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Seven years from now

von

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Touya Ouza, Shindo Meijin

Hallo, vielen Dank fürs anklicken dieser FF und viel Spaß beim Reinlesen. Sie spielt 7 Jahre nach Ende des Manga und ich hoffe, sie bereitet euch beim Lesen genauso viel Spaß wie mir beim Schreiben :)

Vielen Dank an harakiri fürs betan.

~~~
 

"Change,

Everything you are

And everything you were

Your number has been called

Fights and battles have begun

Revenge will surely come

Your hard times are ahead"

(Muse - Butterflies and Hurricanes)

Als die Tür oben zuknallte wusste Touya, dass Shindo den direkten Weg zu seiner Wohnung genommen hatte. Zugegeben, sie hatten heftiger gestritten als in der ganzen letzten Woche, kein Wunder also, dass Touya auch noch die Fenster klirren hörte, als Shindo über ihm die Türen in seiner Wohnung zuwarf. Wenigstens wusste er, wo Shindo war. Ab und zu - an schlechten Tagen - hatte er vergeblich auf ein Lebenszeichen warten müssen und war mitten in der Nacht aufgebrochen, um Shindo in einer der nahen Bars aufzulesen. In den seltensten Fällen war er ohne ihn zurückgekehrt und hatte ihm die Hölle heißgemacht, wenn er am Vormittag nach Hause kam und etwas von einer Frau erzählte, die ihn mit zu sich genommen hatte wie eine streunende Katze. Oder wie einen Callboy, hatte Touya einmal wütend erwidert.

"Wie kann man sich mit dreiundzwanzig Jahren nur so gehen lassen?", hatte er Shindo schon öfter an den Kopf geworfen. "Und wie kannst du nur so verkrampft sein?!", meinte Shindo darauf oft.

Doch Touya hatte nicht Spaß auf die Art, wie Shindo ihn definierte. Sein Glück definierte sich über Go. Eine wunderbare Partie, eine anregende Diskussion, ein überraschender Zug - all das kitzelte seine Nerven mehr als Alkohol oder ein flacher Witz. Auf diese Go-basierte Art hatte er oft Spaß, meistens zusammen mit Shindo, doch der suchte sich ständig neue Ventile für seinen Stress.

Nicht, dass es Touya störte. Sie spielten genauso häufig gegeneinander wie früher, mittlerweile sogar jeden Abend, an dem sie die Zeit fanden.

Touya war gelegentlich in Shindos Apartment gewesen, bevor die Wohnung darunter zur Miete angeboten wurde. Der Komplex war schön, nahe am Institut, auf mehr legte er kaum Wert, also war er eingezogen.

Es war sogar unkomplizierter als gedacht, im gleichen Gebäude mit Shindo zu wohnen. Manchmal, wenn dieser sich Fast Food mitbrachte, kaufte er genug für sie beide und kam dann zu Touya, damit sie es bei einer Partie genießen konnten. Wenn er sich etwas bestellte, bestellte er es gelegentlich gleich zu Touya. Wenn Shindo Filme auslieh, zwang er Touya, sie mit ihm zu sehen, auch wenn dieser viel lieber Go spielen würde. Ihr Zusammenleben bestand zu einem Großteil aus Drücken und Ziehen von Shindo und Nachgeben seitens Touyas. Doch es funktionierte.

~x~

Die meisten Dinge, die Touya über seinen Rivalen wusste, hatte er durch Go erfahren. Seine Persönlichkeit lag entblättert auf dem Goban und ließ sich bis ins kleinste Detail betrachten - nicht verstehen, davon war er meist weit entfernt.

Was er nicht in den Partien gesehen hatte, das erzählte ihm Shindo bereitwillig. Wie damals, als er mit siebzehn seine erste Freundin gehabt hatte.

Touya hatte in ihren Partien gesehen, wie es auf und ab ging mit in Beziehung bis sie schließlich zerbrach. Das Mädchen hatte gesagt, sie wolle nicht ewig die zweite Geige in Shindos Leben spielen. Er hatte lange getrauert und Touya hatte sein Bestes versucht, ihn abzulenken.

Mit zwanzig traf er eine angehende Go-Spielerin, die Beziehung hielt ein Jahr, bis Shindo Touya vor dem Goban gestand, dass er sie verlassen werde. Touya versuchte, ihn davon abzubringen, doch es war nicht länger gutgegangen. Shindo schien einfach nicht für lange Bindungen geschaffen zu sein.

Doch Shindo war ein gutaussehender junger Mann geworden, Touya wusste das, denn er hatte sogar einen kleinen Fanclub, der zu seinen Spielen auftauchte. Er bestand ausschließlich aus Mädchen und jungen Frauen. Shindo hatte mit der Zeit gelernt, sein Aussehen zu seinem Vorteil zu nutzen.

Touya hatte ihn beim ersten Mal nicht entschlüsseln können, diesen neuen, besonderen Zug in Shindos Go, der zu waghalsigeren und noch genialeren Zügen führte. Er erkannte ihn auch beim zweiten Mal, zwei Wochen später. Beim vierten Mal sprach er Shindo darauf an. Der hatte schelmisch erwidert, ein Gentleman solle genießen und schweigen, doch dieser Kommentar alleine reichte Touya schon.

Eine Weile hatte Shindo seine One-Night-Stands auf zwei-Wochen-Basis abgehalten. Dann wurden sie häufiger und geschahen mittlerweile nur noch von Zeit zu Zeit. Touya fragte sich, ob Shindo erwachsen geworden war, oder er einfach mit niemandem aus seinem Fanclub mehr schlafen konnte ohne sich strafbar zu machen (Touya hoffte inständig, dass Shindo sich über so etwas Gedanken machte).

Touya selbst hatte jegliche Avancen von Frauen – Mädchen versuchten es bei ihm gar nicht erst – abgewiesen. Es waren nicht viele gewesen. Shindo hatte ihm gesagt, er solle bei öffentlichen Empfängen und Events nicht immer so ernst dreinschauen, doch Touya war es egal, ob ihm die Damen schöne Augen machten, er nahm es hin und dachte nicht weiter darüber nach. Nachdem Shindo ihn eine junge Frau hatte abweisen sehen, hatte er versucht, Touya davon zu überzeugen, dass Damenbesuch durchaus etwas zu Begrüßendes sei. Er hatte etwas geredet von Ausgleich und Druck ablassen, doch Touya hatte nicht zugehört.

Er brauchte keinen Ausgleich zu Go, und zum Druck ablassen gab es einfachere Wege, die am Morgen kein Frühstück serviert bekommen wollten und die ihm keine Szene machten, wenn er ihnen beibrachte, dass die Nacht eine einmalige Sache gewesen war. Er hatte das ab und zu bei Shindo gehört und konnte gut darauf verzichten.

Es hämmerte gegen die Tür. Touya blickte sich um und sah Shindos Handy neben dem Goban liegen. Er ging zu Tür und öffnete.

"Du würdest deinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre."

Shindo betrat das Apartment, schwungvoll wie immer. "Ich habe keinen Oolong mehr, setz schonmal Wasser auf." Touya ging in die Küche und stellte einen Kessel auf den Herd. Gedankenverloren fragte er sich, warum er Shindos Lieblingstee vorrätig hatte obwohl er ihn selbst nicht trank.

Shindo trat ein, das Handy in der Hand. "Das nächste Mal gewinne ich", sagte er und warf einen Blick in den Kühlschrank.

Touya wiegte den Kopf hin und her und erwiderte: "Möglich."

Shindo schloss den Kühlschrank wieder und sah in den Eisschrank darunter. Er zog ein Eis am Stiel hervor und Touya fragte sich, wer von ihnen es gekauft hatte. Er selbst mochte kein Eis, also hatte es Shindo wohl hier gelagert.

"Spielen wir noch eine Partie?" fragte Touya, als er seinem Gast heißes Wasser aufgoss. Ein Löffel Zucker, etwas Zitrone, fertig. Shindo wickelte vorsichtig die Finger um die Tasse.

"Lass uns einen Film sehen. Die Nachbarn regen sich nur wieder auf, wenn wir nach Mitternacht rumbrüllen."

"Du könntest auch einfach ruhig bleiben", murmelte Touya und folgte Shindo ins Wohnzimmer. Wenn der andere Pro da war, fühlte er sich immer wie ein Gast in seiner eigenen Wohnung.

Shindo ging zu Touyas Regalen. Dort standen Bücher, die meisten davon waren Go-Bücher. Bekannte hatten ihm ab und zu Romane geschenkt, viele standen noch eingeschweißt in ihrer Reihe. Er fand einfach nie die Zeit. Die Bücher standen ganz oben. Darunter waren zwei Reihen CDs. Touya hatte Klassik für sich entdeckt und wenn er und Shindo spielten, legte er ab und zu Beethoven zu ihren Partien auf. Shindo hatte versucht, ihn an moderne Musik heranzuführen, doch er hatte kein großes Interesse gezeigt.

In der untersten Reihe standen schließlich Filme. Shindo schenkte ihm zu allen möglichen Anlässen DVDs: Geburtstag, Neujahr, wenn Touya einen seiner Titel verteidigte, wenn Shindo seinen Titel verteidigte... Drei standen noch immer unangetastet im Regal, Shindo wählte eine von ihnen aus.

"Weißt du, Touya, du könntest sie wenigstens auspacken. So unhöflich bist du doch sonst nicht."

"Du weißt, dass ich sie mir nicht ansehe, wenn du mich nicht zwingst", erwiderte er achselzuckend. Shindo grinste schief und Touya wusste, dass es dieses Gesicht war, das Frauenherzen im Sturm eroberte. Bei Touya war es wirkungslos.

Shindo schob die DVD in den Player – auch ein Geschenk von ihm, damit er seinen eigenen nicht immer mitbringen musste. Touya ging derweil in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Shindo machte es sich auf der Couch schon gemütlich.

"Pass auf –"

"–wegen dem Leder, jaja! Warum kaufst du dir überhaupt ein Sofa, wenn man dann nicht darauf sitzen darf?"

"Shindo, das, was du da machst, kann man nicht mehr als sitzen bezeichnen." Der andere verdrehte die Augen und winkte Touya zu sich.

Touya wusste, dass Shindo tatsächlich darüber nachdachte, was für Filme er ihm schenken konnte. Für seine eigene Sammlung war er weit weniger wählerisch: meist kaufte er irgendwelche Horror- und Actionstreifen ohne Handlung und mit viel visuellen Effekten. Touya hatte mal bemängelt, wie anspruchslos die Filmauswahl war, seitdem hatte Shindo ihm zu einer eigenen Sammlung verholfen.

Shindo hatte bei diesem Film keine schlechte Wahl getroffen: es war eine Dokumentation über Go in Skandinavien. Meist konnte er mit Filmen, in denen es um Go ging, nicht falsch liegen.

"Wann hast du mir den geschenkt?" fragte Touya. Shindo warf ihm einen Blick zu, der sagte: Nicht einmal das weißt du noch? Touya hob die Schultern und erwiderte: "Sei froh, dass ich ihn überhaupt sehe."

"Das war im Oktober, als du den Tengen zum zweiten Mal verteidigt hast... Touya Tengen." Er sagte es abfällig, allein diesen Fakt fand Touya bizarr.

"Du weißt, dass mir Ouza besser gefällt, Shindo Meijin..." Dieser zog eine Grimasse und wandte sich wieder dem TV zu.

~x~

Shindo verbrachte die Nacht auf der Couch. Er war noch während der Dokumentation eingeschlafen und Touya hatte ihn danach nicht geweckt, sondern ihm die bereitliegende Decke umgelegt und einen anderen Film angemacht. Er wusste, dass Shindo ungern in einem stillen Zimmer schlief und oft den Fernseher in der Nacht laufen ließ – eine Unart, die Touya nicht im Geringsten verstand, aber tolerierte.

Am Morgen rief Touya im Institut an und erkundigte sich nach dem Terminplan des anderen. Erst am Mittag würde er eine Partie erklären müssen, bis dahin war er ausgeschlafen. Also ließ Touya ihn liegen und legte ihm bevor er ging einen Zettel mit einer Erinnerung an seinen ersten Termin in die Küche. Er wusste, dass es Shindo nervte, wenn er das tat, aber er war sich fast sicher, dass der andere Pro ansonsten die Hälfte seiner Termine vergessen würde.

