeit nicht zu überbieten und kamen einer Beleidigung meiner Arbeit gleich. "Klav, ich-..." Daryan nickte anerkennend dem Durcheinander auf dem Boden zu, weil ich soeben die Akte durch den Raum geworfen hatte. "Müssen wir noch mal das Stillsein üben, ja, Daryan?" Er verschränkte die Arme, drehte sein Gesicht demonstrativ zur Seite und murmelte etwas in seinen Kaugummi, das nach "Diva!" klang. Ich wandte mich Dr. Haines zu, einer Psychologin, die dazu abgestellt war, Lowerys Verhalten während des Verhörs zu protokollieren. "Wo ist sie?" "Wer?" "Detective Skye." "Sie bereitet sich gerade auf die Zeugenvernehmung mit Ivette Hiller vor." "Das kann warten. Holen Sie sie bitte her." "Nun, ich glaube nicht, dass das meine Aufgabe-" "Sofort!" Ihr Gesicht erzählte ein unvollendetes Drama. Genau in diesem Moment hielt sie mich für einen Choleriker oder Tyrann oder welchen Fachterminus sie auch immer dafür angewandt hätte. Sie erhob sich dennoch, mit äußert verkniffenen Zügen und stakste umständlich auf ihren Pumps über die am Boden liegenden Fallpapiere. Sobald sie aus der Tür verschwunden war, kniete ich mich nieder und begann die Blätter einzusammeln. Es dauerte nicht lange, bis zwei weitere Hände mir beim Aufräumen behilflich waren. Ich konnte es wohl als Glück bezeichnen, dass Daryan immerhin so lange schwieg, bis alles wieder halbwegs geordnet an seinem Platz lag. "Warum tust du dir das an? Überlass Lowery jemand anderem." "Du meinst, ich soll ihn dir überlassen. Schlag dir das aus dem Kopf." Mir waren nicht die Blicke entgangen, die Daryan immer wieder durch das verspiegelte Glas geworfen hatte. Wenn er Lowery betrachtete, dann mit Sehnsucht im Herzen. Für seine heißgeliebten Katz-und-Maus-Verhörspielchen hatte ich gerade jetzt kein Verständnis. "Mach, was du willst, Klav, aber du bist nicht bereit dafür." "Sag das noch mal!" Es reichte. Daryan ging mir mit seiner Penetranz nicht nur unglaublich auf die Nerven, er hatte den Bogen überspannt. Als Nächstes konnte ich den Atem, der seiner Nase entwich, auf meinen Lippen spüren. "Ich sagte, du bist nicht bereit. Pack deine Allüren ein und mach deinen Job. Du bist ein sesselpupsender Staatsanwalt und kein High Noon-Held." Vor meinem geistigen Auge drehte ich Daryan durch einen Fleischwolf, um anschließend mit einer Dampfwalze seine matschigen Überreste hundertfach zu überrollen. Und nur für Daryan setzte ich gerade mein schönstes Hundert-Watt-Lächeln auf. "Detective Crescend, ich danke Ihnen für die Befragung des Zeugen Matt Caruso. Sie sind hiermit von Ihren Pflichten entbunden und werden für die weitere Ermittlung nicht mehr gebraucht." "Vorsicht, Gavin! Wenn du versuchst mir ans Bein zu pinkeln, zieh dir vorher 'ne Windel an!" "Ich dachte, du stehst darauf, wenn ich den Staatsanwalt raushängen lasse." Daryans Kiefer verspannte sich. Ich spürte, wie sehr er sich danach sehnte, seine Faust in mein falsches Lächeln zu donnern. "Gott, nehmt euch ein Zimmer. Ihr seid peinlich." Lennys Dunhill-Qualm kroch mir mit einer irrationalen Willkommenheit in die Nase. Er stolzierte mit brennender Zigarette an uns vorbei und betrachtete die Räumlichkeit wie stinklangweilige Mineralien in einem Naturkundemuseum. "Wie war's im Knast, Gavin?" "Scheiße, wer hat den Dandy hier reingelassen?", brummte Daryan. Das fragte ich mich allerdings auch. Lenny hatte keine Zutrittsbefugnis, obwohl er wie alle Gavinners einem Job nachging, der mehr oder weniger mit der Polizei in Verbindung stand. Ich tippte darauf, dass er sich mit Hilfe von Tjark auf eine sehr unkomplizierte Weise Zugang verschafft hatte. Tjark hatte als führender IT-Forensiker aus administrativen Gründen Zutrittsberechtigungen im gesamten Präsidium. Im Gegensatz zu Daryan und insbesondere mir, ja? "Reg dich ab, Crescend. Wenn einer von euch beiden auch mal an sein Handy gehen würde, müsste ich gar nicht hier sein." Er stieß den Zigarettenqualm in meine Richtung aus. "Deine Pressesprecherin, Maria, oder wie auch immer sie heißt, hat gekündigt." Er meinte wohl Madison, aber da ich nur eine Pressesprecherin hatte, war der Name nebensächlich. Ich räusperte mich und machte mich innerlich auf das Schlimmste gefasst. "Nur die Kurzfassung bitte." "Der Werbedeal mit Pepsi ist geplatzt, alle Sponsoren für die kommende Tour sind abgesprungen und Syoss findet deinen Barbielook nicht mehr allzu lukrativ." Natürlich. Es war abzusehen, dass die Mordanschuldigung ihre Spuren nach sich ziehen würde, aber fair war das nicht. Mir ging es in erster Linie nicht um geplatzte Multimillionwerbeverträge (auch wenn Syoss mir den Gnadenschuss erteilte, hatte ich nichts zu befürchten – L'Oréal gab es schließlich auch noch). Es war viel mehr der Gedanke um meine Jungs, der mich traurig stimmte. Sie mussten unfreiwillig die Falschanschuldigung mittragen. "Einen Nachteil hat die Sache schon", fuhr Lenny fort. "Wir sollten dringend ein Fotoshooting für's Cover machen. Die Vorbestellungen für das Album haben vor einer Stunde die Acht-Millionen-Grenze geknackt. Die HBC küsst uns die Füße und will die Tour von 85 Konzerten auf 105 erweitern." "Verarsch mich nicht." Daryan starrte ihn an wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lange genug um sein Leben gekämpft hatte. "Acht Millionen, Crescend. Die Beatles drehen sich im Grab um." Ich sah, wie Daryan aus seiner Schockstarre erwachte und ungebremst Lenny auf die Hüften sprang, was damit endete, dass beide zu Boden fielen. Daryan riss jubelnd die Arme nach oben. "Schuldig im Sinne der Anklage, Baby!" "Gavin, hol ihn von mir runter", rief Lenny gequält. Innerlich verdrehte ich die Augen. Mit Sicherheit waren das überwältigende Neuigkeiten, aber ich konnte mich nicht darüber freuen, wenn ich bedachte, aus welchem Grund die Verkaufszahlen astronomische Höhen erreichten. Ich schlenderte zur verspiegelten Scheibe und fokussierte den Mann, der mir unfreiwillig diesen sagenhaften Rekord beschert hatte. Lenny stellte sich neben mich und steckte sich unter konsequenter Missachtung des Rauchverbots eine neue Dunhill an, während er Lowery unverwandt durch das Spiegelglas betrachtete. "Ich glaube allmählich brauche ich eine Pause." "Nicht jetzt. Ich wollte dich als meine neue Pressesprecherin engagieren", erwiderte ich trocken. Wenn ich ehrlich war, wollte ich, dass Lenny schnellstmöglich aus dem Präsidium verschwand, bevor mir seine Anwesenheit noch mehr Ärger bescherte. "Ich hätte schwören können, dass ich den Frosch da erst vor ein paar Tagen seziert hatte. Und jetzt lebt er wieder", schnarrte er. "Ist komisch, oder?" Nein. Das konnte nicht sein Ernst sein. Zumindest fiel es mir schwer das zu glauben. "Du... hast Louis Hiller obduziert?" "Stimmt, das war der Name. Traurige Gestalt, aber das Messer saß perfekt zwischen den Rippen. Trotz Thrombozytopenie total sauber, der Kerl. An dem sollten sich die anderen Leichen mal ein Beispiel nehmen." Lennys morbider Sarkasmus war mir zuwider, dessen wurde ich mir gewahr, als ihn so fest am Kragen gepackt hatte, dass ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel fiel. "Warum steht dann nicht deine verdammte Unterschrift auf dem Obduktionsbericht?", zischte ich "Weil ich noch Student bin, du Armleuchter!" Ich ließ von Lenny ab und atmete schwerfällig aus. Seit gefühlten dreihundert Semestern studierte er Rechtsmedizin und ich hatte bis heute nicht verstanden, weshalb er nicht einfach diesen lächerlichen letzten Schein machte. Eigentlich konnte es mir egal sein, aber in diesem Moment ärgerte es mich. Wenn ich gewusst hätte, dass ausgerechnet Lenny... Nein, eigentlich kam es einem Glücksfall gleich. Ich zwang ein Versöhnungslächeln auf meine Lippen. " Der Mann dort drüben heißt James Lowery und ist.." "... Sein Zwilling? So weit hatte ich kombiniert, Watson. Komm zum Punkt." Ich zog die Fallakte heran und blätterte nach dem zweiseitigen Obduktionsbericht. "Sowohl Hiller als auch Lowery haben diese merkwürdige Augenfarbe. Was ist das – ein Gendefekt?" Lenny trat näher und überflog die Zeilen. Er trennte Hillers Bilder vom Obduktionsbericht und hielt sie direkt unter die Schreibtischlampe der Psychologin. "Ist es der blaue Tupfer, der dich so geil macht, Gavin?" Er nahm sich jene Bilder, die mit Lowerys Namen gekennzeichnet waren, um sie mit denen von Hiller zu vergleichen. "Sektorielle Heterochromie. Eine Anomalie der Augeniris. Selten, aber aus medizinischer Sicht nicht weiter tragisch. Es erstaunt mich, dass beide es haben." "Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit bei eineiigen Zwillingen?" "Nicht sehr hoch. Außer, es handelt sich hierbei um einen autosomal-dominanten Erbgang." Lenny starrte mich an, als erwartete er, dass ich auf sein Fachchinesisch ansprang, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken. "Wie sieht's mit Mom und Dad aus? Geschwister? Kinder?", fragte er genervt, weil ich ihm offensichtlich zu blöd erschien. "Mr. Gavin?", wehte es fast ebenso genervt von der Tür zu mir herüber. Ich schenkte Fräulein Skye nur einen flüchtigen Blick, um mir dann gleich wieder Lennys Gedanken bezüglich dieser Augengeschichte in den Kopf zu holen. "Klav, diese Krankheit ist egal, hörst du? Du hast Schiss vor Lowery und willst es dir einfach nicht eingestehen." Nein, ich hatte keine Angst. Jedenfalls nicht so, wie es Daryan auffasste. Ich hatte diese Augen schon einmal gesehen. "Mrs. Hiller ist gerade im Präsidium angekommen. Ich würde Sie gern verhören. Was wollen Sie, Gavin?" Fräulein Skye musterte mich ungehalten und natürlich erwartete sie eine Antwort von mir. Ich war unschlüssig, was ich tun oder sagen sollte. Daryan schob sich an mir vorbei, um sich in seinem ungebremsten Aktionismus wenigstens Lowerys Bilder zu betrachten, wenn er ihn schon nicht im Verhör auseinander nehmen durfte. Ich schlenderte zu meinem Fräulein Detective und lehnte mich in den Türrahmen. Dr. Haines stand auf dem Flur, strich sich ihren Rock glatt und war sehr erpicht darauf, mich nicht anzusehen. Ich legte die Hand in den Nacken und suchte nach Worten. Situationen wie diese waren mir nicht geheuer. Ich fühlte mich inkompetent und überhaupt drohte dieser Fall mir über den Kopf zu wachsen. "Ich weiß zwar nicht, was an diesen Augen so spektakulär sein soll, aber so selten wie Lenny behauptet, ist der Kram nicht." "Ach?" Langsam, aber sicher zermürbte er mich. Vielleicht war ihm das nicht bewusst, aber gerade jetzt wünschte ich mir, dass er sich einfach wieder den Aufgaben in seiner Abteilung widmete. "Enzo hatte diesen Scheiß auch. Und wahrscheinlich laufen in L.A. noch tausende von diesen komischen Augenpaaren durch die Gegend." Und mit einem Mal war es da. Das fehlende Puzzlestück. Enzo Cadaverini. "Klav, du guckst ganz schön gruselig..." Daryan lief verdattert ein paar Schritte rückwärts und knallte gegen einen Aktenschrank, weil ich ihm keinen Platz mehr ließ. "Daryan. Ich liebe dich." Ich ließ mich dazu hinreißen, ihm einen Schmatzer auf den Mund zu drücken. "Wieso sind nie Minderjährige anwesend, wenn man sie braucht?", sagte Lenny angewidert. Ich ließ von Daryan ab und machte mich daran, die Fallakte einzusammeln. "Du Sackratte! Von mir aus dreh durch, aber hör auf mich anzuschwulen!" Daryan hatte keine Ahnung, wie sehr er mir den Tag gerettet hatte. "Ich hab zu tun. Tschüß dann!", hörte ich Fräulein Skye sagen und sah, wie sie aus dem Türrahmen verschwand. Ich beeilte mich, meinem liebreizenden Detective auf dem Tritt zu folgen. "Ey! Was ist jetzt mit Lowery?" Ich drehte mich im Gehen zu Daryan herum. "Leiste ihm Gesellschaft. Aber maximal Stufe zwei, ja?" "Geile Sache, Mann!" Stufe zwei implizierte einen leichten psychologischen Druck in Verhören. Ich bezweifelte, dass Daryan es irgendwie schaffte, auf Lowery vorteilhaft einzuwirken, aber nachdem er mir diesen wundervollen Geistesblitz beschert hatte, wollte ich ihm eine Belohnung gönnen. "Ich habe keine Ahnung, was das soll, Gavin, aber hören Sie auf mir hinterher zu dackeln." "Ich weiß nicht, welches Vernehmungszimmer für Mrs. Hiller vorgesehen ist." "Das trifft sich gut. Die Vernehmung von Mrs. Hiller ist nämlich auch nicht für Sie vorgesehen." "Die Entscheidungen liegen noch immer bei mir, Fräulein Skye." Sie hielt inne und drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir herum. "Ich kann Sie nicht mit reinnehmen, Gavin. Wenn Sie dabei sind, kriege ich kein Wort aus ihr raus." Ich öffnete ihr die Tür zum Treppenaufgang, doch sie machte keine Anstalten weiter zu gehen. "Mrs. Hiller hat uns verschwiegen, dass Hiller einen Zwilling hat. Und wenn meine Vermutungen richtig sind, hat sie uns auch verschwiegen, dass Enzo Cadaverini und diese Zwillinge einen nahen Verwandtschaftsgrad miteinander haben." Ihr klappte tatsächlich kurz der Mund auf, aber sie fing sich recht schnell wieder. "Angenommen, das stimmt. Was ändert das?" "Alles. Vertrauen Sie mir." Wir trafen Ivette Hiller in jenem schlichten Raum, in dem Daryan zuvor schon Matt Caruso befragt hatte. Mrs. Hiller hatte mich erblickt und sprang sogleich von ihrem Stuhl auf. "Davon haben Sie nichts gesagt!" "Beruhigen Sie sich", versuchte Fräulein Skye zu schlichten. "Ich gehe." Nach