Die tausend Kirschbäume von Yoshitsune von Palmira (DeiIta) ================================================================================ Kapitel 1: Erster Teil ---------------------- Die tausend Kirschbäume von Yoshitsune Diese Idee schleppe ich eine ganze Weile mit mir herum, aber historischer Kontext verlangt relativ viel Recherche, deshalb hat es so gedauert. Sollte ich trotzdem irgendwo Fehler gemacht haben, wäre ich dankbar, wenn ich darauf hingewiesen werde, denn sonst mache ich sie womöglich noch anderswo. Eine Veränderung ist absichtlich vorgenommen worden, auf die weise ich hier hin. Das Titelstück ist für Kabuki-Theater und hatte 1747/1748 seine Premiere (Quellenwiderspruch). Da ich den Handlungszeitpunkt aber gern in die Genroku-Periode (1688-1704) verlegen würde, weil Kunst und Kultur zu dieser Zeit Hochkonjunktur hatten, müssen wir leider so tun, als sei das Stück früher geschrieben worden. Der Nebencharakter ‚Ebisuya‘ aus ‚Sano Ichiro‘ hat etwas zur Vorlage gedient. Must read! Ich verzichte sonst meistens auf Suffixe und Fachbegriffe, weil sie mich stören, aber im Kontext wirkt es echter, wenn ich sie benutze. Sie werden aber im gleichen oder nächsten Satz erklärt und sind kursiv gekennzeichnet. Geplant sind zwei bis drei Kapitel. Es war stickig im Theater, quälend stickig, der Dunst von Schwüle draußen und zu vielen Menschen drinnen gelierte in der Luft zu einem einzigen Sumpf, in dem es alles gab, nur keinen Sauerstoff. Uchiha Itachi legte sich beiläufig den Ärmel über Mund und Nase, als wollte er ein Gähnen unterdrücken. Doch der unbestickte, angenehm-schmucklose Stoff roch nach Zedernöl, das er als Duftnote sowohl für sein Haar als auch für die Räucherstäbchen benutzte, über die die Kleidung gehängt wurde, damit sie den Geruch aufsog. Es tat gut, für einen Moment erlaubte er sich, das zu genießen. Denn wenn er das Theater verließ, würde alles an ihm nach diesem Gemisch aus Schweiß, Tabakrauch, abgestandener Luft und Lebensmitteln stinken. Itachi war nicht freiwillig hier, er sah sich lieber Bunraku an, das Puppenspiel. Die Atmosphäre war dort genauso schwül, selbstverständlich, doch Itachis begrenzte Fantasie fand es leichter, sich von unbelebten, kunstvoll bemalten Puppen entführen zu lassen, als von ebenso kunstvoll bemalten, aber nie ihre Rolle wirklich verkörpernden Schauspielern. Was seine Einstellung zum Theater war, wusste er nicht, Itachi hatte nur in eine Richtung eine Meinung – was er nicht mochte. Es gab nur das, und natürlich die Dinge, die sich nicht seine Abneigung zugezogen hatten und daher egal waren, so war die Kunst für ihn aufgebaut. Das war nicht persönlich, das war Berufsethos. Itachi war Yoriki – ein Polizeibeamter vom Rang eines Samurai, von einem Magistraten angeheuert. Und er würde weiterkommen, weil es ihm nicht genügte, in einer Schreibstube zu sitzen und Polizeistreifen zu begleiten. Menschen wie ihn nannte man nicht ganz zu Unrecht Emporkömmling, er hatte sein Amt nicht geerbt, sondern war eingestiegen, ohne vorher Doshin gewesen zu sein, Streifenpolizist. Also stieß er weder bei den Alteingesessenen, noch bei den in mühsamer Bewährungsarbeit Beförderten auf Sympathien. Er schweifte ab, das musste die Hitze sein. Noch ging es nicht los, Serviermädchen mit Tabletts huschten hin und her, viele Besucher rauchten. Itachi hätte nichts gegen einen süßen Imbiss gehabt, doch das würde ihm nur im Hals stecken bleiben. Er war früh gewesen, weil er wusste, dass das Stück regen Andrang hatte, dabei wurde ‚Die tausend Kirschbäume von Yoshitsune‘ gerade in ganz Edo aufgeführt. Er kam, um sich eine Meinung zu bilden, um zu sehen, was ausgerechnet an der Interpretation in diesem Theater so besonders war. Er würde das brauchen, um sich zu profilieren. Der Magistrat, dem er diente, war ein ältlicher Mann mit strikten Prinzipien und erzkonservativen Wurzeln, trotzdem wusste Itachi nie, was er dachte. Er hatte nur allmählich ein Gespür dafür, was es bedeutete, in den richtigen Gesprächen das Richtige zu sagen. Und dafür musste er das Stück sehen. Zumindest den Teil, der heute aufgeführt wurde. Historische Kabuki-Stücke wie dieses hatten traditionell fünfzehn Akte, für deren Aufführung nicht mal ein ganzer Tag ausreichte, deshalb wurde das auf die Abende verteilt. Itachi hatte nicht den richtigen Tag erwischt, um den Anfang zu sehen. Heute wurden der dritte und vierte Akt aufgeführt, das reichte. Itachi kannte die Handlung bereits, er brauchte nur die Darsteller zu sehen – was an sich schon der unangenehme Teil war. Es war Sommer und schwülheiß. Itachis Nacken war klebrig vor Schweiß. Die Musik setzte ein, es ging los. Die Klänge der Marimba klangen wie trommelnde Regentropfen auf glühenden Dachziegeln – es war das schönste Geräusch, das Itachi hörte, und er lauschte weiter darauf, auch wenn links von ihm die Schauspieler über den Hanamichi eilten oder schritten, der breite Holzsteg führte durch das Publikum zur Bühne und war unerlässlich für die Darstellung. Das Bühnenbild zeigte einen Wald; Itachi hörte nicht zu, er lauschte der Marimba, die langsam verebbte. Er war nicht aufmerksam. Plötzlich wurde gekämpft, mit meisterlichen Nachahmungen echter Waffen, deren nutzlose Klingen im orangeroten Licht flimmerten wie Blitze. Wie ein Sommergewitter aus Stahl, jedes Aufeinanderprallen der Schwerter wurde dramatisch mit Paukenschlägen untermalt, Schweineblut floss. Naishi weinte und klagte, Yazaemon schnitt den Kopf von Kokingo ab und nahm ihn als Trophäe. Itachi wusste all das schon, und das Publikum johlte so oder so. Er selbst war währenddessen in eine lethargische Starre versunken, die es ihm erlaubte, die drückende Schwüle hier weniger zu fühlen. Eifersuchtsdrama, Koremori täuschte Osato. Itachi begann bereits, die Namen zu vergessen. Die Onnagata waren gut, dafür war das Theater berühmt. Die beiden Frauenrollen sangen ein harmonisch abgestimmtes Duett. Als es um Geld ging, hörte Itachi wieder weg, damit versorgte ihn seine Arbeit zur Genüge. Gonta starb unter dramatischer Musik, jemand sang eine Elegie dazu. Viele der Zuschauer waren ehrlich ergriffen, sodass Itachi sich beinahe schämte, kein Interesse zu zeigen. Seine Augen waren völlig trocken, und er sah zu, wie die Bühnenbilder erneut geübt ausgetauscht wurden. Endlich spielte die Marimba wieder – es war wie eine Offenbarung. Itachi atmete unbewusst aus und entspannte sich wieder. Während der Schlegel über die Holzstücke huschte, drehten die meisten Zuschauer den Kopf. Itachi dämmerte, dass ein neuer Schauspieler auftrat, schleppend langsam folgte er ihrem Beispiel. Gozen Shizuka hatte ihren Auftritt, dabei sah sie nicht nach einer Dame aus, denn sie trug einen Michiyuki, ein Frauenkleidungsstück mit weiten Ärmeln und einem breiten, rechteckigen Ausschnitt. Der schwere Brokat war dunkelrot wie Pflaumenwein und wurde nicht, wie es sich gehört hätte, durch eine Haori abgedeckt, eine Art Jacke. Shizukas für einen Onnagata erstaunlich sehnige Unterarme blitzten kurz hervor. Es war zu viel Haut für eine adlige Geliebte. Jemand intonierte einen schrillen Ton, und Shizuka wirbelte herum, auch die abrupte Bewegung passte nicht. Sie stand auf der Mitte des Hanamichi, ihre Brust hob und senkte sich dramatisch. Das Gesicht war mit Reispuder weiß geschminkt, die Lippen rot und sinnlich, um ihren Status als Geliebte zu verdeutlichen. Sie hatte einen anmutigen, schön geschwungenen Hals, die weiten Ärmel kaschierten die männlich-breiten Schultern. Aber ihre Augen waren trotzdem… blau. Das war es, Shizuka hatte blaue Augen. Zuerst glaubte Itachi an die überzeugendste Schminke, die er je gesehen hatte, dann verwarf er den Gedanken sofort. Eine raffinierte Färbung der Lider mochte im ersten Moment täuschen, doch Shizukas Augen waren immer noch so blau wie die Japanische Iris, die Form dabei so erlesen und mandelförmig wie bei einer erstklassigen Konkubine, dem Schönheitsideal der Kaiserstadt entsprechend. Das Gesicht wies markante Kurven auf, hohe Wangenknochen und ein stolzes Kinn. Dreckiges Blut. Ein Bastard von einem Ausländer. Holländer vermutlich. Gozen Shizuka, die wohl berühmteste Frau der japanischen Geschichte, wurde von einem schmutzigen Halbfremden verkörpert. Die Merkmalsausprägung mochte erstaunlich asiatisch sein, aber die Augen sprachen eine deutliche Sprache. Shizuka ging rückwärts auf die Bühne zu, ihre Schritte waren anmutig und wiegend wie bei einem geübten Schauspieler. Es gab wahre Dynastien guter Schauspieler, besonders Onnagata, doch das war bei einem Mischling nicht möglich. Jemand aus den höheren Chargen musste seine Hand darüber gehalten haben, dass ein Bastard auf diese Bühne kam. Itachis Kopf schwirrte von politischen Gedanken, er nahm das Stück nicht mehr wahr. Das Stück mochte er nicht. Shizuka erreichte die Hauptbühne. Ihr schwarzes Haar glänzte und war mit Haarnadeln aus Elfenbein aufgesteckt, der Kopf neigte sich mal nach links und mal nach rechts, als sie zu tanzen begann. Der Oberkörper blieb gestreckt und kerzengerade, während die Beine einknickten; die Muskeln der Oberschenkel ließen sich schwach unter dem schweren Stoff erahnen, Itachi sah selbst die leichte Kurve, wo die gespannten Muskeln die Haut anschwellen ließen. Die Arme vollführten glatte Bewegungen, wobei das Gesicht ausdruckslos und starr hinter einer ganzen