Touya traf eine junge Reporterin von Weekly Go vor dem Institut, bereit, sich auf jeden beliebigen Pro zu stürzen, der ihr begegnete. Es war sein typisches Glück, dass ausgerechnet er das war.

"Touya Ouza, was für eine Ehre, Sie zu treffen!" Sie verbeugte sich tief vor ihm und er nickte ihr zu. "Bitte lassen Sie mich Ihnen ein paar Fragen stellen!"

Er seufzte, lehnte aber aus Höflichkeit nicht ab. Dabei hatte er eigentlich ein Meeting wegen des kommenden Hokuto-Cups, in dem er Japans Manager sein würde.

"Sie haben Zeit, bis der Fahrstuhl oben angekommen ist", gestand er der Frau zu und sie eilte neben ihm her und warf ihm Fragenbrocken zu. Wie Japans Aussichten im nächsten Hokuto-Cup waren, an welchen internationalen Turnieren er demnächst teilnehmen würde, ob er schon liiert sei (er wunderte sich, woher diese Frage wohl kam), und als sie gerade die Fragen, die Shindo betrafen, erreichte, erklang das feine Läuten und die Fahrstuhltüren glitten im fünften Stock auf. Touya verabschiedete sich bestimmt und ging in sein ihm zugewiesenes Büro, in dem sich die Sponsoren und Organisatoren des Events trafen.

"Entschuldigen Sie die Verspätung, Shindo Meijin hat mich aufgehalten." Er betrat den Raum, in dem bereits alle außer ihm versammelt waren.

Er nahm Shindo fast reflexartig als Ausrede. Ihre Rivalität war längst berüchtigt in der Go-Welt, viele Magazine hatten sogar Specials darüber gebracht, keins ihrer Interviews verlief ohne Fragen über den anderen. Sein Einzug in Shindos Apartment-Komplex hatte ebenfalls weit mehr Aufsehen erregt, als ihm lieb war. Es war weithin bekannt, dass man sie die Hälfte der Zeit beieinander antraf.

Er wusste, dass auch Shindo seine – viel häufiger vorkommenden – Verspätungen auf Touya schob, selbst wenn sie eigentlich seinem Verschlafen, einer Frau oder dem schrecklichen tokyoter Verkehr zu verdanken waren. Warum also nicht dem anderen etwas von seiner eigenen Medizin geben?

Die Männer, fünf an der Zahl, waren gerade dabei, die Teilnehmerlisten für die Vorauswahl zusammenzustellen. Touya setzte sich dazu und hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Hier konnte er nicht viel beisteuern: in die Auswahl kamen die wenigen jungen Pros, die Tokyo zu bieten hatte – seine Generation war längst herausgewachsen – und sechs Plätze wurden für Jungpros der anderen Institute freigehalten.

Eine Ziehung würde die Matchreihenfolge festlegen, alles gängige Praxis und keine große Überraschung für Touya. Während die anderen Organisatoren sich weiter absprachen stand er auf und goss sich etwas Tee vom Sideboard ein.

Er hasste diese Treffen. Nicht wegen der Leute oder des winzigen Büros, das angeblich seines war. Auch nicht wegen der Zeit, die sie ihm stahlen – oft viele Stunden bis in den Abend. Er hasste die Meetings, weil es überhaupt nicht mehr um Go ging. Es ging um Geld, um Budgets, um Marketing. Die Teilnahme einiger junger Pros basierte nicht auf deren Können, sondern auf ihrer Medienwirksamkeit, in jedem Jahr lief ein süßes Mädchen einem unscheinbaren den Rang ab, obwohl es meist schlechter spielte. Sie vermarkteten ihre Spieler wie Sportstars und Touya fand es abstoßend.

Als er mit Shindo im ersten Hokuto-Cup angetreten war, da war es nur um Go gegangen. Doch nach drei Jahren hatte schon reges Interesse bestanden und die Sponsoren hatten eine lukrative Chance gewittert.

Touya ließ seine Gedanken wandern und überlegte, welches Turnier als nächstes auf dem Plan stand. Ein unauffälliger Blick in seinen Terminkalender ließ ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

'GOSEI' stand da, groß, fett und rot. Es sagte ihm, dass er im Rahmen des Turniers auf Shindo treffen würde.

Wann immer Shindo seinen Taschenkalender in die Hände bekam – Gott, er wusste, wo er suchen musste, also sehr häufig – markierte er ihre offiziellen Partien gerne und auffällig. Touya wunderte es etwas, dass er diese Termine so zuverlässig im Kopf hatte. Sie trafen mittlerweile öfter aufeinander, kaum jemand von den alten Pros konnte ihnen noch die Stirn bieten. Doch der Gosei-Titel war im Moment in Ogatas Händen, und dieser würde ihn nicht ohne weiteres aufgeben.

"Was denken Sie dazu, Ouza?"

Wie ertappt klappte er seinen Kalender zu und sah auf. "Verzeihung?" Er hasste es, Schwächen zu offenbaren. Vor allem vor Leuten, die ihn für seine Meinung und seinen Namen bezahlten.

"Es ging um die Autos, die wir in Korea mieten wollen. Eher ein Bus oder zwei Limousinen?"

Touya betrachtete den Sponsor und überlegte, ob er scherzte. "Das Hotel ist gegenüber des Veranstaltungsortes", sagte er, halb entsetzt. Die Sponsoren nickten ernst und er seufzte. "Ein Bus reicht vollkommen aus."

Schon im Vorjahr hatte er sich breitschlagen lassen, Manager des japanischen Teams zu sein. Auch Shindo war der Posten zugetragen worden, doch der hatte dankend abgelehnt und auf Touya verwiesen. Nach China war er trotzdem mitgekommen, um alte Bekannte zu treffen, er genoss also alle Vorteile des Cups, während Touya sich kaputt schuftete, bis er auf dem Zahnfleisch kroch.

Dieses Jahr hatte Touya wieder angenommen. Nicht wegen des Geldes – davon hatte er mit seinen zwei Titeln mehr als er brauchte – er fürchtete einfach, dass, wer auch immer die Stelle sonst bekäme, ein schlechtes Licht auf Japan werfen würde. Kurata war bei ihrem ersten Wettkampf auch nicht gerade ein Juwel gewesen, so eine Peinlichkeit wollte Touya ihnen gerne ersparen.

Am frühen Nachmittag legten sie eine Pause von einer Stunde ein, Touya lehnte die Einladung zum Essen ab und holte sich nur eine weitere Tasse Tee, bevor er nach unten ging. Heute spielte ein junger Pro gegen Morishita, Shindo kommentierte also damit eine Partie seines ehemaligen Lehrers.

Mit der Tasse in der Hand betrat er den großen Showroom und stellte sich an die Rückwand des Raumes. Shindo stand vor einer riesigen Magnetwand und stellte Schritt für Schritt die Partie nach, erklärte die Züge und fügte gelegentlich hinzu, was er anders getan hätte. Die Zuschauer bestanden großteils aus älteren Herren, einer kleinen Gruppe junger Pros, die vermutlich zur Unterstützung ihres spielenden Freundes gekommen waren, und zwei kleinen Kindern. Shindo sah auf und erkannte Touya. Er winkte unauffällig und Touya nickte ihm zu. Shindo erklärte gut, die Zuschauer hingen gebannt an seinen Lippen. Touya lehnte an der Wand und sah ihm zu, ohne allerdings zuzuhören. Er selbst bekam selten solche Aufträge, Shindo dafür häufiger. Er hatte wohl einfach das nötige Charisma.

Die Spieler machten eine Pause und Shindo stoppte ebenfalls. Er holte sich einen Kaffee und stellte sich dann zu Touya. Die jungen Pros beäugten sie respektvoll von weitem.

"Touya Tengen", grüßte er grinsend. "Ich hoffe, du konntest noch etwas lernen."

"Meijin", erwiderte Touya den Gruß und schüttelte müde den Kopf. Er würde sich hier nicht mit Shindo streiten. Das taten sie schon oft genug, dachte er leicht genervt.

"Du musst mich übrigens nicht mehr an meine Termine erinnern", beschwerte Shindo sich. Touya dachte kurz nach, bis ihm der Zettel vom Morgen einfiel. "Und du hättest mich auch wecken können."

Touya warf ihm einen genervten Blick zu. "Als ich das das letzte Mal getan habe, hatte ich eine Woche Rückenschmerzen. Beim vorletzten Mal hatte ich ein blaues Auge und du hast im ganzen Institut erzählt, ich hätte mich in einer Bar geprügelt."

Shindo grinste. "Ah, das war eine unterhaltsame Woche." Touya funkelte ihn wütend an. Er hatte damals viele Kunden beschwichtigen müssen.

"Wann gehst du heute?" fragte Shindo, um abzulenken.

Touya seufzte. "Nicht vor acht, so wie es aussieht" Er verdrehte die Augen, nachdem er sichergestellt hatte, dass keiner der Sponsoren im Raum war.

"Dann bringe ich Burger mit." Touya sah ihn pikiert an, doch er ignorierte es geflissentlich. Sie stritten oft, weil Touya lieber traditionell aß und Shindo jegliches überfettige Essen vorzog. Touya wüsste gern, in welches schwarze Loch in Shindos Körper das ganze Essen, das dieser zu sich nahm, gesogen wurde, denn er schien einfach nie zuzunehmen. Vielleicht rutschte es alles in Shindos Beine, ein Grund, warum er immer so weite Hosen trug, deren Sinn Touya nie ganz verstanden hatte. Shindo hatte versucht, ihm irgendetwas über ultimative Coolness von zu großen Klamotten zu erklären, doch Touya hielt das für Ammenmärchen.

"Schon gehört, wer Koreas Manager ist?" fragte Touya. Shindo schüttelte den Kopf. "Ko Yongha", sagte er und deutete ein Lächeln an, als Shindo überrascht aufsah.

"Dieser alte... Dabei hatten wir uns geschworen, den Platz als Marionette anderen zu überlassen." Touya sah ihn wieder böse an. Er stieß sich von der Wand ab und holte sich selbst auch einen Kaffee. An Tagen solcher Meetings schien er unheimlich viel zu trinken.

"Vermutlich hofft er, dass er nicht rausgeworfen wird, wenn er eine offizielle Position innehat."

Shindo grinste als Antwort. Yongha hatte Chinas Vertreter im letzten Jahr auf seine provokative Art herausgefordert und im darauffolgenden Handgemenge ein paar Büschel seiner Haarpracht verloren. Provokation lag ihm wirklich, auch wenn er damit nur die Kontrahenten anstacheln wollte.

Shindo und Touya waren bei jedem Hokuto-Cup mitgereist. Sie waren Teilnehmer gewesen, bis sie zu alt waren, und hatten danach kleinere Aufgaben übernommen um dabei sein zu können. Touya hatte seine Sprachkenntnisse ausgeweitet, während Shindo weiterhin kaum ein Wort koreanisch und mandarin sprach. Genauso war es Tradition, dass sie beide gegen die früheren Hokuto-Teilnehmer ihres ersten Jahres spielten, wenn sich die Zeit bot. Besonders Yongha und Shindo hatten sich ihre ungesunde Rivalität bewahrt.

Nach zehn Minuten nahmen die Pros ihre Partie wieder auf und Shindo ging zurück an die Tafel. Touya sah ihm zu und trank in Ruhe seinen Kaffee. Die Jugendlichen drehten sich noch immer gelegentlich zu ihm um und er nickte höflich, den Gedanken im Hinterkopf, dass er vielleicht bald einen von ihnen betreuen musste. Er lauschte Shindos Ausführungen halbherzig und folgte den Handbewegungen mit den Augen, bis es für ihn Zeit war, wieder nach oben zu gehen. Er winkte Shindo und warf seinen Becher weg.

Sie besprachen die letzten Details, die es vor Beginn der Auswahlen zu klären gab. Da das eigentliche Turnier nicht in Japan stattfand, wurde die Werbetrommel nicht allzu sehr gerührt. Es würde eine Übertragung im Fernsehen geben und im Nachhinein ein Buch mit Fotos und Kifu. Sogar der Fotograf war schon gebucht.

Es war um sieben, als Touyas Meeting vorbei war und er das Parkhaus betrat. Er schnipste einen Flyer von seiner Windschutzscheibe und stieg in seinen dunklen Sportwagen. Er war das einzige, was er sich geleistet hatte. Shindo hatte einen ähnlichen in rot und ihn zu dieser Ausgabe – "Investition" – überredet, nachdem er das Auto viele Monate bewundernd umkreist hatte.