allem, was ich mir in den vergangenen Minuten in meinem Kopf zurecht gezimmert hatte, störte mich ihr unkooperatives Verhalten nicht im Geringsten. Sie würde reden. Nein. Vielmehr musste Sie es, ja? Ich setzte mich an die Tischgruppe und duldete, wie sie wütend auf mich herabsah. "Wenn Sie jetzt gehen, werde ich Sie im Gericht anhören müssen. Sie wollen keine öffentliche Zeugin in einem Mordprozess sein, dessen Staatsanwalt ausgerechnet ich bin. Mrs. Hiller, Ihr Sohn war krankhaft auf mich fixiert. Das wird medial eine Menge Aufsehen erregen. Man wird Ihnen hässliche Fragen stellen und Sie belagern. Ich kann damit umgehen und Sie?" "Sie können mich nicht zu einer Aussage zwingen!", fuhr sie mich an. "Sie dürfen die Aussage verweigern, wenn Sie sich dadurch selbst belasten. Das wiederum zieht eine strafrechtliche Untersuchung nach sich. Und glauben Sie mir, ich finde immer etwas." Weil sie sich immer noch nicht rührte, nickte ich mit dem Kopf zum Stuhl, von dem sie aufgesprungen war. "Wollen Sie die Aussage verweigern, Mrs. Hiller?" Sie setzte sich. Ich sah kurz zu Fräulein Skye, die es sich am Fenster bequem gemacht hatte und ihr Diktiergerät in der Hand hielt. Ich öffnete die Fallakte und entnahm ihr ein Bild, das ich in Mrs. Hillers Sichtfeld schob. "Louis..." Sie strich behutsam über sein Fotogesicht, um mich im nächsten Augenblick mit Giftblicken abzustrafen. "Warum zeigen Sie mir das?!" "Dieses Foto wurde vor drei Stunden aufgenommen." "Sie lügen. Louis ist tot." "Sein Bruder lebt." Sie schluckte. Dann schwieg sie eine ganze Weile, in der ihre Pupillen zunehmend hinter Tränenschleiern verschwammen. "Sie sehen genau gleich aus", presste sie heiser hervor, als ob es bei eineiigen Zwillingen ein Phänomen darstellte. "Tut mir leid. Über den anderen weiß ich nichts. Ich hatte nur Louis." Das wollte ich ihr unbedingt glauben. "Mich interessiert viel mehr, was Sie über Enzo Cadaverini wissen." Der Name traf sie wie ein verräterischer Pfeil von hinten. "Wer soll das sein?" "Sie könnten zumindest so tun, als ob Sie den Namen im Zuge des Doppelmords gehört haben. Das wirkt authentischer." "Hören Sie auf!" "Mrs. Hiller, wen wollen Sie schützen - Enzo oder Louis? Beide sind tot." Sie atmete tiefer. Nur noch ein kleines Stück und ich hatte sie. "Ich kann verstehen, dass Sie mir nicht vertrauen, aber versetzen Sie sich in meine Lage. Ich garantiere Ihnen, dass sich für Sie kein Nachteil aus der Sache ergeben wird. Alles, was ich wissen will, ist die Wahrheit." Ich griff in die Innentasche meines Jacketts und reichte ihr ein Taschentuch. Die zurückgehaltenen Tränen bahnten sich ihren Weg über Mrs. Hillers Gesicht. "Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?" Sie schüttelte den Kopf und wischte stattdessen die Tränen hinfort. "Es ist über 30 Jahre her", begann sie. "Ich war Hebamme in der Hickfield Klinik. Es war der 19. Juli 1993, als ich ihn zum ersten Mal sah. An diesem Tag wurden seine Söhne geboren. Enzo selbst war noch so jung, aber er sprühte vor Charisma und Liebe zu dieser Frau und den Zwillingen." "Was ist passiert?", fragte ich leise. "Die junge Frau starb zwei Tage später an den Geburtsstrapazen. Sie hatte ein schwaches Herz. Er war am Boden zerstört und dann tauchte dieser schreckliche Mann auf." Ich wartete darauf, dass sie fort fuhr und hatte fast Skrupel nachzufragen. "Wer war dieser Mann?, fragte Fräulein Skye statt meiner. "Ein Onkel von ihm." "Bruto Cadaverini?" Sie zuckte zusammen. In dieser Stadt fürchtete sich auch nach seinem Tod jeder vor diesem Namen, selbst jene Leute, die nichts mit Bruto Cadaverini zu tun hatten. Seit mehreren Jahren schon wählte das Time-Magazin mich in die Top 10 der einflussreichsten Persönlichkeiten, aber im Vergleich zu Bruto Cadaverinis Schreckensherrschaft in L.A. war ich nur ein sehr kleines Licht, wenn auch wesentlich schimmernder. "Was wollte er?", fragte ich. "Ich weiß es nicht. Alles, was ich mitbekam, war, dass Enzo um das Leben seiner Söhne fürchtete." Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Gedanken, ob Mrs. Hiller mir nicht doch noch etwas verschwieg und dem Mitgefühl, das ich gerade für diese Frau empfand. "Ich nehme an, Enzo hat Sie um Hilfe gebeten." Das lag auf der Hand. Immerhin hatte sie einen seiner Söhne groß gezogen. Mrs. Hiller nickte. "Den Erstgeborenen hatte er weggebracht. Wohin, weiß ich nicht. Den Zweiten wollte er in der Nähe wissen. Louis hatte bei der Geburt einen Oberschenkelbruch erlitten und war etwas schwächer als sein Bruder." Ich fragte mich, weshalb sie ihm geholfen hatte. "Sie nahmen also den kleinen Louis bei sich auf. Was passierte dann?" "Enzo kam hin und wieder vorbei, allerdings sehr unregelmäßig. Oftmals nachts um ihn zu sehen. Bis Louis vier Jahre alt wurde." Sie hielt inne um sich die erneut hervorquellenden Tränen aus dem Gesicht zu wischen. "Er hatte mir in einem Brief geschrieben, dass es zu gefährlich sei, wenn er weiter zu Besuch käme und mich darin erinnert, dass Louis immer seine Kontaktlinsen tragen sollte. Er übermittelte mir dann einmal im Jahr einen größeren Check für Louis." Ich fragte mich, was Bruto Cadaverini dazu getrieben hatte, kleinen Kindern nach dem Leben zu trachten. Ich hatte mich im vergangenen Fall vor fünf Monaten viel mit Bruto beschäftigt. Dieser Mann war zerfressen von dem Gedanken der Familienehre und nichts schien ihm wichtiger sein als die Wertschätzung des Cadaverini-Bluts. Ein echter Cadaverini war in seinen Augen mehr wert gewesen, als man mit Gold je aufwiegen könnte. "Mrs. Hiller, waren Sie in Enzo Cadaverini verliebt?", fragte Fräulein Skye verhalten, als ob sie mit dieser Frage eine Grenze übertrampelte. Ich konnte ihr diese Frage nicht verübeln, denn was bewog eine Frau schon zu dieser selbstlosen Tat? "Ja... ja, das war ich wohl", seufzte sie. Ich erinnerte mich an das Verhör, das Fräulein Skye vor zwei Tagen mit ihr geführt hatte. Sie hatte sich von ihrem Sohn krankenhausreif prügeln lassen, ohne die Polizei einzuschalten. Wann auch immer sie Louis angesehen hatte, musste sie Enzo vor Augen gehabt haben. ... Unreines Blut... Ich stutzte. Konnte es sein, dass...? Nein, das war der Tragödie zu viel. "Sie wissen nicht zufällig, wie die junge Mutter der Zwillinge hieß?" "Er nannte sie immer Pam." Mein eigenes Blut begann in den Adern zu rauschen. Der Spitzname sagte mir überhaupt nichts, aber das war mir egal. Ich hatte eine Vermutung, eine schreckliche Vermutung. Ich erhob mich. "Mrs. Hiller, Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank." Zwar bedachte sie mich nicht mehr mit einem Blick, der mir deutlich die Pest an den Hals wünschte, dennoch konnte sie sich nicht überwinden meine dargebotene Hand zu schütteln. "Warten Sie", sagte sie, als ich bei der Tür stand und den Knauf drehte. "Kann ich ihn sehen? Den anderen?" Was sollte ich ihr darauf antworten? Ich konnte ihr nicht erzählen, weshalb James Lowery hinter Gittern saß. Davon abgesehen hielt ich es keine für keine gute Idee, Mrs. Hillers Bedürfnis nachzukommen. Ich fand es mehr als verständlich, aber es hätte ihren ohnehin riesigen Verlust nur vervielfacht. "Er lebt auf Hawaii." Fräulein Skye folgte mir nach draußen und zog die Tür sacht hinter sich zu. "Was haben Sie vor?" "Ich brauche frische Luft." Sie stemmte eine Hand in ihre Hüfte und betrachtete mich mit einer Prise Skyescher Geringschätzigkeit. "Und ich soll jetzt die Luft in Ihrem Umfeld filtern?" "Sie verabschieden Mrs. Hiller und sorgen dafür, dass Lowery zurück in seine Zelle gebracht wird. Den Rest des Tages nehmen Sie sich frei." "Wir stecken bis zum Hals im Ermittlungssumpf und Sie schicken mich nach Hause. Sind Sie wahnsinnig?" Ich war mir sicher, dass ich gerade puren Wahnsinn betrieb, aber gerade jetzt stand mir nicht der Sinn nach Erklärungen. Ich wollte meinem Verdacht folgen. Für einen Moment betrachtete ich Fräulein Skyes zarte Gesichtszüge, die mir gerade ein unverhofftes Gefühl der Ruhe und Sicherheit gaben. Nein, nicht mal Daryan hätte ich statt ihrer jetzt mitgenommen. Diesen Weg wollte ich allein gehen. "Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Sie hören spätestens morgen Früh von mir." Etwa eine halbe Stunde später stellte ich mein Bike in der Nähe des Volksparks ab. Ich verschwendete nicht viel Zeit darauf, es gut zu verstecken. Mit aller Wahrscheinlichkeit war es sogar armselig versteckt. Früher hätte mich das nicht gekümmert, aber seitdem dieses Wanzending an meinem Baby angebracht worden war, machte ich mir zum ersten Mal Gedanken. Ich wollte trotzdem keine Zeit verlieren. Mein Ziel lag gleich gegenüber vom Volkspark: das riesige Anwesen der Kitakis. Ich kam nicht zum ersten Mal hierher, deshalb wusste ich auch, dass das Eingangsportal stets offen war. Nicht einmal eine Person wie Mrs. Oldbag hätte es auch nur gewagt aus purer Neugier einen Fuß über diese Schwelle zu setzen. Gewöhnliche Familien brauchten Alarmanlagen, die Kitakis hatten ihren Ruf. Ich zog die Tür auf und warf einen Blick auf die Veranda des Haupthauses. Die Frau des Kitaki-Oberhauptes, von allen nur Little Plum genannt, fegte die Stufen und bemerkte mich nicht sofort. Erst als ich näher trat, verrieten mich die knirschenden Kieselsteinchen unter meinen Schuhen. "He du, Anwalt! Schlepp mir nicht den Dreck der Cadaverinis ins Haus." Das war ihre Art ungebetene Gäste zu begrüßen. Ebenso ihre Vorstellung des Zähnebleckens, indem sie das verborgene Schwert in ihrem Besen aufblitzen ließ. "Waren Sie beim Friseur, Lil'Plum?", versuchte ich mich selbst in die Nesseln zu setzen, weil sie das so sehr liebte. "Wahahaha!! Du machst mir altem Pfirsich keine schönen Augen. Was führt dich her?" "Ist Big Wins zu sprechen?" "Der Boss ist im Haus und unterhält sich mit dem anderen Anwaltsbürschchen. So viel Haut und Knochen. Dem möchte ich mal eine anständige Kitakisuppe kochen, aber der Boss sagt, dass meine Kochkünste viel zu umwerfend sind. Wahahaha!!" Der andere Anwalt...? "Erlauben Sie mir, drinnen zu warten?" "Geh nur. Aber stör ja den Boss nicht, sonst..." Sie bleckte die Zähne. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass in der Scheide nur ein abgebrochenes, stumpfes Schwert steckte, weil sie es nie ganz herauszog. Auf eine Überprüfung wollte ich es dennoch nicht ankommen lassen. Im Gegensatz zum Familiensitz der Cadaverinis wirkte das der Kitakis düster. Alle Fenster waren mit schweren Vorhängen zugezogen und in jeder Ecke thronte eine seltsam anmutende Drachenstatue, die entweder ein Schwert im Maul trug oder eine Kette aus Stachelkugeln. Natürlich besaßen die Kitakis ein ganzes Arsenal an unerlaubten Schusswaffen und seit Monaten schon juckte es mir in den Fingern, eine Hausdurchsuchung mit Beschlagnahmung zu veranlassen. Ich hatte es bleiben lassen aus zweierlei Gründen. Zum einen würde es keine zwei Tage dauern, bis die Kitakis ihre Waffenkammer wieder gefüllt hätten und zum anderen war es äußerst unklug, ihre Kooperationsbereitschaft in Ermittlungsfragen aufs Spiel zu setzen. Vielleicht waren sie blutrünstig, aber nach einem Kampf ließen selbst sie sich von der Staatsanwaltschaft die Wunden lecken. Ich lauschte nach Stimmen, doch alles was ich vernahm, waren meine dumpfen Schritte auf dem Parkettboden. Bei all dem Ermittlungsgaudi hatte ich eine Sache vergessen, weil ich mich zu sehr mit den Cadaverinis beschäftigt hatte: Enzo wurde im 16. Bezirk ermordet, aber in den 26. Bezirk verschleppt, direkt vor das Anwesen der Kitakis. Meine erste Vermutung war damals richtig gewesen. Der Mörder hatte mit Enzo Cadaverini absichtlich solch ein Blutbad veranstaltet. Wir hatten das Täterprofil eines Spurenlegers. Wenn ich alles richtig machte, würde die heilige Justitia mich in ihre Geschichtsbücher schreiben. Ich näherte mich einem ovalen, vergoldeten Spiegel mit allerlei Zier. Der Spiegel war zu meinem Bedauern blind. Ich berührte den Rahmen. Kein Blattgold, so viel stand fest. "Nehmen Sie Finger von diesem Spiegel, bevor ich Sie Ihnen abhacke." Ich drehte mich herum zu einer großen, breiten Gestalt mit dem Namen Winfred Kitaki, besser bekannt als Big Wins. "Ein Familienerbstück, nehme ich an", versuchte ich die Situation zu entschärfen. An sich war das gar nicht nötig, denn Big Wins war im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Mensch. Zumindest, wenn man nicht den Cadaverinis angehörte, ja? "Der Spiegel war das Lieblingsstück meiner Schwester. Was wollen Sie, Rechtsverdreher?" "Sie wissen, warum ich hier bin. Vor einer Woche wurde Enzo Cadaverinis Leiche vor Ihrer Tür gefunden." "Wäre ich oder sonst einer von uns an dieser Gotttat beteiligt gewesen, hätte ich das Haus voller Bullen und Partygästen." "Der kleine Staatsanwalt spielt nur Ermittlung. Gönnen Sie ihm den Spaß, Winfred Kitaki." Ich war kein Mensch, den man leicht überraschen konnte, aber dass mich ausgerechnet Justin Case hinter der Schulter von Big Wins angrinste, zog mir gerade den Boden unter den Füßen weg. "Warum leisten Sie uns nicht einfach Gesellschaft, Klavier Gavin?" Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Justin Case war der Hausanwalt der Cadaverinis. Er war der Grund, weshalb die Kitakis jedes Mal Blutrache schworen, wenn ein Cadaverini mit mildem Strafmaß oder gar ungeschoren davon kam. Bruto Cadaverinis Bild zuckte durch meinen Kopf und mit einem Mal hatte ich eine Ahnung, weshalb Casey putzmunter und nicht mit Bleikugeln durch dieses Haus stolzierte. Ich kam seiner "Einladung" mit langsamen Schritten nach und betrat einen kleinen Raum mit Ledersitzgruppe, in dem ein Kamin mit fadenscheiniger Behaglichkeit prasselte. "Setzen Sie sich", forderte Big Wins. Ich tat es nur widerwillig, aber ich wollte Antworten haben, also blieb ich nach außen hin ruhig. "Reden Sie, Gavin", setzte er nach, weil ich schweigend Justin Case musterte. "Kümmern Sie sich nicht um mich. Es dürfte nichts geben, was Sie herausgefunden haben, das ich nicht schon weiß", ermunterte er mich mit seiner üblichen Blasiertheit. "Ich bevorzuge ein Gespräch unter vier Augen", beharrte ich. "So viele Geheimnisse", säuselte Casey. "Wie schade. Dabei hatte ich in Erwägung gezogen, meine Geheimnisse mit Ihnen zu teilen, mein alter Freund." "Treiben Sie es nicht zu weit", erwiderte ich ernst, weil mich sein breites Grinsen beleidigte. "Sie sind gekommen, um in Enzo Cadaverinis Vergangenheit zu wühlen. Ich finde zwar, dass Sie ausgesprochen lange gebraucht haben, aber nun sind Sie ja hier. Und das ist Ihre Belohnung!" Wie von Geisterhand hervorgezaubert, landete ein kleines, dickes Stück Papier in meinem Schoß. Als ich es herumdrehte, sah ich auf ein sehr altes Foto, auf dem kaum noch die Farben zu erkennen waren. Ein junges Liebespaar, das sich in vermeintlicher Zweisamkeit umarmte. Sie wirkten derart glücklich, dass es fast greifbar war. Sie konnten nicht älter als zwanzig Jahre auf dem Bild gewesen sein, aber ich erkannte deutlich Enzo Cadaverini in dem jungen Mann. "Sie war eine Kitaki", stellte ich mit Blick auf die Frau fest, als wäre es ungeheuerlich, etwas anderes zu behaupten. "Meine jüngere Schwester Pamela. Sie starb..." "Vor 31 Jahren", beendete ich Big Wins' Satz. Es stimmte also. Bruto Cadaverini konnte die Schmach seines empfundenen Blutverrats nicht ertragen und wollte die Kinder, die aus dieser schicksalhaften Liebe hervorgegangen waren, beseitigen. "Shakespeare hätte Beifall geklatscht", sagte Casey. "Sie dummer Junge!", polterte Big Wins. "Diese Beziehung brachte Unglück über unsere Familien. Die Fehde hat sich zugespitzt, seitdem dieser Bastard meiner Schwester schöne Augen machte, obwohl er einer anderen versprochen war." Casey lächelte nicht mehr. "Nennen Sie ihn nicht so. Er war ein guter Mann." "Genug. Ich will nichts mehr davon hören." Big Wins seufte schwer. "Mein Sohn wurde vor drei Tagen in einem Kugelhagel schwer verletzt." Unter seinen buschigen Augenbrauen lag ein Schatten voller Schwermut und Trauer. "Ich bin müde geworden, Gavin." "Höre ich da etwa Rücktrittsgedanken?" "Die Familie zieht sich aus den Geschäften zurück. In Zukunft gibt es nur noch sauberes Geld. Bei Zeiten werde ich das Gespräch mit den Cadaverinis suchen." Casey schüttelte lachend den Kopf, weil ich ihn drei Sekunden zu lange angesehen hatte. "Nicht doch. Diplomatie ist nicht mein Metier, Klavier Gavin." "Winfred, würde es Ihnen etwas ausmachen, uns für einen Moment allein zu lassen?", bat ich, ohne den Blick von Casey zu nehmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ein zustimmendes Brummen von Winfred vernahm. "Tun Sie, was Sie wollen, aber halten Sie mich aus dem Cadaverini-Fall raus, capice?!" Scheinbar war er wirklich daran interessiert, die unglückliche Feindschaft der Familien zu begraben. Casey winkte Big Wins' Rücken nach und schob dabei die Unterlippe wie ein Fünfjähriger vor, dessen Vater den gemeinsamen Angelausflug wegen schlechten Wetters absagen musste. "Sie möchten wissen, weshalb ich hier bin, Klavier Gavin." "Nein. Das weiß ich." "Bravo. Der kleine Staatsanwalt macht seine ersten Kombinationsversuche. Nicht mehr lange und er wittert eine Spur." Ich hatte Justin Case das erste Mal vor fünf Monaten getroffen, einen Tag, nachdem Bruto Cadaverini in einer Schießerei ums Leben gekommen war. Von Anfang an hatte ich meine Schwierigkeiten, ihn richtig einzuschätzen. Überhaupt wusste ich kaum etwas über ihn, lediglich, dass er seit sieben Jahren die Cadaverinis verteidigte und sein kostspieliges Studium von niemand Geringerem als Bruto Cadaverini finanziert worden war. "Die Spur fängt allmählich an zu stinken, Casey. Können Sie eigentlich noch in Ruhe schlafen?" "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Stellen Sie klare Fragen. Vielleicht liefere ich klare Antworten." "Kein Cadaverini, den Sie je vor Gericht vertreten hatten, besitzt eine weiße Weste, aber Ihre ist durch und durch besudelt mit der Spur des Hochverrats." Er sah mich an und gleichzeitig durch mich, als wäre ich Luft. "Ich garantiere Ihnen, dass Viola von mir niemals Illoyalität erfahren hat." "Das glaube ich Ihnen gerne. Und jetzt sprechen wir über Bruto, ja? Ich konnte mich damals nicht entscheiden, ob ich auf gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge plädiere oder... Mord." Er schwieg bis in die letzte Faser seines Körpers. Nichts an ihm gab mir Aufschluss darüber, was gerade in ihm vorging. "Haben Sie etwa geglaubt, dass ich Ihren Beitrag zum damaligen Geschehen übersehen habe?", setzte ich nach. "Gewiss nicht. Sie hatten mich ausgiebig verhört. Oder besser gesagt, Ihr bedauernswertes Anhängsel Daryan Crescend. Er hatte viel Freude daran, den bösen Bullen zu spielen." "Sie wurden während der Schießerei in einem Wagen gesichtet, zusammen mit Winfred Kitaki." "Tun Sie sich keinen Zwang an, Klavier Gavin. Sprechen Sie es nur aus." "Sie waren derjenige, der Bruto Cadaverini erschossen hat." Jetzt schlich sich doch ein Lächeln auf sein Gesicht. Es war kein echtes, so viel stand fest. Darüber hinaus applaudierte er mir in einem mäßigem Tempo. "Wunderschön. Warum haben Sie mich nicht angeklagt?" Ich zog die Luft zwischen den Zähnen ein. "Erstaunlicherweise konnte ich alle Tatwaffen, die in dem Schusswechsel involviert waren, konfiszieren. Aber keine passte zu der Kugel, die Bruto entnommen wurde. Die Mordwaffe fehlt bis heute. Wenn ich richtig vermute, dürfte sich die Waffe augenblicklich hier in diesem Gebäude als versteckt nennen. Ein äußerst cleverer Schachzug." "Ich mag Ihre dramatische, kleine Geschichte. Wollen Sie sie weitererzählen?" "Vielleicht darf ich auch annehmen, dass Bruto auf Ihr Ansinnen einen Schusswechsel mit den Kitakis provoziert hat?" "Sie haben damals vier Kitakis vor den Richter geführt." "Betrachten wir ihre Strafen als gerechten Ausgleich zu all den Verbrechen, wofür ich sie nicht anklagen konnte." Caseys Finger begannen zu tanzen. Er dirigierte sein Jojo, als säße vor ihm ein Sinfonieorchester; gleichzeitig hatte er die Augen geschlossen, als würde ihm das geliebte Spielzeug nebenbei eine nette Melodie vorsummen. "Wie nobel von Ihnen. Sie haben mich also nicht angeklagt, weil Ihnen die Mordwaffe fehlte. Halten Sie mich eigentlich für dumm, Klavier Gavin?" Das JoJo segelte halterlos in die Luft und kurz bevor es an die Decke krachte, fiel es abwärts. Ich wollte die Hand danach ausstrecken, fast hätte mich das Zucken meiner Finger verraten, doch ich ließ zu, dass es auf dem Parkettboden in seine Einzelbauteile zerbrach. "Sie haben mich nicht angeklagt, weil ich kein Motiv hatte. Das ist alles." "War das ein Geständnis?" "Oh, ich gestehe hier gar nichts. Weshalb sollte ich ausgerechnet Bruto ermorden? Ich habe diesem Mann viel zu verdanken. Er hat mir eine gute Ausbildung finanziert. Seitdem fahre ich einen netten Wagen und häufe eine hübsche Summe Geld auf meinem Konto." Wir beide betrachteten für eine kleine Weile das zerbrochene JoJo. "Ich habe mich immer gefragt, weshalb Bruto ausgerechnet Sie als Anwalt ausbilden ließ. Einen belanglosen Jungen aus armen Verhältnissen. Bruto war nicht gerade als sozialer Wohltäter bekannt." Casey erhob sich von der Sofakante und begann die Einzelbauteile aufzusammeln. "Da Sie mir gerade eine rührende Geschichte erzählt haben, will ich Ihnen auch eine erzählen." Er prüfte die beiden Scheiben des Jojos. Sie waren unversehrt. Dann begann er ganz langsam die Schnur auf den Mittelsteg zu wickeln. "Wie fange ich nur an? Es war einmal ein kleiner Junge... Wie gefällt Ihnen das, Klavier Gavin?" "Wollen wir den Jungen Justin nennen?" "Suchen Sie sich einen Namen aus. Der Junge hatte fünf Brüder und nur eine Schwester. Von all seinen Geschwistern hatte er sie am liebsten. An ihrem siebten Geburtstag weinte die Schwester entsetzlich, weil sie aufgrund der Familienarmut kein Geschenk bekommen sollte. Und wie es der Zufall so wollte, sah der Junge genau an diesem Tag das perfekte Geschenk in einem Park. Es war eine kostbare Puppe. Jenes Mädchen, dem sie gehörte, hatte eine helle Freude daran, all ihre mitgebrachten Puppen zu verstümmeln. Neben ihr lag ein ganzer Haufen von Puppenleichen, denen die Arme, Köpfe oder Augen herausgetrennt worden waren." "Er hat die letzte Puppe gestohlen?" "Er entriss ihr das Ding und wollte fliehen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das fremde Mädchen zwei Leibwächter hatte. Sie griffen ihn auf und das wütende Mädchen forderte eine Strafe." Casey hatte mittlerweile die Schnur vollständig aufgewickelt. Jetzt musste er nur noch die Scheiben ineinander drehen um das JoJo wieder zusammen zu setzen. "Die Strafe erteilte ihr Großvater. Er hatte den Jungen lang und finster angesehen, bevor er folgende Worte sagte: Wer einen Cadaverini betrügt, bezahlt mit seinem Leben." Casey sagte nichts mehr, aber auch ohne, dass er seine Geschichte mit einem "Ende" garnierte, wusste ich, dass sie auserzählt war. "Ich kenne keinen Mann, der weniger lebt als Sie, Casey." "Ich will Ihnen einen guten Rat geben. Die Wahrheit mag verlockend schmecken, aber sobald Sie die Suppe ausgelöffelt haben, sind Sie ein toter Mann. Mehr als ich es je sein könnte." Das Jojo flog direkt auf mein Gesicht zu. Ich fing es mit meiner Hand ab um es zu betrachten. Tadellos zusammengesetzt. Als ich wieder aufblickte, war Casey verschwunden. Ich wusste nicht, wie viel Wahrheit in der Geschichte steckte, aber sie entfachte eine Frage umso deutlicher. Was hatte Bruto dazu bewegt, Justin Case in das Schattengeflecht der Cadaverinis einzubinden? Man hatte James Lowery aus einer der wenigen Hochsicherheitszellen geholt, die das Präsidium zu bieten hatte. Innerhalb der letzten Stunde hatte ich drei Becher Kaffee hinunter gestürzt, weil ich die Hoffnung hatte, dass das Koffein mir das letzte Quäntchen Aufmerksamkeit bescherte. Mir brannten die Augen und der Kammerton A pfiff in meinen Ohren; ich war eindeutig erschöpft. Auf meinem Schoß lag ein Notebook, auf dem ich mir die Videoaufzeichnung von Daryan und Lowery ansah. Seit etwa zehn Minuten quälte ich die Rückspultaste, weil ich etwas entdeckt hatte, das mich gehörig irritierte. "Rede, verdammt! Oder ich werde die Sätze aus dir rausprügeln", brüllte Daryan. Er hatte es nicht bei Stufe zwei belassen, sondern die Geduld mit Lowery verloren. Immerhin war ich nicht mehr der Einzige, der an diesem Verhör gescheitert war, denn Daryan hatte sich dazu hinreißen lassen, Lowery sprichwörtlich an die Gurgel zu gehen. Das war strikt untersagt, aber das kümmerte mich keineswegs. Viel mehr ließ ich die Szene immer wieder auf mich wirken, weil mich der Ausdruck auf Lowerys Gesicht nahezu sprachlos machte. Glückseligkeit. Lowery betrachtete Daryan, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen... "Rede, verdammt! Oder ich werde die Sätze aus dir rausprügeln!" Daryan würgte ihn - und Lowery lächelte. "Ich hoffe ernsthaft, dass Sie das nicht wiederholen wollen", tönte es müde von der Tür. Ich sah hinüber zu Dr. Haines, die besagtem Verhör beigewohnt hatte. Dank mir hatte sich ihr Feierabend in Luft aufgelöst und sie sah mich dementsprechend verbiestert an. Durchaus verständlich, aber es gab schließlich Prioritäten. Ich heftete meinen Blick von dem Video-Lowery zum echten hinter dem Spiegelglas. Genau wie heute Nachmittag saß er regungslos am Tisch und wartete darauf, dass etwas passierte. Oder er war letztendlich eingeschlafen; er saß weit vornüber gebeugt, dass ich sein Gesicht kaum erkennen konnte. Ich klappte das Notebook zu und stand auf. "Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten", sagte ich halbherzig, weil es mir nicht wirklich leid tat. "Ich bin bereit, wenn Sie es sind, ja?" Ich sah zu, wie Dr. Haines ihre Unterlagen aus der Tasche holte und sich mit ein paar schnellen Handgriffen das Notebook so einrichtete, dass die Kamerabilder vom Vernehmungszimmer auf ihrem Display übertragen wurden. Sie erteilte mir den Startschuss, indem sie mir zunickte. Diesmal musste ich mich innerlich nicht wappnen. Die Anspannung von heute Nachmittag war wie verflogen. Jetzt war ich für Lowery bereit. Er zuckte kurz zusammen, als ich die Tür aufgerissen hatte. War er für einen Moment unaufmerksam gewesen oder hatte Daryan ihm doch mehr zugesetzt, als er uns weismachen wollte? Ich nahm begrüßungslos Platz, um dann ein oder zwei Minuten darauf zu warten, dass Lowery mich ansah. Er sah mich nicht an, viel mehr knetete er seine Finger – an seiner Stelle wäre ich vor Nervosität lieber umgefallen, ja? "Wann haben Sie oder Ihr Bruder das erste Mal Kontakt zueinander aufgenommen?", fing ich dann ohne Umschweife an. Wieder mal antwortete er mir nicht, aber damit hatte ich gerechnet. "Mr. Lowery, Sie wissen, wer ich bin und warum Sie hier sitzen?" Ganz langsam, beinahe so langsam, dass man es kaum vernehmen konnte, nickte er. Immerhin. Das war eine Antwort, auch wenn ich solche bevorzugte, die Konsonanten und Vokale enthielten. "Wenn Sie nicht aussagen, werde ich Sie auf mehrfachen Mord, versuchten Mordes, Erpressung und Irreführung der Staatsanwaltschaft und Verstoß gegen das Überwachungsgesetz anklagen. Das reicht für mehr als eine Todesstrafe. In dem Fall kann ich Sie nur beglückwünschen. So viel hatte bei mir noch keiner." Er schüttelte den Kopf. Es glich einem manischen Zucken. Was zum Teufel war mit dem Kerl los? Im Moment interessierte mich das mehr, als ihn dafür zu verachten, was er getan hatte. ".... ........ K-K-Kann n-nicht." "Was können Sie nicht?" Er sah auf und sein Blick traf mich bis ins innerste Mark. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. So wie er mich ansah, mit diesen geröteten, verwässerten Augen, erkannte ich, dass Lowery am Ende war. Und was ich noch viel schlimmer fand: er machte in diesem Moment den Eindruck eines verprügelten Kindes auf mich. Das war nicht gut. Ich durfte mich nicht hereinlegen lassen. "R-Reden. ist G-G-Ge..." "... Gesund für die Nerven?" "G-Gefährlich." Sollte das der Kerl sein, nach dem ich und Fräulein Skye gefahndet hatten? Ich wusste nicht, ob ich überrascht oder besser gesagt, enttäuscht sein sollte. "Reden Sie. Andernfalls werde ich gehen und dann wird nur noch der Richter für Sie sprechen." Wieder zuckte er, indem er dieses wahnwitzige Kopfschütteln andeutete. Seitdem sein Blick auf mir ruhte, hatte er nicht wieder weggesehen. Hatte er überhaupt einmal geblinzelt? Irgendetwas stimmte hier nicht und das hatte nichts damit zu tun, dass mein genialer, strippenziehender Mehrfachmörder sich als stotterndes Häufchen Elend entpuppte. Ich fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Wenn ich wieder rausspatzierte, ohne auch nur eine nennenswerte Aussage von Lowery zu bekommen, würde ich mir das nicht verzeihen. "Ich frage Sie das nur einmal: Haben Sie mit den Morden an Enzo Cadaverini und Louis Hiller zu tun? Haben Sie Vivian Alvarado vergiftet und das Gleiche bei Oberstaatsanwältin Freyer versucht? Waren Sie derjenige, der Matt Caruso Schokoladenbonbons gegeben hat?" Lowery war in sich zusammengesunken und ich wartete eine gefühlte Ewigkeit darauf, dass er etwas sagte oder zumindest wieder den Kopf schüttelte. "Wie Sie wollen, Mr. Lowery. Dann sehen wir uns vor dem Haftrichter, ja?", sagte ich mit meinem Zahnpastalächeln auf den Lippen und erhob mich. Etwas zog an meinem Jackett. Ich hatte vorgehabt, den Raum unverzüglich zu verlassen, aber konnte es nicht. Nicht, weil mich Lowery an meinem Ärmel festhielt, sondern weil er für einen Moment über den Stoff gestrichen hatte. Sicher, der Stoff war kostbar, aber das war der denkbar unpassendste Moment für Modeinteressen. "Mr. Lowery, würden Sie bitte auf der Stelle meine Hand loslassen!" Ich hatte versucht sie ihm zu entziehen, aber er hielt sie fest und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken. "S-Sie...", flüsterte er. Der Sicherheitsbeamte, der bisher unauffällig in der hintersten Ecke gewartet hatte, war näher getreten. Ich entzog Lowery ruckartig meine Hand. "Bringen Sie ihn bitte zurück in seine Zelle", wies ich den Beamten an und wandte mich im gleichen Atemzug ab, mit dem dringenden Bedürfnis, meine Hand und mein geliebtes Jackett zu desinfizieren. "... tötet mich." Ich hielt inne. "Was haben Sie gesagt?" "S-Sie würde m-m-mich... töten." Ich gab dem Sicherheitsbeamten ein Zeichen, dass er von Lowery ablassen sollte. Ich nahm dennoch nicht wieder vor ihm Platz. "Wer würde Sie töten?" "Viola." Das war doch... einfach kaum zu fassen. Schon zum zweiten Mal rauschte mir heute das Blut in den Adern. "Möchten Sie damit andeuten, dass Sie von Viola Cadaverini erpresst werden?" Er nickte. Ich wusste nicht, ob er die Wahrheit sprach oder versuchte sich mit einer Falschaussage aus der Affäre zu ziehen, aber das konnte ich nur herausfinden, indem ich nachhakte. Ich musste geschickt vorgehen, sonst hatte ich verloren. "Ich möchte meine erste Frage wiederholen. Seit wann bestand Kontakt zu Ihrem Bruder?" "N-Nicht lange. Vielleicht zwei W-Wochen." "Hatten Sie zuvor Kenntnisse über seine Existenz?" Er schüttelte den Kopf. "Louis Hiller kam also zu Ihnen, ja? Warum?" "W-Weiß nicht. Vielleicht N-Neugier." Ich merkte, wie die Ungeduld in mir wuchs. Ich musste mich zur Ruhe ermahnen. "Er kam zu Ihnen, weil er etwas herausgefunden hatte. Nämlich, dass er einen Zwillingsbruder hat und Sie beide von niemand Geringerem als Enzo Cadaverini abstammen. Ist das richtig?" "Ja. S-Sagte, dass... er Erbe antreten m-muss." Interessant. "Mr. Lowery. Ich möchte, dass Sie mir alles erzählen. Die ganze Geschichte. Was ist passiert, seitdem Louis Hiller vor Ihrer Tür aufgekreuzt ist?" "K-Kann n-nicht..." "Sie müssen, sonst sind Sie derjenige, der hinter Gittern wandert." Ich wusste immer noch nicht, ob ich Lowery Glauben schenken wollte, der vorgab vor Viola und ihrer Familie Angst zu haben oder der Tatsache, dass er mir nach wie vor verdächtig erschien. Äußerst verdächtig. "G-Gut. Ich erzähle." Ich zog mir einen Stuhl heran und ließ mich abseits des Tisches nieder. "Louis erzählte m-mir von den C-C-Cadaverinis. Dass w-wir zu ihnen gehören. S-Sollte m-mitkommen, hat er gesagt. Er hatte ein Treffen m-mit Daddy arrangiert. M-Mitten in der Nacht. Eine Frau tauchte auf mit einem fremden M-Mann. S-Sie redeten von Verrat und erschossen Daddy." Ich ließ das kurz auf mich wirken. "Beschreiben Sie mir bitte den Mann, der mit der Frau gekommen war." "Groß. Dünn und blass. K-Konnte gut JoJo spielen." Natürlich. Justin Case. "Wer von den beiden hat Enzo Cadaverini erschossen?" "Viola." "Was hat sie getragen?" "Ganz schwarz. N-Nur die Handschuhe n-nicht." Ich merkte, dass meine Frage ungeschickt war. Lowery stopfte augenblicklich das Loch in der Aussage, das erklärte, weshalb ihre Fingerabdrücke nicht auf der Waffe zu finden waren. Aber wenn er mich gerade anlog und selbst der Mörder von Enzo war, hätte er mir das früher oder später selbst erzählt. Dann wusste er ohnehin, dass besagte Waffe keinerlei Fingerabdrücke aufwies. "Ihr Bruder hatte Schmauchspuren an Händen und Kleidung, die von der Waffe stammen, mit der Ihr Vater getötet wurde." Er zuckte zusammen. Hatte ich ihn endlich erwischt? "Mr. Lowery?" "... Schrecklich." "Was ist schrecklich?" "Louis rannte auf Viola zu. W-Wollte ihr die W-Waffe entreißen. Der M-Mann zückte ein M-Messer und stach zu. Ein Schuss löste s-sich." Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. So wie Lowery es erzählte, schien es auf den ersten Blick der Wahrheit zu entsprechen. Weder Casey noch Viola hatten für die Tatnacht ein Alibi. Es war Justin Case zuzutrauen, dass er Viola in solch einem Moment bis zum Äußersten verteidigte. Ihr gegenüber war er vom Scheitel bis zur Sohle loyal eingestellt. Auf der anderen Seite war er nicht der Typ, dem direkte körperliche Auseinandersetzungen lagen. Bruto selbst hatte er hinterhältig aus einem Wagen heraus erschossen. "Wieso haben die beiden Sie am Leben gelassen?" "K-Konnte fliehen." "Und seitdem verstecken Sie sich?" "W-War n-nicht einfach. W-Wurde von der Polizei aufgegriffen." "Gibt es vielleicht noch etwas, das Sie mir erzählen wollen?" Lowery hatte den Argwohn in meiner Stimme bemerkt, aber ich hatte ihn auch gar nicht verbergen wollen. Er sah mich irritiert an. "Wo waren Sie am 2. Oktober?" "I-Ich..." Wieder wähnte ich mich im Glauben, ihn erwischt zu haben, doch das konnte auch ein Trugschluss sein. "K-Könnte ich ein Glas W-Wasser haben?" "Später. Wo waren Sie am 2. Oktober?" "W-Weiß nicht. N-Nirgendwo." Jetzt hatte ich ihn. "Sie waren in Fresno um die Mordwaffe abzuschicken." Er senkte den Kopf. "Können Sie mir das vielleicht erklären, Mr. Lowery?" "W-Wollte S-Sie n-nicht abschicken. M-Musste es", sagte er nach einer ganzen Weile des Schweigens. "Warum?" "Justin Case hatte m-mich gefunden. S-Sagte, w-wenn ich n-nicht die W-Waffe abschicke, w-wird er m-mich bestrafen." Justin Case? Hm... Lowery hatte kurz zu mir aufgeblinzelt, um den Blick gleich wieder nach unten zu richten. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und ließ zu, dass all die Gedankenfetzen und Puzzlestücke, die seit Tagen in meinem Kopf kreuz- und querschossen, direkten Zugang in meine Kombinationsareale fanden. Sobald Staatsanwalt Gavin bei Ihnen eintrifft, übermitteln Sie ihm bitte dieses kleine Zugeständnis meinerseits. Wenn Sie die Waffe berühren, sind Sie tot. Klavier, wenn du das liest, bin ich vermutlich schon tot. Bitte erfülle mir meinen letzten Wunsch und höre niemals auf Musik zu machen. Deine Klänge werden mich im Himmel erreichen. Dein größter Fan, Louis "Louis Hiller war ein Freak... in jeder Hinsicht... " "Ich verstehe Ihren Unmut, aber Ihr Großvater starb bei einem Schusswechsel, den er – zahlreichen Zeugen nach – sogar provoziert hatte. Aber was hat das mit Louis Hiller zu tun?" "Er tauchte keine drei Tage später bei uns auf... Darf es ein Stück Kuchen sein?... " "Sie wollen einen Haftbefehl gegen Viola einleiten? Kommen Sie, wo bleibt denn da der Spaß?" "Jimmy is'n prima Kerl. Würde nie 'n krummes Ding dreh'n." "Sie haben Pralinen mit Cyanid an dieses arme, junge Ding geschickt und obendrein das Gleiche bei Oberstaatsanwältin Freyer versucht. Nur blieb diese verschont, weil sie unwissend die Pralinen ihrem Gärtner gegeben hat. Ihr schmutziger Mordplan hat den Falschen getroffen, Mr. Gavin." "Ihr Motorrad fällt auf, Mr. Gavin. Es ist… lila." "Wo waren Sie am 2. Oktober?" "Der war so von der Rolle, dass er nich' mehr wusste, wo vorn und hinten is' hier im Laden." "Shakespeare hätte Beifall geklatscht." Und Schluss. Genau in jenem Moment, als ich die Augen wieder aufschlug, wusste ich, wer hinter all den Verbrechen steckte. Ich wusste, warum Enzo Cadaverini und sein Sohn den Tod gefunden hatten, warum Vivian Alvarado ermordet wurde und weshalb Diane beinahe das gleiche Schicksal geteilt hätte. All das war schrecklich, dennoch kam ich nicht umhin zu lächeln. "Vielen Dank, Mr. Lowery. Sie dürfen in meiner Show als Gast auftreten." "W-Was?" "Sie werden als Zeuge in der Verhandlung aussagen." Am nächsten Morgen saß ich in meinem Büro mit einer Akustik in der Hand. Ich war in Kompositionslaune. Nebenbei hatte ich ein Headset auf den Ohren, um dem Ansturm lästiger Medienanfragen entgegen zu wirken. Seitdem Madison gekündigt hatte und mein Handy im Minutentakt klingelte, wusste ich ihre Arbeit mit einem Mal sehr deutlich zu schätzen. "Zum letzten Mal. Ich habe kein Interesse an einer Parfumlinie mit dem Titel A murderer's fragrance. Sie verschwenden meine Zeit." Ich kickte das enthusiastische Fräulein aus der Leitung. Wenn ich nicht schon reich gewesen wäre, dann spätestens jetzt. Nicht nur, dass ich mich vor Interviewanfragen wegen der Mordanschuldigung nicht mehr retten konnte. Es war unglaublich, was die Unterhaltungsindustrie aus der Geschichte herausschlagen wollte. Den Gipfel des schlechten Geschmacks erreichte eine Computerspielfirma. Vor einer halben Stunde wurde mir vorgeschlagen, ein Jump&Run-Spiel mit mir als Protagonisten zu entwickeln, bei dem es darum gehen sollte, in jedem Level unbemerkt so viele Menschen wie möglich zu vergiften. Schon wieder blinkte das Display meines Handys mit einer Nummer auf, die ich nicht kannte. Was war es diesmal - der 300. übereifrige Drehbuchautor? Gerade, als ich darüber nachdachte, mein Handy für heute abzustellen und einfach meine Telefonnummer zu wechseln, flog meine Bürotür auf und knallte im nächsten Moment ohrenbetäubend ins Schloss. "Fräulein Skye...", murmelte ich überrascht und nahm das Headset von den Ohren. "Sind Sie jetzt völlig durchgedreht, Gavin?" Mit energischen Schritten fegte sie auf meinen Schreibtisch zu. Ein Schmunzeln konnte ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen. Ihr Auftritt war.... gigantisch, ja? "Womit habe ich mir diesmal Ihren - sicher gerechten - Zorn zugezogen?" Sie knallte einen Briefumschlag vor mir ab, den ich sehr gut kannte. "Gibt es ein Problem mit dem Haftbefehl?", fragte ich. "Allerdings! Sie verlangen nicht allen Ernstes von mir, dass ich Viola Cadaverini verhafte?!" "Wenn Sie es nicht tun, dann jemand anderes. Haben Sie sich das Videoband mit Lowerys Aussage angesehen?" Sie knallte die Handflächen auf die Tischplatte und lehnte sich weit nach vorn. "Ja. Lowery zieht sich aus der Affäre, das ist alles! Und warum klagen Sie dann nicht auch gleich Justin Case an, wenn Sie so sehr auf Lowerys Gestottere stehen?!" Ich stellte die Akustik beiseite. Fräulein Skyes Empörung konnte ich sehr gut verstehen und es gefiel mir, eine Partnerin zu haben, die nach Gewissenhaftigkeit strebte. Nur gab es Zusammenhänge, die ich ihr jetzt nicht erklären konnte. Sie würde sie noch früh genug erfahren. "... Mein liebes Fräulein Skye. Viola Cadaverini braucht einen Anwalt, meinen Sie nicht auch?" 13. Oct 2025 - Ema ------------------ Meine Finger krallten sich in das Stoffsofa der Staatsanwaltslobby. Ich bog mich zurück, soweit es nur ging und konnte nicht verhindern, dass diese blauen Augen mir näher waren als je zuvor. „Noch mal. Los jetzt.