Maske aus Puder blieb. Die Augen waren gesenkt, damit die Wimpern das Blau verdeckten. Die Marimba war längst verstummt, doch allein der Fakt, dass man einen Ausländer auftreten ließ, hatte Itachi in den Bann geschlagen, es nötigte ihn dazu, den Schauspieler intensiver wahrzunehmen als alles Andere. Die Bewegungen, soweit er das beurteilen konnte – Itachi empfand erstmals so etwas wie Unsicherheit bei seinem nüchternen, kaum fundierten Urteil – waren akkurat ausgeführt, die Körperbeherrschung exzellent. Aber das an sich musste kunstlos sein, wenn es von einem noch so guten, falschen Körper verkörpert wurde. Der Erzähler trug in langen Versen vor, wie Shizuka sich aufmachte, um ihrem geliebten Yoshitsune und dessen Männern zu folgen, diese Stelle beinhaltete keinen Dialog. Das Bühnenbild wechselte fließend, während Shizuka lautlos über den Hanamichi huschte, sogar während der Erzählung verschwand, vermutlich um das Kostüm zu wechseln. Itachi blickte sich um, suchte nach Empörung. Viele Zuschauer unterhielten sich leise, das war während Theatervorstellungen nicht ungewöhnlich. Doch niemand war aufgesprungen, um Shizukas Auftritt zu sabotieren. Es war auch niemand Bedeutendes anwesend, hoffte er. Itachi hatte das Gefühl, dass er hier etwas nicht verstand. Kabuki hatte immer den Zweck, zu überraschen und zu erschrecken. Das hier ging zu weit. Und es wäre wesentlich einfacher gewesen, wenn er den Kopf frei gehabt hätte. Shizuka schlüpfte durch das Bühnenbild. In beeindruckend kurzer Zeit hatte sie den Michiyuki gegen einen schönen, mit dunkelgrünen Fichten bedruckten Kimono getauscht, die Ärmel reichten nach der Manier der unverheirateten Frauen bis zum Boden, die unrasierten Augenbrauen waren deutlich nachgezogen. Unwillkürlich konzentrierte Itachi sich wieder auf sie. Shizuka blickte sich um; über ihr flatterten hölzerne Vögel. Sie holte die Hatsune-Trommel hervor, um sie zu sich zu locken, und begann zu spielen. Die tatsächliche Musik wurde nicht von ihr gemacht, sondern von einem professionellen Musikanten, und während Shizuka staunend zu den langsam herabschwebenden Vögeln sah, flitzte ein weißer Fuchs hinter eine Kulisse und verwandelte sich über eine Falltür und unter lautem Klappern der Instrumente Tadanobu. Das Publikum spendete regen Beifall, viele lachten, als sich der verwandelte Fuchsgeist Shizuka näherte, angezogen vom Klang der magischen Trommel. Der Erzähler erklärte die Zusammenkunft der beiden, die nun Reisegefährten wurden. Sie bewegten sich anmutig umeinander, passend zu den Schlägen der Trommel, mehr Musik setzte ein. Ein weiteres Duett. Shizuka öffnete ihre betörend roten Lippen, holte Luft, was ihr in ihrem eng geschnürten Kimono sicherlich nicht zu leicht fiel. Und dann sang sie. Onnagata sprachen und sangen Falsett, um weibliche Rollen besser zu imitieren. Zwar legten sie auch weibliches Gebaren an den Tag, teilweise mit großer Kunstfertigkeit, doch vor allem ihre Stimmen verliehen ihnen Glaubwürdigkeit und machten den dramatischen Teil ihres Schauspiels aus. Denn mit dieser maskenartigen Schminke konnten sie sich kaum auf Mimik verlassen. Und Shizuka sang tief. Und zwar nicht rauchig-tief, wie die Onnagata es bei teilweise recht erotischen Stücken an den Tag legten, sondern männlich-tief, die Stimme hatte eine dunkle, fast wütende Klangfarbe, ohne dröhnend zu sein. Die edle Gozen Shizuka sang mit einer Männerstimme, und mochte ihr Mund sich dabei noch so reizend bewegen und ihr Körper sich hin und her wiegen. Itachi konnte nicht anders, er reagierte zu langsam, um überhaupt die Hand zu heben. Seine Lippen zitterten, versuchten es zurückzuhalten, sinnloserweise. Er brach in Gelächter aus. Shizuka war schnell, sie sang lauter und mit einem deutlicheren, zornigen Timbre, sie versuchte gar nicht erst, höhere Noten anzuschlagen und riskierte es, sich lächerlich zu machen, weil ihre Tonlage durch die Lautstärke noch mal abrutschte. Für einen Moment brachte sie sogar das Gleichgewicht zwischen Musik und Gesang durcheinander, bevor die Musikanten sich anpassten. Itachi hatte sich schnell wieder in der Gewalt – er war nicht impulsiv, selten war er so überrascht von sich selbst gewesen. Ein paar der Zuschauer hatten sich von ihm anstecken lassen, andere murrten. Itachi räusperte sich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne. Er verspürte keine Scham über seinen Ausbruch, dieses Stück verdiente ganz Anderes als Gelächter. Er war lediglich verwundert. Shizuka starrte ihn an. Ihre Lippen schlossen sich eben nach dem Abschluss ihrer Strophe, und Genkuro, der verwandelte Fuchsgeist, übernahm. Shizukas Arme führten mechanische Gesten, als sie tanzte, doch ihr Blick richtete sich auf die Zuschauerplätze. Es war ein so unverhohlen direkter Blick, wie er nur von einem Mann kommen konnte. Wenn Itachi es vorher lächerlich gefunden hatte, dass eine Dame ihr Duett nicht mit einer derart tiefen Stimme singen konnte, so war es nicht mehr zum Lachen, von einem halben Ausländer in dieser weibischen Aufmachung angestarrt zu werden. Itachi sah als Erster wieder weg. Die Szene wechselte, und Shizuka verschwand mit ihrem Begleiter. Itachi war unfreiwillig erleichtert. Er war nicht eingeschüchtert gewesen, er war zu sehr daran gewöhnt, von sich aus kleinbeizugeben. Was er gespürt hatte, war sengend und ehrfurchtgebietend gewesen, und er konnte nicht mal darüber lachen. Da Itachi die Handlung kannte, wusste er, dass Shizuka in diesem Akt noch auftauchen würde, das nächste Mal, wenn sie mit ihrem Geliebten wiedervereint wurde. Eine potenziell obszöne Szene, die er so oder so unangenehm gefunden hätte. Jetzt stand er auf. Keiner der Schauspieler nahm Notiz davon, es war Gang und Gäbe, dass jemand im Publikum mitten in der Vorstellung kam oder ging, aus den verschiedensten Gründen. Die warme, frische Abendluft draußen erschien Itachi verlockend, und er verließ den Zuschauerraum mit raschen Schritten, um niemandem die Sicht zu verdecken. Er fühlte sich erschlagen und müde, noch immer hörte er die dumpfen, präzisen Trommelschläge. Als er auf sein Pferd stieg, wurde ihm bewusst, dass er sich immer noch keine Meinung zurechtgelegt hatte. Es verstrichen heiße, arbeitsintensive Sommertage. Selbst, wenn Itachi das Stück in seiner Gänze hätte sehen wollen, hätte er dafür keine Energie übrig gehabt. Fast täglich gab es Razzien, weil die Stadt allmählich aus den Nähten platzten – Obon, das traditionelle, dreitägige Totenfest stand an, und Edo wurde praktisch mit Heimkehrern, Neugierigen, Händlern und Gesindel überschwemmt. Gewalttätige Ausschreitungen und Schmuggel warfen ihre Schatten voraus, dabei fand das Fest erst in zehn Tagen statt. Itachi wäre überrascht, wenn er bis dann irgendwann dienstfrei hatte, von der Feierlichkeit selbst ganz abgesehen. Es war Zufall, dass er das Theaterviertel wiedersah. Jetzt, um die Mittagszeit herum, liefen kaum Vorstellungen, weil es in den Gebäuden einfach zu heiß war. Man konnte allenfalls Karten kaufen, und große, farbige Schriftzüge warben für die großen Stücke, die, soweit es den Eignern möglich war, draußen stattfanden. Itachi wusste, dass viele Adlige sich Schauspielertruppen mieten, ob für ihre Villen, Lustboote oder tatsächlich für eine private Vorstellung. Noch mehr illegale Prostitution, doch das Problem war nicht neu. Selbst die Schauspieler, die es nicht nötig hatten, verkauften sich, obwohl das vom Regime nur im außerstädtischen Vergnügungsviertel gestattet war. Was diese Menschen bewegte, war oft Gier, vor allem aber der Wunsch nach einem Gönner, der sie aus diesem Dreck herausholte. Die Zeit lief schließlich. Itachi dachte nicht darüber nach. Er nahm diese Route, weil um diese Zeit wenig hier los war, selbst die Kuppler legten eine Pause ein und ließen ihn unbehelligt, die wenigen Passanten schlurften mit gesenkten Köpfen vorbei, damit die Sonne weniger auf sie herab brannte. Itachi würde das Polizeihauptquartier somit schneller erreichen und konnte die nächste Patrouille antreten. Beiläufig sah er nach links, hustete in seine hohle Hand, weil er den Straßenstaub eingeatmet hatte, der mittlerweile überall an ihm klebte und alles stumpf machte, ob das nun seine Klinge war oder sein Haar. Neben ihm streckte sich das Theater in den Himmel, dass er besucht hatte, der klingende Name lautete auf Enbujo, also nicht mehr als ‚Theater‘ selbst. Kein Wunder, dass die Leitung unbedingt von sich reden machen wollte. Itachi ging weiter, doch er zuckte zusammen, als ihn etwas am Oberarm traf. Instinktiv hob er diesen Arm, um sich zu schützen, die andere Hand fuhr zum Griff seines Katana. Ein blanker Kirschkern landete auf der Straße neben ihm, und Itachi sah nach oben. Nur ein Balkon des Enbujo war besetzt. Diese schmalen, mit einem niedrigen Geländer versehenen Vorschübe waren weder zur Zierde noch zum Komfort gedacht – meist saßen dort die jungen Schauspieler, deren Gunst man sich erkaufen konnte. Es unterschied sich also kaum von den ‚Vogelkäfigen‘ der Kurtisanen im Vergnügungsviertel, nur saßen diese Vögel auf Stangen. Natürlich flogen sie trotzdem nicht. Gozen Shizuka trotzte der Schwerkraft auf ihrem Balkon. Itachi erkannte, dass er den Onnagata immer noch in seiner Frauenrolle wahrnahm, dabei war der Schauspieler nur unzureichend dafür zurechtgemacht – das schwarze Haar war nachlässig