All Your Other Ways von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 1: - Liz - ------------------ "Ich hasse es hier", murmelte Liz wütend, als sie sich wieder an ihren Arbeitsplatz sinken ließ. Sie träumte von einem großen Büro, mit genug Platz unter dem Tisch, um die Beine auszustrecken, und Wänden, die hoch genug waren, dass nicht jeder einfach seinen Kopf in ihre Angelegenheiten stecken konnte - wortwörtlich. Kurz gesagt: Sie träumte von einem Büro. Sie träumte auch von Aufträgen. Richtigen Aufträgen. Nicht diesen "Was hat die Queen heute zum Frühstück gegessen"-Artikeln, die keinen interessierten, nicht einmal die Queen selber. Keine Klatschartikel mehr, keine Interviews mit irgendwelchen vollkommen unbekannten C-Promis. Etwas Politisches vielleicht, obwohl die Politik sie eher langweilte. Aber sie war lernfähig. Etwas Wirtschaftliches, etwas Sinnvolles. Ja, etwas Sinnvolles, das wollte sie schreiben. Aber jeder Anfang war schwer, und vorerst musste sie sich mit dem zufrieden geben, was sie hier hatte. Obwohl das nicht immer einfach war, vor allem an Tagen wie diesen, wenn ihre immer missgelaunte, chronisch untervögelte Chefin sie wieder in ihr Büro – ein richtiges Büro übrigens - zitierte. Rob's Kopf erschien über der Paraventwand und er grinste. "Na? Was hat dir die alte Hexe wieder aufgebrummt?" Er kam herum und schob seinen Hintern auf die Eckkante von Liz's Tisch, der - instabil, wie er war -, ganz schön darunter zu leiden hatte. Aber Liz sagte nichts. "Ach, frag nicht", winkte sie missmutig ab. "Es ist immer dasselbe. Kein Wunder, dass die Verkaufszahlen in den Keller sinken, wenn wir immer so einen Schrott herausbringen. Niemand interessiert sich dafür, ob die Innenarchitektin von Macy Hills auf ihrer Hochzeit ein Stelldichein mit Macy’s Vater hatte oder nicht. Wo gräbt die alte Hexe diese Geschichten bloß aus?!" Rob runzelte die Stirn. "Wer ist Macy Hills?" Liz schnappte sich ihre Computermaus und klickte demonstrativ Google an. "Das", erklärte sie, "werden wir gleich herausfinden." "Hey." Rob richtete sich wieder auf und kratzte sich am Hinterkopf, als ein paar Bilder von einer rothaarigen, pummeligen Frau in den Dreißigern auf dem Monitor erschienen. "Hast du vielleicht Lust... also wir gehen heut Abend noch weg, Alex, Brooke, die ganze Bande. Ich dachte mir, vielleicht hast du ja Lust, mitzukommen." Liz seufzte innerlich. Rob gab nie auf. Sie wusste, dass er ein wenig verknallt in sie war, und er war ein netter Kerl, aber einfach nicht ihr Typ. Ohne von ihrer Recherche aufzublicken, runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. "Das ist lieb von dir, aber ich hab heute Abend eine feste Verabredung." "Oh." Rob klang so enttäuscht, dass sie sich gezwungen sah, die ganze Sache aufzuklären: "Ja, mit meiner Couch und einer DVD. Welche die glückliche sein wird, weiß ich allerdings noch nicht." "Oh, ach so", beeilte sich ihr Kollege eilig zu sagen und seine vorangegangene Enttäuschung zu überspielen, die ihm peinlich schien. "Du willst 'nen ruhigen Abend verbringen, verstehe. Na ja. Okay. Dann nächstes Mal, oder?" Liz nickte unverbindlich. "Ja, vielleicht." Rob zog endlich ab und nach einigen Klicks war sich Liz auch endlich über die Identität dieser ominösen Macy Hills bewusst. Irgendeine unbedeutende Tochter eines unbedeutenden alten Knackers, der in der Automobilbranche tätig war, einen Haufen Geld besaß und seine Frauen öfter wechselte als seine Unterwäsche. Zumindest war das der Ruf, der ihm anhaftete. Liz wusste, dass Menschen Bösewichte brauchten. Leute, denen sie die Schuld für das "Verkommen" der Gesellschaft geben konnten, um sich nicht selbst dafür verantwortlich zu fühlen, sich insgeheim aber wünschten, genauso zu sein, aus ihrem Leben ausbrechen und entkommen zu können. Normalerweise waren das die frustrierten Hausfrauen, und es überraschte niemanden, dass gerade sie die Hauptabnehmer dieses unspektakulären Klatschblättchens namens „London Talk“ waren, für das Liz arbeitete. Es war nicht