Er mochte die tiefen, weichen Sitze und den Geruch von Flieder, den der Anhänger an seinem Rückspiegel verströmte. Er schaltete in Drive und fuhr los.

Sageki, Miyagi, Hikaru-kun

"It's happening soon

It's happening soon

It's scent has been blowing in my direction

To me it is new

To me it is new

And it's not gonna change for anybody"

(Muse - Fillip)
 

Shindo war nie pünktlich. Nun, nie war vielleicht übertrieben, aber die Anzahl der Male, die er tatsächlich noch im akademischen Viertel ankam, war verschwindend gering. Nur zu seinen Partien kam er immer pünktlich.

Touya hatte sich längst daran gewöhnt – was ihn nicht davon abhielt, den anderen jedes Mal zu tadeln – und erwartete Shindo nie zur verabredeten Uhrzeit. Es wunderte ihn also nicht, dass der andere erst nach neun an seine Tür hämmerte.

Touya öffnete die Tür und sagte: "Wozu habe ich dir eigentlich einen Schlüssel für die Wohnung gegeben?"

Shindo drückte ihm eine Papiertüte in die Hand, in der Touya mittelgroße Pappschachteln ertastete. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, Touyas Frage geflissentlich ignorierend. Dieser hatte so eine Ahnung, dass sein Ersatzschlüssel irgendwo in dem ungeordneten Haufen lag, der Shindos Wohnung war.

Shindo ging ins Wohnzimmer und ließ sich vor dem Goban nieder, während Touya in die Küche ging und die Burger dort ordentlich auf Tellern verteilte.

"Tee ist okay?" rief er herüber.

"Hmm", hörte er Shindo zustimmen.

Touya wartete, bis ihr Tee fertig war, dann brachte er Teller und Tassen zum Goban. Shindo dankte ihm und sie begannen ihre Partie – Essen in der Linken, Steine in der Rechten.

Touya gewann knapp und sie schrien sich wie gewohnt nach der Partie an, was wieder einmal zur Folge hatte, dass Touyas Fenster klirrten, weil Shindo noch in der Wohnung über ihm wütete. Von unten stieß ihr Nachbar mit dem Besenstiel gegen die Decke und Touya seufzte und murmelte: "Ist ja gut, wir sind fertig."

Er räumte auf und legte sich mit europäischen Kifu ins Bett. Gedämpft hörte er Shindos Fernseher von oben.

Am nächsten Morgen nahm er Shindo im Auto mit. Der andere hatte eine wichtige Partie gegen Kurata und plante unabhängig vom Ergebnis, in einer Bar zu versacken, vermutlich mit Waya. Der Rotschopf war bereits verheiratet und hatte einen kleinen Jungen, um den er sich kümmern musste, doch gelegentlich fand er noch Zeit für seinen Freund aus Insei-Tagen. Touya spielte wohl oder übel den Chauffeur, denn wenn nicht, würde er ja doch nur wieder in der Nacht aufbrechen müssen, um Shindo zu suchen. Manchmal fragte er sich, ob der andere ohne ihn überlebensfähig war. Aber vermutlich würde er jemand anderen finden, der sich um ihn kümmerte.

Touya hatte an diesem Tag eigentlich nichts zu tun im Institut und plante, sich nach einem passenden Gegner umzusehen. Sollte er niemanden finden, konnte er immer noch Besuchern etwas Shidougo anbieten. Er bog ins Parkhausein und trat kurze Zeit später mit Shindo in den Aufzug. Gemeinsam erreichten sie den Saal, in dem die Partie stattfinden würde. Haruyama, ein Pro, der etwas älter war als sie, aber erst zwei Jahre professionell Go spielte, würde im gleichen Raum die Partie erklären.

Shindo holte sich Kaffee und Touya setzte sich in die hintere Sitzreihe. Kurata sah ihn von weitem, aber winkte nur. Touya wusste nicht, wie er sich Kuratas Missfallen zugezogen hatte – vielleicht, weil er Japans Manager im Hokuto-Cup war oder Shindos Freund oder weil er ihm nach nur einem Jahr den Ouza-Titel genommen hatte – doch eigentlich war es ihm lieber so. Kurata war noch immer ein Kindskopf, der sich zu sehr einmischte und wichtigmachte, keine Qualitäten, die Touya schätzte.

Shindo saß plötzlich wieder neben ihm und reichte ihm einen Becher Kaffee mit Milch und ohne Zucker, genau wie er ihn mochte.

"Danke." Er nahm einen kleinen Schluck und hielt den Plastikbecher dann schützend in den Händen. "Wirst du ihn besiegen?" fragte er Shindo und musterte diesen.

"Ich weiß nicht. In Topform ja, aber ich habe so wenig geschlafen..."

Touya lächelte leicht. "Ich habe wirklich gut gespielt gestern Abend, kein Wunder, wenn du die halbe Nacht daran gedacht hast." Shindo sah ihn mürrisch an und er wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

"Die Verteidigung gestern war wirklich gut. Sieh heute zu, dann siehst du, wie ich sie perfektioniere."

Das taten sie oft: die Spielweise des anderen nehmen, umkrempeln, herumdrehen, überwerfen und ausdehnen, bis sie wussten, an welcher Stelle sie bei Druck reißen würde. Ihre Go-Strategien waren miteinander großgeworden, so wie sie beide, hatten voneinander gelernt und sich gekeilt und ihre Kanten verloren. Touyas Go war jetzt wie ein ruhiger Fluss, der ab und zu von eiligen Wellen durchschnitten wurde. Shindos Go war ein See: man wusste nie, wie tief er wirklich war, und wenn man sich zu tief hineinwagte, wurde man vielleicht verschlungen. Ihr Go war sich ähnlich, aber ihr Rhythmus war ihnen eigen. Touya baute auf, während Shindo lauerte, umkreiste, folgte.

Die Partie begann um elf und Touya blieb. Es waren mehr Zuschauer da als am Vortag, Shindo erregte eindeutig Aufsehen. Nur weniger seiner weiblichen Fans waren anwesend – vermutlich saß die Hälfte gerade in der Schule. Touya erinnerte sich an ihre letzte Partie in diesem Raum. Man hatte zusätzliche Stühle hereintragen müssen und eine zweite Magnetwand, damit möglichst viele Zuschauer das Spiel mitverfolgen konnten. Es waren viele Pros, fast Shindos ganzer Fanclub, unzählbar viele alte Herren und einige Reporter anwesend gewesen. Seit sie beide sich in der Go-Welt etabliert hatten, waren mehr Medien an Go interessiert gewesen. Sie erregten Aufsehen, es gab fast doppelt so viele Insei wie noch zu Shindos Zeiten und Touya beobachtete den Wandel mit Vergnügen.

Er wusste, dass auch sein Vater es genossen hätte, den neuen Zusturm zu sehen, doch Touya Kouyo war vor drei Jahren an einer erneuten Herzattacke gestorben.

Touya hatte lange Zeit getrauert und Shindo hatte so gut er konnte versucht, seinen Freund zu stützen, meist durch Go. Er hatte nicht zugelassen, dass Touya zu düstere Gedanken bekam, sondern war in kritischen Momenten immer zur Stelle gewesen.

Haruyama versuchte, Touya mit Gesten zu überreden, vorzukommen und die Diskussion mit ihm gemeinsam zu führen, doch Touya schüttelte den Kopf. Er würde Shindo nicht kommentieren, er hatte in der Vergangenheit jegliche Angebote des Instituts abgelehnt. Shindo hatte einmal Touyas Partie live diskutiert und Touya hatte sich nicht konzentrieren können und danach stritten sie heftigst. Danach hatte auch Shindo keines der Angebote mehr angenommen.

Shindo war gut. Nicht, dass Touya das nicht wusste, aber er stellte es immer wieder zufällig fest und es machte ihn ziemlich glücklich. Shindo war seine Entdeckung gewesen, er hatte ihn in die Go-Welt geführt und angespornt und war vermutlich der Hauptgrund, warum der andere mittlerweile ebenso gefürchtet war wie er selbst. Vielleicht schrieb Touya sich selbst zu viel davon zu, dachte er, aber was soll's. Er hatte zwölf Jahre gewartet, um einen würdigen Rivalen zu finden und nochmal vier Jahre, bis er dem Ausdruck Rivale gerecht wurde. Jetzt schritten sie gemeinsam in Richtung der Hand Gottes.

Shindo war gut, dachte er wieder.

~x~

Als sie an diesem Abend spielten, sah Touya wieder diesen verrückten Zug an Shindos Go. Shindo gewann und als es vorbei war, sagte Touya trocken: "Du hattest Sex."

"Touya!" Der andere sah verblüfft auf. "Findest du dich nicht etwas zu indiskret?"

"Es ist nicht indiskret, etwas auszusprechen, was wir beide wissen", erwiderte Touya.

"Na gut... du hast einen miserablen Modegeschmack." Touya sah ihn genervt an. "Was?! Ist es plötzlich indiskret, weil es um dich geht?" Touya schwieg. "Ist ja gut, du hast Recht."

Touya machte eine Geste über eine Seite des Goban. "Und wenn ich mir diese Stelle so ansehe, war es vermutlich auch ganz guter Sex."

Shindo verdrehte die Augen und sagte nichts. Manchmal war es gruslig, zu sehen, was Touya alles aus einer Partie lesen konnte, wie alte Frauen aus Kaffeesatz. Andererseits hatte er dem Tengen schon immer so viel anvertraut, dass es kein Wunder war, wenn er ihn fast in- und auswendig kannte.

"Es war diese Reporterin, ihr erster Go-Pro, sagt sie. Einfach... exquisit."

Touya schüttelte missbilligend den Kopf, während er die Steine sortierte und in ihre Behälter schob. Wenn er nicht wüsste, dass Shindo seine One-Night-Stands immer sehr geschäftlich abwickelte, mitsamt Blumen und Karte zwei Tage danach, hätte er wenigstens etwas zum Keifen gehabt, doch der andere ließ ihm keine Möglichkeit.

"Wirst du dich in Korea zusammenreißen?" fragte Touya und musterte Shindo besorgt.

"Du willst mir doch nicht wirklich meinen Spaß verbieten? Komm schon, Touya, Korea ist das Paradies – ich würde sie nie wiedersehen."

Touya seufzte. "Es ist doch sowieso egal, was ich sage, Shindo. Das hat dich bisher auch nicht abgehalten."

"Oooh, jetzt sei nicht so, Touya! Ich bring uns morgen Sushi mit, damit du das Schmollen lässt."

Als ob Sushi die Herzen dieser Frauen wieder heilen würde, dachte Touya. Shindo war manchmal so einfältig, vielleicht merkte er gar nicht, wie unglücklich er manche seiner fallengelassenen Dates machte.

~x~

Auf dem Flug nach Korea hatten sie auf Shindos magnetischem Goban ein paar Partien gespielt, Touya hatte mit allen Mitteln versucht, sich von seiner Flugangst abzulenken. Er war trotzdem heilfroh, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, der nicht kilometerweit von der Erde entfernt war.

Er schritt als erster aus dem Flieger, hinter ihm die drei japanischen Vertreter. Danach folgten die Sponsoren, das Organisationskomitee und diverse Helfer, unter ihnen Shindo. Zwischen ihnen hin und her sprang Sawaki, ihr Fotograf.

Sie wurden von Yongha empfangen, der sie an der Seite der koreanischen Pros begrüßte und zu den Autos führte. Er stieg mit Touya und Shindo in den zweiten Wagen und klopfte ihnen auf die Schultern.

"Die Rolle des Managers steht dir gut", meinte Touya, doch der Koreaner winkte nur ab. Sie hatten nie wirklich miteinander warm werden können, nur ihrer beider Verbindung zu Shindo brachte sie näher. Yongha hatte bis zum zweiten Hokuto-Cup japanisch gelernt, um nicht mehr auf Übersetzer angewiesen zu sein.

"Shindo, ich sehe, du hast unserem werten Touya Tengen noch keinen seiner Titel genommen", scherzte Yongha. Wann genau hatte der Koreaner herausgefunden, dass Touya dieser Titel weniger lieb war? Touya seufzte, eigentlich konnte er sich den Verräter ja schon denken.

"Der Ouza ist fest in seiner Hand", erwiderte Shindo zwinkernd. Sie begannen zu plaudern und Touya schaltete ab, während er den Koreaner betrachtete. Bei ihrem ersten Treffen war er schon ein Schönling gewesen, mit seinen hellen Haaren und den langen Wimpern, und jetzt als Mann war er nicht weniger atemberaubend schön. Wenn er den Mund hielt, wirkte er sogar unschuldig.