frisiert und lustlos aufgesteckt, der Gesichtspuder war von Schweiß und zu viel Mimik verwischt. Der dünne, taubenblaue Yukata war um die Schultern gelockert; um luftiger zu sein, natürlich, aber es wirkte genauso lockend wie die damenhaft zur Seite gelegten, gepflegten Beine, die unter dem Stoff hervorschauten. Der Onnagata hatte einen Ellbogen lässig auf dem seitlichen Geländer abgestützt, die andere Hand winkte Itachi mit einer trägen Bewegung heran. Gleichzeitig schlüpfte die dunkelrote Zunge lasziv zwischen den paradoxerweise perfekt bemalten, nicht weniger roten Lippen hervor. Geübt balancierte der Schauspieler von Shizuka einen weiteren Kirschkern auf der Zunge und ließ ihn geziert in seine hohle Hand fallen. Er wog den Stein, als wollte er überprüfen, ob er noch mal werfen sollte. Itachi war der Aufforderung nachgekommen, wie er es immer tat – er nahm Befehle vor allem an, wenn sie wortlos waren, wenn er herangewinkt wurde, reagierte er automatisch. Und die Aussicht, mit einem weiteren Kirschkern beworfen zu werden, reizte ihn auch nicht. Gozen Shizuka zielte nämlich offenbar gut. Das Winken hielt nicht an, bis Itachi beinahe unter dem Balkon stand, vor seinen schmutzigen Sandalen zog sich der mickrige Schatten entlang, die Sonne stand fast im Zenit. Er musste den Kopf in den Nacken legen. Der Onnagata ließ den Kirschkern achtlos fallen, nachdem er das Interesse daran verloren hatte, und berührte selbstvergessen seinen Nacken. Die Finger glitten gedankenvoll über die helle Haut, und er beobachtete Itachi unter schweren Lidern hervor. „Oi, Polizist.“ Der Schauspieler lächelte andeutungsweise, ohne die Hand aus dem Nacken zu nehmen. Bei einer Frau wurde der Nacken als erotischster Körperteil wahrgenommen, der durch den Kimono besonders betont wurde. Itachi wusste, dass es kein Zufall war, dass Shizuka ausgerechnet dorthin fasste. Er begann zu blinzeln, ungeduldig und sehnsüchtig zugleich. „Ich zeige dir was Schönes.“ Das Lächeln wurde breiter und zog winzige Risse in die Maske aus Reispuder, der kehlige, tiefe Tonfall war unmissverständlich. Itachi war bewusst, dass sie jeder hier sehen konnte, dennoch bewegte er sich nicht, starrte wie hypnotisiert auf den kleinen Ausschnitt des Nackens, den der Yukata preisgab. Er konnte nicht wirklich so würdelos sein, auf der offenen Straße… O doch, er konnte. Der Onnagata fuhr sich mit einer fließenden Bewegung durch das Haar, über den Scheitel, als fantasierte er von einem unsichtbaren Liebhaber. Seine Finger gruben sich in das glatte, schwarze Haar… und rissen es ab. Itachi wich unwillkürlich zurück, als die schwarze Perücke sich widerstandslos löste und dafür eine Kaskade gelben Haars freisetzte. Es schimmerte blendend in der Mittagssonne wie flüssiger Honig, wie eine Lawine aus glühendem Gold, sodass Itachi für einen Moment sogar seine instinktive Abneigung gegen Ausländer vergaß. Natürlich hellte das Haar den Gesamteindruck zu sehr auf, nicht zu sprechen von der grotesken Färbung. Fast erschien es wie etwas Verbotenes, sich auch nur vorzustellen, Gozen Shizuka könnte so aussehen, so… unrein. Shizuka beugte sich vor, wobei eine Handvoll ihres verboten-gelben Haars über die Schulter rutschte. Dennoch hielt Itachi den Atem an. Der Onnagata spitzte verheißungsvoll die Lippen, ohne die rote Bemalung dabei zu beschädigen. Die Perücke glitt aus seinen Fingern, als wäre es nur ein Feudel. Der Yukata gehorchte der Schwerkraft und rutschte ein wenig auf, die Brustbeine zogen sich geometrisch-gerade unter der rosigen Haut. Es platschte dumpf, und Itachi erwachte. Voller Ekel registrierte er etwas Nasses auf seiner Schulter, zäher Speichel, der langsam in den Stoff einzog. Gleichzeitig hörte er das vulgäre Lachen des Schauspielers über sich, der auf ihn herunter gespuckt hatte. Und er hatte selbst noch gedacht, dass Shizuka gut zielte. Itachi wollte sich nicht demütigen lassen, er zwang sich, ein weiteres Mal hochzublicken, obwohl sein Nacken von der ständigen Anspannung schmerzte. Seine Augen begannen von der hellen Sonne zu Tränen, die sich in den gelben Haaren fing, ein absurder Gedanke kam ihm – dieser Mann dort oben könnte selbst die Sonnengöttin Amaterasu verkörpern, nicht, weil er es wert war, sondern weil er dieses spiegelnde Haar besaß. Wie der heilige Spiegel Yata no Kagami, mit dem die Göttin einst aus ihrer Höhle gelockt worden war, in dem sie sich gespiegelt hatte. Es war das zweite Mal, dass Itachi diesen verwirrenden Ansturm von ungeordneten, teils poetischen, teils historischen und teils nur noch diffusen Gedanken erlebte, und wieder wurde er von diesem schamlosen Schauspieler ausgelöst. Es war absonderlich, anwidernd, erniedrigend, und noch erniedrigender war es, dass allein die räumliche Distanz zwischen ihnen reichte, um Itachi den Eindruck zu vermitteln, er sei unterlegen. Der Onnagata lehnte sich wieder zurück, seine Augen, blau wie Lapislazuli, funkelten vor Genugtuung und Rachelust. Letzteres hatte er gerade zweifellos befriedigt, indem er Itachi ebenso auslachte, wie dieser ihn ausgelacht hatte. Was er getan hätte, wenn er gekonnt hätte? Itachi war sich nicht sicher. In dem Moment, als der Speichel seine Kleidung durchdrungen hatte und auf seine Haut traf, scheußlich warm und feucht, hätte er am liebsten das Schwert gegen den Onnagata gezogen. Es war nur ein kurzer Lidschlag, bevor die Vernunft zurückkehrte, er besaß nicht die Immunität eines hochrangigen Samurai, der töten konnte, wen er wollte. Einen Schauspieler, der in der sozialen Kaste so weit unter ihm war. So weit. Er war so weit entfernt, so verschwindend und dabei noch über ihm. Itachi ging weiter, aus dem Stand, ohne dem anderen die neuerliche Genugtuung zu geben und sich die Schulter abzuwischen. Sein Kopf klärte sich nur langsam wieder, er fragte sich, was das für ein Wahnsinn war, dieses zweifellos nicht gebleichte Haar wachsen zu lassen – professionelle Onnagata schoren sich meist sowieso das Haupthaar, damit sie ihre Perücken problemlos tragen konnten, von dieser skandalösen Farbe mal ganz abgesehen. Während das Bohren eines blauen Blicks langsam auf seinem Rücken verblich, kam Itachi in den Sinn, woher der Schauspieler überhaupt hatte, dass er ein Polizist war. Und dann, einen Moment zu lang, dachte er wieder an die Kaskade des gelben Haars und Shizukas schamloses, tiefes Lachen. „Though I gaze at it, I shall feel no pleasure – this clear glass which no longer reflects the features of my beloved.” - “In vain do I seek to hasten on my journey – I who have been accustomed to travel with serenity.” (Rezitativer Gedicht-Dialog von Shizuka und Yoshitsune) Kapitel 2: Zweiter Teil ----------------------- Ich war der Bach, der talwärts floss, Du aber warst das Meer. (Subway to Sally, „Angelus“) Sein Herr hatte Angst. Itachi hatte den bitteren, beißenden Geruch in der Nase, wann immer er an den älteren Mann herantrat, er spürte den kalten Schweiß, ohne ihn zu berühren, auch die gehetzten Blicke, die der Magistrat gelegentlich um sich warf, wenn er aus den Gedanken schreckte und sich erst wieder orientieren musste. Nun gut, Itachi hätte blind sein müssen, um es nicht zu bemerken. Denn es schlug sich nicht nur in seiner Wahrnehmung nieder, sondern vor allem in seinen Arbeitszeiten. Er hatte vorgehabt, während des Fests seine Familie auf dem Land zu besuchen, doch das stellte sich als unmöglich heraus. Itachi fuhr sich mit der Oberseite seines Handgelenks über die Augen; Schweiß brannte in seinen Augen. Es war die Bewährungsprobe, in der er sich gegen seine älteren Konkurrenten durchsetzte, weil er zäher war und körperliche wie geistige Strapazen besser bewältigen konnte. Es war die Chance für seine Karriere, auf die er gewartet hatte. Und trotzdem war der Gedanke zweidimensional und hohl, als die Sänfte des Magistraten sich nach dem kurzen Stau wieder in Bewegung setzte und Itachi sein bereits missmutiges Pferd antrieb, um zu folgen. In der Hitze des frühen Abends und seiner Müdigkeit nahm alles einen unwirklichen Schimmer an, angefangen bei den aufgestellten, pelzigen Ohren, zwischen denen er hindurchstarrte. Itachi genoss keine Sonderstellung unter den Yoriki, sie waren alle ähnlich erschöpft. Ihr Herr verzichtete auf keinen einzigen, der letzte Beweis seiner Angst. Sie schien ihn zu beherrschen, dennoch konnte Itachi bisher nicht entdecken, dass sich an der Arbeit des Magistraten etwas änderte. Vielleicht hatte er gerade deswegen diese Angst. O-Bon wurde momentan an vielen Orten in Edo begangen. Nach dem Besuch beim Tempel zerstreuten sich viele der höhergestellten Menschen zu privaten Feiern, die Stadt strotzte vor traditionellem Tongeschirr. Nicht wenige flohen einfach aus der Stadt und ihrer Hitze, und Itachi sehnte sich danach, es ihnen gleichzutun. Es ziemte sich, die Gräber seiner Ahnen am eigenen Geburtsort zu ehren. Aber der Abend sah heute etwas Anderes für ihn vor. Es war der letzte Tag des Obon, und als solches würde man heute Laternen schwimmen lassen und der Verstorbenen gedenken. Die Nähe zum Sumida, dem großen Fluss durch Edo, brachte vielleicht etwas Kühlung, vor allem jedoch Mücken und den Geruch von fauligem Schlamm. Und als wäre das nicht genug, entzog der Magistrat sich dem Pöbel am Ufer, indem er sein eigenes Boot aussetzen ließ. Itachi hasste Boote, und mochte die Bucht an einem