All Your Other Ways von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 9: - Liz - ------------------ Liz war gerade mit dem Macy Hills-Artikel fertiggeworden, die sie zwei Tage zuvor getroffen hatte, als John anrief. Es war das perfekte Timing, denn sie war endlich fertig mit der Arbeit, entspannt, und hatte Lust auszugehen. Sie überrumpelte ihn, als sie seine förmliche Essenseinladung ausschlug und ihm stattdessen nahe legte, noch direkt am selben Tag nach SoHo zu gehen und in Chinatown etwas zu essen. Liz liebte SoHo und Chinatown, das geschäftige Treiben dort, die immerwährend arbeitsamen Chinesen und die Touristen, die mit großen Augen Fotografien von den bunten, leuchtenden Lampions und Lichterketten machten. Vor allem abends, wenn es dunkel war, entfaltete Chinatown seine Wirkung. Es war laut, voll, eng, bunt und es gab in jedem Winkel etwas anderes zu entdecken. Und niemand achtete auf einen. Ja, heute Abend hatte sie wirklich Lust auf Chinatown. Sie traf John am Eingang an. Etwas verloren stand er inmitten der ihn passierenden Menge und schaute verstört drein. Liz lachte, als sie auf ihn zutrat. "Sag bloß, du warst noch nie in Chinatown?", neckte sie ihn. John lächelte, als er sie sah. Linkisch bewegte er sich vor, doch dann blieb er auf der Stelle stehen. Stattdessen nickte er. "Doch. Aber es ist immer wieder erstaunlich." "So geht’s mir auch immer. Ich liebe diesen Ort." Mit glänzenden Augen sah Liz sich um und in ihren Pupillen spiegelten sich die tanzenden Lichter wider. "Ich liebe Chinatown. Ich glaube, es ist der fröhlichste Ort auf der Welt." Wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn enthusiastisch mit sich. "Komm mit, gleich da vorne", sie deutete auf ein Gebäude, das sich in nichts von den anderen unterschied, "ist das wohl beste Chinesische Restaurant hier." Sie strahlte ihn an. "Hast du Hunger?" Ohne auf seine Irritation zu achten, zog sie ihn mit sich in das Gebäude hinein. Ihre Fröhlichkeit und ihre Lebendigkeit steckten ihn an und er lächelte bei ihrem Anblick milde. Noch nie hatte er eine Frau getroffen, der man ihre Lebenslust sofort ansehen konnte. Die meisten Frauen, mit denen er ausgegangen war, waren ebenfalls Anwältinnen gewesen und immer irgendwie... beherrscht. Sie lachten nicht zu viel, sie aßen nicht zu viel und sie waren stets höflich, förmlich und... steif. Liz war locker, das hatte er sofort gemerkt. Sie war jemand von „der anderen Seite der Welt“, wie er es stets nannte. Leider war die andere Seite der Welt für Leute wie ihn nicht so einfach zu erreichen. Sie drängte sich vorbei an eng aneinanderstehenden Tischen mit Touristen und wurde fast von einem eilenden Chinesen mit drei beladenen Tellern in den Händen umgerannt. Doch Liz wich ihm mit John im Schlepptau geschickt aus, rief einem bleichen Jungen mit schwarzem Haar etwas im Befehlston zu und ehe er sich’s versah, saßen sie an einem Tisch für zwei Personen. Liz lächelte triumphierend, als John sich mit großen Augen umschaute, während er sich seinen Stuhl zurückrückte und versuchte, keinem der Gäste, die alle eng an eng zusammensaßen, auf die Füße zu treten oder den Ellbogen ins Gesicht zu wischen. "Das ist ja das reinste Abendteuer, ich habe wohl echt was verpasst in all den Jahren." Liz blinzelte. "Machst du Witze? Sag bloß, du warst noch nie chinesisch essen?" "Doch, doch. Aber nicht... so. Nicht hier." Liz lehnte sich gönnerhaft zurück und nahm die Speisekarte in die Hand. "Tja, das hier ist tausendmal besser. Du wirst sehen." John nahm das Menü, das auch auf seinem Tisch lag. "Das ist auch auf Chinesisch", sagte er verwundert und starrte auf die ihm unbekannten Zeichen. "Was...