Touya erkannte das Hotel – er hatte es selbst ausgesucht. Es war nicht allzu teuer und er hatte angeordnet, dass bis auf die Teilnehmer immer zwei Leute ein Zimmer bekamen. Er teilte seines mit Shindo, wie sie es schon unzählige Male getan hatten auf internationalen Turnieren, Ausflügen, den Hokuto-Cups der letzten Jahre. Nur in einem Jahr hatte er es bereut, als er Shindo in den Armen einer bereits halbnackten Frau überrascht hatte, beide ganz in ihre Seufzer und geflüsterten Worte vertieft. Touya hatte ihm danach die Hölle heiß gemacht und nichts dergleichen war je wieder passiert.

Yongha teilte ihnen die Zeit des Matches des nächsten Tages mit und verabredete sich mit Shindo, bevor sie ihre Zimmer bezogen.

"Willst du nicht mitkommen?" fragte Shindo später, als er sich für das Treffen ankleidete. "Hong Suyong kommt wahrscheinlich auch, wir wären zu viert und du könntest dein koreanisch polieren."

Touya schüttelte den Kopf. "Ich kümmere mich um unser Team. Hikaru-kun hat schreckliches Lampenfieber." Touya amüsierte es ohne Ende, dass einer ihrer Vertreter so hieß wie Shindo, und er hatte ihn von Anfang an beim Vornamen genannt – eine für Touya sehr ungewöhnliche Verhaltensweise. Shindo grinste schief und griff seine Jacke.

"Na dann viel Spaß mit Hikaru-kun! Bis später!"

Touya zog sich ein Hemd über und ging in das Zimmer von Sageki, erstes Brett. Die anderen beiden, Miyagi und Hikaru, waren ebenfalls anwesend, letzterer knetete unruhig ein Kissen in seinen Händen. Touya hatte dafür gesorgt, dass in den Zimmern der Teilnehmer Goban standen. Er setzte sich auf einen der zwei Stühle, die Jugendlichen saßen zu dritt auf dem Bett und betrachteten ihn mit großen Augen.

Touya seufzte. "Jetzt schaut nicht so, als seht ihr mich zum ersten Mal. Was wollt ihr lieber tun? Eine Partie spielen oder etwas trinken gehen – auf meine Kosten."

Miyagi räusperte sich. "Verzeihung, Ouza-san, aber wir sind noch nicht volljährig."

Ah, dachte Touya, wenn das nicht er selbst vor acht Jahren war. Er lächelte etwas und erwiderte: "Nun, eure Eltern sind nicht hier und ich werde nichts ausplaudern." Die Jungen sahen sich gegenseitig fragend an, bis Sageki sich schließlich einen Ruck gab.

"Solange wir nicht gesehen werden. Meine Eltern töten mich, wenn sie mich mit Alkohol sehen."

"Gut." Touya überlegte kurz, dann ging er zum Telefon, das neben der Tür hing und wählte die Nummer der Rezeption. "Touya hier, bitte schicken sie vier Bloody Marys nach oben, Zimmer 72. Danke." Dann ging er zu den drei Goban an der Wand und zog zwei in die Zimmermitte.

"Worauf wartet ihr? Wenn wir hier bleiben, können wir auch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden." Sie sprangen auf, um ihm zu helfen, und Touya fühlte sich alt, als er darüber sinnierte, wie sie damals gewesen waren; alle drei todernst, Nerven zum Zerreißen gespannt, aufgepumpt mit Kampfgeist. Seitdem waren Shindo und er wirkliche Rivalen.

Es klopfte und Touya sah auf, für einen kurzen Bruchteil verwirrt. Dann fielen ihm die Cocktails ein und er ging zur Tür. Davor stand ein Kellner mit Tablett in der Hand. Touya trat zur Seite und deutete auf den Tisch. Der junge Mann stellte es dort ab und drehte sich an der Tür zu Touya um.

"Auf welchen Namen soll das gebucht werden?" fragte er.

"Shindo Hikaru", erwiderte Touya trocken und der Kellner notierte sich den Namen, verbeugte sich und ging. Touya drehte sich zu den Jungen und betrachtete die ihm zugewandten Gesichter amüsiert. Miyagi starrte ihn entsetzt an, während die anderen beiden ihre Erheiterung kaum verbergen konnten. Touya ging zu Miyagi und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Keine Sorge, er hat noch diverse Rechnungen mit mir offen." Und das stimmte, und zwar wörtlich. Shindo hatte sich regelmäßig einen Spaß daraus gemacht, sämtliche seiner Ausgaben auf Touyas Namen zu tätigen. Dieser hatte dann jedes Mal Rechnungen über tausende von Yen begleichen müssen.

Touya ging zum Tisch und verteilte die Drinks.

"Auf euch und auf den morgigen Sieg", toastete er und beobachtete, wie die Jungen an ihren Cocktails nippten. Touya musste sich eingestehen, dass seine Moral unter Shindos Einfluss zu leiden begann. Gott, er verführte Minderjährige zu Alkoholgenuss, dachte er und bereute es fast. Er hatte es vorgeschlagen, weil die Anspannung im Raum fast greifbar gewesen war und er die Jungs auf andere Gedanken bringen wollte.

Es funktionierte. Nach und nach begannen sie zu reden, während sie lockere Partien spielten. Sie lachten und Touya dachte, er war vielleicht doch nicht so miserabel im Umgang mit Jugendlichen. Warum hatte er das nicht schon in der Junior High feststellen können? Die Jungen erzählten Episoden aus ihrer Insei-Zeit, redeten von Titelturnieren und von Titeln, die sie selbst gewinnen wollten und Touya bestellte ihnen Softdrinks aufs Zimmer – wieder auf Shindos Namen. Es war etwa Mitternacht, als er auf ihr Zimmer zurückkehrte und Shindo schien gerade erst zurückgekommen zu sein. Er sah zerzaust aus und etwas Seltsames lag in seinem Blick. Vermutlich würde er darüber reden wollen und der schnellste Weg, wie Touya ihn gleichzeitig beruhigte und zum 'reden' brachte, war eine Partie Go.

Touya schnürte seine Schuhe auf, schlüpfte in Hausschuhe und sagte: "Lass uns spielen." Es dauerte nicht lange, bis es auch schon wieder vorüber war. Dieser wahnwitzige Kick in Shindos Go war wieder da, aber etwas war anders. Diesmal war es nicht mehr nur brillant, sondern manche Züge einfach verrückt. Übergeschnappt, größenwahnsinnig, absolut ungewohnt. Es war nicht Shindos Art, so zu spielen, und so verlor er. Touya sah ihm ernst in die Augen.

"Also? Was ist los?"

Shindo schwieg, er rang offensichtlich noch mit sich selbst. Touya schwante Schlimmes.

"Jetzt sag schon, ich reiße dir schon nicht den Kopf ab."

"Ich hatte Sex..." Touya nickte – er war verdammt nochmal nicht blind, Shindo brauchte nicht – "...mit einem Kerl." – das Offensichtliche klarstellen.

Mit einem...?

Touya starrte ihn nur an, bis das Wissen schließlich im Rentnertempo sein Gehirn erreichte.

"Gott, Shindo." Er nahm den Kopf in die Hände und raufte sich die Haare, bevor er den anderen bei den Oberarmen packte. "Oh Gott, sag mir –" Er schluckte. "Sag mir, dass es keiner der Wettkampfteilnehmer war!"

"WAS?!" rief Shindo entsetzt aus. "Für was hältst du mich?! Verdammt, Touya, das sind KINDER!! Ich würde nie...!!" Er warf wütend die Arme in die Luft und funkelte sein Gegenüber an.

Touya beruhigte sich etwas. "Er war also volljährig, ja? Und du hast ihn nicht gezwungen?"

"Langsam frage ich mich ehrlich, was du wirklich über mich denkst, Touya", knurrte Shindo, doch der andere überging dies. "Es war Hong. Hong Suyong, und ja, er ist volljährig und – verdammt, Touya – es war nichtmal meine verdammte Idee, sondern seine."

Touya atmete auf. Gut, Shindo hatte sich also nicht strafbar gemacht, was wollte er mehr?

"Bist du total übergeschnappt?" keifte Touya. "Kannst du nur an deine verdammten Triebe denken?! Bei fremden Frauen ist es mir ja egal, aber sag mir, dass auch irgendwelche Gefühle im Spiel waren."

"Natürlich! Mann, ich bin schon Jahre mit Hong befreundet, er hat mich gejagt so wie ich dich und wir haben einfach etwas ausprobiert. Wirklich, Touya, es ist meine Sache, du spielst dich auf wie ein Vater."

Warum erzählst du es mir dann überhaupt?!, wollte Touya schreien, doch er entschied sich dagegen. Shindo hatte niemand anderen, mit dem er darüber reden konnte, genauso wie Touya nur Shindo hatte. Er sollte es eher schätzen, dass der andere ihm vertraute.

"Du bist jetzt also schwul?" fragte er schließlich resigniert.

"Hmm... nein. Sagen wir, ich habe meine Interessen erweitert." Ein Schatten seines alten Grinsens huschte über Shindos Gesicht.

"Lass uns noch eine Partie spielen", meinte Touya schließlich, doch Shindo streckte sich faul auf seinem Bett aus.

"Touya, es ist zwei Uhr und die Zeremonie beginnt um zehn. Als Manager solltest du pünktlich sein."

"Noch ein Grund, warum du den Job nie bekommen wirst", erwiderte Touya. Er stand auf und reckte seine steifen Beine und Arme. "Fühlst du dich auch manchmal so alt?"

Shindo grinste und es sah jung und flegelhaft aus. "Touya, du bist schon alt, seit du zwölf bist, dein Körper holt nur langsam auf."

Touya warf sein Kissen auf Shindo, doch dieser fing es leichthändig auf und warf es Touya zurück.

Shindo trabte zur Tür und schaltete das Licht aus, bevor er sich hinlegte. Eine Weile war es still und Touya war fast eingeschlafen, als Shindo sprach.

"Touya?"

Er überlegte sich kurz, ob er sich schlafend stellen sollte. Er hatte die schwere Vermutung, Shindo würde dann versuchen, ihn zu wecken. "Hmm?"

"Sag mal... ist was passiert, bevor wir herkamen?" Touya seufzte. Es war nunmal Shindo, natürlich würde er etwas merken. "Wieso?"

"Es ist doch offensichtlich..."

Verhielt er sich neuerdings seltsam? "Inwiefern?"

"Mann, Touya." Shindo klang hinreichend entnervt. "'Inwiefern?' Na im Go natürlich. Deine plötzlichen eingestreuten sanften Züge, die absolut untypisch sind."

"Jaja... also..." Touya atmete tief durch. "Ich habe da jemanden kennengelernt." Shindo horchte auf, was daran zu merken war, dass er kurz ganz still war.

"Waaas? Erzähl schon!"

"Bei dem Bankett mit den Sponsoren..."

"Was für ein Bankett?!" unterbrach Shindo ihn.

"Das Bankett, das du geschwänzt hast", erwiderte Touya genervt. "Jedenfalls... habe ich mich dort mit Kanegawas Tochter unterhalten. Und sie war... bezaubernd."

"Nur alte Opas sagen 'bezaubernd'."

Touya erwiderte nichts, stattdessen dachte er an den Abend zurück, an dem er Kanegawa Ayumi kennengelernt hatte. Sie hatte ihn angesprochen, als er alleine am Rand stand und sich die frisch gedruckte Broschüre zum Wettkampf ansah. Sie arbeitete in dem IT-Unternehmen ihres Vaters, der einer der kleineren Sponsoren war. Die Unterhaltung war ihm leichtgefallen – unter dem Umstand, dass es nicht um Go ging, war dies ein kleines Wunder. Es hatte von Anfang an gefunkt und Touya war fest entschlossen, alle Register zu ziehen, wenn er wieder in Japan war.

"Brauchst du Ratschläge in Sachen Liebe?" Shindos Grinsen war deutlich zu hören.

Touya prustete verächtlich. "Hier geht es um Liebe, Shindo, nicht ums Rumschlafen."

"Das war fies."

"Ich weiß", seufzte Touya. "Tut mir leid." Und es stimmt ja doch, dachte er bei sich.