“ „Abstand. Sofort.“ Gavins Aftershave kroch mir in die Nase. Es duftete anders. Nicht blumig, sondern klebrig-süß. Nach geschmolzenem Zucker. Scheinbar hatte er an alles gedacht, nur nicht daran, dass er mir besser von der Pelle rücken sollte. Ich schielte zum Waffenholster. Meine Finger hatten kaum gezuckt, da hatte er mich schon durchschaut und mein Handgelenk umklammert. „Sagen Sie mir einfach, was ich hören will, ja?“, flüsterte er rau. „Lassen Sie mich los!“ „Sagen Sie es, Ema Skye.“ Ich keuchte. Unter Gavins platinblondem Haar grinste mich Justin Case spitz an. „Sie sind fürs Denken begabt. Haben Sie das vergessen?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen. „Sagen Sie… wer hat eigentlich Klavier Gavin erschossen?“ … zu begreifen … „Was?“ Peng! Ich schrak vom Sofa hoch. Gavin stand am Türrahmen, die Klinke in der Hand. „Ausgeschlafen?“ Mit Sicherheit starrte ich ihn gerade nicht sehr intelligent an. Ich fuhr mit der Hand über das Gesicht, wie um diese verstörenden Traumbilder aus meinem Kopf zu wischen. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb so echt angefühlt, weil ich tatsächlich gerade in der Staatsanwaltslobby saß. Heute war der erste Verhandlungstag. „Wie spät ist es?“ „Kurz nach neun.“ Also war ich nur kurz eingenickt. Vor einer Stunde noch hatte ich Gavin angefaucht, weil er mich mit seinem Perfektionswahn zur Weißglut trieb. Die gesamte letzte Woche hatte er mich dahingehend terrorisiert, meine Aussage vor Gericht wie drehbuchreife Zeilen aufzusagen. Kein Wort zu viel und schon gar keines, das er nicht abgesegnet hatte. Er war so weit gegangen, mich zu einem Fotoshooting der Gavinners mitzuschleppen. Dort hatte er mich zu einem kaputten Plattenspieler degradiert und mich nur unterbrochen, wenn er dämlich in die Kamera grinsen sollte. „Das ist für Sie.“ Gavin wies auf eine riesige Pappschachtel auf dem Lobbytisch. Erst jetzt nahm ich bewusst jenen Duft wahr, der die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte. Es roch verdächtig nach frisch gebackenem Kuchen. PF! Wenn Gavin glaubte, mich damit zu besänftigen, hatte er sich geschnitten. Schließlich hatte ich meine… hmpf. Meine Snackoos hatte ich bis auf den letzten Krümel verputzt, nachdem ich Gavin vorhin jedes Schimpfwort an den Kopf geknallt hatte, das mir auf die Schnelle eingefallen war. Ich öffnete die Schachtel und starrte auf zwanzig glänzende, fette Donuts, die meisten mit Schokoladenüberzug. Die würde ich nicht alle allein schaffen – jedenfalls nicht vor der ersten Verhandlungspause. Ich biss beherzt in den ersten Doublechoc und beobachtete, wie Gavin den Reißverschluss einer Kleiderhülle aufzog und ein lilafarbenes Sakko herausholte. Nachdem er es kurz geprüft hatte, hängte er es zu einem schwarzen Hemd an die Türklinke. Hoffentlich hatte er nicht vor das Ding während der Verhandlung zu tragen. Gavins Auftreten war schon viel zu glimmerös – da konnte er wenigstens die klimpernden Ketten weglassen und überhaupt einen dezenten Anzug wählen. Ich riss meinen Blick von seiner Lederhose und zwang mich an Miles Edgeworth zu denken, nur um nicht zu glauben, dass unsere Gerichte vor die Hunde gingen. Mit einem Mal lärmte es von draußen durch das angekippte Fenster. Ich stand auf und versuchte durch die Schlitze der Holzlamellen zu linsen, doch sie waren total unnachgiebig. „Nicht das Fenster öffnen“, hörte ich Gavin noch sagen, aber es war zu spät. Eine hysterische Lawine rollte von unten zu uns in die Lobby. Ich sah in ein Meer von Fanplakaten. Nur am Rande bemerkte ich, dass man Viola Cadaverini gerade in das Gerichtsgebäude führte. Ich war viel zu sehr abgelenkt von den hunderten wild umherspringenden Teenagern. „Sind die wegen Ihnen da?“, fragte ich fassungslos. „Das ist ein Mordprozess!“ „Winken Sie mal. Die fahren voll drauf ab.“ Der Lärm wurde plötzlich dermaßen schrill, dass selbst Fledermäuse bei diesem Frequenzangriff in Ohnmacht gefallen wären. Gavin war dicht hinter mir ans Fenster getreten und löste eine Reaktion der Massen aus, die mir schier unbegreiflich war. Nicht nur, dass tatsächlich einige Mädchen umkippten. Da gingen auch ein paar heulend in die Knie – doch nicht etwa wegen ihm? Halb sprachlos, halb wütend drehte ich mich um und bereute es auf der Stelle. „Würden Sie das bitte lassen?“, fuhr ich ihn an. Gavins Hemd war aufgeknöpft und ich starrte auf seinen nackten Oberkörper. „Sie bewundern meine Muskeln?“ Er besaß die Frechheit, auch noch das letzte Quäntchen Abstand zwischen uns zu verkürzen, indem er sich mit seinen Handflächen links und rechts von mir abstützte und seinen Kopf hinunter zu meinem neigte. „Welche Muskeln?“ Es stand außer Frage, dass Gavin eine athletische Figur hatte. Wahrscheinlich trainierte er regelmäßig, aber das waren keine Muskelberge, die ein Fitnessmagazin beworben hätte. „Sie haben mich beim Umziehen unterbrochen. Ich hatte nicht die Absicht, Sie in Verlegenheit zu führen.“ Selbstverständlich rückte er keinen Zentimeter ab. „Ich werd nicht verlegen und schon gar nicht wegen Ihnen!“ „Vielleicht ist der Anblick noch nichts für Ihre unschuldigen Augen. Sie haben hiermit die Erlaubnis sich umzudrehen, ja?“ Gavin lachte leise, als ich mich unter seinem Körperklammerfluch abduckte. Nebenbei schloss er das Fenster und sperrte damit das Geplärre der Zahnspangenmonster aus. Wenigstens das. Ich schnappte mir einen weiteren Donut und wartete darauf, dass Gavin sich endlich fertig anzog. „Bei Ihren Todesblicken bekommt man ja Angst. Sie verstehen keinen Spaß, oder?“ „Vielleicht ist dieses Ermessen noch nichts für Ihren unschuldigen Verstand“, erwiderte ich honigsüß. „Davon abgesehen verstehe ich nicht, wie jemand so selbstverliebt sein kann.“ „Selbstliebe hat noch niemandem geschadet.“ „In Maßen vielleicht. Ihre Selbstliebe reicht für die zehn Folgegenerationen der gesamten Erdbevölkerung.“ Kam es mir nur so vor oder knöpfte er sein schwarzes Hemd absichtlich so langsam zu? „Dabei ist Selbstliebe die uneigennützigste Form der Liebe “, säuselte er. „Was Sie nicht sagen.“ „Glauben Sie mir nicht? Wenn wir uns in andere verlieben, dann, weil wir begehren. Begehren impliziert Besitzdenken. Niemand ist frei davon – auch nicht ich oder Sie.“ „Was ist mit Elternliebe?“, versuchte ich zu kontern. „Elternliebe stellt Bedingungen.“ War das so? Ich wusste nicht, ob ich mich wirklich auf diese Art von Diskussion einlassen wollte. „Das sagen Sie, weil Sie vielleicht diese Erfahrung mit Ihren Eltern gemacht haben.“ Er lächelte mir milde zu, während er die Manschetten seines Hemdes schloss. „Wir werden in Abhängigkeiten hineingeboren. Auf andere Weise könnten wir nicht überleben. Dennoch stellt ein Abhängigkeitsgefälle immer ein Geflecht voller Bedingungen.“ Blabla. Im Prinzip hatte er Recht, aber seine Aussage war so allgemeingültig, dass man alles Mögliche hinein interpretieren konnte. Über den Donuts zeichnete ich eine liegende Acht, bevor ich mir den nächsten hinauspickte. „Wenn ich raten müsste, haben Sie eine hochkomplizierte Vater-Sohn-Beziehung.“ Gavin blinzelte in gespieltem Erstaunen, dann schürzte er die Lippen. „Und was ist mit meiner Mutter?“ Ich zuckte mit den Schultern. Um ehrlich zu sein, waren mir Gavins Eltern herzlich egal. Ich konnte ihn mir nicht einmal als Sohn von irgendwem vorstellen. Er war einer dieser Menschen, von denen man annahm, dass sie von Aliens ausgesetzt wurden, ohne dass sie je spielende, naive Kinder gewesen waren oder überhaupt eine menschliche Entwicklung durchgemacht hatten. „Also, was ist mit Ihrem Vater?“ Jetzt war Gavin an der Reihe mit den Schultern zu zucken. „Ich habe seit Jahren keinen Kontakt zu ihm.“ Ich hatte nur geraten und dabei voll ins Schwarze getroffen. „Zerstritten?“ „Sehr erfolgreich. Und nach eigener Aussage hat er bereits einen Sohn und benötigt keinen weiteren.“ Das klang irgendwie bitter. Zumal Gavin eine Spur zu sorglos daherschwatzte. „Was sagt Ihre Mutter dazu?“, versuchte ich das Minenfeld zu umspringen. „Sie ist tot.“ Tot. Dieses Wort hatte die unsägliche Eigenschaft, auf eine stumpfe, endgültige Weise nachzuhallen. „Das… okay. Wir müssen los, oder?“ Immerhin war Gavin jetzt auch fertig angezogen und ich hatte genug Donuts inne, damit mir der rauschende Zucker in den Adern im Gerichtssaal beistand. Etwas fahrig drückte ich die Klinke hinunter und erschrak, als die Tür gewaltsam wieder zugedrückt wurde. „Wie sind Ihre Eltern gestorben?“ „Wie bitte?“ „Ihre Eltern sind doch tot, oder nicht?“ „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ „Wie kommt es, dass ich so etwas Intimes von Ihnen weiß?“ „Wahrscheinlich haben Sie herumgeschnüffelt. Was soll die Frage?“ Ich ließ zu, dass Gavin mich an den Schultern herumdrehte. „Fräulein Skye, ich schätze Ihre Offenheit wirklich. Wahrscheinlich ahnen Sie gar nicht, wie sehr Sie gesegnet sind, aber das könnte mich und Ihnen im Gerichtssaal Kopf und Kragen kosten.“ Ich senkte den Blick, nahezu mundtot wegen seines peinlichen Überfalls und kämpfte innerlich um ein Stück Gelassenheit. „Ich sagte Ihnen schon einmal, dass Sie durchsichtig wie ein Glas Wasser sind. Dass Ihre Eltern tot sind, haben Sie mir gerade auf dem Silbertablett serviert. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Justin Case lächelt Sie an, als wären Sie sein Frühstück. Machen Sie ihm es nicht zu einfach, ja?“ Mir gefiel überhaupt nicht, was Gavin da sagte, aber seine Stimme schwang wie ein federleichtes Kitzeln durch meine Ohren und zum ersten Mal überhaupt drang zu mir durch, dass er es nur gut meinte. Irgendwie. Als ich den Kopf wieder hob, fühlte ich mich in seinem Blick bestätigt. „Okay“, sagte ich nur und räusperte mich. „Ihre wievielte Verhandlung ist das überhaupt?“ „Meine dritte.“ Was?! Gavin war nichts weiter als ein blutiger Anfänger? Dabei spuckte er die ganze Zeit große Töne, als ob er bereits Tausend Fälle geführt hatte! „Ich brauche noch einen Donut“, brummte ich. „Ich habe meine Lizenz seit fast sieben Jahren, Fräulein Skye.“ PF. Bloß nicht drüber nachdenken. Zwei Verhandlungen. Er hatte lächerliche zwei Verhandlungen innerhalb von… Moment! „Das heißt, Sie waren bei ihrem Debüt nicht mal volljährig?!“ „Ich war siebzehn.“ Ganz spontan hatte ich den Wunsch meinen Kopf gegen die nächstbeste Wand zu hämmern. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie seine erste Verhandlung ausgesehen haben mochte, wenn sein erwachsenes Selbst schon dermaßen willkürliche Entscheidungen traf. Die Anklage von Viola Cadaverini kam jedenfalls einer Katastrophe gleich. Nicht nur Gavin würde als Idiot dastehen, ebenso ich. Aber was hatte ich schon zu sagen? Ich grapschte drei Donuts und eine Serviette vom Tisch. „Los jetzt“, sagte ich. Vielleicht war es einfach das Beste, alles schnellstmöglich hinter mich zu bringen. Wenn der Prozess vorbei war, konnte ich mir immer noch Gedanken über meine Zukunft machen. Zum Beispiel darüber, mich in ein anderes Distrikt versetzen zu lassen. Ich betrat den Gerichtssaal zwanzig Minuten vor Verhandlungsbeginn. Gavin wollte nachkommen, weil er noch ein letztes Mal die Beweise abglich um sie dann letztendlich mit seiner Unterschrift abzusegnen. Der Saal war beinahe voll. Ich bemühte mich den drückenden Kloß der Anspannung hinunter zu schlucken und sah zu meinem Platz ganz vorn neben der Anklagebank. Zwar kannte ich meinen Text und wusste, was ich zu tun hatte, aber die Vorstellung, dass vielleicht schon in einer halben Stunde alle Augen und Ohren mir galten, verursachte ein hektisches Kribbeln in meinen Pulsadern. Mehrere Leute standen dichtgedrängt im Durchgang zwischen den Zuschauerreihen und plauderten angeregt miteinander. Ich versuchte mich hindurch zu bahnen, indem ich darauf achtete, niemanden zu berühren. Dann kreuzte doch jemand meinen Weg und der Schreck schoss mir ins Mark, als ich meine abschirmende Hand auf einem Unterarm betrachtete, der in magentafarbenen Stoff gekleidet war. „Obacht, Detective.“ Miles Edgeworth lächelte gütig, als ich meinen Stand wieder gefunden hatte. „Hallo, Mr. Edgeworth.“ Ich strich fahrig mein Haar hinter die Ohren. Wollte er sich die Verhandlung ansehen? Was für eine dämliche Frage. Genau das hatte er vor. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“ Er hätte mir Glück wünschen sollen, denn das hatte ich bitter nötig. Besser noch, er hätte einfach spontan den Fall übernommen. Mr. Edgeworth konnte das zweifelsfrei tun, schließlich war er der Beste von allen. „Danke“, presste ich bitter hervor. Am liebsten hätte ich mich wie ein quengelndes Kind an Mr. Edgeworth‘ Bein geklammert und darüber gejammert, dass Gavin ein mieser Stümper war und die falsche Person anklagte. „Wir wünschen Ihnen allen viel Erfolg, Ema Skye.