äh? Wie soll ich? Ach, warte..." Er runzelte die Stirn und hielt sich die Karte näher ans Gesicht. "Ist das da Englisch? Ich dachte... huh? Was soll denn das bedeuten?" Liz lachte. Die Hieroglyphen einer chinesischen Speisekarte zu entziffern war mindestens genauso langwierig wie unmöglich. "Vergiss es. Nimm die 28, wenn du Fisch magst." John sah über den Rand der Karte zu ihr herüber. "Ein Geheimtipp?" Sie lächelte ihm kess zu. "Du wirst es nicht bereuen." "Das glaube ich auf's Wort", murmelte er und schluckte. Der bleiche Schwarzhaarige kam angebraust, rief ihnen etwas auf Anglo-Chinesisch zu und räumte dabei hastig den Tisch der Nachbarn ab, die sich gerade ihre Jacken anzogen. Hinter dem jugendlichen Kellner standen schon die nächsten Gäste bereit und schauten genauso verstört drein wie John, als Liz ihn in diese seltsame Parallelwelt inmitten von London geführt hatte. "Zweimal 28", rief Liz dem Kellner beiläufig zu und er verschwand auf der Stelle wieder im Getümmel. Erst dann widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit John. "Also." Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hände und sah ihn interessiert an. "Erzähl mir etwas von deiner Band. Spielst du da auch Gitarre, oder bist du ein Multi-instrumentales Talent?" John sah sie geschockt an und zeigte keinerlei Reaktion. Dann verzog er das Gesicht zu einem gequälten Ausdruck und druckste herum. "Also... um ehrlich zu sein... die ganze Sache ist so..." Liz zog eine Augenbraue fragend in die Höhe. "Ich hab gar keine Band", platzte es dann aus ihm heraus und er sah sehr erleichtert aus. "Du bist einfach davon ausgegangen und ich hab’ nichts getan, um dich vom Gegenteil zu überzeugen. Und... ich heiße auch nicht 'Johnny' - John reicht vollkommen aus. Tut mir leid...", schloss er dann lahm und versuchte ein verlegenes Lächeln. Liz brauchte eine Weile, um die Information zu verarbeiten. John war gar kein Musiker? Er spielte in keiner Band? Viele kleine Puzzlestückchen ergaben nun endlich ein ganzes Bild und sie verstand jetzt alle Details, glaubte sie. Die vielen ausweichenden Antworten, die ruhige, beherrschte Art, die ordentliche Wohnung... John war... was war er? "Aber glaub mir", fügte er noch hinzu und unterbrach damit ihre Gedanken. "Hätte ich vorher gewusst, dass das bei schönen Frauen so gut ankommt, hätte ich schon lange meine eigene Band gegründet." Er lachte nervös und kratzte sich dann am Hinterkopf. Dabei sah er aus wie ein linkischer Schuljunge. Aus irgendeinem Grund - Liz wusste es selbst nicht - konnte sie ihm nicht böse sein. Nein - sie war irgendwie auch erleichtert. Johnny - wäre er wirklich so gewesen, wie sie gedacht hatte - hätte ihr Weltbild ganz schön ins Wanken bringen können. Aber dieser John hier war ganz und gar ungefährlich. Er war süß und schnuckelig und zweifellos auch mit ein paar Musikergenen gesegnet. Doch absolut harmlos. Aber so leicht wollte sie ihn nicht vom Haken lassen. "Du hast mich angelogen?", fragte sie stirnrunzelnd und sein leidendes Winden bereitete ihr diebisches Vergnügen. "Ich hab... nicht wirklich daran geglaubt, dass du mich wiedersehen willst", entgegnete er mit entwaffnender Ehrlichkeit und Liz hätte am liebsten aufgestöhnt. Hatte sie hier etwa tatsächlich ein Exemplar von Mann vor sich, das zu genau der richtigen Zeit genau das Richtige sagte? Das konnte unmöglich wahr sein. Liz beschloss, nicht darauf zu reagieren. So leicht würde sie sich nicht ködern lassen, obwohl sie nicht umhin konnte, zu bemerken, dass John ihr dauernd Komplimente machte. "Wo arbeitest du dann?" "Ich bin Anwalt." John räusperte sich. "Erb- und Familienrecht." Liz hätte am liebsten ihren Kopf gegen die Tischplatte gehauen. Anwalt! Ausgerechnet! Genauso wie ihr Dad. Gab es einen langweiligeren Beruf auf dieser Erde? Wohl kaum. "Ich weiß", redete John weiter, als sie ihn nur anstierte, ohne etwas zu sagen, und nicht einmal registrierte, wie zwei vollbeladene Teller vor sie hingestellt wurden. "Die meisten Menschen halten diesen Beruf für extrem