Yongha, Suyong

"Interchanging mind control

Come let the revolution takes its toll

If you could flick the switch and open your third eye

You'd see that, we should never be afraid to die

(So come on)
 

They will not force us

They will stop degrading us

They will not control us

We will be victorious

So come on"

(Muse - Uprising)
 

Touya stand auf der Bühne und versuchte so gut wie möglich, sich seine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen, während die Organisatoren sich am Mikrofon gerade selbst beweihräucherten. Gleich würde Ko Yongha als Gastgebervertreter reden dürfen, danach die koreanischen Repräsentanten.

Touya starrte in die Menge. Nimm dich zusammen, dachte er erfolglos. Er hatte die halbe Nacht über Ayumi nachgedacht.

Die Müdigkeit verflog allerdings plötzlich, als er Shindo und Hong Suyong zusammenstehen und reden sah. Sie wirkten wie normale Freunde, dachte Touya. Nicht, als hätten sie am Vorabend intensive... 'Gespräche' geführt. Suyong musste jetzt achtzehn oder neunzehn sein, gerade so legal. Seine Kleidung ähnelte der Shindos: bequeme Hosen, loses T-Shirt, dazu Turnschuhe. Zusätzlich trug er ein Basecap, unter dem seine glatten schwarzen Haare hervorstanden. Als Shindo merkte, dass Touya sie beobachtete, grinste er und winkte ihm zu. Der Ouza wandte hastig den Blick ab.

Das erste Brett stieß ihn an. Ah, er hatte seinen Einsatz verpasst. Er ging zum Mikro und räusperte sich, bevor er seine kurze Rede hielt. Er dankte den Gastgebern und wünschte allen Teilnehmern viel Erfolg, bevor er sich wieder einreihte und seinen Schützlingen zusah, die einige zögernde Worte an das Publikum richteten.

Vor der Bühne sah er den Fotografen, Sawaki, in dessen Sucher er sich gerade befand. Er würde ihn überreden müssen, sämtliche Fotos von diesem Morgen zu löschen.

Die Teilnehmer hatten nach der Eröffnung noch fast zwei Stunden, um sich noch mal zu sammeln. Touya blieb bei seinen Schützlingen und auch Shindo fand sich zwischendurch ein, um die Jungs aufzubauen.

Vertrauensvoll, obwohl er die drei zum ersten Mal sprach, legte er zweien die Hände auf die Schultern und redete ihnen Mut zu. Danach winkte er Touya heran und wollte, dass sie alle fünf ihre Köpfe zusammensteckten, doch der andere verschränkte störrisch die Arme.

"Shindo, wir sind hier nicht beim Football."

"Ist er euch nicht viel zu langweilig?" fragte Shindo die Jungen halblaut, doch sie sahen ihn nur mit großen Augen an.

"Ouza-san hat uns sehr unterstützt", sagte Miyagi und schürzte angriffslustig die Lippen, Hikaru-kun neben ihm nickte lebhaft.

Touya seufzte und meinte: "Ich hab dir doch gesagt, du kannst mich einfach Touya nennen."

"Ja, Touya...san", nuschelte Miyagi und Touya musste lächeln. Die vorige Anspannung der drei schien kurzzeitig vergessen, was sie vermutlich Shindo verdankten. Dieser grinste Touya schief an. Als sie später im Publikum saßen und den Partien zusahen, meinte Shindo: "Deine Jungs himmeln dich ja ganz schön an, Touya."

Touya warf ihm einen Seitenblick zu. "Bist du etwa neidisch?" fragte er trocken.

Shindo kratzte sich am Hinterkopf, um Verlegenheit vorzutäuschen. "Ein bisschen vielleicht. Ich wäre auch gern ihr Held."

"Du hast den Managerjob immer abgelehnt", hielt Touya dagegen.

"Oh, glaub mir, drei strahlende Gesichter machen keinen wochenlangen Stress wett."

Oh doch, das machten sie. Touya hatte sich schon im letzten Jahr mit den Teilnehmern angefreundet; der Cup schuf Verbindungen, die weit länger hielten als der Organisationsstress. Aber das würde er Shindo nicht auf die Nase binden. Manchmal vermutete er, der Meijin glaubte, er sei Touyas einziger enger sozialer Kontakt. Er war zwar der engste, aber die Zeit, in der Touya nur auf ihn fixiert gewesen war, war eindeutig vorüber. Dafür war er sich seines Platzes in Shindos Leben viel zu sicher.

Shindo sog plötzlich scharf die Luft ein und Touya schreckte auf.

"Was?" fragte er irritiert.

Shindo deutete auf den mittleren Bildschirm.

"Miyagi... dieser Zug war schrecklich." Touya sah auf. Es war deutlich, welchen Stein Shindo meinte. Touya deutete ein Lächeln an. Die Jungs waren eben noch jung, ungestüm. Dieser Zug war ein sehr wilder Versuch, der ihn wieder an sich selbst erinnerte.

"Wäre es dein Zug, wäre er brillant", meinte Touya und sie lächelten sich schwach an. "Miyagi fehlt allerdings deine Erfahrung, um die Position effektiv zu nutzen."

Stumm beobachteten sie die nächsten Züge, die Touyas Aussage bewahrheiteten. Er fand es schade, denn dieser Zug war tatsächlich sehr kreativ und ein Sprung nach vorne gewesen. Doch ein zu großer, und die Lücke ließ sich nicht so einfach schließen.

"Weißt du noch, wie du damals dort gesessen hast wo Sageki jetzt sitzt?" Shindo neben ihm verschränkte die Arme und ließ sich etwas im Stuhl zurücksinken. Touya wusste, dass der andere dachte, er meinte die Episode nach der Partie, als er heulend vor dem Goban gesessen hatte, weil er verloren hatte.

"Ich war eben noch jung." Voller Leidenschaft waren sie gewesen, völlig entbrannt, sich zu beweisen und andere niederzustrecken. Touya hatte es damals nicht so sehr gezeigt, doch auch ihn hatte der Kampfesmut der anderen damals angesteckt. Sieben Jahre war das her. In sieben Jahren konnte viel passieren. Shindo und er standen immer noch Seite an Seite in der Go-Welt, aber sie mussten sich nicht mehr krampfhaft beweisen, sie hatten sich ihre Lorbeeren früh genug verdient.

"Weißt du noch, wie ich damals den Ouza gewonnen habe?" murmelte er Shindo zu.

Dieser sah ihn von der Seite her an. "Du meinst das erste der drei Male?" Touya lächelte. Er fragte sich, ob Shindo auch bei fünf Titeln noch wüsste, welchen er wie oft verteidigt hatte. "Da bist du wirklich wie ein Phönix aus der Asche aufgestanden. Von da an begann der Kriegszug des Touya Akira, als du in allen Turnieren mehrere Runden ungeschlagen gingst. Erst als wir uns im Gosei-Turnier trafen, habe ich deine Glückssträhne beendet."

"Ja, aber halb so wild. Touya Gosei klingt sowieso seltsam. Ich meinte eher das zweite der fünf Spiele für den Ouza. Auch ich war danach am Boden zerstört, aber es ist egal, was man in solchen Momenten tut oder wie viele Tränen man vergießt – solange man daraus neue Kraft schöpft. Genau das hast du mir damals gesagt."

Shindo kicherte. "Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen, dann wäre Ogata ein weiteres Jahr Ouza geblieben."

"Aber du hattest Recht. Und genau das hast du nach deiner Niederlage vor sieben Jahren auch getan. Du hast dich auch aus der Asche erhoben und bist plötzlich wie ein Wirbelwind durch die Go-Welt gefahren." Es hatte nicht lange angehalten, doch ein paar Wochen lang hatte Shindo damals die Pros den Atem anhalten lassen.

Touya bemerkte, wie die anderen Zuschauer um sie herum ihnen mürrische Blicke zuwarfen. Er sah Shindo an und wippte mit dem Kopf in Richtung Ausgang. Gemeinsam standen sie auf und verließen den Saal, um sich das Spiel in der Eingangshalle des Veranstaltungsortes anzusehen, wo es weit geschäftiger und lauter zuging. Für sie war Ablenkung neben Go-Spielen kein Problem, sie konnten sich gut auf alle drei Spiele und auf eine Unterhaltung konzentrieren.

"Ich bin wirklich gespannt, welcher deiner Jungs in sieben Jahren wie wir sein wird", meinte Shindo nachdenklich. "Wir waren die neue Welle, seitdem kam kein vergleichbarer Strom jungen Blutes."

Touya massierte sich den angespannten Nacken und betrachtete einen interessanten Zug des chinesischen Gegners auf dem dritten Brett. Hikaru konterte nicht optimal, doch der Angriff war unschädlich gemacht worden. "Alle drei brauchen noch eine Menge Arbeit. Ich überlege, eine Lerngruppe zu gründen, so wie mein Vater damals."

Shindo sah auf. "Sollte ich das dann auch machen? Du weißt ja, mein Lehrer stand mit deinem im Konkurrenzkampf."

"Was?" fragte Touya verwirrt.

"Wie – du weißt es nicht? Morishita-sensei wollte ständig, dass wir es den Touya-Schülern zeigten. Naja, geklappt hat es irgendwie nie, so wie er nie den Meijin geschlagen hat. Aber vielleicht wäre ich ein guter Lehrer, was meinst du?"

Touya ließ ab von seinem Nacken und beobachtete weiter die Bildschirme, während er eine Weile darüber nachdachte. Shindo konnte sehr gut erklären und Tipps geben, er wusste, wie man solide spielte – auch wenn er diesen Stil für sich selbst nie wählte. "Ich denke, du wärst ein toller Lehrer", erwiderte er schließlich. "Solange du nicht auch so ein Konkurrenz-Gerede startest und ihnen damit unnötige Hoffnungen machst." Er war versucht, Shindo anzuzwinkern, aber ein selbstsicheres Halbgrinsen würde reichen.

"Also wirklich, als ob, Touya! Als ob!" Sie grinsten die Fernseher an und beobachteten den weiteren Verlauf der drei Partien schweigend. Touya begann, tatsächlich über das Gründen einer solchen Gruppe nachzudenken. Er wollte gerne aktiv am Prozess seiner Schüler beteiligt sein, aber er war sich nicht wirklich sicher, ob er auch gut unterrichten konnte. Shidougo war etwas anderes, da ging es um Grundlagen und nicht um Feinheiten. Aber es würde reichen, dachte er.

Nach eineinhalb Stunden wurde eine recht lange Pause gemacht, doch die drei japanischen Vertreter zogen es vor, bei ihren Partien zu bleiben und sich weiter zu konzentrieren. Nach der Pause gingen sie zwar hungrig aber auch sehr angespannt in die zweite Hälfte ihrer Partien.

Am Ende gewannen Hikaru und Miyagi, nur das erste Brett, Sageki, musste einen Verlust einstreichen. Touya ging in das Zimmer, in dem die Partien ausgetragen wurden, um seinen Spielern zu gratulieren und sich bei dem chinesischen Manager und Team zu bedanken. Als er eintrat, sah er Sageki auf seinem Stuhl, in sich zusammengesunken und Tränen rollten ihm stumm über die Wangen. Die anderen beiden standen ratlos neben ihm.

Dieses Déjà-vu kam Touya sehr eindrucksvoll vor, denn genau so war es vor sieben Jahren gewesen. Nur dass zwei von ihnen verloren hatten und Shindo seinem Frust viel lauter Luft gemacht hatte. Er war mit wenigen Schritten bei den Jungen. Den beiden Gewinnern legte er eine Hand auf die Schulter und nickte lächelnd, dann schob er sie in Richtung Ausgang. Danach kniete er sich vor den immer noch stumm weinenden Jungen.

"Es tut mir leid", murmelte Sageki, und seine Stimme klang höher als sonst. Das Wasser rann ihm aus Augen und Nase und Touya reichte ihm milde lächelnd ein Taschentuch.

"Kopf hoch, ihr habt trotzdem gewonnen. Dafür seid ihr doch ein Team – damit man sich mal einen Fehltritt leisten kann. Du solltest den beiden nachher danken." Sageki schniefte in das Taschentuch und Touya wartete ruhig ab. Normalerweise war dieser Junge immer gefasst und eher fröhlich. Wie Shindo damals, ging ihm auf.

"Ich... wollte so gerne gewinnen", brachte er heraus, obwohl er sich halb an seinem eigenen Schluchzen verschluckte. Touya strich ihm durch die Haare und lächelte breit. "Nicht für mich. Sondern... für Sie. Sie haben so viel für uns getan, wir hatten uns alle drei abgemacht, zu gewinnen, um Ihnen zu danken."