“ Wahrscheinlich besaß Justin Case einen Tarnumhang oder ein mobiles Loch im Boden, dem er aus heiterem Himmel entspringen konnte. Nur so konnte ich mir erklären, weshalb er sich jedes Mal wie aus dem Nichts materialisierte. „Wie ich sehe, haben Sie Ihre Leidenschaft fürs Spielen nicht aufgegeben“, kommentierte Mr. Edgeworth das hüpfende JoJo in Justin Case‘ Hand. „Wie ich sehe, treiben Sie Ihre Karriere voran. Sie sitzen doch neben Diane Freyer?“ „Neben Ihnen kann ich wohl kaum sitzen.“ Beide schmunzelten sich an und ich konnte nicht einmal sagen, ob sie sich mochten oder nicht. Ich spürte keine Feindseligkeit, aber sehr wohl die etwas zu dick aufgetragene Höflichkeit. Mr. Edgeworth nickte mir zu, dann führte sein Weg eine Seitentreppe hinauf und ich erkannte, dass Case Recht hatte. Diane Freyer saß ganz außen in der ersten Reihe der Empore. Merkwürdigerweise machte mich ihre Anwesenheit nicht annähernd so nervös wie die von Miles Edgeworth. „Bereit für die Klavier Gavin-Show?“, fragte Case beiläufig. „Er hat mir verboten mit Ihnen vor der Verhandlung zu sprechen“, säuselte ich mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich nehme an, das fand er klug.“ Case besaß zumindest den Geistesgegenwärtigkeit, mit mir zu sprechen und dabei Leute zu beobachten, die er vermutlich gar nicht richtig ansah. Ich unterdessen war schwer damit beschäftigt, die Schnallen an meinen Schuhen zu richten. Ich dachte an jene Szene vor einer Woche, als ich mit einer Sondereinheit das Anwesen der Cadaverinis betreten hatte um Viola festzunehmen. Case hatte nur genickt und dann kommentarlos das Haus verlassen, die Hände auffällig still in den Hosentaschen vergraben. Viola hatte er keines Blickes mehr gewürdigt. Kurz schielte ich zu Case und fragte mich, warum er Viola auch jetzt keinen Beistand leistete. Phoenix Wright hatte meine Schwester vor Verhandlungsbeginn keinen Augenblick allein gelassen. „Warum sind Sie nicht bei Viola?“ „Sie braucht mich im Moment nicht.“ Wieso nur schimpfte er sich Anwalt? Ich linste auf das Revers an Case‘ Anzug. Er trug keine Anwaltsmarke. Das hieß natürlich nicht, dass er keine besaß, aber es gab Aufschluss über seine Einstellung. Case fing so unvermittelt meinen Blick auf, dass ich zusammen zuckte. Seine Augen wirkten stumpf wie eh und je, dazu rot gerändert und mit deutlichen Schatten untermalt. „Sie erlauben mir eine Frage, Ema Skye.“ Ich nickte. „Weshalb arbeiten Sie ausgerechnet für Klavier Gavin?“ Ich runzelte die Stirn. Vor einer Weile hatte ich ihn gefragt, warum er die Cadaverinis verteidigte, mit dem Ergebnis, dass ich keine klare Antwort von ihm erhalten hatte. „Die ganze Stadt schaut auf diesen Prozess. Folglich sitzt heute die juristische Elite geballt in diesem Saal. Wie bedauerlich, dass ausgerechnet Phoenix Wright fehlt.“ „Wahrscheinlich hat er Besseres zu tun“, erwiderte ich unsicher. Ich hatte keine Ahnung, weshalb Case so amüsiert auflachte, aber es ärgerte mich. „Ich will keine großen Worte verschwenden, aber akzeptieren Sie die Möglichkeit, dass Ihr Partner ein großer Fan des Schmierentheaters ist. Vielleicht geht Ihnen ja ein Licht auf.“ „Was hat die heutige Verhandlung mit Phoenix Wright zu tun?“, fragte ich patziger als beabsichtigt. Case antwortete nicht, stattdessen nickte er zur Gerichtssaaltür. Ich sah Gavin auf uns zukommen und nahm automatisch einen Schritt Abstand von Case. Er war noch gut fünf Meter entfernt, aber seine versteinerte Miene senkte die Raumtemperatur jetzt schon um zehn Grad Celsius. Und um die Stimmung auf den Gefrierpunkt zu treten, fuhr Case mit seinen Fingerkuppen über meine Schultern wie ein dummdreister Casanova, der gerade versuchte jemanden die Braut vor der Hochzeit auszuspannen. „Wir beide gehen doch bestimmt mal Essen, wenn der kleine Staatsanwalt im Bett liegt?“ Ich musste sehr tief in mein Zwerchfell atmen, nur damit ich ihn nicht mit seinem JoJo strangulierte! Seinen federnden Schritten warf ich stattdessen ein paar mentale Giftpfeile nach. Im Vorbeigehen säuselte er zu Gavin: „Schicker Anzug.“ Den Kommentar konnte ich ihm ausnahmsweise nicht verübeln. Im Gegensatz zu Gavin war Case äußerst korrekt angezogen: ein perfekt sitzender, dunkelblauer Anzug, kombiniert mit einer schwarzen Weste und einer schmalen, schwarzen Krawatte. „Er hat mich zugetextet!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Ich weiß. Der Richter ist da.“ Als hätte es ein geheimes Stichwort gegeben, standen alle Menschen im Saal auf. Ich starrte hoch zum Richterstuhl. Aus einer Seitentür sah ich einen alten Mann mit Rauschebart kommen und mir wurde sofort klar, dass es derselbe Richter war, der damals Lanas Fall verhandelt hatte. Wieso nur hatte ich mich nicht erkundigt? Ich spürte Gavins Hand in meinem Kreuz, vermutlich, weil ich wie festgewurzelt dastand. „Ich hab dem Richter versprochen, auf der Geburtstagsparty seiner Enkelin ein Privatkonzert zu geben. Sorgen Sie bloß nicht dafür, dass das umsonst war, ja?“, sagte Gavin nett lächelnd, aber ich wusste, dass er es todernst meinte. Also ließ ich mich von ihm zu meinem Platz schieben, bevor er zur Anklagebank ging. „Setzen Sie sich“, hörte ich den Richter sagen. Darauf folgte Stühlescharren, das nach und nach von einem empörten Murmeln durchdrungen wurde. Es galt Justin Case. Die Aufforderung vom Richter hatte er wörtlich genommen, indem er sich mitten auf die Verteidigerbank gesetzt hatte und mit sorgloser Gelassenheit die Beine an der Holzverkleidung baumeln ließ. Der Redeschwall wurde zunehmend lauter. „Ruhe. Ruhe, bitte!“, rief der Richter und schlug mit seinem Hammer auf das Pult. Vielleicht hätte das die Menge zum Schweigen gebracht, wenn da nicht der Hammerkopf gefehlt hätte. Er blinzelte irritiert den verwaisten Griff an. „Ruhe!“, versuchte es der Richter erneut. „Hat jemand… MR. CASE!“ Ein Raunen ging durch die Menge, während mir der Mund aufklappte. Case saß auf der Verteidigerbank. Und jonglierte! Ich konnte nicht alle Gegenstände identifizieren, die er durch die Luft warf, denn es waren zu viele, aber ich erkannte einen Apfel und den vermissten Hammerkopf. Das war frech, zweifelsfrei, aber es erzielte einen gewünschten Effekt. Alles war still und der Richter starrte wie hypnotisiert auf Justin Case` Jonglierkünste. Ich gönnte mir einen Seitenblick auf Gavin, der verbissen lächelte. Hätte mich an seiner Stelle auch gewurmt. „Können Sie fangen, Euer Ehren?“, fragte Case, während er unablässig die Gegenstände durch die Luft warf. „Natürlich! Auf dem College war ich der Pitcher unserer Baseballmannschaft. Man nannte mich den Pitching Hulk.“ War der Pitcher nicht normalerweise der Werfer? Der Hammerkopf flog in hohem Bogen auf das Richterpult zu und der alte Mann fing ihn mit beiden Händen auf, indem er sich fast über den Tisch warf. Im Anschluss freute er sich augenscheinlich über seinen geglückten Fang. Niemand sagte etwas, auch nicht, nachdem Case alle Gegenstände nach und nach aus der Luft geholt hatte und unter dem Tisch verschwinden ließ. „Einen Applaus für den Pitching Hulk“, durchbrach dann ausgerechnet Gavin die Stille. Verhaltenes Klatschen kleckerte durch den Gerichtssaal. „Schon gut, danke sehr“, murmelte der Richter verlegen und befestigte den Hammerkopf auf dem Griff. Und als ob die Verhandlung erst jetzt losging, schwang Case die Beine über die Verteidigerbank und sprang hinunter. „Wir verhandeln heute den Fall um Violetta Cadaverini. Die Verteidigung ist bereit?“ „Stets bereits, Euer Ehren. Bei dem kleinen Staatsanwalt bin ich mir nicht so sicher.“ „Ist die Anklage bereit?“, fragte der Richter, als hätte er Case nicht gehört. Als keine Antwort erfolgte, drehte ich den Kopf zur Anklagebank. Gavin stand dort mit geschlossenen Augen und schnipste mit den Fingern. „Staatsanwalt Gavin?“ „… Einen Augenblick, Euer Ehren. Nach einer so miesen Vorgruppe braucht das Publikum Zeit um sich auf den Hauptact einlassen zu können.“ „Zeit?“, fragte der Richter verwirrt. „Ich glaube nicht, dass-“ Die Menge duckte sich ab, als ob über ihr Fliegerbomben abgeworfen wurden. Aus irgendwelchen Boxen schepperte Rockmusik! Unüberhörbar auf Gavins Mist gewachsen. „Achtung, Herr Richter! Jetzt geht’s rund. Bühne frei für meine Gitarre, ja?“ Waren hier heute alle durchgedreht oder was?! Nach etwa einer halben Minute verstummte der Krach und ich sah, wie die Leute allmählich die Hände von den Ohren nahmen oder unter ihren Sitzen hervorkrochen. Gavin gluckste. „Sind jetzt alle wach? Auch Sie Herr Richter?“ „Mein Gerichtssaal ist keine Konzertbühne!“ „Das war die Weltpremiere meines neues Songs Guilty Love. Sichern Sie sich lieber den Download, bevor die Internetportale zusammenbrechen.“ „Nun, in dem Fall fordert das Gericht die Anklage auf, unverzüglich eine signierbare Version herauszurücken. Für meine Enkelin.“ Besagte Enkelin musste wirklich viel für Gavins Krach übrig haben. Das erklärte zumindest, weshalb der Richter ihn nicht sang- und klanglos aus dem Saal schmeißen ließ. „Ihr Eröffnungsplädoyer bitte, Staatsanwalt Gavin.“ „Die Angeklagte Violetta Cadaverini verübte den Komplott ihres Lebens. Nachdem sie vor fünf Monaten das Erbe von Bruto Cadaverini antrat, ermordete sie am 30. September 2025 ihren Onkel, einen weiteren Erben der Familie. Zweifelsfrei, um sich der drohenden Konkurrenz zu entledigen. In der gleichen Nacht kam auch Louis Hiller zu Tode, der die Tat mit ansehen musste.“ Gavin lehnte sich nach vorn und nahm Case angriffslustig ins Visier. „Ich hoffe, die Verteidigung ist gut vorbereitet. Oh, und wir plädieren heute auf Mord, Casey.“ Case kratzte sich am Nasenflügel, als täte er das lieber am Po. „Und für Sie Herr Richter… die Obduktionsberichte der Mordopfer.“ Ein Gerichtsdiener übergab die Berichtsmappen mit den zusammengefassten Stichpunkten an den Richter. Dann wollte er weitere Kopien an Case reichen, doch dieser hob nur eine schlichte Mappe, zum Zeichen, dass er sie bereits erhalten hatte. Der Richter überflog auf die Schnelle die Zeilen, obwohl ich davon ausging, dass er die vollständigen Berichte schon gelesen hatte. „Wird die Angeklagte aussagen?“, fragte er nebenbei. Erneut hörte ich Gavins Fingerschnipsen. „Die Frage ging an Sie, Casey.“ „Fragen wir sie doch selbst.“ Sobald Viola kaum merklich den Kopf schüttelte, breitete er theatralisch die Arme aus. „Sie sagt nicht aus.“ „Da unser mordlüsternes Fräulein nicht mit uns sprechen möchte, wollen wir stattdessen den Tathergang von Detective Ema Skye hören, ja?“ Case antworte nicht, stattdessen hatte er das Kinn in die rechte Hand gestützt und wartete darauf, dass ich in den Zeugenstand trat. Justin Case lächelt Sie an, als wären Sie sein Frühstück. Erst jetzt dämmerte mir, was Gavin wirklich damit meinte. Minuten zuvor hatte ich mir noch Gedanken darüber gemacht, ob ich vor allen Anwesenden wohl Aussetzer riskierte, aber ganz plötzlich begriff ich, dass das meine geringste Sorge sein sollte. Das Herz drohte mir aus dem Brustkorb zu brechen, so heftig schlug es mir gegen die Rippen. Case taxierte mich wie eine Schlange kurz vor dem Todesbiss. Er bewegte die Lippen. Ich hörte einen Pfiff. Als ob man einen Hund liebevoll ranpfeifen wollte. Ich hatte alles vergessen. Alles. Den Fall. Die Fakten. Wie war noch mal mein Name? Justin Case lachte schallend. Es klang nicht so, als ob er mich auslachte, viel mehr als ob er einen irrsinnig tollen Witz gehört hätte. „Euer Ehren. Ich glaube, wir müssen unsere Sachverständige noch davon überzeugen, dass wir nicht beißen.“ Spätestens jetzt war ich bis auf die Knochen blamiert. Gavin würde mich nachher in der Luft zerreißen, dessen war ich sicher. Ich kratzte mein letztes bisschen Mut zusammen und trat in den Zeugenstand. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Schultern zu straffen und Justin Case auszublenden. Ich sah kurz nach links und stellte fest, dass Gavin überhaupt nicht sauer war. Im Gegenteil, selbstzufriedener als jetzt hatte ich ihn noch nie grinsen sehen. „Detective Ema Skye?“ Ich sah zum Richter auf. „Ja?“ „Sie sind seit zwei Wochen im Dienst?“ „Das ist richtig.“ Ein wohlwollendes Lächeln umspielte des Richters Lippen und ich verstand, dass ich Gavin soeben den Welpenbonus beschert hatte. Ohne es zu wissen, hatte ich meine Rolle perfekt erfüllt und ich fragte mich, ob Gavin mich wirklich wegen meiner Aussage in den Zeugenstand geholt hatte. Berechnendes Ekel! Als er schon wieder mit den Fingern schnipste, zuckte mein Kopf etwas zu schnell in seine Richtung. „Berichten Sie uns von der Mordnacht am 30. September, Fräulein.“ Ich holte einmal tief Luft, um die erste Aussage abzuspulen die Gavin mir so sorgfältig eingetrichtert hatte. „In der Tatnacht gab es ein Treffen zwischen Enzo Cadaverini, Louis Hiller und James Lowery im Elysian Park. Es handelte sich hierbei um eine vertrauliche Besprechung der genannten Personen. Die Angeklagte kreuzte auf und streckte Enzo Cadaverini mit einer Schusswaffe nieder. Im Anschluss wurde Louis Hiller in einem Handgemenge durch einen Messerstich tödlich verletzt. James Lowery ergriff die Flucht mit einem Kleinwagen.