Sommerabend noch so malerisch sein. In erster Linie musste man darauf achten, dass man nicht mit anderen Booten zusammenstieß – das war zwar nicht seine Aufgabe, dafür machte es ihn nervös, und er hatte ständig das Gefühl, ins Wasser fallen zu können. Das Geschaukel schnürte ihm den Magen zu. Noch waren sie nicht da, doch sie näherten sich der Anlegestelle, von der aus in die Bucht hinausgerudert wurde. Itachi spürte die Anspannung seines Herrn so drückend wie die Hitze, und er kam ihm kleiner vor, als er der Sänfte entstieg. Menschen, die ihn kannten, nickten respektvoll und machten Platz, wer das nicht tat, wurde beiseitegeschoben. Voller Unbehagen betrachtete Itachi das Boot. Man nannte es Yakatabune, es war länglich und lag tief im Wasser, sein flacher Bau machte es schnittig und komfortabel zugleich. Manche von ihnen hatten auch einen Baldachin aus zarter Seide, damit man gleichzeitig den Himmel betrachten und etwas Kühlung genießen konnte. Funaasobi, das Bootfahren, war zu dieser Jahreszeit verständlicherweise beliebt, doch Itachi war froh, dass sein Herr bisher selten seine Amtsstube verließ, um sich hierher zu wagen. Auf so ein friedliches Ereignis nahm man für gewöhnlich keine umfangreiche bewaffnete Leibgarde mit, ein Trupp von zehn Männern entsprach für einen Magistraten nicht dem Normalen – Itachi hatte das nicht gewusst, aber er stellte es bald fest. Umso unwohler war ihm, als das Boot sich tiefer ins Wasser legte und unter seinen Füßen bebte, sobald es abgestoßen wurde. Verstohlen betrachtete er seinen Herrn. Es schien nicht, als genieße er seine Vergnügungsfahrt, er war wortkarg und angespannt und starrte in das dunkle Wasser. Er unterhielt sich nicht mit seinen Männern und nutzte die Zeit auch nicht, um in salbungsvollem Tonfall Gedichte zu rezitieren. Zumindest das vermisste Itachi nicht. Seine Hand hatte sich in den Stoff über seinem Oberschenkel gegraben, als er gegen den Wunsch ankämpfte, sich am Bootsrand festzuklammern. Ihm war schwindlig, auch wenn die Hitze langsam nachließ, so war er doch weder zum Ausruhen noch zum Essen gekommen, und sein Kreislauf schien allmählich zu kippen. Verbissen starrte er auf den Rücken seines Vordermannes – er würde sich keine Schwäche erlauben. Die Laternen wurden entzündet, sobald die Sonne unterzugehen begann. Itachi war äußerst erleichtert, dass die Aufgabe nicht ihm zufiel, er wollte sich auf diesem schwankenden Untergrund nicht aufrichten und die bunten Laternen abnehmen, um sie dann wieder aufzuhängen. Alles um sie herum lebte, nur das Boot des Magistraten trieb lustlos dahin. Wortfetzen, leise Musik und verschiedenste Gerüche drangen nur flüchtig herüber und vermittelte Itachi das Gefühl, als trübte sich sein Bewusstsein. Er atmete absichtlich flach, um sicherzustellen, dass er nicht einschlief, doch er verfiel lediglich in ein leichtes Dämmern, als habe er sich mit der Unruhe seines Herrn angesteckt. Die anderen Yoriki schienen das nicht zu empfinden. Sie waren alle über dreißig. Das Boot änderte seinen Kurs und trieb weiter ab, zog gleich mit ein paar anderen. Itachi erhaschte den ein oder anderen Blick auf Männer mit ihren Konkubinen und Ehefrauen. Manche Boote gehörten dem Vergnügungsviertel und stellten die Kurtisanen auf dem Wasser aus. Viele von ihnen waren so hübsch, dass Itachi angestrengt auf die Holzbohlen des Bootes starrte. Es bremste, und Itachis Magen machte einen Satz. Ein anderes Yakatabune versperrte ihnen den Weg, und das scheinbar nicht zufällig, denn der Magistrat nickte steif, seine mageren Schultern spannten sich noch mehr an. Er schien lächeln zu wollen und entbot höflich seinen Gruß. Das andere Boot hatte grüne Laternen. Sie schaukelten in der leichten Brise und ließen das Yakatabune kühl wirken, gleichzeitig warf es einen ungesunden Schimmer auf die Gesichter der Menschen. Es sei denn, man wandte den Laternen den Rücken zu, wie der Mann, der den Gruß des Magistraten erwiderte. Er stand aufrecht, ohne auf dem unsicheren Untergrund zu schwanken. Die Arme waren verschränkt, und Itachi war überrascht, dass er leise sprach – er hatte bei dieser eindeutigen Haltung das Gegenteil erwartet. Obwohl Itachi sich bemühte, seinen trägen Geist noch etwas zu konzentrieren, verstand er von der Unterhaltung nur Bruchstücke. Und keiner von beiden schien sein eigenes Boot verlassen zu wollen. Die Stimmen der Männer schlugen gegeneinander. Die würdige Stimme des Magistraten, steif vor Anspannung und dennoch standhaft erhob sich gegen die glatte, spöttische Stimme, die so wenig schwankte wie der Körper, der sie erzeugte. Itachi lehnte sich etwas vor und lauschte intensiver, ohne das allzu offensichtlich zu machen. Darin war er nicht geübt. „… tun, was getan werden muss.“ „… noch viel zu früh. Unser Land kann das jetzt nicht-“ „Das ist mir durchaus klar“, unterbrach die jüngere Stimme ungehalten und hob ihre Lautstärke gereizt an. Sie sprach klar und deutlich. „Das ist mir durchaus klar“, wiederholte sie ruhiger, aber nur auf eine andere, beunruhigendere Art gereizt, „und es geht mir auch nicht um den Erfolg an sich, es geht um die Veränderung in den Köpfen. Eine Vorbereitung, ein Beginn.“ Der Magistrat brummte etwas Abfälliges. Revolutionäre waren an sich nichts Gefährliches, es gab sie immer wieder. Doch dieses Mal lag der Fokus nicht auf dem Gelingen? Wie lächerlich das schon klang. Ein leichter Wind kräuselte das Wasser und ließ kleine Wellen gegen das Boot schwappen. Itachi beobachtete Menschen, die fasziniert die schwarze Brühe bestaunten, die sie bei Tageslicht wohl kaum ähnlich imposant gefunden hätten. Die Dunkelheit machte alles schön und begehrenswert, so reizvoll, sie wurde mit allem verglichen, mit dunklen Augen oder dunklem Haar, seidig weich, in dem man versank… Aber Itachi sah nur dieses Gelb. Diese obszöne Farbe, die im grünen Licht der Laternen ein wenig wirkte wie Peridot. Entgegen der vor allem bei Samurai verbreiteten Sitte war das Haar nicht geölt und schimmerte deshalb wie zum Trotz. Für einen lächerlichen Moment wollte Itachi sich ducken; seine Finger gruben sich wieder in seinen Oberschenkel. Der Schauspieler hatte ihn nicht bemerkt, er zollte seiner Umgebung offenbar auch keine Beachtung. Er trug lediglich einen schlichten Jimbei, ein lockeres Oberteil mit einer zugehörigen, gleichfarbigen Hose. Sein gelbes Haar war nachlässig auf seinem Rücken zusammengebunden. Er hatte die Wange aufgestützt und starrte unverhohlen gelangweilt vor sich hin. Eine Hand hatte er über den Bootsrand gehängt, und die Finger trommelten gegen das Holz. Den leisen Unterhaltungen um sich herum schenkte er keine Aufmerksamkeit oder sie ihm nicht. Oder beides. War das die Veränderung, die der Herr des grünen Bootes wollte? Itachi löste sich vorsichtig aus seiner Erstarrung, in die er sich freiwillig begeben hatte, seit sie auf dieses dämliche Ding gestiegen waren. Er streckte den Arm aus, als er sich sicher war, dass ihm keiner der anderen Yoriki zusah, seine Finger tauchten in kaltes, modriges Wasser, und er erschauderte. Itachi zögerte einen Moment. Dann spritzte er das Wasser auf den Schauspieler. Er hätte seine Hand schnell wieder hochziehen und an seiner Hose trocknen können, doch er tat es nicht, herausfordernd vielleicht. Der andere verzog angewidert das Gesicht und blickte als Erstes nach oben, in den Baldachin. Itachi wusste nicht, ob er enttäuscht sein sollte, dass diese Retourkutsche so leicht als Zufall hätte durchgehen können, und stellte fest, dass es ihm egal war. Der Mann mit dem gelben Haar rieb sich die Schulter, wo ihn das Wasser getroffen hatte, fast gleichzeitig verlagerte sein Blick sich auf Itachi. Sie maßen einander schweigend, während zwischen ihnen der Sumida aufklaffte. Der Magistrat gab den Befehl, das Boot wieder in Bewegung zu setzen, und sie drifteten auseinander. Itachi machte das nichts aus. Es war dunkel, und er behielt das blasse Oval im Auge, das ihm zulächelte. Sie trafen sich danach manchmal. Nicht, dass sie die Zeit dazu hatten, eigentlich. Und keiner von ihnen genoss den Luxus, sich die Zeit zu nehmen, wie man es angeblich tun sollte. Aber man musste sie nur leben, dann reichte es. Itachi sah das Enbujo von innen, über die Zuschauerräume hinaus. Es war kein schlechtes Etablissement. Itachi stellte fest, dass er die Garderobe mochte, die verschiedenen Kostüme und Bühnenbilder. Sie hatte ein Hinterzimmer, in dem man ungestört war, die Luft war abgestanden, aber nicht staubig. Hier war der Ort, an dem Itachi einiges lernte. Einen Namen zum Beispiel. Die meisten Schauspieler hatten Künstlernamen und unterschieden sich so noch weniger von den teuren Kurtisanen des Vergnügungsviertels. Mit der Ausnahme, dass ihre Namen weniger blumig waren, dafür wusste man nicht, ob sie zweideutig belegt waren oder nicht. Deidara gab offenbar nichts auf seinen Namen und schien sich für die Bedeutungen auch nicht zu interessieren, Japanisch war anscheinend nicht die Sprache, die er wirklich als seine erachtete. Itachi wusste nicht, ob er gekränkt oder belustigt sein sollte, dass der Schauspieler den kunstvollen Versen, die aufzusagen sein Beruf war, so wenig Achtung entgegenbrachte. Itachi zollte unterdessen dem religiösen Verständnis von einem einzigen Gott wenig Interesse, und Deidara fand es vermessen, einen Kaiser als direkten Abkommen eines