Er hielt inne, immer noch mit der Hand am Schopf des Jungen. Touya war ehrlich gerührt und sein Lächeln wurde väterlich. So etwas hatte ihm noch niemand bisher gesagt. Er rang sich dazu durch, Sageki in den Arm zu nehmen, obwohl er Körperkontakt sonst skeptisch begegnete.

"Keine Sorge, mein Junge", meinte er schließlich. "Ich bin sehr stolz auf euch drei. Ihr habt toll gespielt, da ist es nicht wichtig, ob man gewinnt oder verliert."

"Das ist aber kein guter Trost", schniefte der Junge und sie mussten etwas lachen.

"Komm, wir haben gewonnen, lass uns das feiern." Sageki wischte sich die Tränen von den Wangen und klatschte sich einmal mit beiden Händen ins Gesicht, um sich wieder zu fangen. Dann straffte er sich und ging Touya hinterher nach draußen, wo sie Reporter, Gratulanten und die anderen Teammitglieder empfingen. Der Junge lief zu den anderen beiden.

"Tut mir leid, ich habe euch noch gar nicht gratuliert", sagte er und umarmte sie gleichzeitig fest. Ihr japanischer Fotograf war sofort zur Stelle, um die drei Gewinner abzulichten, auch Touya wurde zu ihnen gestoßen und bemühte sich, möglichst nett zu schauen. Er war wirklich überhaupt nicht fotogen.

Hinter den anderen Fotografen sah er Shindo, der ihm einen Daumen entgegenreckte und er grinste zurück.

"So, Jungs, ab ins Hotel, bereitet euch auf übermorgen vor." Pflichtbewusst nickten die drei und ließen sich von anderen Mitgliedern der Crew zum Ausgang bugsieren. Gerade als Touya auch gehen wollte, wurde ihm eine Hand auf die Schulter gelegt.

"Herzlichen Glückwunsch, Touya Tengen", hörte er Ko Yongha in seinem charmanten Japanisch sagen, während er halb freiwillig herumgedreht wurde. Er deutete eine Verbeugung an.

"Vielen Dank." Mehr wusste er nicht zu sagen. Shindo war es, der sonst mit Yongha quatschte, Touya saß meist nur daneben.

"Euer drittes Brett hat einige interessante Züge gezeigt, ich hoffe, den Jungen sehe ich nächstes Jahr wieder", meinte Yongha gerade, als Touya sich schon fast verabschieden wollte. Stattdessen lächelte er und dankte noch einmal.

Hinter sich hörte er Shindos Stimme herannahen. "Jaja, Hikaru-kun hat definitiv Talent. Muss wohl am Namen liegen." Er lachte fröhlich und schüttelte Yonghas Hand, als er ihn erreichte. Neben ihm ging Hong Suyong, den Touya im ersten Moment nur dumpf anstarrte. Als ihm das bewusst wurde, schluckte er trocken und nickte auch ihm zu.

Suyong lächelte und stellte sich zu Touya. "Touya Ouza, ihr habt tolle Arbeit geleistet. Euer Team scheint euch sehr zu vertrauen."

"Danke", erwiderte er und musste auch etwas lächeln. "Wann werden wir dich denn mal als koreanischen Manager sehen, Suyong?"

Dieser wedelte lachend mit einer Hand. "Ich weiß nicht, ob das was für mich ist. Ich würde die Kleinen vielleicht einschüchtern, weil ich an so etwas zu verbissen rangehe. Außerdem habe ich noch nicht mal einen Titel."

"Im letzten Turnier warst du aber kurz davor, nicht wahr?" mischte sich Shindo ein und legte dem Koreaner eine Hand auf die Schulter.

"Es gibt aber keinen Titel, der 'kurz davor' heißt, Shindo", erwiderte Suyong zwinkernd. Die vier lachten vertraut und wandten sich schließlich gemeinsam zum Gehen. Shindo ließ sich neben Touya zurückfallen und überließ die beiden Koreaner sich selbst – die begannen, angeregt über Suyongs verlorenes Turnier zu diskutieren.

"Kommst du heute mit?" fragte Shindo seinen japanischen Freund. Dieser zuckte mit den Schultern. Er hatte nichts Besseres vor. Die Jungen würden sowieso noch eine Weile von Reportern belagert werden. Und er wollte sie ihre Hochstimmung noch etwas genießen lassen, bevor er sie wieder auf den Erdboden zurückholte.

Die Koreaner schlugen den Weg zu einer nahegelegenen Bar ein, in der sie schon am Vorabend gewesen zu sein schienen, denn Shindo grüßte den Barkeeper fröhlich. Yongha bestellte für sie alle Manhattans und zu viert verzogen sie sich in eine der leiseren Ecken des verwinkelten Gastraumes.

Yongha erzählte davon, wie er vor wenigen Monaten auf einer Amerika-Reise gegen nordamerikanische Go-Begeisterte gespielt hatte. Er war überrascht gewesen, auf welch niedrigem Niveau die Spieler dort waren und schwor weiter auf die drei Nationen, die auch beim Hokuto-Pokal vertreten waren. Als nächstes plane er eine Chinareise, erzählte er weiter.

Suyong hingegen erzählte ihnen, dass Yongha bereits einen koreanischen Titel errungen hatte, was ihm zufolge viel schwerer war, als in Japan – "immerhin habe ich Shindo ja auch geschlagen, der Meijin sollte also ein Leichtes sein." Suyong selbst schied immer wieder in den frühen Phasen der Turniere aus, was ihn selbst am meisten störte.

Shindo und Touya waren beide nicht sehr gesprächig an diesem Abend. Touya wusste nicht, warum ausgerechnet sein japanischer Begleiter plötzlich so wortkarg war, aber er konnte deutlich sehen, wie er Suyong immer wieder mit Blicken taxierte. Es konnte nur an den Ereignissen vom Vorabend liegen, vermutete Touya und seufzte innerlich. Shindo war wirklich komisch im Moment.

Touya fand es seltsam, dass sie schon um fünf Uhr nachmittags in einer Bar saßen und tranken, andererseits war diese Gelegenheit so selten, dass er seine Moral wohl einfach mal im Hinterkopf wegsperren sollte.

Er begann selbst, zu reden. Er erzählte von Shindos letzter Titelverteidigung des Meijin gegen Kurata, um den anderen auch etwas zum Interagieren zu bewegen. Es verfehlte seine Wirkung nicht und Shindo beschrieb wortreich seine nervenaufreibenden Partien gegen den etwas in die Jahre gekommenen Kurata. Dieser war jetzt Mitte dreißig, hatte aber nichts von seinem jugendlichen Verhalten abgelegt, was Shindo und Touya regelmäßig entnervte, wenn einer von ihnen zufällig eine Partie gegen ihn spielte oder ihn bei Veranstaltungen sah.

Touya beobachtete, wie interessiert Suyong Shindo zuhörte und überlegte, ob das schon immer so gewesen war oder nur deswegen. Schließlich seufzte er genervt und dachte, er müsse endlich aufhören, über Shindos Privatleben nachzudenken. Schon wenn er an die vielen gebrochenen Frauenherzen dachte, wurde ihm ganz elend zumute, aber jetzt auch noch über die Männerherzen zu lamentieren würde ihn vermutlich wirklich unglücklich machen. Obwohl es da ja erst eines gab und das war auch nicht gebrochen. Doch Touya ignorierte das, denn früher oder später würde Shindo ja doch wieder irgendeinem Unglücklichen wehtun, da konnte Vorsorge auch nicht schaden.

Über sein Gegrübel hatte er gar nicht mitbekommen, wie Shindo einen Witz auf seine Kosten erzählt hatte, doch er würde es auf sich beruhen lassen. Beiläufig sah er auf die Uhr. Eine Stunde saßen sie jetzt hier. Ob die Jungs schon einen kühleren Kopf hatten?

Touya sah auf, als Shindo und Suyong sich erhoben und sich entschuldigten. Sie hätten noch so viel aufzuholen seit dem letzten Jahr, meinte Shindo grinsend und winkte den beiden zum Abschied zu. Yongha schien nicht sehr glücklich zu sein, auch wenn Touya nicht wissen wollte, warum genau.

"Als ob ihnen das jemand glauben würde", meinte der Koreaner augenrollend in einer Mischung aus japanisch und koreanisch. Touya sah ihn überrascht an. "Oh komm schon, selbst wenn man keine Ahnung hat – so wie Shindo ihn ansieht ist doch sofort alles klar. Er schaut, als ob Suyong eine absolut brillante Partie Go ist."

Touya lächelte schwach über den Vergleich und erwiderte, nun ganz auf Koreanisch: "Der Meijin scheint in der Tat großes Interesse an deinem Freund zu haben."

"Naja, lassen wir sie ihren Spaß haben. Um noch einmal auf den Kleinen aus deinem Team zurückzukommen – dieser eine Zug in der ersten Hälfte, der war wirklich genial."

Touya schüttelte den Kopf, denn er wusste genau, welchen der andere meinte. "Oh nein, hätte Shindo ihn gespielt, wäre er genial gewesen."

"Hätte Shindo ihn gespielt, wäre er normal gewesen", erwiderte Yongha grinsend und auch Touyas Mundwinkel zuckten.

"Na gut, dann das. Hikaru-kun kann leider noch nichts aus solchen Zügen machen, das haben wir ja gesehen."

Der Koreaner beugte sich etwas zu ihm und meinte: "Aber Touya, du kannst mir nicht sagen, dass es dir nicht in den Fingern juckt, diese kleinen Rohdiamanten zu schleifen."

Touya sah ihn überrascht an. Genau das hatte er ja überlegt mit seiner Lerngruppe. Hatte Ko Yongha ihn gerade zu einhundert Prozent verstanden? Es musste das erste Mal sein.

"Dachte ich mir schon", erwiderte der andere, als er keine Antwort von Touya bekam. Offensichtlich war sein Gesicht Antwort genug. "Ich muss zugeben, bei unserem Nachwuchs keine wirkliche Lust dazu zu haben. Sie sind alle ganz gut, aber keiner ist herausragend, so wie ich damals. Und du. Man hat es uns angesehen, dass wir die Go-Welt umkrempeln würden. Na gut, dir vielleicht nicht so sehr", setzte er noch grinsend hinzu. Yongha hatte noch viel von dem jungen Schönling, der er beim ersten Hokuto-Cup gewesen war. Das, was damals Frechheit war, war heute Schneid, seine Art war allgemein akzeptiert worden, auch wenn er gelegentlich noch an Ecken stieß, die nicht so leicht nachgaben, so wie das Hokuto-Kommitee im Vorjahr, als er fast vom Veranstaltungsgelände geflogen wäre.

"Sag mal, Touya", unterbrach er die Gedanken des Dunkelhaarigen, "hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, einen Go-Salon aufzumachen?"

Touya war etwas verwirrt und fragte sich, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, doch dann begann er, mit Yongha darüber zu sinnieren, wie es wäre, hier in Korea einen Salon aufzumachen.

Tatsächlich verbrachten die beiden Manager noch fast zwei Stunden gemeinsam, bevor Touya schließlich aufbrach, um nach seinem Team zu sehen. Er verließ die Bar nüchtern, weil sie nach dem Manhattan nur noch Tee getrunken hatten, dafür hatte er viele neue Ideen und Pläne im Kopf; am liebsten würde er gleich mit allem loslegen. Er hätte nie erwartet, dass ein Gespräch mit Ko Yongha ihn so inspirieren würde, doch es war auch das erste Mal gewesen, das er mit dem anderen ganz frei und gelöst geredet hatte. Vielleicht hatte es sonst geschadet, dass immer Shindo zwischen ihnen gestanden hatte.

Sie hatten noch Nummern getauscht und sich dann getrennt. Sehr leichten Fußes lief Touya den kurzen Weg bis zum Hotel und nahm gut gelaunt die Treppen in den vierten Stock zu seinen Schützlingen. Vor der Tür ihres Zimmers hörte er sie drinnen schon ausgelassen lachen und lächelnd klopfte er an. Es wurde kurz still, dann hörte er Schritte in Richtung Tür. Es dauerte etwas zu lange, bis sie geöffnet wurde und als Hikaru-kun vor ihm stand, schwand Touyas gute Stimmung. Der Junge grinste ihn dümmlich und mit halb geschlossenen Augen an, vom Tisch her hörte er albernes Gekicher, das seinen Jungs wirklich nicht ähnlich sah. Touya trat schnell ein und sah hinter sich, bevor er die Tür schloss.