Liz’s Traumberuf, ganz und gar nicht, zumindest nicht in dieser Form. Aber nach der Uni musste man nehmen, was man kriegen konnte. Irgendwann würde sie für die Times schreiben und eine richtige Journalistin sein - bis dahin musste sie eben das Beste aus ihrer Situation machen. Und sie verdiente hier genug Geld, dass sie sich eine Wohnung, Nahrungsmittel und Kleidung kaufen konnte, für's erste genügte das also. Liz warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, für heute Schluss zu machen. Sie packte ihre Sachen zusammen, stopfe ihre Ausdrücke über die noch unbekannte Macy Hills in die Tasche und holte sich am Automaten einen heißen Kaffee im Pappbecher. Während sie pustete, merkte sie, wie in ihrer Hosentasche der Vibrationsalarm ihres Handys anging. Als sie es herausholte, erblickte sie auf dem Display Mel's Nummer. "Hey Mel. Was gibt's?" Melanie war ihre beste Freundin - zumindest die beste, nicht mit ihr verwandte Freundin -, und sie kannten sich schon seit Kindertagen. Sie waren nach der Schule auch zusammen nach London gezogen und hatten sich ein Zimmer im Wohnheim geteilt. Mel arbeitete jetzt für ein kleines IT-Unternehmen, wo sie dauernd irgendwelche Statistiken aufstellen und auswerten musste, und sie waren noch immer ein Herz und eine Seele. "Heute Flyfishers's?", kam es aus dem Hörer. Im Hintergrund hörte Liz Mel eifrig in die Tasten hauen. Anscheinend tippte sie gerade etwas. "Was ist denn Flyfisher's?", hakte Liz nach, balancierte mitsamt Tasche, Handy und Kaffee vorsichtig an einem Menschenstau vorbei, der sich gebildet hatte, weil nicht genügend Leute gleichzeitig durch die kleine Glastür hindurchpassten, die in das Gebäude hineinführte. Mel hörte auf zu tippen. "Eine neue Bar. Ein Freund hat mich eingeladen, der dort den Barkeeper macht. Da spielt heute irgendeine neue Band und die soll ich mir unbedingt anhören. Da dachte ich, nehme ich dich einfach mit. Du stehst doch so auf diese unbekannten, kleinen Fische." Sie lachte über ihren Wortwitz, die Anspielung auf den Clubnamen. Liz lächelte müde und gab sich dann geschlagen. Ausgehen war immerhin wirklich besser, als den Abend alleine zu Hause zu verbringen – wobei das natürlich auch auf die Musik ankam. Aber sie vertraute Mel in dieser Hinsicht. "Okay, ich komme mit. Aber ich bleibe nicht lange. Die alte Hexe hat mir wieder einen mordsspannenden Artikel aufgehalst, von dem Schock muss ich mich erst mal erholen und zehn Stunden Schlaf tanken." "Ah, die alte Hexe schon wieder." Liz konnte hören, wie Mel schmunzelte. "Schubs sie endlich in den Ofen und übernimm ihren Job, Gretel. Alle würden es dir danken." Sie trat hinaus auf die Straßen von London, Haymarket, um genauer zu sein, und atmete die frische Winterluft ein. Dieser Jahreszeit hatte London seinen verregnete Ruf zu verdanken, denn statt Schnee und Eis brachte der Winter zumeist nur Regen und Hagel über die Stadt, also herrschten von November bis etwa März ziemlich feuchte Temperaturen. Auch jetzt waren die Straßen nass und der Himmel bewölkt. "Da hast du recht", pflichtete sie ihrer Freundin bei. "Vielleicht mach ich das bald. Oder ich kündige..." "Dafür musst du erst mal etwas Neues gefunden haben", informierte Melanie sie pflichtbewusst, wie immer. "Aber um auf Flyfisher's zurückzukommen... das ist ganz in der Nähe vom Grosvenor Square. In der Brook Street. Das findest du bestimmt." "Ach." Liz war amüsieret. "In Mayfair, echt? Dieser noblen Gegend?" Mel raschelte mit Papieren. "Yep. Mayfair. Aber mit noblen Gegenden kennst du dich ja aus. Bist du nicht dauernd da irgendwo unterwegs? Ach warte - du wohnst ja auch in einer!" Liz machte sich auf den Weg zu der U-Bahn-Station Piccadilly Circus. Von da aus waren es nur drei Haltestellen und ein paar wenige Minuten bis zu ihrem Zuhause im Stadtteil Kensington. Sie liebte es dort. Die herrlichen Altbauten, die sich dort befanden, waren wirklich noch gut in Schuss und sahen einfach nur atemberaubend aus. Sie fühlte sich immer reich und mächtig, wenn sie