Gottes zu betrachten. Sie gerieten darüber nicht in Streit – über andere Dinge, aber nicht über Religion. Es lag vielleicht daran, dass keiner von beiden entgegenkommen oder zurückweichen würde. Itachi lernte das ein oder andere über das Theater und die onnagata, über Shakespeare (dieses Wort entlockte ihm immer wieder ein verständnisloses Stirnrunzeln) und er kam überein, dass nur Europäer sich manche Dinge ausdenken konnten. Bei solchen Gelegenheiten lernte Itachi etwas darüber, Schweigen zu erzwingen. Eine ganz und gar fremdartige Sitte, seinen Mund auf den des anderen zu pressen. Es war unhygienisch und verschmierte im Regelfall Deidaras Schminke auf ihm – wenn Itachi sich geschmeichelt fühlen sollte, dass die Zeit zum Abschminken nicht da war, machte das folgende ungehobelte Grinsen das gleich zunichte. Aber wenn er die Schminke von seiner Haut gerieben und Deidaras Grinsen mit einem finsteren Blick abgestraft hatte, kribbelten seine Lippen aufgeregt, und er fühlte sich zittrig und erhoben, als hätte er die ganze Zeit auf einem schwankenden Boot gestanden und endlich wieder festen Boden erreicht, und gleichzeitig einen Kampf gewonnen. Es war das sonderbarste Gefühl. Die Schminke eines Kabuki-Schauspielers musste manchmal tagelang halten, doch Shizuka gehörte nicht zu den Charakteren, die aufwendige Bemalung trugen, sie sollte vor allem schön sein. Als adlige Geliebte hatte sie vor allem aufreizend aufzutreten und wurde entsprechend geschminkt, und Itachi wusste die Hervorhebung zu schätzen, gleichzeitig stellte er fest, dass es ihm besser gefiel, wenn der Reispuder abgewaschen wurde und Deidaras Gesicht im Zwielicht nicht geisterhaft aufleuchtete. Seine normale Haut war rosiger als die der Inselbewohner, neigte aber weder zum Bartwuchs, wie man es behauptete, noch war sie unrein. Feine Härchen bedeckten die Haut vor den Ohren, und trotz ihrer skandalösen Farbe hatten die Augen eine Mandelform. Itachi fragte nicht nach Deidaras Herkunft, weil er wusste, dass dieser das als beidseitiges Einverständnis betrachtete, selbst Fragen zu stellen. Später vielleicht, später. Wenn sie sich besser kannten und des anderen trotzdem nicht überdrüssig geworden waren. Itachi hatte keine Ahnung, ob es so kommen würde. Es gab eine Menge Dinge, die ihn an Deidara störten. Zum Beispiel dass er rauchte oder dass er manche Tatsachen schon ablehnte, ohne dass er erlaubte, dass sie erklärt wurden. Trotzdem schwieg er jetzt. Er war müde, noch immer pochte ein dumpfer Kopfschmerz zwischen seinen Schläfen, der ihn mahnte, seinen Wasserhaushalt besser zu regulieren. Itachi war klar, dass er zu Hause sein müsste, um die wenigen Stunden Schlaf zu würdigen, die ihm blieben. Es war ein zu heißer Sommer, und immer noch meinte er, die Angst seines Herrn zu spüren. Nur in diesem halbdunklen Hinterzimmer schien sie ihn nicht zu erreichen, und er rührte sich nicht. Itachi hatte sich mit dem Rücken gegen die kahle Wand gelehnt. Ihm gegenüber reihten sich Kostüme auf, die derzeit nicht benötigt wurden, manche von ihnen vom Alter gezeichnet, andere wiederum noch verblüffend neu und frisch. Bis vorhin hatte er auf türkisfarbene Anemonen gestarrt, und nun döste er vor sich hin. Sein Haar klebte im Nacken, verschwitzt und etwas aus der Ordnung. „Wozu gehört der Kimono?“, fragte er leise und deutete auf das türkisfarbene Kostüm. Es war etwas aus der Mode gekommen mit seinen mehreren Schichten von Stoff, und Deidara bedachte es nur mit einem flüchtigen Blick. Das Gewicht seines Kopfes bewegte sich kaum. „Zu einem Nebencharakter von ‚Selbstmord im Sumida‘… Oder so“, erwiderte er, und Itachi konnte sich denken, dass das Stück in Wirklichkeit einen klingenderen Titel hatte. „Ich mag es nicht“, fügte der Mann mit dem gelben Haar mit einem leichten Stirnrunzeln hinzu, und sein Blick huschte Itachis scharf geschnittene Züge hinauf. Itachi hätte ihm sagen können, dass ihm allmählich die überkreuzten Beine einschliefen, vor allem, da Deidara den Kopf auf seinen Oberschenkel gebettet hatte. Aber er sagte nichts. Itachi schwieg überhaupt, doch das machte Deidara nichts aus. Seine Stimme schien das kleine Hinterzimmer zu füllen. „Es hat überhaupt keinen Sinn – zusammen Selbstmord zu begehen, weil man meint, dass man in dieser Welt kein Glück findet. Ich dachte, ihr glaubt nicht an das Jenseits.“ Itachi spielte mit ein paar Spitzen des gelben Haars. Es war weich und nachgiebig. Deidara konnte auch so sein, wenn er wollte, sanft und sinnlich, wenn es ihm gefiel. „Wir nennen es anders“, entgegnete Itachi ruhig. Er gewöhnte sich gar nicht erst an diese fremden Worte. „Meinetwegen. Die Zeit und den Aufwand, der da investiert wird, könnte auch gleich dazu benutzt werden, durchzubrennen, hm.“ Es war eine Gewohnheit von Deidara, ein Satzanhängsel zu benutzen, wenn er sich über etwas ärgerte. Seine schauspielerische Natur unterdrückte das meist, nur manchmal fand es sich wieder und verriet, dass er nicht zu genau auf seine Worte achtete. Itachi glaubte nicht, dass er der richtige Ansprechpartner für romantische Dramen war, er war noch nie auf eine unerfüllbare Liebe getroffen. „Das ist gegen das Schicksal.“ Deidara funkelte ihn ungehalten an. „Das ist hier kein verfluchtes Shakespeare-Theater!“ Itachi erwiderte den Blick leer. Er wusste nicht, was das war, noch interessierte es ihn. Deidara schnaufte und wälzte sich auf die Seite, sodass Itachi das Arbeiten seiner Kiefer an seinem Oberschenkel spürte, wenn der Schauspieler sprach. „Heute gehst du mir auf die Nerven, Polizist, hm“, stellte er missmutig fest. Er versuchte nicht, gefällig zu sein, und doch stritten sie selten, als wüssten sie, dass ihnen dazu die Zeit fehlte. ‚Polizist‘ war der einzige Name, den Deidara benutzte. Itachi wollte sich nicht von einem Fremden mit dem Vornamen ansprechen lassen, und Deidara, der keine Zugehörigkeit empfand, nannte ihm nur diese seltsame Zusammenstellung. Es war so unpersönlich, dass es Itachi schon gekünstelt vorkam. Aber Deidara sagte, dass man einem Schauspieler, den man begehrte – noch etwas Schamloses an ihm – allerhand sonderbare Namen verpasste und er keinen einzigen davon mehr ertragen konnte. „Selbstmord aus Liebe ist längst verboten.“ Das Thema war eigentlich schon längst vorbei, dennoch griff Itachi es auf. „Wie kann man so was verbieten? Tot ist tot.“ „Manchmal klappt es nicht.“ „Und was macht ihr dann?“ „Mein Herr verurteilt den Überlebenden.“ „Und woher weißt du, dass sich jemand umbringen wollte, nur, weil du ihn aus dem Wasser gefischt hast?“ Itachi erkannte das verschmitzte Funkeln von schwarzem Humor. Deidara hatte durchaus etwas übrig für Makaberes, womöglich wurde man so, wenn man viel gesehen hatte. „Die Menschen, die miteinander Selbstmord begehen, fesseln sich.“ „Aneinander?“ „Manchmal.“ „Dann wachst du am Ufer auf und als Erstes blickst du ins Gesicht einer Leiche?“ Itachi verdrehte die Augen. „Auch das.“ „Dann blickst du wirklich ins aufgedunsene, weiße Gesicht deiner Geliebten und weißt, dass du nicht tot bist?“ Itachi antwortete nicht. Er fand es deutlich zu morbid, darüber zu sprechen, zumal er wusste, dass Deidara Recht hatte. Und er verzichtete darauf, den anderen darauf hinzuweisen, dass Yoriki für gewöhnlich nicht solche Entdeckungen machten. Kinder schon. Itachi erinnerte sich nur verschwommen daran, und er würde es nicht heraufbeschwören. Das Gewicht von Deidaras Kopf verschwand von seinem Bein, der Schauspieler schmunzelte verwegen über Itachis verstockte Miene. „Sei nicht so. Es ist interessanter als das, was ich mir sonst anhöre.“ „Es ist widerlich“, beharrte Itachi düster und versuchte zu ignorieren, wie Deidaras Hand sich in seinen Nacken schlich. Er hatte gepflegte Nägel in einem sehr hübschen Ton von Rosa. Ob sie wirklich so besonders waren oder Itachi nur so vorkamen, wusste er nicht. „Ach? Hat dir schon mal jemand seinen abgeschnittenen Finger geschenkt?“, konterte Deidara unbekümmert. Und als der angeekelte Ausdruck sich vertiefte, fügte er in derselben Manier hinzu: „Ich habe eine ganze Sammlung. Denn verbrennen darf ich sie natürlich nicht.“ Fingernägel oder ganze Finger als Beweis der Verehrung waren nicht ungewöhnlich, auch außerhalb des Schauspielermilieus. Und Itachi wusste, dass er nicht widersprechen konnte, er beugte sich vor und überwand die geringe Distanz zwischen ihnen. Seine Lippen drückten sich leicht und beständig gegen Deidaras, und wie jedes Mal war er überrascht, dass sie nicht feucht waren. Ein Hauch von salzigem Schweiß haftete ihnen an, und auch ein letzter Rest von Lippenrot. Es störte ihn nicht. Hier war der einzige Ort der Welt, an dem er sich etwas so Frivoles erlaubte. Deidara lächelte, das Verziehen seiner Lippen ließ einen kühlen Schauer über Itachis Rücken rinnen, so fremd in dem stickig-warmen Raum. Itachis Taktik war zu offensichtlich. „Wenn du jemals stirbst, bringe ich mich um, hm.