The Last One von -Moonshine- (Wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?) ================================================================================ Last ---- Diese zwei Kapitel hängen unmittelbar miteinander zusammen, darum lest sie bitte beide direkt hintereinander. "Der letzte Tag... der letzte Tag...", murmelte Maya. Was würde sie an ihrem letzten Tag machen? Wenn sie wüsste, dass sie nur noch diesen Tag hatte, nur noch den einen einzigen, bevor sie ins Gras beißen, die Radieschen von unten betrachten würde? Das war schwierig. Sie knabberte am Stiel ihres Bleistiftes und klopfte dann mit der Miene auf den Tisch, sodass es leise "Tock tock tock" machte. Aber eine Idee hatte sie deswegen noch lange nicht. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Der letzte Tag. Was für eine bescheuerte Hausaufgabe das war. Es war doch morbide, ja, geradezu krankhaft, sich mit dem Tod auseinander zu setzen, wenn man gerade erst Sechzehn geworden war. Es gab noch vieles, was sie ausprobieren wollte, aber so richtig wichtig kamen ihr diese Sachen nicht vor. Und wahrscheinlich würde ein Tag dafür nicht einmal reichen. Einmal eine Kreuzfahrt in die Antarktis machen, zum Beispiel, und sich die Pinguine ansehen. Nicht die eingesperrten im Zoo. Die richtig echten. Oder im Fernsehen auftreten, sodass alle sie sehen und bewundern könnten. Oder... "Essen ist fertig!", rief ihre Mutter von unten und froh, ihrer Aufgabe für kurze Zeit zu entgehen, sprang Maya auf und flitzte ungewöhnlich schnell ins Esszimmer, wo der Tisch bereits gedeckt war und es himmlisch roch. Ihre Mutter warf ihr einen langen Blick zu. "Hast du denn heute so viel auf?" Maya nickte, doch dann schüttelte sie den Kopf. "Geht so. Ich muss für Ethik etwas Schwieriges schreiben und mir fällt irgendwie nichts ein." Sie setzte sich an ihren Platz und auch ihr Vater und ihr Bruder traten ein. "Was denn?", fragte ihre Mutter neugierig und stellte das Kartoffelpüree auf den Tisch, wo schon alles andere bereitstand, zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich ebenfalls. "Wir sollen uns überlegen, was wir an unserem letzten Tag machen würden." Auf drei Paar fragende Blicke hin fügte sie erklärend hinzu: "Also, bevor wir sterben." Ihr Vater schnaubte. "Was ist denn das für eine makabere Aufgabe? Und so was lernt ihr in der Schule? Kein Wunder, dass die jüngeren Generationen immer dümmer werden." Maya's Mutter seufzte und ignorierte ihren Ehemann. "Das ist wirklich schwierig. Hast du dir schon etwas überlegt?" Maya schüttelte den Kopf. "Ich würde", meldete sich Frederick zu Wort, "den ganzen Tag Eiskrem essen und Erdbeertorte und es wäre mir auch egal, wenn mir davon schlecht wird." Er nickte ein paar Mal bestätigend. "Und dann würde ich mit dem Skateboard den Killerhügel runterrasen. Das wäre sooo cool." Frederick, Maya's jüngerer Bruder, war erst elf und sein größtes Vorbild war der Kerl, der vor zwei Jahren mit seinem Board den "Killerhügel" - eine asphaltierte Straße am Stadtrand, die gefährlich steil war -, heruntergestürzt und sich dabei beide Arme und ein Bein gebrochen hatte. Seitdem war es sein größter Wunsch, das gleiche zu probieren. Maya verdrehte kurz die Augen ob ihres kindischen Bruders. "Also ich würde meinen letzten Tag mit euch allen verbringen", verriet Maya's Mutter, pflichtbewusst, wie es sich für eine gute Mom gehörte und strahlte die Familienmitglieder nacheinander an. Aber wer wusste schon, dachte Maya insgeheim, was ihre Mutter wirklich tun würde. Vielleicht mit einem südländischen Casanova nach Spanien fliehen, wie es immer in den Fernsehserien gezeigt wurde, oder womöglich sogar den ganzen Tag im Wellnesssalon verbringen und sich verwöhnen lassen? Maya sah auffordernd ihren Vater an, denn nun war er an der Reihe. "Wenn ich nur noch einen Tag hätte", begann er langsam und starrte angestrengt in die Luft, als würde er dort sehen, was er tun würde, "würde ich die Arbeit schwänzen, eine Grillparty im Garten veranstalten und viel Bier trinken." Er grinste Maya's Mutter an und zwinkerte ihr zu, als sie ihn mit einem langen, geduldigen Blick bedachte, der wahrscheinlich so etwas ausdrücken sollte wie "Denk bloß nicht dran". "Also", fasste Maya zusammen, "ihr würdet alle etwas tun, das ihr euch bis jetzt entweder nicht getraut habt oder nicht machen dürft? Mom ausgenommen?" Frederick und ihr Vater nickten synchron. "Weißt du", sagte Maya's Mutter, "ein berühmter Dichter sagte mal 'Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter.’" Sie lächelte. "Schatz", mischte sich ihr Vater mit fachkundiger Miene ein, "das war kein berühmter Dichter, sondern James Dean, der das gesagt hat, da bin ich mir ziemlich sicher." "Und ich bin mir sicher, dass es nicht James Dean war", entgegnete ihre Mutter leicht gereizt. "Könnte auch Sinatra gewesen sein." Er zuckte mit den Schultern. Maya kicherte. Die kleinen Streitereien ihrer Eltern waren immer außerordentlich lustig. Und jetzt wusste sie auch in etwa, was sie schreiben wollte. Es waren nur Kleinigkeiten, wie eine Gartenparty oder die Lieblingssorte Eiskrem, oder etwas, das man sich wünschte, aber sich noch nicht getraut hatte zu tun. "Und ich", sagte sie schließlich, "will mal so richtig schnell Autofahren." Als sie später am Abend - es war schon dunkel und zu dieser Zeit befand sich für gewöhnlich niemand mehr auf den Straßen -, durch die Vorstadt fuhr, um dank Frederick am Diner Eiskrem für die ganze Familie zu holen, erinnerte sie sich daran, was ihre Mutter gesagt hatte. Jeden Tag sollte man so leben, als wäre es der letzte. Sie wurde mutiger und trat auf das Gaspedal. Es war ja sowieso niemand auf den Straßen. Er war direkt hinter der Kurve und sie sah ihn nicht kommen. Es war ihr letzter Tag. Der letzte Tag ihrer Kindheit. 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