Dann wirbelte er herum und sah die Jungen wütend an. "Ihr seid betrunken", herrschte er ungehalten.

Rückkehr; Vorfreude

"I'm hungry for some unrest

I want to push this beyond a peaceful protest

I wanna speak in a language that they'll understand
 

Dedication to a new age

Is this the end of destruction and rampage?

Another chance to erase then repeat it again
 

Counter balance this commotion

We're not droplets in the ocean

Ocean"

(Muse - Unnatural Selection)
 

Genervt beobachtete Touya, wie Hikaru-kun schwankend zum Bett ging, um sich darauf zu setzen. Auf dem Tisch standen mindestens neun Gläser, soweit er das einschätzen konnte, alle waren leer.

"Was habt ihr euch dabei gedacht??" keifte er wütend.

"Aber Sie sagten doch, wir sollen unseren Sieg etwas feiern", murmelte Sageki kleinlaut. Alle drei hatten ihr Grinsen verloren, als Touya sie beim Reinkommen angeherrscht hatte.

"Ich sagte auch, ihr sollt euch auf euer nächstes Spiel vorbereiten – wie ich sehe, habt ihr den Teil überhört!" Touya sah auf die reuevoll gesenkten Köpfe hinab und seufzte. Er wollte nicht der sein müssen, der sie in ihre Schranken wies, dafür hatten sie ihre Eltern. Aber als Manager fielen ihm auch solche Aufgaben zu. Er sah, wie Hikarus Schultern zuckten und wusste nicht, ob dieser weinte oder lachte, aber eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen.

Er seufzte ergeben und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. "Ihr trinkt jetzt einen Liter Wasser, spielt bis um zehn Go und legt euch dann schlafen, verstanden?" Sie nickten scheu und Touya verließ den Raum.

Davor blieb er stehen und atmete tief ein und aus. Was dachten sich diese Jungspunde nur manchmal? Sie wären damals nie auf eine solche Idee gekommen, ihnen hatte Go an sich immer gereicht. Erschöpft schlurfte er den Gang hinab.

Als Touya ins Zimmer zurückkam, sah er Shindo auf dem Bett dösen. Vorsichtig schloss er die Tür und genoss die Stille im Raum. Stille und ein schlafender Shindo schlossen sich sonst aus. Vermutlich war er todmüde, dachte Touya und wollte gar nicht wissen, warum.

Möglichst leise schlüpfte er aus seinen Schuhen und seinem Jackett. Es war früher Abend und sein Magen grummelte vor sich hin. Shindo stöhnte im Schlaf und es klang schmerzvoll. Touya hätte ihn geweckt, hätte er nicht gewusst, dass Shindo öfter so träumte und sich nur zu Tode erschreckte, wenn man ihn anrührte.

Also ließ er den anderen zu Ende träumen und setzte sich stattdessen vor das Goban, um Partien nachzuspielen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, aber Shindo blieb stumm und warf sich nur im Bett hin und her, auch ein Zeichen für seine schlechten Träume, wusste Touya. Schließlich erwachte er mit einem erschrockenen Keuchen und setzte sich auf. Sein Zimmergenosse konnte sehen, dass er verschwitzt und unausgeruht war, obwohl er bis eben geschlafen hatte. Shindo sagte nichts, sondern schlurfte nur leise ins Bad und überließ Touya sich selbst. Dieser fühlte sich meist hilflos, wenn er Shindo bei einem seiner Alpträume nur zusehen konnte, doch der andere wollte ihm nie etwas dazu sagen. Er redete nie im Schlaf, sondern stöhnte, ächzte und wälzte sich, ohne Aufschluss darüber zu geben, was ihn quälte. Nur wenn er eine Geräuschkulisse im Zimmer hatte, wurde es besser.

~x~

Am nächsten Tag, als China gegen Korea spielte, blieben Touya und Shindo gleich in der Eingangshalle, um von dort aus die Spiele zu verfolgen. Japans Manager hatte bereits vermutet, dass das chinesische Team sich noch nicht von seiner Niederlage erholt hatte. Nur der gestrige Gewinner am ersten Brett lieferte seinem Gegner einen zähen Kampf, doch als es in die Pause ging, war für die beiden Japaner in der Eingangshalle bereits ersichtlich, wer gewinnen würde.

"Tut mir leid, dass wir dich gestern mit Yongha alleine gelassen haben", meinte Shindo, während er einen nur noch lauwarmen Plastikbecher Kaffee zwischen den Händen drehte. Er war ihnen serviert worden, doch aus was auch immer in Korea Kaffee gemacht wurde, es sagte ihm rein gar nicht zu. "Ich weiß ja, dass ihr nicht so viel miteinander anfangen könnt."

Touya, der seinen Kaffee längst ohne große Umschweife getrunken hatte, machte eine wegwerfende Geste. "Wir haben uns super verstanden. Ich dachte auch immer, wir wären nicht auf einer Wellenlänge, aber vielleicht warst du es, der immer die Frequenz gestört hat." Shindo schaute etwas beleidigt drein, war schließlich aber doch froh darüber, dass er kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. "Yongha meinte übrigens, ich solle einen Go-Salon aufmachen."

Der andere sah ihn überrascht an. "Du hast doch den Salon deines Vaters geschlossen, wieso solltest du wieder einen aufmachen?"

Touya verdrehte die Augen. Manchmal verstand Shindo ihn wirklich überhaupt nicht. Er ließ es unkommentiert und sah dem anderen zu, wie er mit gerümpfter Nase den Kaffee schlürfte und sich schließlich umsah, wohin der den leeren Becher werfen könnte. Während Shindo in Richtung Mülleimer davontrottete sah Touya die drei japanischen Jungpros eintreten. Als sie ihn sahen, versteiften sie sich alle, doch dann kamen sie auf ihn zu. Die drei hielten vor ihm und verbeugten sich so tief, wie er es bei jungen Menschen nur noch selten sah.

"Entschuldigen Sie uns, Touya-san, wir haben uns falsch verhalten und Sie beschämt", sagte Sageki klar und nach einigen Sekunden richteten sie sich wieder auf und sahen ihren Manager betreten an. Dieser lächelte milde und schubste Miyagi, der am nächsten bei ihm stand, kumpelhaft an.

"Solange ihr aus eurem Fehler lernt ist es in Ordnung. Aber nun solltet ihr reingehen und euch die Partien nachstellen lassen. Korea ist schließlich morgen euer Gegner." Sie nickten und taten folgsam, was er ihnen aufgetragen hatte. Shindo kam derweil zurück und aus dem Turnierraum trat gerade Ko Yongha, der nun auch auf sie zukam.

Touya lächelte ihm zu und meinte: "Drei zu null wird wieder eine sehr klare Statistik für Korea."

"Ich habe nichts anderes erwartet", erwiderte der koreanische Schönling in seiner Landessprache. Er sah überaus ausgeschlafen aus und war noch dazu bester Laune, was vermutlich auch daran lag, dass sein Team auf allen drei Brettern dominierte.

Shindo und er begannen, wie in alten Zeiten herumzualbern und sich spielerisch anzukeifen, während Touya ihnen nur desinteressiert zuhörte. Die zweite Hälfte begann diesmal nach einer kürzeren Pause als am Vortag, und schon nach wenigen Minuten gab der chinesische Junge am zweiten Brett auf. Yongha blieb bei ihnen und winkte seinem Sieger nur zu, als dieser aus dem Raum trat. Der Junge schien ein fröhlicher, übermütiger Zeitgenosse zu sein und schritt hibbelig auf und ab, wobei er immer wieder Blicke auf die Monitore warf. Ihm schien ebenfalls klar zu sein, dass die anderen nicht mehr lange brauchen würden.

~x~

Diesen Abend verbrachte Touya allein auf ihrem Zimmer und lag gedankenversunken im Bett herum, als es gegen sieben klopfte. Er zuckte erschrocken zusammen und setzte sich auf, während er ein 'Herein' murmelte. Als die Tür aufging steckte Ko Yongha seinen Kopf zur Tür herein.

"Ich suche Shindo", meinte er nach einem kurzen Blick auf das zweite leere Bett.

"Keine Ahnung, wo der sich gerade rumtreibt, tut mir leid", erwiderte Touya müde, in Erwartung, der andere würde gleich wieder abziehen, doch stattdessen trat dieser ein.

"Dann ist es wohl besser, wenn ich hier auf ihn warte, oder hast du etwas dagegen?" Touya schüttelte nur den Kopf und der Koreaner schloss die Tür und ließ sich kurz darauf auf Shindos Bett plumpsen, in dem er es sich bequem machte. "Du siehst übrigens öfter so aus, als seien deine Gedanken längst nicht alle hier in Korea."

Er lächelte hinüber und nickte, dann erzählte er von Ayumi, der Sponsorentochter, die er nach seiner Rückkehr so gern wiedersehen wollte. Der andere hörte geduldig zu und meinte schließlich: "Also wenn du Hilfe brauchst, vielleicht kann ich dir ein paar Tipps geben. Ich bin nicht umsonst verlobt." Yongha grinste ihn selbstbewusst an.

"Du hast eine Verlobte?" fragte Touya verblüfft. Ko Yongha, der damals streitsüchtigste Jugendliche, würde in naher Zukunft heiraten und er selbst, ein Musterbeispiel von Anstand und Zurückhaltung, hatte gerade einmal eine einzige Unterhaltung mit der Frau seiner Träume geführt? Offensichtlich hatte er immer auf die falschen Werte gesetzt.

Yongha nickte und drehte sich auf den Rücken. "Sie ist Künstlerin. Ich habe sie vor drei Jahren kennengelernt, als ich in einer Galerie ihre Werke beleidigte", gab er etwas zögerlich zu. "Tja, ich kann mit Kunst einfach nichts anfangen. Aber sie ist sehr süß, viel besser als jede, die meine Eltern gewählt hätten. Dafür kann sie weder kochen noch nähen." Touya lächelte und versuchte, sich den anderen an der Seite einer kleinen, schüchternen Frau vorzustellen. Oder ob sie eher extrovertiert war? Waren Künstler nicht so?

"Wie willst du mir da denn Tipps geben? Du hast dein Mädchen offensichtlich erstmal gehörig beleidigt, so hatte ich mir unseren Anfang nicht vorgestellt." Yongha lachte fröhlich und stimmte ihm grinsend zu. "Shindo hat mir auch schon Hilfe angeboten – ich scheine ja sehr ungeschickt auf euch zu wirken."

"Naja, ganz ehrlich, Touya – von dir hätte ich nicht erwartet, dass es in deinem Kopf noch etwas anderes als schwarz-weiße Go-Steine gibt, also kein Wunder, wenn Shindo dich für unfähig hält." Sie lachten gemeinsam und schließlich erzählte ihm Yongha noch etwas mehr über seine Verlobte und wie sie einander besser kennengelernt hatten. Es war eine ungewöhnliche Geschichte, mit vielen gegenseitigen Missverständnissen und viel Unverständnis. Während Yongha keinen Sinn für Kunst hatte und ihre schüchterne Art immer falsch deutete, konnte das Mädchen dem Go-Spiel überhaupt nichts abgewinnen und hielt es für einen Zeitvertreib und nicht für einen Beruf. Sie hatten einander viel beibringen müssen über die eigene Welt, bevor irgendwann die Funken sprühen konnten. Jetzt schienen sie sehr gut zu harmonisieren, sie kam sogar ab und an zu seinen Partien, auch wenn sie davon nichts verstand.

Touya erfreute sich an der Geschichte, hoffte aber insgeheim, dass es ihm nicht so schwerfallen würde, Ayumi für sich zu begeistern.

~x~

Am nächsten Tag fanden die letzten drei Partien statt. Japan gegen Korea. Diesmal blieb Touya im Saal mit den anderen Zuschauern, er war nervöser als an ihrem ersten Tag. Die Jungs hatte er am Morgen nur kurz gesprochen, um ihnen Mut zuzusprechen und Fotos machen zu lassen, nun würden die Partien gleich beginnen und er saß in der zweiten Reihe und knetete seine Hände. Touya saß alleine, er hatte keine Gesellschaft von Shindo gewollt, welcher am Vorabend erst sehr spät zurückgekommen war. Er schien seinen neuen Interessen sehr viel Aufmerksamkeit beizumessen.