“ Itachi wusste, dass es eine Lüge war - Schauspieler logen aus den verschiedensten Gründen, es war ihre Pflicht, ihre Begabung und ihre Ausbildung zu nutzen, um gefällig zu sein. Er glaubte es keinen Moment, ging so weit, diesen fatalistisch-romantischen Gedanken lächerlich zu finden. Er war weder der Erste, der das gesagt bekommen würde, noch war er der Letzte. Deidara hielt nicht viel von Worten, und wenn sein ungeschminktes Gesicht etwas Ehrliches vermittelte, so wurde das von dem tanzenden Schimmer in seinen Augen Lügen gestraft. Aber er lächelte trotzdem. Es war genauso eine Fantasie wie die Küsse, die Itachi zu sehr genießen gelernt hatte. „Ich sollte gehen“, stellte er fest und erhob sich. Deidara streckte ihm wortlos die Hand hin, und Itachi zog ihn hoch. Im Gegensatz zu ihm hatte der Schauspieler nicht die Hände eines Fechters, doch etwas an ihnen war zu kantig, um sie weiblich wirken zu lassen. Und darüber hinaus waren sie viel kräftiger, als man es ihnen zutraute. Deidara klopfte sich überflüssigerweise seine Hose ab, während Itachi seine Schwerter wieder einsteckte. Aus irgendeinem Grund, oder einfach nur so, fasste Deidara sie nicht an. Dabei sollte es ihm gefallen, wenn Blut über sie geflossen war. Deidara lehnte sich gegen die Wand, einen launischen Ausdruck auf dem hellen Gesicht, der einen Umschwung seines Verhaltens ankündigte. Nur dass es keine Laune war, für einen Moment wirkte er bestürzend ernst. „Noch was.“ Sein Satzanhängsel war wieder verschwunden, er schien seine Worte sorgfältig zu erwägen, während er Itachis Haarband aufhob und es benutzte, um das schwarze Haar wieder zusammenzubinden. Seine Finger bewegten sich geschickt und ohne unnötige Bewegungen und streiften absichtlich warm Itachis Wangen. „Du bekommst keinen meiner Finger“, brummte Itachi in dem nicht ganz gelungenen Versuch, einen Scherz zu machen. Das tat er sowieso nicht oft. Deidara schnaubte und zog das Band fest, wahrscheinlich hatte er irgendeine lächerliche Schleife gebunden. Das sah ihm ähnlich. „Du dienst dem falschen Herrn, hm“, fauchte Deidara in einem schärferen Tonfall, als er es anscheinend beabsichtigt hatte. Seine Miene war düster, beruhigte sich allerdings ebenso schnell wieder, als er die Arme verschränkte. „Dann werde ich sterben.“ Itachis Gleichmut schien Deidara wieder aufzubringen, aber er sagte nichts mehr, sondern schloss seine elend blauen Augen und wartete, dass er allein war. Kapitel 3: Dritter Teil ----------------------- Wenn du die Wahrheit hören willst, werd‘ ich sie dir versüßen, werd‘ jeden Zweifel, den du hast mit meinem Mund verschließen. (Subway to Sally, „Niemals“) Er hätte sein Schwert ziehen sollen. Es war nicht, als wäre alles zu schnell gegangen. Itachi hatte seine Zeit gehabt, als die Türen der Schreibstube aufgestoßen worden war, der wortlose Aufschrei seines Herrn hatte ihn aufgeschreckt. Sie waren hier eingedrungen, als bereits Blut über die Matten aus Reisstroh floss. In der zähen, feuchten Sommerluft breitete der süßliche Gestank sich schnell und erstickend aus. „Ihr seid festgenommen.“ Es bedurfte nicht vieler Worte. Entsetzen durchflutete Itachi, und er hätte dasselbe auf den Gesichtern der Männer um ihn gelesen, wenn er sie angesehen hätte. Während sie ihren Herrn anstarrten, auf seinen Befehl warteten und viel eher auf seine Beschwichtigung, sah Itachi nach draußen und sah das brillante Blau des Himmels. Das Fenster stand offen, und die Vorhänge bauschten sich träge, als klatschten sie lautlos Beifall. Der Mann, den sie getötet hatten, lag auf dem Bauch, die Arme schlaff an den Seiten. Er war ironisch nutzlos für seinen Herrn gefallen, um ihn zu beschützen, und die Männer, die ihn niedergestreckt hatten, wollten ebenfalls ihren Herrn beschützen. Und sie waren dabei erfolgreicher. Itachi hatte diese Situation schon oft erlebt, aber niemals auf der Seite der Haftbaren. In einem System wie diesem kam es wenig überraschenderweise nicht vor, dass ein derart hoher Justizbeamter wie ein Magistrat verhaftet wurde. Und doch erkannte Itachi den Sonderermittler und wusste, dass die Männer nicht für irgendjemanden gekommen waren, sondern für seinen Herrn. Es roch bitter nach Angst. Die Männer des Magistrats schienen die gesamte Luft in ihren flachen, hektischen Atemzügen aufzunehmen, bis der alte Mann schließlich seine faltige Hand hob und ihnen bedeutete, ihre Schwerter niederzulegen. Er wandte Itachi den Rücken zu, doch dieser konnte erkennen, dass sein Herr nicht zu dem Leichnam schaute, sondern irgendwo in die Ferne, vielleicht zu demselben blauen Himmel, den Itachi vorhin betrachtet hatte. Itachi entdeckte fassungslos, dass manche der Yoriki Tränen in den Augen hatten, als sie ihre Schwerter abschnallten. Bei den meisten der Schwerter handelte es sich um teure Lackarbeiten, aufwendig geschmiedete Klingen, nicht selten Erbstücke der Familie oder Geschenke zu wichtigen Ereignissen. Itachi fühlte sich unbewegt, als er seine Schwerter vor sich ablegte. Aber als sich das Hanfseil um seine beiden Handgelenke straffzog, trübte sich seine Sicht wie von selbst. Er verlor nicht nur seine Schwerter, richtig. Er verlor sein ganzes Leben. Die Luft hier hatte nichts mehr gemein mit der süßen Sommerluft, die von Dichtern so gern besungen wurde. Der Gestank von Angst war längst in den Hintergrund getreten und war zermalmt worden unter anderen Gerüchen, Schweiß, Fäulnis, menschliche Ausdünstungen, es stank nach Verzweiflung und nach Hoffnungslosigkeit. Die Fesseln hatte man ihnen gelassen. Itachi wusste, dass das nichts Gutes bedeutete, man hielt Männer in Fesseln, die ihre Ehre verloren hatten, deren Glaubwürdigkeit und Wert erschüttert war. Einem Samurai traute man zu, nicht gegen seinen Kodex zu verstoßen. Aber Samurai kamen auch nicht ins Gefängnis. Itachi, der nie Doshin gewesen war, empfand diesen Ort instinktiv als Grauen. Schreie und Stöhnen drangen von den unteren, noch scheußlicheren Gefilden des Gebäudes zu ihnen herauf, er hörte das Wimmern in seiner Nähe. Das Kratzen von Rattenkrallen auf dem schmierigen Stein klang dem Kratzen eines Federkiels nicht unähnlich, bemerkte Itachi dumpf. Seine Schulter schmerzte, wo er vorhin einen Ruck bekommen hatte, die Muskeln hatten sich gezerrt, weil sie aus dem betäubenden Knoten des Hanfseils nicht herauskamen. Itachi hatte nicht mal an Flucht gedacht. Er dachte pausenlos daran, dass er hier wegwollte, aber wie das geschehen sollte, daran dachte er nicht. Er spürte seine Arme nicht mehr und es war heiß hier drinnen, die Luft dünn und zäh. Man musste flach atmen, fast hecheln, um Herr seiner Sinne zu bleiben. Es war ein Ort wie aus einem Alptraum. Deidara hätte das sicher gefallen, erinnerte Itachi sich. Hier war es gerade morbid und menschenunwürdig genug, um ihn zu belustigen, genug Beweis, dass der Mensch auch nur ein intelligentes Tier war, das aus diesem Dreck herauskommen wollte. Es hätte Itachi nichts ausgemacht, auf dieser Elendsbühne zu landen, solange nur- solange er nicht allein war… Jeder hätte es getan, seine Eltern, sein Bruder, seine Kindheitsfreunde zu Hause, aber sie alle waren weit weg in Omi, Deidara war ihm schlichtweg räumlich näher. Hier machte es keinen Unterschied. Itachis Kehle schmerzte vom hastigen Atemschöpfen, nicht er schöpfte diese Luft, sondern die Luft erschöpfte ihn. Er lehnte den Kopf gegen den massiven Stein und schloss die Augen. Der Herr des grünen Bootes lauschte den Glockenschlägen des fernen Tempels, die gedämpft herüberdrangen, als hätte er nie einen faszinierenderen Laut gehört. Seine Miene drückte tatsächlich Faszination aus, doch mit den Glocken hatte das nichts zu tun. Er bewunderte menschliches Kalkül. Kaltblütigkeit um ihrer selbst willen. „Die Frist ist verstrichen.“ Er lächelte zufrieden und ignorierte dabei scheinbar jeden im Raum. Das hier war keine ausschweifende Siegesfeier, nicht, bevor es nicht tatsächlich so weit war. „Die Verhaftung war leicht. Aber den Termin auf den kommenden Morgen zu legen…“ Der Fächer in den Händen des Herrn ächzte, als er einen Moment zusammengepresst wurde, doch das lackierte Holz brach nicht. „… das wollten sie nicht, typisch.“ Was nicht hieß, dass sie sich durchgesetzt hatten. Er bekam schon, was er wollte, früher oder später, der runde Fächer, mit dem er so ruhelos herumspielte, war Beweis genug dafür. Es war kein Familienwappen, er hatte gar keins – es war mehr ein Markenzeichen. In einem Schirm oder einer Sandale konnte man vielleicht eine Waffe verstecken, aber in einem Fächer? Da war es schon lächerlich. Deidara schwieg. Er saß neben dem offenen Fenster und war höflich genug, nicht nach draußen zu starren, doch er langweilte sich offenkundig. Schauspieler waren schwer zu unterhalten, und nicht völlig zu Unrecht interessierten ihn politische Ränke nicht besonders. Für einen Ausländer hier war das ganze Leben Politik. „In Ordnung“, sagte der Herr unbestimmt und stand auf. Er war noch jung, Mitte dreißig erst, mit langem schwarzem Haar, ohne eine traditionelle Haartracht dazu. Es rankte sich widerspenstig an seinem Rücken hinab wie eine stachlige Pflanze. „Seine Söhne erscheinen nicht, zu schade. Dabei sind sie die nächsten auf dem Schafott.“ Ein paar Männer lachten, aber der Sprecher hatte keinen Scherz gemacht. Mit ruhiger Beiläufigkeit fuhr er fort: „Dann der ganze Rest. Wenn ich fertig bin, hole ich meinen Bruder aus der Verbannung. Das Schiff ist doch bereit?“ Er blickte einen seiner Gefolgsmänner fragend an, dieser nickte rasch. Natürlich. Die Inszenierung musste perfekt sein, und wehe, es fehlte eine Requisite. „Es kann jederzeit auslaufen“, fügte der Gefolgsmann hinzu, sein Herr winkte ab. „Ja, ja. Noch nicht. Strafe muss sein, das wird seinen Hitzkopf schon abkühlen. Er wird ja so wütend sein, wenn er erfährt, dass seine Rivalen ohne sein Beisein hingerichtet wurden!