All Your Other Ways von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 20: - John - -------------------- John wählte noch einmal ihre Telefonnummer. Mittlerweile war er verzweifelt, übermüdet... wütend. So einfach würde er sie nicht damit durchkommen lassen. Sie musste ihm mindestens ins Gesicht sagen, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte. Dieses Nicht-Beachten und Zurückziehen war doch kindisch und dumm! Das würde er nicht mehr mit sich machen lassen. Sicher, er hatte sie verärgert. Und er hatte ihr Angst gemacht - aber jetzt hatte er nicht weniger Angst, und zwar davor, sie zu verlieren. Er hatte sich in den vergangenen Wochen so sehr an sie gewöhnt, dass es ihm nun, in diesen Tagen, erschien, als würde etwas Essentielles von ihm fehlen. Als hätte jemand einen Teil von ihm rausgerissen. Manche Leute würden es wohl als Liebeskummer oder gebrochenes Herz bezeichnen, aber John wusste, es steckte etwas Anderes dahinter. Es war, als hätte ihm jemand sein Zuhause genommen. Noch einmal. Aber dieses Mal würde er darum kämpfen. Er war nicht mehr elf Jahre alt und er würde sich dagegen wehren, dass Menschen, die ihm viel bedeuteten, einfach so aus seinem Lebens verschwanden – sang- und klanglos. Und wenn er in diesem Moment wählen dürfte zwischen der Rückkehr seines Vater und Liz - er würde sie nehmen. Immer wieder. Es klingelte ein paar Mal am anderen Ende der Leitung, aber John hatte schon aufgegeben. Er wusste, es würde niemand rangehen. Liz machte ihre Sache gut. Sie ignorierte ihn, als hätte sie nie etwas Anderes getan. Umso überraschter war er, als dann doch jemand den Hörer abhob. Sein Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust, sein Puls beschleunigte sich von einer Sekunde auf die andere. "Hallo?" Diese Frauenstimme war nicht die von Liz, registrierte er verwundert, und fragte dann doch etwas unsicher: "Lizzie?" "Nein... hier ist Kate", kam es etwas zögerlich zurück. Kate... Kate! Liz's Schwester, die in Nottingham studierte. Die kluge, kleine Kate. "Ach!", lachte er fast schon erleichtert. Wenigstens bekam er eine Winston-Frau an die Strippe. Das war immerhin etwas. Es war mehr als er zu hoffen gewagt hatte! Und wo Kate war - vor allem, wenn sie in London, in Liz's Wohnung war - konnte diese nicht weit weg sein. Das war es. Das war seine Chance. Und die musste er heute nutzen. "Die Schwester?" "Ja", antwortete das Mädchen vorsichtig. John fiel ein, dass er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. Liz hatte ihm zwar viel von Kate und ihren anderen Geschwistern erzählt, aber woher sollte er wissen, ob das auch andersherum genauso war? "Hier ist John", sagte er und platzte dann auch endlich mit der dringlichen Frage aus, die ihn am meisten interessierte. "Ist sie da?" "Nein", antwortete Kate ihm etwas einsilbig. Wahrscheinlich fand sie ihn verdächtig. Das konnte er ihr nicht verübeln. Da fragte gerade ein Fremder eine 19-Jährige über ihre Schwester aus. Oder sie wusste Bescheid und wollte ihm nicht zu viele Informationen geben, weil Liz sie dazu angewiesen hatte. "Sie ist in der Redaktion, stimmt's?", riet er, als es ihm klar wurde, als hätte jemand eine Glühbirne über seinem Kopf angeschaltet. Es war Mittwoch! Mittwoch war Liz’s Redaktions- und Meetingtag. "Da ist sie Mittwochs immer..." Die Schwester am anderen Ende der Leitung schwieg gespannt. Wahrscheinlich war John ihr wirklich nicht geheuer. Aber er war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie den Telefonhörer abgenommen hatte. Jedenfalls wusste er jetzt, dass Liz noch lebte. In seiner Vorstellung bildete sich ein Plan aus - ein verschwommener, noch unscharfer Plan. "Kate?" "Ja?" "Danke." Er atmete erleichtert aus, in Gedanken schon bei seinem weiteren Vorgehen, das sich wie ein Film vor