langweilig und somit auch die Menschen, die darin arbeiten." Er stockte plötzlich und überlegte, seufzte dann ergeben. "Okay... Ich muss aus eigener Erfahrung sagen, es stimmt wirklich. Ich würde es verstehen, wenn du mich jetzt einfach hier sitzen lässt, jetzt, wo du das weißt. Aber... ich hoffe, du wirst es nicht tun." Er warf ihr einen flehenden Blick zu. Liz ging vieles zu durch den Kopf. Zum Beispiel, dass nicht viele es geschafft hätten, so gnadenlos ehrlich zu sein. Und auch, dass, wenn man so ehrlich zu jemandem war, man es eigentlich nur ernst mit demjenigen meinen konnte. Sie bemerkte auch einen Anflug von Panik, der mit diesem Gedanken einherging. Aber vor allem dachte sie daran, dass sie eine verdammte Heuchlerin war. Klar hatte sie eben noch daran gedacht, dass John ein langweiliger Spießer war, aber wie kam sie überhaupt dazu, sich ein Bild von ihm zu machen, ihn schon in einem Schublade abzulegen, bevor sie ihn überhaupt richtig kannte? Sie wusste ja nicht einmal seinen Nachnamen, und hatte sie nicht insgeheim schon mit dem Gedanken gespielt, ihn hiernach abblitzen zu lassen? Er hatte das anscheinend auch erkannt, denn dumm war er nicht, das wusste sie bereits. Er hatte es gewusst, und sie deshalb in dem Glauben gelassen. Liz widerstrebte diese Selbsterkenntnis. War sie wirklich so unmoralisch? Pickte sie sich nur das Interessante raus und ließ alles andere links liegen, nur weil es nicht ihrem Interessensgebiet entsprach, ganz egal, wie der Mensch war, der dahinter steckte? Sie hatte sich immer bemüht, nicht oberflächlich zu sein und allen eine Chance zu geben, aber anscheinend traf das nicht auf Männer zu. Mit wenigen Worten hatte John ihr ein schlechtes Gewissen gemacht und wusste wahrscheinlich noch nicht einmal davon. Sie beschloss, ihm eine Chance zu geben. Sie würde schauen, wie der Abend verlief und dann entscheiden, ob John es wert war, dass sie ihn wiedersah oder nicht. "Warum bist du Anwalt geworden?", hakte sie nach. John lachte. "Mein Vater wollte, dass ich Ingenieur oder Architekt werde. Also hab ich Jura studiert." Verständnislos sah sie ihn an und er erklärte: "Um ihn zu ärgern. Eigentlich habe ich an so etwas wie Kfz-Mechaniker oder Bauarbeiter gedacht, aber das wäre doch nicht ganz so mein Fall gewesen. Obwohl es das bestimmt wert gewesen wäre." Liz musste sich ein Lachen verkneifen. Sie war wohl nicht die einzige, deren Lebensstil auf Unverständnis bei der eigenen Familie stieß. Da steckte doch tatsächlich ein bisschen von einem Rebell in dem Anwalt John. Das konnte noch interessant werden... John erzählte schon weiter. "Beim Studium habe ich dann gemerkt, dass es eigentlich - ja, ich weiß, es ist nicht zu glauben - ganz interessant ist, was ich da mache. Zuerst wollte ich Richter werden, aber dann fiel mir doch noch rechtzeitig ein, dass das eine Nummer zu groß für mich war." "Und warum Familien- und Erbrecht?" "Es erschien mir weniger trocken als der Rest. Und mit Schwerverbrechern wollte ich mich jetzt auch nicht herumschlagen." Dann senkte er den Kopf und lächelte niedergeschlagen. "Obwohl ich bei manchen meiner Familien denke, da sollte so etwas wie Strafrecht auch greifen..." Seine nachdenkliche Stimmung sprang auf Liz über und sie schwiegen beide für einen Augenblick. Dann sah John sie grinsend an. "Tut mir leid. Das ist kein gutes Thema für einen so schönen Abend. Ich schätze mal, du hast keinen Artikel über Luke's Band geschrieben, oder?", wechselte er das Thema und beäugte misstrauisch die Stäbchen, die neben seinem Teller lagen. Dann hob er skeptisch eine Augenbraue hoch und griff nach der Gabel, die daneben lag. Liz grinste. "Nein. Die alte Hexe würde so etwas niemals zulassen." "Die alte Hexe?" "Mrs. Witch. Meine Chefin." Auf John's argwöhnischen Blick hin erklärte sie: "Sie heißt wirklich so. Und man sagt ja nichts umsonst 