“ Das war der Startschuss. Gavin hatte absichtlich klaffende Lücken in die Aussage gebastelt, um Justin Case aus der Reserve zu locken. Natürlich glaubten wir nicht, dass er uns hier auf den Leim ging, schließlich war er kein Anfänger. Gavin hatte es als Warm Up bezeichnet. „Höchst ungewöhnlich, dass die Cadaverinis sich neuerdings selbst zur Strecke bringen“, sagte der Richter. „Ihre Zeugin, Mr. Case.“ Fast hätte ich mit den Augen gerollt. Case saß schon wieder auf der Verteidigerbank und demonstrierte, dass er nicht mal in einer Gerichtsverhandlung sein JoJo in der Tasche lassen konnte. Ich folgte der auf- und abhüpfenden Scheibe mit den Augen, bis sie in einem Leerlauf nahe dem Boden rotierte. Case wirkte nicht nur gelangweilt. So wie er Gavin ansah, schien er ein bisschen verärgert zu sein. Das JoJo schnappte zurück in seine Hand. „Dann wollen wir mal die Beweise einsammeln. Schusswaffe, Messer, Kugeln, Hülsen, Tatortfotos und was Sie sonst noch so haben, Klavier Gavin.“ Case pflückte überhaupt nicht meine Aussage auseinander? Das stand nicht in Gavins Drehbuch. „Ihren DNA-Katalog dürfen Sie vorerst behalten.“ Das kam einer Katastrophe gleich. Case zwang die Anklage dazu, alle Beweise vorzulegen, die mit meiner Aussage zu tun hatten. Soweit ich wusste, blieb Gavin keine andere Wahl, als genau das zu tun. Wenn er die angesprochenen Beweise absichtlich zurückhielt, um sie später vorzulegen, wurden sie nicht mehr angenommen. Staatsanwälte folgten der Strategie des dramaturgischen Zurückhaltens gerne, um die Verteidigung in ein offenes Messer voller Annahmen laufen zu lassen. Noch schlimmer fand ich, dass Case die DNA-Analyse um Bruto und seine Söhne auf die hinteren Plätze verwies. Wusste der denn über alles Bescheid? Ich bemühte mich, nach außen hin gelassen zu wirken. Der Glimmerfop würde das schon retten. Würde er doch, oder? Gavin rief nach dem Gerichtsdiener. Es dauerte einen Augenblick, bis ein Rollwagen mit den gewünschten Beweisen vorgeschoben wurde. Ein paar hatte Gavin noch in petto. Fragte sich, wie lange noch. Justin Case sprang von der Verteidigerbank hinunter und schlenderte dem Wagen entgegen. Als erstes griff er sich die Schusswaffe. „Die Waffe kennen sie gut, Ema Skye?“ „Das ist eine Glock 18C.“ „Ich nehme an, Sie sind vertraut im Umgang mit Waffen?“ „Detective Skye ist eine Koryphäe auf dem Schießstand. Ihre Prüfungsergebnisse waren erstklassig, ja?“, warf Gavin ein. Auf der Akademie war ich Jahrgangsbeste im Schießen, was ich immer nebensächlich fand, weil ich in die chemische Forensik wollte. Davon abgesehen war meine Waffenqualifikation hier auch total nebensächlich. Justin Case richtete die Waffe auf Gavin. Die Menge schrie auf. Natürlich war keiner so dämlich zu glauben, dass sie geladen war, aber solch eine Geste hinterließ nun mal einen brennenden Eindruck. „Mr. Case! Unterlassen Sie das gefälligst“, ermahnte ihn der Richter. „Dem Goldkehlchen passiert nichts, versprochen.“ Während er unbeirrt die Waffe auf Gavin hielt, neigte er den Kopf zu mir. „Die Frage ist, was passiert mit mir, wenn ich den Abzug drücke? Rein hypothetisch.“ „Rein hypothetisch müsste ich Sie verhaften“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass er das nicht gemeint hatte. Case lächelte mich stoisch an und wenn ich ehrlich war, genoss ich ein klein wenig den Anblick der Waffe, die auf den Glimmerfop zeigte. Ich räusperte mich. „Die Waffe hat einen geringen Rückstoß und ist vollautomatisch.“ „Ein unerfahrener Schütze könnte damit problemlos herumschießen, ohne sich zu verletzen?“ „Ja.“ „Wie oft wurde die Tatwaffe abgefeuert?“ „Zweimal.“ „Und gibt es Fingerabdrücke auf der Waffe?“ „Nein.“ Case zog die Glock zurück, hielt sie sich an die Wange und schürzte die Lippen. „Mit dieser Waffe hätte die Angeklagte also zweifelsfrei jemanden erschießen können?“ Ich versuchte sein Fragespielchen zu durchschauen, doch es gelang mir nicht. „Durchaus.“ „Casey, was wird das?“, mischte Gavin sich ein. „Hätte Klavier Gavin mit dieser Waffe jemanden erschießen können?“ Ah! Jetzt verstand ich, worauf er hinaus wollte. Zu spät. „… Ja.“ „Das heißt, jeder hier im Gerichtssaal könnte der Täter sein.“ „Einspruch!“, rief Gavin. „Können Sie das beweisen?“ „Können Sie beweisen, dass meine Mandantin die Waffe abfeuerte?“ Autsch. Punkt für Case. „Einspruch abgelehnt, Staatsanwalt Gavin. Die Verteidigung hat unmissverständlich klar gemacht, dass die Schusswaffe keine Beweislast darstellt.“ „Nicht die Waffe an sich. Es gibt einen Belastungszeugen, der aus kürzester Distanz gesehen hat, wie die Angeklagte Enzo Cadaverini erschossen hat. Oh, und Casey…?“ Gavin lehnte sich nach vorn und traktierte Case mit seinem Zahnpastalächeln. „ … Vielleicht verraten Sie den Anwesenden hier, wo die Mordwaffe gefunden wurde.“ „Guter Punkt, Klavier Gavin. Wirklich sehr gut.“ Case legte die Waffe zurück auf den Wagen und fegte mit schnellen, langen Schritten zurück zur Verteidigerbank. Aus seinen Unterlagen zog er ein Blatt Papier. „Euer Ehren, hiermit bezeuge ich, dass Staatsanwalt Klavier Gavin und Detective Ema Skye die Glock im Cadaverini-Hauptsitz überreicht bekamen. Von mir höchst persönlich.“ Ein Raunen zog durch den Saal, aber ich ahnte fast, dass das noch nicht alles war. „Mr. Case, das ist eine brisante Information“, sagte der Richter und blinzelte irritiert. „Damit machen Sie sich ja verdächtig!“ „Sie erlauben, Euer Ehren?“ Case las vom Papier in seinen Händen ab: Sobald Staatsanwalt Gavin bei Ihnen eintrifft, übermitteln Sie ihm bitte dieses kleine Zugeständnis meinerseits. Wenn Sie die Waffe berühren, sind Sie tot. Er trat vor und übergab die Nachricht an den Richter. „Die Mordwaffe wurde am Morgen des 3. Oktobers im Cadaverini-Anwesen zusammen mit diesem Brief durch einen Boten zugestellt. Der kleine Staatsanwalt wird Ihnen das gern bestätigen.“ „Staatsanwalt Gavin?“ „Die Waffe wurde in Fresno abgeschickt. Fräulein Skye und ich waren vor Ort und sind der Sache auf den Grund gegangen.“ War jetzt der Zeitpunkt gekommen, bei dem er Justin Case öffentlich an den Pranger stellte? Lowery hatte ausgesagt, dass er von Case genötigt wurde, die Waffe abzuschicken. Ich fragte mich wahrscheinlich schon zum fünfzigsten Mal, ob das stimmte. „… Und?“, hakte Case nach. Er sah mich an, nicht Gavin. „Wir sind auf einen gewissen James Lowery gestoßen.“ Ich schielte zu Gavin, der auffällig entspannt wirkte. Wollte er nichts sagen? „James Lowery…?“ Case lief vor mir auf und ab, mit seinem JoJo in der Hand. „War er derjenige, der die Waffe abschickte?“ Ich wollte nicht antworten, musste es aber: „Ja.“ „Oh!“, rief Justin Case in gespielter Verwunderung. „Ist das nicht Ihr alles entscheidender Belastungszeuge, Klavier Gavin?“ Im Gerichtssaal war plötzlich die Hölle los. Die Leute riefen Dinge wie „Skandal!“ und „Was ist das nur für ein Staatsanwalt?“ Der Hammer knallte mehrmals auf das Richterpult. „Ruhe! Sonst lasse ich den Saal räumen! Staatsanwalt Gavin, erklären Sie das!“ Zu meiner Überraschung lachte der Glimmerfop über das entzürnte Gesicht des Richters hinweg. „Alles zu seiner Zeit, Herr Richter. Die Verteidigung springt von einer wilden Anschuldigung zur nächsten wie ein epileptisches Kaninchen… einzig und allein mit dem Ziel, dass wir uns verlaufen und vom Pfad der Tatsachen abkommen.“ „Einspruch! Euer Ehren, Staatsanwalt Gavin hat meine Mandantin in voller Willkür ange-“ „Einspruch! Casey, oh je, Casey… bringen Sie es zu Ende, ja?“ Gavin holte mit dem Arm aus und hielt seinen Finger demonstrativ auf den Rollwagen. „Man bestellt sich kein XXL-Menü, wenn man nicht einmal die Kinderportion schafft!“ Erneut hörte ich den Hammerschlag. „Einspruch abgelehnt, Mr. Case. Wenden Sie sich den Beweisen und Fakten zu. Ohne Kaninchensprünge.“ In wenigen Sekunden hatte sich das Blatt gewendet. Hatte ich eben noch den Eindruck, dass Gavin von Justin Case regelrecht vorgeführt wurde, so lag der Spielball jetzt bei ihm. Case stand wieder hinter der Verteidigerbank und bedachte Gavin mit einem solch unheilvollen Grinsen, dass es mir unangenehm im Nacken kribbelte. Dann legte er die Unterarme auf sein Pult und nahm mich ins Visier. Als er nichts sagte, hob ich fragend die Augenbrauen. „Gab es vielleicht weitere Nachrichten wie jene, mit der die Mordwaffe verschickt wurde?“ Ich zögerte. Es gab eine weitere, überbracht von Matt Caruso an Diane Freyers Büro. Nur hielt ich es für keine gute Idee, die Giftmorde zur Sprache zu bringen. Gavin war zwar von jeder Schuld befreit, aber allein die Tatsache, dass er verdächtig geworden war, warf kein gutes Licht auf ihn. Ich haderte noch mit mir, als mir jemand zuvor kam: Mit der Festnahme von Klavier Gavin haben Sie einen Ermittlungsfehler begangen. Die Cyanidvergiftungen sollten Staatsanwalt Gavin nicht belasten, sondern an seine Aufmerksamkeit für die wichtigen Dinge appellieren. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Unannehmlichkeiten bereitet habe. Damit ausgeschlossen werden kann, dass ich ein Trittbrettfahrer bin, habe ich einen eindeutigen Hinweis in der Asbury Street für Sie hinterlassen. Sie haben drei Stunden um Staatsanwalt Gavin aus der Haftanstalt zu entlassen. Geschieht das nicht, werde ich weitere Vergiftungen in Betracht ziehen. Fassungslos sah ich zu Gavin, der den Brief zusammenfaltete. „Interessant. Darf ich mal?“, fragte Case und trat vor zur Anklagebank um sich von Gavin den zweiten Brief geben zu lassen. Während er noch mal selbst die Zeilen überflog, schlich sich diebische Freude auf sein Gesicht. „Was sagt die Analyse?“ „Es gibt ein forensisches Gutachten, welches bestätigt, dass der Verfasser von beiden Nachrichten identisch ist.“ Der Hammer donnerte auf das Richterpult. „Wären die Herrschaften so nett, mich aufzuklären?! Und was gibt es überhaupt zu lachen, Mr. Case?“ „Ach nichts, Euer Ehren. Klavier Gavin wurde vor ein paar Tagen beschuldigt, einen missglückten Vergiftungsanschlag auf Oberstaatsanwältin Freyer verübt zu haben.“ „Staatsanwalt Gavin hat versucht die Oberstaatsanwältin zu ermorden?“ War das möglich? Die Giftmorde waren ein mediales Großereignis und der Richter hatte keine Ahnung?! Seit Case den Brief erhalten hatte, lagen seine Augen stetig auf den Worten, aber jetzt hob er den Kopf und fragte wie beiläufig: „Sie wurden doch freigesprochen, oder?“ „Absolut und unwiderruflich“, giftete Gavin zurück. Case warf einen Handkuss hoch zur Empore. Der galt zweifelsfrei Diane Freyer. Ob es als Entschuldigung oder, warum auch immer, als Dankeschön gemeint war, wusste ich nicht, aber ich fand es unnötig. „Jetzt haben wir unsere Aufmerksamkeit schon wieder Ihrer adretten Kollegin entzogen“, fuhr Case fort und kam direkt auf mich zu. „Wollen Sie mir in den Ausschnitt kriechen oder was soll das?“, zischte ich so leise wie möglich, weil Justin Case so nah gekommen war, als ob er mich im nächsten Moment umarmen wollte. „Einspruch. Kein Ausschnitt vorhanden“, flüsterte er. „Haben Sie inzwischen über Phoenix Wright nachgedacht?“ Was zum-?! Dieser miese, kleine… ! „Was gibt es da zu tuscheln, Casey?“ Ich schluckte. Direkt auf meine Kehle zeigte die Spitze des Messers, mit dem Louis Hiller getötet wurde. Ein scharfer Luftzug streifte meinen Hals, als Case herumwirbelte. „Ich fragte Ema Skye gerade, ob es sich bei diesem Messer um die Originaltatwaffe handelt.“ „Es ist nur ein Replikat“, krächzte ich und griff nach dem Wasserglas im Zeugenstand. Seit wann wurden vor Gericht die originalen Tatwaffen vorgelegt? „Für dieses erlesene Stück mussten wir ein sehr aufwändiges Duplikat anfertigen lassen“, sagte Gavin. Das Messer war eine Spezialanfertigung mit einem thermisch modifizierten Teakholzgriff und einer Gravur in der Klinge. „Casey, wären Sie so nett die Inschrift der Klinge vorzulesen?“ „Meinem rechtmäßigem Nachfahren. In Liebe, Bruto.“ „Verstehe“, sagte der Richter. „Als mein Sohn sich einst entschlossen hatte, sein Richteramt zu übernehmen, habe ich ihm auch einen Hammer mit Gravur geschenkt.“ „Schnell kombiniert, Herr Richter. Tatsächlich ist das Messer ein Geschenk, das Bruto Cadaverini testamentarisch seiner Enkelin, der Angeklagten, vermachte. Das ist bei den Cadaverinis sozusagen eine Tradition, nicht wahr?“ Gavin hatte den Ball zu Casey spielen wollen, doch dieser weigerte sich, ihn aufzufangen, indem er mit den Schultern zuckte. Gavin fuhr fort: „Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, dass das Messer zweifelsfrei der Angeklagten gehörte.“ „Und das beweist was, Klavier Gavin?“ „Es beweist, dass nur ein Familienmitglied Zugang zum Messer hatte. Sehen Sie sich bitte das an, Herr Richter.“ Gavin ließ eine Fotografie vorlegen, die er mir vor vier Tagen erläutert hatte. Es handelte sich hierbei um die Aufnahme einer Waffenvitrine im Cadaverini-Anwesen. Als der Richter beim Betrachten des Bildes „Das ist aber eine hübsche Vitrine!“ ausstieß, fühlte ich mich verpflichtet, ihn aufzuklären. „Der Glasschrank kann nur mit Hilfe eines Fingerabdrucks geöffnet werden. Verantwortlich dafür ist eine Software, die speziell von Louis Hiller für Viola Cadaverini entwickelt wurde.“ „Oder mit anderen Worten, Herr Richter: Die Angeklagte war diejenige, die unmittelbar vor den Morden den Schrank öffnete.