in das vierstöckige Gebäude im Terakotta-Farbton hineinspazierte, in dem sie wohnte. Die Eingangstür wurde von einem großzügigen Rundbogen umrahmt und befand sich direkt in der Mitte des Hauses. Über ihr thronte eine prächtige Balkonzeile, behangen mit wunderschönen, immergrünen Pflanzen, die darauf schließen ließen, dass jemand sich wirklich gut um sie kümmerte. In den restlichen Stockwerken waren ebenso links und rechts über dem großen Balkon kleinere angebracht, wurden jedoch von einem Fenster unterbrochen, doch auch sie waren hübsch bepflanzt. Die Fenster waren groß und freundlich, verziert mit allerlei hübschen Schnörkeleien. Liz wusste, dass das ziemlich kitschig war, aber sie fühlte sich immer um hundert Jahre zurückversetzt, wenn sie davor stand. Was sie niemals ihrer Schwester Kate erzählen dürfte, die mittlerweile neunzehn war und in Nottingham studierte, da die sie bestimmt über die verschiedenen Baustile und die englische Architektur der vergangenen Jahrhunderte aufklären wollen würde. Und das konnte Stunden dauern! "Aber nur wegen Dad. Er hat seine Beziehungen spielen lassen." "Ja, ja. Die Geschichte kenne ich. Und dafür hast du ihm versprechen müssen, nie wieder irgendeinen gruseligen Kerl mit schwarzgeschminkten Augen mit nach Hause zu schleppen, wenn es nicht gerade Halloween ist", vollendete Mel lächelnd den Satz. Liz grinste und wich einem Wasserschwall aus, der von einem durch eine Pfütze fahrenden Bus erzeugt worden war, während sie mit anderen Passanten darauf wartete, dass die Ampel grün wurde. "Nein, nicht einmal zu Halloween. Das hat er ausdrücklich gesagt." "Der hat ja nicht besonders viel Vertrauen zu dir. Und ich muss sagen - zu Recht." "Ich weiß. Ich war ein furchtbares Kind." "Das bist du immer noch", widersprach Mel halb im Scherz. Liz seufzte theatralisch. "Ich weiß. Aber ich bring wenigstens keine schwarzgeschminkten Typen mehr mit nach Hause." Eine ältere Frau warf Liz einen skeptischen Blick zu und entfernte sich dezent ein paar Zentimeter von ihr. "Weil du jetzt ein bisschen mehr Geschmack hast, vermutlich." "Oder weil ich mein Make-Up nicht mit einem Kerl teilen will", witzelte Liz herum und merkte, wie zwei halbwüchsige Mädels, die ziemlich stark geschminkt waren, sie anstarrten. "Das ist immerhin nicht billig." "Da sagst du was. Also. Bis heute Abend. Ich muss noch ein paar Statistiken killen. Um neun dort." Liz nickte, obwohl Mel das nicht sehen konnte. "Ja, bis dann." Sie legte auf, als die Ampel auf grün umsprang, und machte sich sogleich auf den Weg zur U-Bahn-Station, die auf der anderen Straßenseite des ziemlich viel befahrenen Piccadilly Circus lag. Bis man hier irgendwann durchkam, konnten Stunden vergehen. Liz war froh, dass sie ihren alten Spider Fastback zu Hause in seiner Parklücke gelassen hatte. In London verbrauchte man mehr Sprit beim Warten an Kreuzungen und Ampeln als beim tatsächlichen Fahren, und mit der U-Bahn war sie meist sowieso schneller am Ziel. Sie benutzte ihren heißgeliebten roten Flitzer eigentlich nur, wenn sie aus der Stadt rausfuhr, zu einem Auftrag oder nach Hause, zu ihren Eltern, ins 130 Meilen und fast drei Stunden entfernte North Collingham, wo sie sich hin und wieder zurückzog, um entweder ihre Eltern und ihre mittlerweile verheiratete Schwester Judy zu besuchen oder um anständige Nahrung in Mund und Magen zu bekommen. In so einer schnelllebigen Großstadt wie London war es als junger Mensch ein Kunststück, wenn man die Küche, die sich nur als Dekoration in jedem Haus befand, auch tatsächlich zum Kochen benutzte. Fast Food und Lieferservice waren unkomplizierter und schneller. Auch morgen früh würde sie sich wieder auf den Weg nach Hause machen, da ihre beiden Schwestern ebenfalls in ihr Elternhaus einkehren würden. Liz freute sich schon auf diese kleine Familienversammlung. Seitdem sie in London wohnte, sah sie ihre Geschwister viel zu selten, obwohl sie das ihnen gegenüber natürlich niemals zugeben würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)