seinem inneren Auge abspielte. "Bis nachher!" Ein Taxi war John zu langsam. Die U-Bahn auch. So, wie er sie kannte, würde Liz bald von der Arbeit kommen. Und da war es nur gerechtfertigt, wenn er dieses Mal seinen Wagen benutzte und auf den Umweltschutz pfiff. Das hier war schließlich wichtig! Wie ein Geisteskranker raste er zu Liz's Wohnung - um dem dichten Verkehr zu entgehen, nahm er ein paar Umwege in Kauf, aber die Geschwindigkeit, mit der er unterwegs war, machte den Zeitverlust fast wieder wett. Und so hatte er wenigstens nicht mit Menschenmassen zu kämpfen. Zu seinem Glück war die Eingangstür unten offen, sodass er nicht erst noch klingeln musste. Liz würde ihm den Durchweg sicherlich versperren, obwohl sie wusste, dass er auch andere Lösungen hatte. Als er vor ihrer Haustür stand und ihre Stimme hörte - anscheinend unterhielt sie sich gerade mit Kate - wurde er plötzlich ruhig. Es war, als hätte ihm jemand eine Beruhigungstablette verabreicht. Sein Atem wurde gleichmäßiger, sein Puls ebenfalls. Er ruhte plötzlich in sich. Er hörte ihre Stimme - und er war sich sicher, dass er sie zum Zuhören bringen konnte. Und wenn er sie zum Zuhören bringen konnte, war es nur ein kleiner Sprung bis zum nächsten Schritt. Er würde sie überzeugen. Er hatte die richtigen Worte parat. Das wusste er einfach. Das musste er haben. Er war hier. Und er würde sie zurückgewinnen. Wie Faye gesagt hatte. Vorher durfte er ihr nicht unter die Augen treten. Das hatte Faye ihm auch gesagt... John klopfte und hörte Liz unmittelbar vor der Tür etwas murmeln. Dann wurde sie aufgemacht. Liz stand davor, schön wie eh und je. Wie hatte er sie vermisst! Ihre weichen, gewellten Haare, ihre braunen, funkelnden Augen, ihr amüsiertes Lächeln, ihre Schultern, den spöttischen Zug um ihren Mund... einfach alles! Für einen Moment, während er sie vollkommen fasziniert anschaute, als sähe er sie zum ersten Mal, stierte auch sie ihn an. Überraschung stand in ihrem Gesicht geschrieben, doch diese wurde schon bald von einer Feindseligkeit abgelöst, die John eigentlich hätte Angst machen müssen. Tat sie aber nicht. Liz schnaubte verächtlich. "Was machst du hier?", knurrte sie ihn an und ging einen Schritt zurück, als ob sie sich vor ihm in Sicherheit bringen müsste. John sah sich in seiner Theorie bestätigt. Er trat einen Schritt auf sie zu, trat ungefragt in die Wohnung ein. Sie kehrte ihm den Rücken zu und marschierte mit schnellen, großen Schritten davon. John ließ die Tür hinter sich zufallen und atmete einmal durch. Dieser Kampf würde ihn noch viel Kraft kosten. Geduldig folgte er ihr. "Wie zum Teufel bist du reingekommen?" Sie wirbelte zu ihm herum und stieß ihm ihren Zeigefinger in die Brust. Bitterböse schaute sie ihn an. John überging das und kam direkt zum Wesentlichen. "Wir müssen reden, Liz, und das weißt du genauso gut wie ich", sagte er ernst. "Warum bist du nur so störrisch?" "Wir müssen gar nichts!", giftete sie ihn an. "Du bist hier nicht erwünscht, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest." John holte hörbar Luft. Liz war jetzt eine andere. Eine kühle, unnahbare Frau. Unantastbar. Unvernünftig. Er musste ruhig bleiben. Aber das fiel ihm nicht schwer. Je mehr sie sich aufregte, desto gefasster wurde er. Er ahnte langsam, was mit Liz los war. Warum sie sich so aufregte und warum sie ihn nicht mehr sehen wollte. Er hatte immerhin eine Menge Zeit gehabt, sich Gedanken darüber zu machen. "Ich gehe erst, wenn du wieder mit mir redest", verkündete er beherrscht. Sie schnaubte ein weiteres Mal, wandte sich wieder von ihm ab und verschwand in der Küche. Gemächlich folgte er ihr. Sie lief vor ihm weg - er war also auf der richtigen Spur. "Eine Stunde", entschied sie kühl, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie gab ihm eine Stunde! John gratulierte sich zu diesem Erfolg. Lässig lehnte er sich an dem Türrahmen und betrachtete Liz, wie sie grimmig zu ihrer Handtasche griff und ihre Autoschlüssel darin verfrachtete. Er bemerkte ein Mädchen auf einem Stuhl in der Küche sitzend. Das musste Liz's Schwester Kate sein. Sie hatte dichtes, braunes Haar und dieselben Augen wie seine Lizzie. Sie sahen sich so ähnlich, stellte er fest, obwohl sie beide ganz verschieden waren. Wahrscheinlich wussten sie selbst nicht, wie ähnlich sie sich vom rein Äußerlichen waren. Und möglicherweise auch darüber hinaus. "Ich fahre", sagte John an Liz gewandt und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Er war selbst ganz erstaunt, wie er so viel Autorität aufbringen konnte. Im Gerichtssaal und mit seinen Mandaten war das für ihn kein Problem. Da war er der kühle, stets besonnene Anwalt. Es galt ja auch, die gegnerische Partei durch Vernunft zu überzeugen, zu übertrumpfen. Dass er dazu auch privat in der Lage sein konnte, entdeckte er jetzt erst. Und er war sich sicher, dass ihm das nur nutzen konnte. Vor allem bei einer Frau wie Liz. Es wirkte ja schon. Es war wie ein Wunder. Dann wandte er sich Liz’s Schwester zu. Mit großen Augen schaute Kate John an. Auch ein bisschen misstrauisch, was ihn an den Gesichtsausdruck von Liz erinnerte, als er ihr gebeichtete hatte, dass er nicht in einer Rockband spielte. Es lag aber nicht so viel Skepsis in dem Blick, wie vielmehr... Neugier. Wenigstens eine Winston-Frau, die ihn nicht sofort zum Teufel jagen wollte. Er zwinkerte Kate schelmisch zu und versuchte aufgrund ihrer verdutzten Miene ein Lächeln zu unterdrücken. Was immer Liz ihrer Schwester erzählt hatte, es war nicht das, was Kate jetzt sah - da war er sich ganz sicher. Von dem, was Liz ihm - eher unwillig - über ihre früheren Beziehungen erzählt hatte, schloss er darauf, dass Kate sicherlich jemand ganz anderen erwartet hätte. Keinen Kerl in einer beigen Frühlingsjacke mit stinknormalen Jeans und frisch geschnittenen Haaren. Während Liz missmutig in der Küche rumorte und sich ein Stück Pizza mit auf den Weg nahm, warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu. "Ich werde dich wohl nie los." Ungerührt musterte er sie und legte ein wenig den Kopf schief. Er glaubte ihr nicht. Sie wollte ihn nicht loswerden. Wenn sie es gewollt hätte, hätte sie es ihm klipp und klar gesagt. Sie hätte ihn nicht in die Wohnung gelassen. Und es hätte ihn nicht nur ein Wort von ihm gekostet, um sie zum Mutgehen zu bewegen. So war es aber. Es war keine besondere Anstrengung von Nöten gewesen. John war nun selbstsicher und siegesbewusst. Liz hatte ein anderes Problem mit ihm. Eines, dem er sich schon längst hätte bewusst sein sollen. Liz fand nichts mehr, was in der Küche zu tun war, und konnte die Zeit nicht mehr herauszögern. Er sah es. Sah den Moment, in dem sie resignierte und sich zu ihm umdrehte, um mit ihm mitzugehen. Ihr Blick war kühl, um ihren Mund spielte ein verkniffener Zug. Aber den Moment hatte er trotzdem wahrgenommen. "Es dauert nicht lange", sagte sie zu ihrer Schwester und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Er wusste ganz genau, was sie ihm damit sagen wollte. Aber sie würde sich irren. "Ich bin bald wieder da, schau dich ruhig in der Stadt um, aber vergiss nicht die Haustürschlüssel. Bis nachher." Hoch erhobenen Hauptes schritt sie an ihm vorbei. John sah ihr nach, dann lächelte er Kate, die das ganze schweigend verfolgt hatte - um ehrlich zu sein sah sie so aus, als wäre sie jetzt tausendmal lieber irgendwo anders als hier -, aufmunternd zu. Diese Winston-Frau würde er ganz sicher auch noch mal kennen lernen. Sie war der erste Teil von Liz's Familie, der ihm in Natura begegnete. "Bis dann, Kate. Wir sehen uns