“ „Einspruch!“, rief Case beinahe fröhlich von der Verteidigerbank. Es war es kein überraschender Anblick mehr, dass er obenauf saß und mittlerweile zwei JoJos wie ein Marionettenspieler im Puppentheater dirigierte. „Wissen Sie, was ich bemerkenswert finde, Euer Ehren? Bei diesen Morden scheint niemand etwas berührt zu haben. Die Schusswaffe ist frei von Fingerabdrücken. Und jetzt raten Sie mal, wie viele Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden wurden.“ „Keine?“, gab der Richter zur Antwort und erweckte dabei den Eindruck, unbedingt richtig liegen zu wollen. „Exakt. Der kleine Staatsanwalt hat gut ermittelt. Das Fingerabdrucksystem wurde von Louis Hiller entwickelt, kurz nach Bruto Cadaverinis Tod. Bis zur Mordnacht am 30. September wurde dieser Schrank niemals geöffnet. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Klavier Gavin, aber mich stören die fehlenden Fingerabdrücke zutiefst. Und jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit der Handschuhversion.“ Es waren nicht nur die fehlenden Spuren auf den Tatwaffen, die diesen Fall so abstrus machten. Die Durchsuchung von Hillers Zimmer hatte eine ganz ähnliche Handschrift getragen: Keine Spuren. Offensichtlich war Gavin der Einzige, den das nicht störte… „James Lowery gab an, dass die Angeklagte in der Mordnacht Handschuhe trug, aber da Sie mit Handschuhen nicht belästigt werden wollen, müssen Sie mit dem Gutachten aus der Forensik vorlieb nehmen, wonach alle Fingerabdrücke… abgewischt wurden.“ Gavin hatte kaum fünf Sekunden, um sein überhebliches Grinsen in voller Breite zu entfalten, da war etwas gegen die Anklagebank geworfen worden und lag nun zersplittert auf dem Boden. „Brechen Sie mir nicht das Herz.“ Das verbliebene JoJo baumelte wie k.o.-geschlagen an der Verteidigerbank. „Wollen Sie behaupten, dass meine Mandantin die Fingerabdrücke abwischte? Ihre Versicherung auf Unschuld?“ „Ich verstehe nicht ganz, Mr. Case“, sagte der Richter. „Euer Ehren, unser kleiner Staatsanwalt hat vor nicht einmal drei Minuten dargelegt, dass das Messer ein Geschenk von Bruto Cadaverini an meine Mandantin war. Es wäre nur natürlich, wenn sich ihre Fingerabdrücke auf der Waffe befänden. Immerhin war sie diejenige, die das Geschenk entgegen nahm und in die Vitrine legte.“ „… Und auch wieder herausnahm“, beharrte Gavin. „Diesen Anfängerfehler schenke ich Ihnen, Klavier Gavin. Ich möchte Ema Skye bitten, uns noch einmal knapp Louis Hillers Todesumstände zu erläutern.“ „Er starb bedingt durch einen Messerstich in die Milz.“ „Die befindet sich wo?“ „In etwa hier“, sagte ich und kreiste die Stelle meines unteren, linken Rippenbogens ein. „Der Stich ging zwischen die elfte und zwölfte Rippe direkt in die Milz.“ „Können Sie mir bestätigen, dass es einer Menge Kraft bedarf um Rippen mit einem Messer zu durchstoßen?“ „… Ja.“ Case nickte, während er geschäftig in seinen Unterlagen blätterte. „Danke. Ich halte fest, dass Louis Hillers Körpergröße 1,84 m betrug und er laut Einschätzung der Obduktion 80 bis 85 kg wog.“ Sein Blick wanderte zu Viola. „Würden Sie sich bitte erheben. Für uns alle.“ Es dauerte einen Moment, dann tat sie es. Die Leute auf den hinteren Plätzen verrenkten sich zunächst die Köpfe und standen dann selbst auf, um sie in Augenschein zu nehmen. Die blasse, dürre Viola, die nicht viel größer als ein älteres Kind war. „Euer Ehren, ich habe hier ein ärztliches Gutachten, welches die schwache physische Kondition meiner Mandantin bescheinigt.“ Oh, fantastisch. Case zog genau jenen Joker, vor dem ich Gavin bereits in Fresno gewarnt hatte. Der Richter betrachtete stirnrunzelnd besagtes Gutachten, dann sagte er: „So langsam kommen mir Zweifel, ob die Angeklagte tatsächlich als Mörderin von Louis Hiller in Frage kommt.“ Das war definitiv Gavins Schuld. Jetzt konnte er zusehen, wie er das wieder glatt gebügelt bekam. Und wehe, er schob es mir in die Schuhe! „Staatsanwalt Gavin, ich verlange eine Antwort!“, bellte der Richter, weil Gavin nichts sagte. Stattdessen stand er einfach nur da, die Daumen lässig in seinem Gürtel verhakt. „Wollen Sie mich zum Narren halten?“ Bis zu meinem Zeugenstand konnte ich sehen, wie erregt der Richter war. Sein Gesicht wurde allmählich rosa vor Zorn. „Ich bitte um Pardon, Herr Richter, aber das tun Sie gerade selbst.“ „Was erlauben Sie…“ Der Richter unterbrach sich, weil Gavin in seinem selbstgefälligen Wahnsinn Luftgitarre spielte. „Sie haben Zweifel daran, dass Viola Cadaverini Louis Hiller ermordete. Habe ich das je behauptet?“ Ich schnaufte. Das… das… Argh! „Ich und mein liebreizendes Fräulein Detective haben nur zu Protokoll gegeben, dass Hiller durch einen Messerstich getötet wurde. Wir wollen uns dennoch bei Justin Case bedanken, der gerade eindrucksvoll bewiesen hat, dass es nicht Viola war. Danke, dass Sie unsere Zeit verschwendet haben, Casey.“ Wie sehr musste man seinen Gegner antizipieren, um ihn aufs Glatteis zu führen? Und was war, wenn der andere vorgab zu straucheln, um im nächsten Moment auf Schlittschuhen davon zu gleiten? Wie das Pendel einer Glockenuhr baumelten die Fragen in meinem Schädel. Und ich wartete darauf, dass es Dreizehn schlug. „Staatsanwalt Gavin, kann Ihr Belastungszeuge darüber Auskunft geben, wer Louis Hiller erstach?“, fragte der Richter. Ich war mir ziemlich sicher, dass Gavin gerade das Bild von Justin Case vor Augen hatte. „Mit James Lowery im Zeugenstand wären wir weitaus schneller hier durch.“ „Gut. Dann sehe ich keinen Grund länger zu warten. Rufen Sie den Zeugen auf!“ „Nein. Noch nicht“, unterbrach Justin Case. „Das ist meine Zeugin, Euer Ehren. Haben Sie das vergessen?“ Was hatte er vor? Ich straffte den Rücken, wie ich es schon getan hatte, als ich in den Zeugenstand getreten war. „Ema Skye!“, rief er durch den Saal wie der Prophet auf dem Berg. „Sie haben im Fall ermittelt. Ich möchte gern von Ihnen wissen, welche Art von Täter Sie im Kopf hatten.“ Scheiße. Die Frage war unendlich fies. „Ich weiß nicht, was Sie meinen“, log ich. „Sie haben mich verstanden. Haben Sie ein Täterprofil erstellt?“ „Schon.“ „Deckt sich das Täterprofil mit Ihrer Meinung?“ „Ja, aber...“ „Ja oder nein?“ „Ja.“ „Und passt meine Mandantin in dieses Täterprofil?“ „Zum Teil. Wir suchten nach einem überdurchschnittlich intelligenten Täter zwischen 20 und 40 Jahren, der sowohl Hiller als auch Cadaverini kannte.“ „Sie suchten nach einem Täter? Keine Täterin?“ Case lächelte verschlagen und lehnte sich auf der Verteidigerbank nach vorn. „Sind Sie der Meinung, dass der Mörder von Enzo Cadaverini auch Louis Hiller tötete?“ „Das weiß ich nicht“, wich ich aus. „Glauben Sie es?“ „… Ja.“ Wie ein kleiner Junge in der Schule lümmelte Case auf der Bank, das Kinn auf der rechten Faust abgestützt. „Und glauben Sie, dass die Angeklagte Enzo Cadaverini ermordet hat?“ Das war nicht nur fies, sondern verdammt unfair! Die Rolle, die Gavin mir heute zugedacht hatte, müsste jetzt mit einem klaren „Ja!“ antworten, aber die Sachverständige in mir weigerte sich, das Wort über die Lippen zu bringen. Stattdessen sagte ich gar nichts, sondern erwiderte Justin Case‘ erwartungsvollen Blick. „Einspruch!“ Ein dumpfer Schlag ließ mich zusammenzucken. Gavins geballte Faust ruhte auf der Wand hinter ihm. „Die persönliche Meinung von Fräulein Skye interessiert hier niemanden. Einzig und allein die Ermittlungsergebnisse zählen.“ Der Richter nickte. „Einspruch stattgegeben. Mr. Case, bitte unterlassen Sie Fragen, die auf subjektive Beurteilungen abzielen.“ „Na gut“, gab Case fröhlich zurück. „Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“ Natürlich hatte er keine weiteren Fragen und an dieser Stelle war es auch vollkommen egal, dass Gavin ihm durch den Einspruch in die Parade gefahren war. Ich hatte zu lange gezögert und damit den Eindruck erweckt, dass ich an Violas Schuld zweifelte. Damit hatte Case sein Ziel erreicht. Ich fühlte die Unstimmigkeiten, als ich zu meinem Platz zurückkehrte. Da war nicht nur die Tatsache, dass ich Viola für unschuldig hielt, sondern auch der irrationale Wunsch hinter Gavins Anklage zu stehen. Er hielt sich ganz wacker gegen Case, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas im Schilde führte. „Die Anklage ruft James Lowery in den Zeugenstand. Er hat mit angesehen, wie die Angeklagte Enzo Cadaverini erschossen hat. Bei dem Zeugen handelt es sich um den Zwillingsbruder des ermordeten Louis Hiller.“ Der Gerichtsdiener ging vor die Tür und kehrte wenige Augenblicke später mit Lowery zurück. Auf dem Weg zum Zeugenstand warf er unsichere Blicke nach links und rechts und als er auf Violas Höhe angekommen war, zuckte er zusammen, als hätte ihn etwas gebissen. Kein Wunder. Der Blick, den sie ihm schenkte, hätte den meisten das Blut in den Adern gefrieren lassen. Auch Case sah mit einem kalten, herablassenden Blick auf Lowery hinab, sobald dieser im Zeugenstand angekommen war. „Fürs Protokoll. Ihren Namen und Beruf, wenn es recht ist“, begann Gavin. „James. L-L-Lowery. Und ich arbeite b-b-bei der Post.” „Sind Sie nervös, Mr. Lowery?“, fragte der Richter, der sich wohl über dessen Stotterei wunderte. „Mr. Lowery ist seit Kindheitstagen ein Stotterer. Ein irreparables Problem mit dem Zwerchfell, Euer Ehren. Ich möchte die Verteidigung ausdrücklich davor warnen, den Zeugen zu sehr unter Druck zu setzen. Andernfalls könnte sich das verschlimmern, ja?“ „Hier wird niemand unter Druck gesetzt. Und wenn sich die Verteidigung nicht daran hält, wird sie den Druck meines Hammers spüren“, stellte der Richter klar. Case stieß ein unterdrücktes Lachen durch die Nase, während seine Lippen geschlossen blieben. „Ihre Aussage zur Tatnacht am 30. September, Mr. Lowery.“ Für einen Moment fragte ich mich, ob er Gavin überhaupt gehört hatte, denn er starrte unentwegt in die Richtung von Case. Vermutlich war ihm mulmig beim Gedanken, ihn gleich belasten zu müssen. Erst als Gavin geräuschvoll seine Faust auf die Anklagebank schmetterte, fuhr Lowery erschrocken zusammen, als sei er plötzlich aus einer Trance gerissen worden. „Zeuge. Ihre Aussage bitte.“ „J-Ja. Okay.“ „Wenn es möglich ist, heute noch, ja?“, sprach Gavin in einem Ton, den man einem begriffsstutzigen Kind gegenüber anschlug. „Ich und Louis waren v-verabredet. Im Park. Mit unserem Daddy. Ich sah ihn d-das erste Mal. War überglücklich. A-Aber dann kam sie. Und tötete ihn. Sie sagte, dass er sie verraten habe.“ Die Aussage war ähnlich verwirrend und schwammig wie jene, die er gegenüber Gavin im Verhör gemacht hatte. „Mr. Lowery, Sie sagten soeben Daddy“, stellte der Richter verwundert fest. „J-Ja.“ „Louis Hiller und James Lowery sind Kinder aus einer unglücklichen Liaison zwischen Enzo Cadaverini und Pamela Kitaki. Nach der Geburt gab Enzo die Zwillinge zur Adoption frei, weil sein Onkel Bruto damit drohte, die Kinder zu töten“, klärte Gavin auf. „Das ist ja furchtbar!“, sagte der Richter. „Die familiären Verbindungen können Sie dem Gutachten aus der Forensik entnehmen. Offiziell galt Enzo als kinderlos. Tatsächlich hatte er aber zwei Kinder, von denen niemand etwas wissen sollte.“ „Knapp daneben, kleiner Staatsanwalt.“ Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, Justin Case in sitzender Position auf der Verteidigerbank zu sehen, nur dieses Mal saß er mit dem Rücken zu uns, die Arme nach hinten abgestützt. Über die Schulter warf er Gavin sein spitzes Lächeln zu. „Enzo hatte drei Kinder. Pamela war nicht die einzige Frau in seinem Leben. Ein Kind mehr oder weniger – was tut das schon zur Sache?“ Kurz sinnierte ich über den triefenden Sarkasmus seiner Frage und als ich Gavin ansah, wusste ich, dass ich nicht die Einzige war. Nachdenklichkeit hatte sich über sein Gesicht gelegt, fest und starr wie eine Maske. „Ihr Zeuge, Mr. Case.“ „Ist das Ihr Ernst, Euer Ehren?“ „Bitte?“ „Was soll ich mit dem Gestammel anfangen?“ „Mr. Lowery belastet immerhin Ihre Mandantin. S-Sie... Sie lachen ja schon wieder, Mr. Case!“ „Schon gut.“ Case ließ sich nach hinten fallen. Er lag auf der Verteidigerbank und betrachtete den Zeugenstand kopfüber. „Hallo, werter Zeuge. Ich bin die böse Verteidigung, der Jäger Ihres schlechten Gewissens und Ihre Sterbeversicherung, wenn Sie wollen. Haben Sie sich das gut überlegt?“ Lowery antwortete nicht, aber ich sah, wie schwer er atmete. Gavin und der Richter hatten Case ausdrücklich davor gewarnt, ihn unnötig unter Druck zu setzen. In diesem Moment wusste ich, dass Case ihn in der Luft zerreißen würde. „Zehn… neun… acht… sieben… sechs…“, zählte Case hinunter und mit jeder weiteren Zahl richtete er sich ein Stück auf. Nach der Eins prüfte er ein letztes Mal, ob Lowery nicht doch einen Rückzieher machte. Dann sprang er von der Verteidigerbank und zog seinen Krawattenknoten enger. „Sie und Ihr Bruder trafen sich mit Enzo Cadaverini. Wussten Sie, dass er Ihr Vater ist?“ „J-Ja. Louis hatte es erzählt.“ „Sie wohnen nicht in Los Angeles, richtig?“ „N-Nein. In Fresno.“ „Wie haben Sie Ihren Bruder kennen gelernt?“ „Stand eines Tages v-vor der Tür.“ „Er klingelte bei Ihnen und sagte >Hey Bruder, schön dich zu sehen. Komm, lass uns zu Daddy fahren