'Nomen est Omen'. Zumindest bei ihr trifft das zu." John lachte. "Und sie mag keine Musik? Eine Schande." Dann steckte er sich eine Gabel von der Reis-Fischpfanne in den Mund und hielt inne - kaute. "Oh", machte er dann verdutzt und starrte seinen Teller an. "Das schmeckt... anders." "Schmeckt es dir nicht?", wollte Liz wissen. "Es ist vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig, wenn-" "Nein, nein. Es schmeckt sehr gut. Es ist nur... das hier schmeckt wie... Fisch!" Liz legte den Kopf schief und lächelte fragend. "Normalerweise schmeckt der Fisch beim Chinesen immer nach gebackenem Teig und gar nicht richtig nach Fisch. Aber das hier..." Er deutet auf seinen Teller und hob begeistert beide Augenbrauen. "Das ist echt gut." Verdammt. Liz mochte ihn! Sie merkte es daran, wie alles, was er tat, sie lächeln machte. Sie beschloss, es auf ihre gute Laune heute Abend zu schieben. Und sie musste es genießen, solange, wie es anhielt. Wahrscheinlich würde die alte Hexe ihr schon morgen einen weiteren uninteressanten Artikel zuteilen und dann konnte sie sich wieder durch zehn archivierte Regenbogenpresse-Zeitungen wühlen – wenn sie Glück hatte! John lachte entspannt und unterbrach ihre Gedanken. "Ich hab all die Jahre keinen richtigen Fisch gegessen und es nicht einmal gemerkt!" Liz tippte auf die Speisekarte, die noch immer auf ihrem Tisch lag. "Vom Muschelgericht würde ich allerdings abraten. Ich hab einmal eins erwischt, und es ist nicht... gutgegangen", wich sie lächelnd aus. John zog die besorgt die Augenbrauen zusammen und schaute angestrengt auf die Karte. "Welches ist es?" "Ich weiß es leider nicht mehr." Beide schauten sich an und mussten lachen. "Ich fürchte", sagte John und deutete hinter Liz, "wir müssen uns beeilen. Da steht schon eine ganze Schlange lauernder Hyänen und wartet begierig darauf, dass Plätze freiwerden..." Er schob sich eine weitere Gabel in den Mund und ließ die Horde hinter Liz nicht aus den Augen. Liz grinste und zwang sich dann dazu, damit aufzuhören. Das konnte doch nicht wahr sein! "Ja", sagte sie, "gemütlich kann es hier eigentlich nie werden..." Er warf ihr einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts. Sie aßen eine Weile und unterhielten sich über Belangloses. Liz erzählte von ihrem Artikel, den sie heute erst fertiggestellt hatte, behielt allerdings die Tatsache für sich, dass sie ihre Arbeit im Moment ganz und gar verabscheute. Er sollte sie nicht für eine unzufriedene Nörglerin halten. Ihre Vorbehalte gegen die Regenbogenpresse brachte sie trotzdem zur Sprache und John hörte ihr geduldig zu, während er immer wieder verwunderte Blicke auf sein Reisgericht warf, als könne er kaum glauben, dass etwas so schmecken konnte. Irgendwann schien er sich nicht einmal an den Horden der Menschen, die sich an ihnen vorbeidrängelten, zu stören und auch nicht daran, dass sie die Gespräche im Umkreis von mehreren Metern mithören konnten. Er erzählte ihr nichts von seiner Arbeit. Wahrscheinlich, vermutete Liz, wollte er sie nicht langweilen, da er eh schon gemerkt hatte, dass sie nicht allzu begeistert reagiert hatte - wofür sie sich mittlerweile in den Hintern treten konnte. Egal, wie ein Mensch seinen Lebensunterhalt verdiente, er sollte sich nicht dafür rechtfertigen müssen. Schon gar nicht bei ihr. Stattdessen redete er über Luke, wie er ihn kennengelernt hatte und wie es dazu gekommen war, dass er an diesem besagten Freitag Abend auf der Bühne stand und nicht Luke, wie eigentlich vorgesehen. Ingesamt, fand Liz, war es eine Geschichte voller Zufälle, wo eins zum anderen geführt hatte. Und jetzt konnte sie auch verstehen, warum John so durch den Wind gewesen war, als sie dann auch noch auf der Bildfläche aufgetaucht war. "Wozu hast du Lust?", fragte sie ihn, als sie fertig waren mit dem Essen und auf die Straße hinaustraten. John