“ Er grinste übers ganze Gesicht und schlug zufrieden die Handflächen gegeneinander. Gelegentlich ließ er Gemütsregungen wie diese aufsteigen, vielleicht täuschte er sie manchmal auch nur vor, damit niemand etwas argwöhnte. „Was denkst du?“, erkundigte er sich bei Deidara. Der Schauspieler schaute herüber; die Abendsonne ließ sein gelbes Haar glühen und verkleinerte die Pupille so stark, dass seine Augen wie pures Blau wirkten. „Wie unangenehm es sein muss, sich von seinem kleinen Bruder retten zu lassen.“ Der Herr des grünen Bootes grinste immer noch. „Wirst du lange so große Töne spucken?“ Izuna fand Respektlosigkeit in diesem Umfang unterhaltsam. Madara nicht. Deidara funkelte ihn an und stützte seinen Ellbogen wieder auf den Fensterrahmen. Er schien nicht in Stimmung zu sein, jemanden zu amüsieren. Launenhaftigkeit war noch so etwas, das Izuna tolerierte. Womöglich auch zum Trotz. Noch war er hier der Herr, und er würde es bleiben. Er war derjenige, der es besser gemacht hatte, weil er geduldiger war. Gerüchte behaupteten zwar, die Brüder hätten eine zu enge Beziehung gehabt, aber wenn das überhaupt jemals wahr gewesen war, dann änderten Zeiten sich. „Was ist also?“ Wie eine streunende Katze, nur mit etwas anzulocken, was sie haben wollte. Izuna lächelte voller Verachtung und schaffte es immer noch, es freundlich wirken zu lassen. „Die Hinrichtung ist morgen, mit dir. Das ist wie eine…“ Er verharrte und schürzte nachdenklich die Lippen. „Galionsfigur“, half Deidara fahrig aus. Izuna zuckte achtlos mit den Schultern, Begriffe, die seine Sprache nicht umfasste, waren ihm offenbar egal, solange der Inhalt klar wurde. Außerdem hatte er eine sonderbare Art, damit zu testen, wer es wagte, das Wort zu ergreifen. „Was tragt ihr zu Beerdigungen?“ „Schwarz.“ „Und zu Festtagen?“ „Schwarz.“ „Hochzeiten?“ „Schwarz.“ Ein paar Männer lachten. Izuna zog lediglich die Augenbrauen hoch, das Lachen verstummte zeitversetzt. Im Zuschauerraum wurde kein Lachen geduldet, wenn es nicht beabsichtigt war – Izuna hätte einen guten Intendanten abgegeben, aber sich an ein so normales Leben zu klammern konnte anstrengend sein. „Traurig“, bemerkte er eher gelangweilt als indigniert und schien zu überlegen. Dann zuckte er nur mit den Schultern. „Dann such dir die Farbe aus, die du willst.“ Es war ein großes Zugeständnis. Izuna inszenierte immer detailliert, sein Sinn für Details war es überhaupt gewesen, der es ihn erfolgreich gemacht hatte. Er übersah nichts und übertrug anderen keine Aufgaben, weil er wusste, wie schnell ihn das aushebeln konnte. Deidara blickte vor sich hin. Er wirkte wie eine weiße Leinwand, in der nichts vorging, eine Bühne, bei der gerade das Bühnenbild gewechselt wurde. Er schien ebenfalls nachzudenken, seine Augen schweiften dabei nicht suchend umher. „Türkis“, sagte er schließlich. Einer der knienden Männer schrieb es mit flinken Bewegungen auf. Es wäre nicht überraschend, wenn das Kleidungsstück in letzter Minute noch erstanden oder verändert werden musste. Doch es folgten keine weiteren Anweisungen – natürlich nicht. Schauspieler waren Banausen, sie interessierte nur, wie sie in etwas wirkten, ob es sie in einem guten Licht darstellte. Bloß keine Einzelheiten. Etwas an der Art, wie Izunas schwalbenflügelartige Brauen sich zusammenzogen, verhieß allmählich, dass er allein sein wollte. Es war seine Angewohnheit, alle wegzuschicken und jemanden, den er noch brauchte, erst nach gemessener Zeit holen zu lassen. Er erinnerte sie an ihren Platz im Zuschauerraum, und niemand setzte sich um. Ob Deidara das Signal als Erster aufgefangen hatte oder er nur wieder die Diplomatiefreiheit von jemandem zur Schau stellte, der es sich erlauben kann, jedenfalls stand er auf. Mit erstaunlich wenigen Handgriffen drehte er sein gelbes Haar zusammen und stülpte die schwarze Perücke, die er wieder achtlos liegen gelassen hatte, darüber, bis sie saß. Er schlug den Blick nieder, damit seine Augen sich verbargen, seine Haltung wurde gezierter, mit gerundeten Schultern und bescheiden an den Seiten hängenden Armen. Er verwandelte sich schnell. Izuna hatte wieder begonnen, mit seinem Fächer zu spielen; jetzt sah er auf. Seine Finger hatten nahezu von selbst die beiden Stäbe auseinander gefaltet und strichen nun gedankenvoll über die Bespannung aus Papier. Soweit man es erkennen konnte, gab es kein Motiv. „Ach, Deidara?“ Obwohl der Schauspieler bereits in eine andere Rolle geschlüpft war, brach sich für einen Moment sein wahres Selbst Bahn, die Schultern strafften sich selbstbewusst, er hob trotzig das Kinn, als wollte er Izuna drohen. Sein Blick war wie üblich beschämend direkt. Izuna lächelte nur und drückte gegen die Papierbespannung. „Du darfst alles tun, was du willst. Ich… erwarte es sogar.“ Er wusste alles. Selbstverständlich, es war schließlich ein Detail. Und es klang wie das Angebot einer Belohnung. „Werde ich… hm“, brummte Deidara nur und verließ den Raum. Der Morgen der Hinrichtung war bewölkt – die Art von Bewölkung, bei der man nicht wusste, ob sie gleich für strahlenden Sonnenschein aufbrach oder sich zu einem kräftigen Schauer verdichtete. Die zahlreichen Zuschauer störte das wenig, manche hatten in weiser Voraussicht Schirme mitgebracht, andere ließen es einfach darauf ankommen. Es war ohnehin drückend warm, und es gab Interessanteres zu sehen. Die Hinrichtung eines Magistraten. Der Hinrichtungsplatz war selbst nichts weiter als eine freie Fläche festgestampfter Erde, um das man sich versammelt hatte. Da die Verurteilten durch den Sturz ihres Herrn ihre Ehre verloren hatten, stand ihnen Seppuku nicht mehr zu, sie wurden genauso gerichtet wie gemeine Verbrecher, enthauptet. Es sollte schnell gehen. Man musste bedenken, wie viele das waren. Die Männer waren aufgereiht, kniend, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die schmutzigen Gesichter nach unten gerichtet. Dann, in einem respektvollen Abstand, die Familie des Magistraten, Frauen, Kinder und Alte. Sie waren später dran. Erst die Samurai. Und als Letztes der Magistrat selbst. Dass Izuna ihn zum Publikum hatte bestimmen lassen, war nicht überraschend. Und doch war es kein Akt von perverser Freude am Leid oder an der Kaltblütigkeit. Izuna hielt es für nötig, damit nicht er es morgen schon war, der auf dem Schafott kniete und sich richten sollte. Deidara betrachtete die Reihe der Samurai. Sie waren bleich, verzweifelt, es verschaffte ihm eine geheime Befriedigung. Das hatten sie von ihrer ewigen Todesverachtung, hier war der Tod. Es würde schnell gehen, und danach landeten ihre Körper namenlos in irgendeinem Erdloch und ihre Seelen im Nichts. Deidara wusste, warum er auf Türkis bestanden hatte. Doch er glaubte nicht, dass Itachi es noch wusste. Mit leichten Schritten schlenderte der Schauspieler an den gefesselten Männern entlang, als flanierte er durch einen Garten mit lauter Blumenbeeten. Seine Miene war mitleidslos (sie wollten es so, oder, musste man unbedingt auf sein Leben schwören?), er war nicht weiter erstaunt von ihrer Angst. Sie knieten zwei Armlängen voneinander entfernt, damit sie nicht miteinander reden konnten. Und damit das Gefolge größer aussah – Izuna hatte das bedacht. Itachi kniete regungslos auf der festgestampften Erde. Trotz allem hielt er sich gerade, würdevoller als seine älteren Kollegen, er wirkte unbeugsam. Offensichtlich hatte man es versäumt, ihn dafür zusammenzuschlagen, aber vermutlich hatte Izuna das bereits bemerkt und ließ das an denen nachholen, die es nicht getan hatten. Zur Detailliebe konnte man schließlich erzogen werden. Itachi sah nicht auf, als ein Schatten über ihn fiel. Sein Gesicht war schmutzig, die Haut stumpf von getrocknetem Schweiß. Er wirkte abwesend und erschöpft wie jemand, der erlebt hatte, wie ruhelos und schrecklich eine Nacht nur sein konnte, wenn man sie am richtigen Ort verbrachte. Und er blickte seinem Tod mit Furcht entgegen; Deidara schämte sich nicht dafür, eine gewisse Genugtuung dabei zu empfinden, ihn einen Polizisten genannt zu haben. Itachi war ein Beamter, kein Krieger. Vielleicht hatte er sich nie nach Ehre gesehnt. Und das machte ihn wieder zu einem tragischen Fall. Die Hinrichtung hatte noch nicht begonnen. Priester brachten erst Gebete vor, in ihren gelben Roben gelang es ihnen beinahe, Deidaras Haarfarbe gar nicht mehr so ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Und ihr Murmeln war weihevoll, sodass es beinahe unangebracht war. Itachi hob den Blick, blinzelte in die trübe Morgensonne. Seiner ewig unbewegten Miene war nicht abzulesen, ob er überrascht war, seinen ehemaligen Geliebten vor sich zu sehen. Itachi war intelligent, zweifellos hatte er in seiner letzten Nacht einiges über diesen Staatsapparat begriffen. Wenn er das früher getan hätte… Nein, dann würde er auch hier knien. Es gab ja Ehre. „Ich hab’s dir ja gesagt.