sicherlich wieder, dann hoffentlich unter glücklicheren Umständen." Er grinste schief, bevor er sich von ihr abwandte und Liz folgte. Liz schwieg. Sie schwieg eisern. Und John versuchte auch gar nicht erst, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Er hatte einen Masterplan. Und irgendwann musste sie den Mund aufmachen. Während sie in seinem Wagen durch London fuhren - diesmal die regulären Straßen, sodass sie viel an Kreuzungen und Ampeln stehen mussten -, dachte er - mal wieder-, über Liz nach. Vieles wurde ihm nur langsam klar. Aber wahrscheinlich bedurfte es eines richtigen Psychologen, um alle ihre kleinen Macken ausfindig zu machen. Nun ja. Ein paar hatte er ja schon. Und es machte alles Sinn. Vom ersten Treffen bis hin zu diesem Moment in seinem Auto. Er parkte, sie stiegen aus. Widerwillig folgte Liz ihm und warf ihm immer wieder argwöhnische Blicke zu. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten. "Wohin gehen wir?", platzte es aus ihr heraus, aber er nahm nur ihre Hand, und noch bevor sie sie ihm wieder entreißen konnte, riss sie überrascht die Augen auf. John hatte sie nach Chinatown geführt. Er hatte einen anderen Weg genommen, sodass sie nicht direkt darauf kommen konnte. Es war Tag und natürlich funkelte jetzt nichts so wie bei Dunkelheit und es bot auch nicht mehr diesen beeindruckenden Anblick. Die Geschäftigkeit, die Touristen und das dichte, enge Drängen war jedoch noch immer dasselbe. Als Liz bemerkte, dass John noch immer ihre Hand hielt, entzog sie sie ihm. Aber nicht mehr so energisch, wie sie es vielleicht vorher getan hätte. Eher zögerlich, langsam. "Was sollen wir hier, John?", wollte sie wissen. Jetzt war auch sie ruhig. Und sie wirkte traurig. "Hunger?", fragte er beiläufig, statt ihr eine Antwort zu geben. Sie kapitulierte und er war schon lange nicht mehr wütend auf sie. Eine Welle der Zärtlichkeit wallte in ihm auf, so heftig, wie selten zuvor. Er wollte sie in den Arm nehmen und trösten und ihr alle Ängste nehmen, aber zu diesem Zeitpunkt hätte sie ihn wahrscheinlich noch immer zum Teufel gejagt. Liz schüttelte nur den Kopf. "Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen." Er lächelte ihr ermutigend zu und deutete in eine Richtung. Nicht weit von hier entfernt befand sich ein klitzekleiner Park. Der St. James Square Gardens. Von dicht stehenden hohen Bäume geschützt, die schon fröhlich grünten, lag dieser kleine Park inmitten einer Wohn- und Einkaufsgegend. John hatte ihn erst kürzlich entdeckt und hatte ihn Liz unbedingt zeigen wollen. Er hatte damals den Eingang nicht sofort gefunden, und da es so wohl vielen anderen auch ging, war niemand in dem Park gewesen außer ihm. Er hoffte, dass es dieses Mal auch so sein würde, und er wurde nicht enttäuscht. Umgeben von all den Bäumen sah man kaum noch die Häuser. Man kam sich vor, als befände man sich auf dem Land oder im Wald auf einer Lichtung - nur dass es im Wald natürlich keine Mülleimer gab und der Schotterweg nicht so gepflegt aussah. Das ganze Stadtfeeling war verschwunden, hier herrschten Ruhe und Abgeschiedenheit. Liz sah sich erstaunt um, doch schon bald verlor sie das neugierige Interesse an ihrer Umgebung und sah ihn abweisend an. Wie als Schutz zwischen sich und ihm verschränkte sie die Arme vor der Brust, aber möglicherweise fröstelte sie auch nur. "Sag, was du mir sagen wolltest, John", forderte sie ihn distanziert auf. Er kam näher und sah sie an. Zum ersten Mal an diesem Tag richtig. Er musterte ihr Gesicht, ihren Ausdruck und lächelte milde. Sie war wunderschön, wie immer. Aber diese Trennung war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Und das konnte er nur sehen, weil sich jede Einzelheit von ihr in sein Gehirn eingebrannt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)