hatte bezahlt und als sie erwidert hatte, dass es nicht nötig sei, hatte er ihr erklärt, dass es sich so gehörte. Diese Ritterlichkeit war ihr vorher fremd gewesen und obwohl sie es etwas altmodisch fand, war sie doch geschmeichelt gewesen und hatte ihn gewähren lassen. "Tja, ich weiß nicht", murmelte er und rieb sich ratlos den Hinterkopf. Der Mond schien in einem gruseligen leuchtenden Orange, aber in London war es selten dunkel genug, als dass das irgendeine gespenstische Wirkung haben könnte. "Wollen wir ein Stück zu Fuß gehen?", half sie ihm auf die Sprünge und hakte sich wieder bei ihm ein. "Ich zeige dir, wo ich wohne." Er sah sie fragend an und warf einen skeptischen Blick auf seine Uhr. Natürlich war es noch früh und sie konnte sich denken, was er dachte, und lachte. "Es ist ein Stückchen zu Fuß. Am Hyde Park. Meinst du, du kannst so weit laufen?" Jetzt hatte sie sein männliches Ego am Haken und sie wusste das. "Sicher kann ich das", ereiferte er sich ein wenig eingeschnappt. "Kennst du den Weg?" Sie nickte. "Wie landet man denn in Kensington, wenn man gerade erst von der Uni kommt?", wunderte John sich stirnrunzelnd. "Das ist aber ein weiter Sprung." "Durch meinen Vater. Er kennt hier viele Leute. Ich hab also Glück gehabt. Die Wohnung ist wirklich klasse." John schwieg eine Weile und schien mit den Gedanken ganz woanders. Sie bogen in eine weniger beleuchtete Straße ein, eine Wohnstraße, wo keine Schaufenster oder Restaurants zu sehen waren. "Dein Vater", sagte John, "wie ist er so?" Etwas überrumpelt durch die Frage musste Liz erst einmal nachdenken. "Mein Vater ist... er ist Anwalt", lachte sie dann überrascht. "Aber er ist in Ordnung. Meistens." John hob fragend eine Augenbraue. "Aber?", hakte er nach, beließ es jedoch dabei. "Wohnt er auch hier?" "Nein, nein." Sie schüttelte den Kopf. "Mum und Dad wohnen in Nottinghamshire, und meine Geschwister auch." "Geschwister?" "Judy, Kate und Danny. Wir sind vier." Sie hielt inne. "Ich weiß, viele finden das... zu viel. Aber besser könnte es nicht sein." "Ich finde es nicht zu viel", protestierte John ruhig. "Es hört sich nach Spaß an." Liz lachte und drückte dabei seinen Arm, als wollte sie sich näher an ihn heranpressen. "Ja, und sehr viel Stress. Jude ist verheiratet und hat schon einen Sohn. Sie ist die älteste", erzählte sie ihm bereitwillig, weil sie das Gefühl hatte, er wollte es hören. "Und Kate studiert Literatur in Nottingham. Sie ist klug, aber ein kleiner Quälgeist, wenn sie wieder daran geht, uns ahnungslosen Normalsterblichen ihr breit gefächertes Wissen zu vermitteln." "Und Danny?", fragte John und es ermutigte sie, weiterzureden. Liz lachte bitter auf. "Danny geht noch zur Schule. Ich glaube, er mag mich nicht besonders. Wir haben ihn früher ein bisschen... na ja... gequält ist wohl das richtige Wort." John wog den Kopf hin und her und überlegte. "Mit drei älteren Schwestern hat man es wohl nicht leicht." "Wohl nicht." "Ich hab nur einen Bruder. Phil. Er ist jünger." Liz schaute ihn prüfend an, aber er wich ihrem Blick aus. "Das war's?", fragte sie stirnrunzelnd. Sie hatte das Gefühl, da war noch etwas, das er ihr nicht erzählen wollte. John zögerte. "Ich hab noch Halbgeschwister, aber die zählen nicht." Sie blieb überrascht stehen und John sah sich gezwungen, ebenfalls anzuhalten. "Warum zählen die nicht?" "Sie gehören zu meinem Vater. Ich hab nichts mit ihnen zu tun." Liz schwieg. Sie merkte an seinem rechtfertigenden Tonfall, dass sie eine wunde Stelle getroffen hatte. "Deine Eltern sind... getrennt?", hakte sie vorsichtig nach. Er nickte und ging weiter, und sie nahm wieder seinen Arm. "Geschieden. Mein Dad hat uns verlassen, als ich elf war. Phil war acht. Er hat sich eine neue Frau gesucht, oder vielleicht hat er Mum wegen ihr verlassen, ich weiß es nicht. Nur ein Jahr später bekam sie selbst ein Kind, und danach irgendwann das zweite." Obwohl er es sicherlich nicht geplant hatte, hörte Liz ihm die Bitterkeit an, die er darüber empfunden haben musste, und er tat ihr leid. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, mit elf Jahren festzustellen, dass der Vater seine Familie gegen eine andere austauschte - war es nicht das, was John in Wirklichkeit dachte? Was jeder an seiner Stelle denken würde? "Und deine Mum?", fragte sie nach. "Hm?" "Deine Mutter. Wie geht es ihr?" John schnaubte leise. "Gut. Es geht ihr gut. Ich dachte immer, sie hat noch daran zu knabbern, aber sie..." Er stockte und sein leicht verärgerter Tonfall wich einem resignierten. "Es geht ihr gut." "Bist du deshalb Anwalt für Familienrecht geworden?", fiel ihr dann siedend heiß wieder ein, "Weil du solche Ungerechtigkeiten... vermeiden wolltest?" John sah sie überrascht an. In seinen Augen spiegelten sich Schock und Erkenntnis wider. Als wäre er selbst noch nie auf diese Idee gekommen. "Nein... Ich weiß es nicht", stammelte er verdutzt. "Vermutlich." Liz wusste nicht, wie sie mit so etwas umgehen sollte. Klar kannte sie Menschen, deren Eltern sich hatten scheiden lassen. Aber sie hatte das Thema immer gemieden, wenn sie gemerkt hatte, dass derjenige noch nicht ganz darüber hinweg war. Und hier war das ganz offensichtlich der Fall. Sie schwieg betroffen, und John sah auf sie herunter und lächelte niedergeschlagen. "Lass uns das Thema wechseln", schlug er vor, "erzähl mir lieber was von deiner alten Hexe." "Sie ist nicht meine alte Hexe", lachte Liz, "das wäre ja noch schöner." Nach etlichen Anekdoten über Liz's Arbeit und einem kleinen Abstecher in den dunklen Hyde Park, wo sie ein bisschen mehr in den Genuss von John's Kusskünsten kommen konnte, standen sie endlich vor Liz’ Haus in Kensington. Die Straßenlaterne beleuchtete den unteren Teil des Hauses und den Eingang. John sah an der Fassade hoch und lächelte, und dann glitt sein Blick zu Liz zurück. "Hübsch." Sie wusste nicht, ob er sie oder ihr Haus meinte, und lächelte unverbindlich. Mit einem Schritt war sie bei ihm, lehnte sich an seine Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen und berührte seine Lippen sanft mit ihren. Als sie sich von ihm löste, neigte sie den Kopf und sah ihn wohlwollend an. "Ich würde dich ja reinbitten... Aber man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Sagt man. Und den anderen schönen Teil... lassen wir heute ausfallen." Sie konnte schließlich nicht jedes Mal mit ihm ins Bett hüpfen, wenn sie ihn sah - auch wenn sie noch so sehr wollte. Einige Geschenke musste man sich auch für später aufheben, damit man sich umso mehr freute, wenn man sie endlich auspacken durfte. Neugierig blickte er sie an und wartete auf eine weitere Erklärung, doch sie gab ihm keine. "Also", hakte er dann noch mal nach. "Sehen wir uns noch mal wieder? Oder hat dich der Anwalt in mir doch abgeschreckt?" Liz lachte und klopfte ihm dann mit der Handfläche gegen die Brust. "Was denkst du denn? Wir könnten doch das nächsten Mal die Speisekarte im 'Crispy Duck' durchgehen und schauen, ob wir die Muscheln finden?" Er lächelte. "Das hört sich gut an." "Gute Nacht, John." Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss, während er sich abwandte. Als sie die Tür geöffnet hatte, drehte sie sich noch einmal unwillkürlich zu ihm um. John stand vor ihrem Fastback Spider und betrachtete den Wagen bewundernd. Als hätte er es gemerkt, wandte auch er sich noch mal um und als er sah, dass sie ihn musterte, lächelte er und hob zum Abschied die Hand. "Ich freu mich schon darauf, die Muscheln zu finden", rief er ihr zwinkernd zu und Liz flüchtete ganz schnell ins Innere des Hauses, wo er nicht mehr hören konnte, wie sie laut auflachte. Verdammt. Sie mochte ihn wirklich! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)