“ Es schien eine pietätlose Bemerkung, so war sie jedenfalls gemeint. Itachis dunkle Augen schweiften beiseite, zum Schafott. Noch hielt er sich gut, unbewegt, aber noch war er auch nicht dort. Die letzte Chance, seine Ehre zu gewinnen, war der Moment, in dem er beim Sterben weder Schmerz noch Verzweiflung zeigte. Itachi sah blank hinüber, erst als er dabei den Karren streifte, mit dem die namenlosen Leichen später abtransportiert werden würden, verkrampfte sich seine Kehle. Deidara fragte sich, ob er in Tränen ausbrechen würde, doch es war vielmehr ein Zug von absoluter Verbitterung. Dann senkte Itachi die Augen wieder. Deidara kniete sich vor ihn, ohne auf den teuren Stoff des Sommerkimonos Rücksicht zu nehmen. Er wusste, dass Izuna ihm zuschaute, aber ohne das Interesse eines Zuschauers, sondern mit der Routine eines Wächters. Es war alles erlaubt. Deidara streckte die Hände aus und fuhr behutsam durch das strähnige schwarze Haar, betrachtete Schmutz und Ruß, die an seiner Haut haften blieben, sog den Duft von Gefängnis und Angst auf, Angst hatte Itachi auch, er wollte nicht sterben. Er schwieg, als Deidara sein Gesicht berührte, die Kante seines Kiefers und den Schwung seines Nasenbeins. Die Berührung hatte etwas Nacktes, Intimes, sodass sie die stickige Wärme des Hinterzimmers zu umfangen schien. Einen Moment zumindest. Eine der Frauen, vermutlich eine Konkubine, brach in hysterisches Schluchzen aus, als ein Priester sie segnete. Ihr schrilles Wimmern erreichte den Magistraten und durchdrang seine steinerne Miene zu einem gequälten Ausdruck. Itachis Gesicht wurde weiß wie brodelnde Wut, Deidara wusste nicht, woran er dachte, aber dieser Schmerz, der anderen dem Tode Geweihten offenbar nicht im Geringsten galt, ließ Itachi hassen. Einen Moment zumindest. Deidara schlang die Arme um ihn, presste Itachis Kopf gegen seine Schulter und Bahnen aus türkisfarbener Seide. Er roch nach Kampfer, kühl und passend. Itachi konnte seine Arme nicht bewegen, aber es gelang ihm irgendwie, seinen Körper wachsweich in die Umarmung zu schmiegen, ohne dass sein Rückrat dabei seine würdevolle Steifheit verlor. Deidara strich darüber, über die hinten gefesselten Hände, die wundgescheuerte Haut, das eingetrocknete Blut unter den Fingernägeln. Itachi war außergewöhnlich in seiner unbeugsamen Verschlossenheit und wusste es nicht einmal, im Angesicht des Todes war er bestürzend schön, und das, weil er kurz vor seiner eigenen Vernichtung stand. Deidaras Herz übersprang einen Schlag, stolperte darüber hinweg. Ein Theaterstück würde hier ein frivoles Zwischenspiel einschieben. Aber er verlor im wahrsten Sinne des Wortes die Lust daran. „Solltest du nicht wenigstens ein bisschen verzweifeln?“ Die Frau schrie erneut auf, vielleicht war es auch eine andere. Das Raunen der Menschen ringsum war nicht anders als das stetige Plaudern im Zuschauerraum. „Du bist doch kein Instrument.“ Es war das erste Mal, dass Itachi sprach, und seine Stimme hob sich fragend. Seine Wangen waren nicht mehr so bleich wie zuvor, kalter Schweiß schimmerte an seinen Schläfen und über seiner Oberlippe. Deidara reckte das Kinn vor, als wollte er ihn herausfordern, gerade weil Itachi in einer Situation war, in der das absolut keinen Sinn mehr hatte. „Und wie steht’s mit dir… hm?“ Itachi überging die Worte, er hörte die Gewohnheit heraus. Seine Lippen verzogen sich kurz zu etwas, das ein Lächeln sein mochte, leer, aber wenigstens nicht zynisch. „Ich hatte keine Zeit… deiner überdrüssig zu werden.“ Zeit hatten sie ohnehin nicht gehabt. Das Gefühl, etwas nicht ausgereizt zu haben, wog schwer, vermutlich für alle beide. Itachi löste sich von Deidara, lehnte sich zurück, auch wenn das seinen angespannten Muskeln Schmerzen bereiten musste. Der reservierte Ausdruck eines Polizisten war zurückgekehrt, und das Beten der Mönche war verebbt. Jetzt roch es nach Weihrauch und Holzfeuer. „Noch etwas.“ Deidara schob eine Strähne seines gelben Haars über die Schulter, ignorierte die sich ändernde Kulisse wie jemand, der das einfach gewohnt ist. Er hatte seine Ärmel ordentlich heruntergezogen, wischte ein Stück fauliges Stroh dabei vom Stoff. „Bring‘ dich jetzt nicht um.“ Deidaras kristalline blaue Augen schossen wieder hoch, gefüllt mit all dem Abscheu, den er immer empfunden hatte, wenn es um Schwüre ging wie diese, diese krankhafte Todesliebe, und was noch schlimmer war, dieser Wunsch nach Abhängigkeit. „Hast du das ernstgenommen?!“, schnappte er erbost. Itachi reagierte nicht, seine Miene blieb gelassen, fast desinteressiert. Selbstmord aus Liebe ist längst verboten. Es musste nicht zwingend Selbstüberschätzung sein. Manchmal wollte man es einfach so. „Wofür hältst du mich, Polizist“, brummte Deidara, diesmal leiser, zupfte ein störendes Haar aus seinem weiten Ärmel. Jetzt stimmten sie die Trommel an. Zwei Männer traten an den Anfang der Reihe, zerrten den ersten der Yoriki mit sich. Aufgeregt reckten die Menschen die Köpfe. Itachi blickte nicht wieder auf, aber er lächelte versonnen. Und das war mehr als irgendetwas. Deidara drückte seine Hand flüchtig gegen seine eigenen Lippen. Die Hinrichtung begann jetzt. Die Frauen und Kinder schrien entsetzt auf, das Richtschwert glänzte nicht, bis es herabsauste und sich mit Blut befleckte. „Itachi.“ Es war das erste Mal, dass Deidara diesen Namen benutzte; es war rau, ein grober Klang, zu kurz für einen Theatercharakter, überhaupt zu kurz und zu flüchtig. All das, was auch auf Itachi zutraf. Deidara beugte sich vor und presste seine Lippen gegen die des anderen. Sie begannen zu kribbeln und zu brennen, ein Gefühl, das sich in seinen ganzen Körper fortpflanzte und ihn mit Sehnsucht erfüllte. Es schien nichts zu geben, das ihn so ausdrückte wie der Kuss, der Itachi zuerst immer so mit Scham erfüllt hatte, dann mit Begierde. Es fühlte sich gut an, ihn zu schmecken, auch seinen Namen auf der Zunge zu fühlen. Itachi ergab sich ihm widerstandslos, Deidara spürte das Zittern von Verzweiflung, das er vorhin noch verlangt hatte. Deidara spürte die Wärme seines Atems, den salzigen Schweiß über seiner Lippe, das Brennen der Blicke, den fliehenden Puls unter seinen Händen. Die Glätte der Wachskapsel, die er allzu beiläufig in Itachis Mund schob, bevor dieser sich dessen bewusst war. „Beiß drauf. Wenn du mir vertraust, Itachi, hm…“ Einer der Henkershelfer zog Itachi auf die Füße, unbewegt und routiniert. Es roch süßlich nach Blut, und obwohl Itachi sich so gerade hielt wie jemals, zermalmten seine Kiefer lautlos etwas. Deidara musste zu ihm aufblicken, in sein überschattetes Gesicht, und er hatte das Bedürfnis, seine Arme um den anderen zu schlingen und ihn zurück auf den Boden zu zerren. Einen Moment zumindest. Dann stand Deidara elegant auf und klopfte staubige Erde von seinen Knien, wandte sich achtlos von der Szenerie ab, um seinen Platz neben Izuna wieder einzunehmen. Bis er dort war, konnte er noch alles mit ansehen. Und tatsächlich war Itachis Ausdruck heiter und entrückt, als die Klinge auf ihn niedersauste. Ein wahrer Samurai, wirklich. Ja, einen Moment zumindest, und der zählte schließlich. Nachrichten bewegten sich langsam. Bis sie die Provinz erreichten, dauerte es quälend lange, und so war es mehr als einen Monat später, bis die Gewissheit über Itachis Tod endgültig war. Eine Zeit im heißen Sommer, in der seine Leiche ihren vorzeigbaren Zustand längst verloren hatte und vergraben worden war, namenlos und womöglich auch verstümmelt. So war die große Stadt. Die Familie Uchiha war nie sonderlich umfangreich gewesen, sie lebten allesamt verstreut. Es würde lange dauern, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, was aus großen Hoffnungen wurde. Mikoto presste schweigend den Ärmel ihres Kimonos vor die Lippen. Sie trug Trauer für ihren Sohn, das erste Mal im Leben, obgleich er keineswegs das Erste ihrer Kinder war, das starb. Sie hatte ganze vier Mal zuvor Kinder verloren, keins von ihnen dem Kleinkindalter entwachsen. Natürlich. Doch solche Verluste waren normal. Ihr verbleibender Sohn wirkte steinern. Sie hatten Sasuke aus der nächstgrößeren Stadt geholt, damit er an den Feierlichkeiten teilnehmen konnte – er hatte dazu keine Zeit. Ob er berufliche Konsequenzen wegen der Familienschande zu fürchten hatte, wusste noch keiner so recht, es dauerte so lange, bis die Neuigkeiten aus Edo hier ankamen. So quälend lange, dass es schien, als sei Itachi schon seit Jahren tot. Fugaku schwieg ebenfalls. Er begegnete dem stummen Vorwurf, von dem keiner so genau wusste, woher er kam, nicht. Obwohl sich bittere Linien um seinen Mund eingegraben hatten, war seine Haltung tadellos gerade, die Hände lagen ruhig und entspannt auf den Oberschenkeln. Die Familie hatte sich versammelt und hatte sich nichts zu sagen. Die lange Dauer, der zäh und langsam eingetretene Verlust erfüllte sie mit Lethargie und hielt die Stille eisern fest. Schließlich blickte Fugaku auf. Mikoto sah weg, zurück auf ihren Ärmel, Sasuke starrte durch seinen Vater hindurch, gelähmt oder vielleicht einfach nur erschlagen. Er wirkte fast verunsichert, was man von ihm erwartete. Fugaku wandte sich wieder ab und schaute nach draußen. Hier zog bereits der Herbst herauf, der Ahorn vor dem Fenster hatte sich feuerrot gefärbt, die dünn gezahnten Blätter zitterten. Es war ein idyllisches Bild. „Wenigstens“, begann Fugaku ungeahnt heiter, und sowohl seine Frau als auch sein Sohn sahen ihn aufmerksam an. Als erhofften sie etwas, das sie nicht resignieren ließ. „Wenigstens“, wiederholte Fugaku leichthin, „den Körper meines Kindes… hätten sie mir ja lassen können.“ Sasuke lachte keuchend auf, und Mikoto vergrub die Lippen wieder im Ärmel ihres Kimonos. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)