Die Partien begannen und der koreanische Pro vorne begann etwas später, sie zu kommentieren. Sageki legte einen sehr guten Start hin, während Hikaru sehr vorsichtig heranging. Miyagi spielte wie immer, frisch aber überlegt, ein bisschen wie Touya früher, nur dass er lieber Zähne gezeigt hatte. Diese ließ er bei seinen jetzigen Pro-Partien aber meist verhüllt, nur bei besonderen Gegnern war es noch nötig, die Krallen auszufahren.

Nach fünfzehn Minuten war noch alles offen. Sageki hatte seinen guten Anfang nicht fortsetzen können, aber sein kleiner Vorteil war noch nicht verspielt. Miyagi und Hikaru schlugen sich tapfer, drohten aber, dominiert zu werden. Nervös fuhr Touya sich immer wieder über Gesicht und Haare, zupfte an seinem Hemdsaum und streckte und überschlug die Beine fast im Minutentakt.

Als eine halbe Stunde um war, begann er, sich um Hikaru zu sorgen. Der Junge hatte zwei sehr mutige Züge gewagt, bei denen Touya ihn nur wieder mit seinem älteren Namensvetter vergleichen konnte, doch wie schon am ersten Tag fiel es ihm schwer, sie richtig einzusetzen. Er verlor eine kleine Gruppe Steine und mit ihr einige Punkte an Territorium, doch das Schlagen bot ihm eine neue Öffnung seines Gegners dar.

Die Pause war nach einer Stunde und wieder blieben seine Jungs vor ihren Goban sitzen, ebenso wie ihre Gegner. Die Zuschauer um Touya erhoben sich, um sich die Beine zu vertreten, oder etwas essen oder trinken zu gehen, sodass er nach kurzer Zeit alleine dasaß. Doch nicht lange, denn Shindo setzte sich zu ihm und reichte ihm einen Becher Tee.

Shindo deutete auf den Bildschirm, auf dem Sagekis Partie zu sehen war. "Schade, wenn ihm jetzt nicht noch eine zündende Idee kommt, dann ist die Partie vorbei. Nur Miyagi scheint wirklich in Topform zu sein." Touya nickte nur und roch an seinem Becher. Der Wasserdampf wärmte sein Gesicht und er meinte, Jasmin zu erschnuppern. Sie saßen für den Rest der Zeit stumm nebeneinander, bis alle Partien vorbei waren, dann gingen sie gemeinsam in den Raum, wo die Jungen noch vor ihren Goban saßen. Sie würden ihn jetzt brauchen, dachte Touya.

Sie saßen nur da und starrten auf die vor ihnen ausgebreitete Partie. Keiner weinte. Korea hatte sie irgendwann alle überrannt, die Spielweise war zu übermächtig gewesen, als dass sie den anderen die Stirn hätten bieten können. Doch sie hatten gut gekämpft.

Touya ging zu Sageki und legte ihm die Hand auf die Schulter, wie er es mittlerweile schon öfter getan hatte. "Komm, lass uns gehen", sagte er nur, dann trat er zu Miyagi. Shindo kam mit Hikaru an seiner Seite zu ihm. Miyagi am zweiten Brett sah mit starrem Blick auf. Er schien zu stur, um die Niederlage zu akzeptieren. Er hatte allerdings auch von allen die beste Partie gespielt und nur mit einem zwei-Moku-Rückstand verloren. Zu fünft gingen sie nach draußen, wo Touya förmlich Hände schüttelte mit dem koreanischen Team und Yongha, umringt von koreanischen Fotografen, die den Triumph ihrer Spieler festhalten wollten. Zwischendrin sah er auch ihren japanischen Fotografen, der sich allerdings zurückhielt. Erst als das Siegerteam weiterzog bekam er die Chance, mit seinen Jungs zu reden. Shindo trat zu ihnen.

"Wisst ihr, dass Touya und ich beim allerersten Hokuto-Cup Japan repräsentieren durften?" fragte er die drei Jüngeren. Sie nickten mit großen Augen. "Als wir damals gegen Korea gespielt haben, war ich erstes Brett. Ich verlor und habe geheult wie ein Mädchen, es war wirklich nicht schön anzusehen. Ich bin froh, dass ihr bessere Verlierer wart heute. Touya war damals übrigens der einzige, der gegen die Koreaner gewonnen hat."

Das schien sie allerdings nicht besonders aufzuheitern, also erzählte Touya eine Anekdote, wie er mal in einem wichtigen internationalen Turnier von einem Kanadier geschlagen worden war, den er vorher auf die leichte Schulter genommen hatte. Langsam besserte sich die Stimmung der Jungen und Shindo verabschiedete sich vorerst, in einer Stunde wollten sie sich mit den beiden Koreanern treffen und vorher noch baden.

Also ging Touya mit seinem Team langsam in Richtung Hotel. Sie setzten sich gemeinsam in die Lobby und bestellten Eistee. Nachdem ihnen eine Karaffe und Gläser gebracht worden war, erzählte Touya ihnen schließlich von seinem Plan, der sie einschloss.

"Ich überlege, eine Übungsgruppe ins Leben zu rufen", erklärte er beiläufig. Die drei anderen warfen sich kurze Blicke zu und sahen dann wieder ihn an, also musste er wohl oder übel mehr sagen. Touya überlegte kurz. "Ihr seid alle drei sehr gute Spieler, aber mit dem richtigen Lehrer würdet ihr schneller wachsen. Ich glaube, dieser Lehrer könnte ich sein."

Auf Sagekis Gesicht breitete sich ein Strahlen aus und er stieß Hikaru neben sich an. "Ich hab doch gesagt, das wäre eine tolle Idee!!" Dann besann er sich und deutete eine Verbeugung in Richtung Touyas an. "Also ich wäre dabei. Ihr seid ein klasse Lehrer, Touya-san!"

Dieser grinste ebenfalls und lehnte sich zurück. Die Jungen plapperten drauflos, darüber, dass sie sich erst am Vortag über diese Idee unterhalten hatten und wie begeistert sie da schon gewesen waren. Plan eins abgeschlossen, dachte er zufrieden.

~x~

Noch am späten Abend ging ihr Flieger. Touya hatte mit Shindo, Yongha und Suyong vorher noch angestoßen und geplaudert, doch seine Gedanken waren schon längst in Japan gewesen. Er hatte es kaum erwarten können, endlich aufzubrechen, obwohl ihm der Gedanke an den Flug nicht gerade gefiel. Shindo schlief diesmal im Flugzeug und so musste Touya sich alleine mit einer Zeitschrift und seinem magnetischen Goban ablenken. Es brachte alles nicht viel und so war sein einziger Zeitvertreib schließlich, die Minuten bis zur Landung zu zählen.

Zurück in der Heimat wurden sie von einigen Sponsoren begrüßt. Touya stützte den müden Shindo auf dem Weg den Gangway entlang und ließ einige Fotos über sich ergehen, bei denen sie erschöpft in die Linse lächelten. Dann verabschiedete er sich schnell von der Crew und sie nahmen sich zu zweit ein Taxi zu ihrem Apartment-Komplex. Es war mitten in der Nacht, als sie eintrafen, und fast sah es so aus, als schaffe es Shindo nicht mehr zu seiner eigenen Wohnung, doch Touya schob ihn noch die Hälfte der Treppen nach oben, bevor er zurück zu seiner eigenen Wohnungstür trottete. Seine Tasche ließ er drinnen gleich neben der Tür stehen, dann schlurfte er auf direktem Wege in sein Zimmer, wo er es gerade so schaffte, Jacke und Hose abzulegen, Hemd und Socken blieben an, dafür war er einfach zu schnell eingeschlafen.

~x~

Als Touya am nächsten Morgen zu seinem Briefkasten schlurfte erwartete ihn ein ziemlicher Schock.

"Was zum–?" Er erstarrte beim Anblick dessen, was vorher sein Briefkasten gewesen war. Er schien von innen ausgebeult, die kleine Tür stand an den Seiten ab und wurde nur noch durch ein Scharnier gehalten. Er kramte seinen Schlüssel hervor und konnte den Kasten nur mit viel Pressen und einigen wohlplatzierten Schlägen öffnen. Offensichtlich hatte ihm jemand einen Böller hineingeworfen, seine Post lag in Fetzen und angesengt da und Touya starrte sie nur entsetzt an.

Nach einigen Minuten dumpfen Starrens klaubte er die Briefreste hervor und ließ die Tür offen hängen, bevor er wieder nach oben ging. War das am Vorabend schon so gewesen? Sie waren wohl beide zu müde gewesen, um darauf zu achten. Anscheinend hatte in ihrer Abwesenheit ein Jugendlicher die Zeit genutzt, etwas aggressive Energie abzulassen, dachte Touya säuerlich, als er gerade die Postfetzen entsorgte.

Dann rief er im Institut an, um zu erfragen, ob sie ihm Briefe geschickt hatten. Tatsächlich war unter der zerstörten Post wohl sein Match-Plan für den nächsten Monat, also bat er um einen erneuten Brief, den er am Montag abholen würde. Danach griff er seinen Autoschlüssel, Hausschlüssel und etwas Geld und ging zur Tür hinaus.

Es war gerade erst zehn Uhr, Shindo würde noch einige Stunden lang schlafen. Vermutlich würde er sauer sein, wenn er erfuhr, dass Touya ihm nicht bescheidgesagt hatte wegen der kleinen Lappalie, wie Touya es bezeichnen würde. Er zuckte die Schultern und verließ gemächlich den Komplex. Auf dem Parkplatz davor wartete bereits sein wunderschöner Sportwagen. Er strich über die Kühlerhaube und die Fahrertür und merkte, wie er sofort ruhiger wurde. Als er in den tiefen Sitz sank, atmete er erst einmal tief durch. Es war nur ein Kinderstreich, sagte er sich. Nur warum war er plötzlich von solcher Unruhe erfüllt? Es hätte genauso gut Shindo treffen können, es war reiner Zufall. Er hatte niemanden erzürnt.

Touya startete den Motor und hörte das angenehme Knirschen der Reifen auf dem Asphalt, als er aus der Ausfahrt fuhr.

Er fuhr nicht weit, eigentlich hätte er auch laufen können, aber er wusste, dass die Fahrt ihn in bessere Laune versetzen würde. Schließlich hielt er vor dem Laden, in dem er schon seinen letzten Briefkasten gekauft hatte, weil der seiner Vormieter ihm nicht gefallen hatte. Er ging hinein, lehnte die Hilfe des Verkäufers freundlich ab und sah sich um. Er fand, was er suchte, und ging zu den ausgestellten Kästen. Waren die alten auch so hässlich gewesen? Er hatte eigentlich gedacht, beim letzten Mal waren hier nur welche gewesen, die ihm gefallen hatten, aber diesmal fand er keinen einzigen. Wozu überhaupt einen Briefkasten, dachte er kurz. Nach kurzem Zögern wählte er einen der hässlichen aus, es war ein schlichter, klobiger, weißer Kasten mit komischen Verzierungen, die an Elefanten erinnerten.

Der Verkäufer lächelte ihm begeistert zu und Touya fragte sich, ob dieser Mann selbst die Artikel im Laden auswählte, denn dann hätte er wohl den schlechtesten Geschmack der Welt. Und das sagte er, dem Shindo immer vorhielt, ein hoffnungsloser Fall zu sein, was so etwas anging.

Auf dem Weg nach Hause besserte sich seine Laune nicht mehr, trotz wunderschönem Auto und allem. Sein Briefkasten war zerstört worden und er hatte nicht einmal einen ähnlichen schönen finden können, sondern stattdessen würde sein Name ab demnächst auf einem schrecklichen weißen Klotz kleben, der ihn immer wieder an diesen verkorksten Morgen erinnern würde. Vermutlich würde er bald einen neuen kaufen gehen, redete er sich ein.

Daheim angekommen holte er Werkzeug aus seiner Wohnung und machte sich daran, seine Errungenschaft anzubringen. Irgendwann gegen halb elf kam Shindo die Treppe hinuntergeschlurft. Touya, der gerade seinen alten Briefkasten abgeschraubt hatte, sah auf und dem anderen entgegen. Er sah ziemlich verschlafen aus, die Haare zerzaust und verknotet, außerdem trug er eine alte Jogginghose und ein ausgeblichenes Shirt mit einer hellen "5" darauf. Diese Klamotten trug er sonst nicht mehr.

Als Shindo ihn erkannte blieb er kurz stehen und kam dann zu ihm und nahm ihm den zerbeulten Kasten aus der Hand, um ihn mit gerunzelter Stirn zu betrachten.

"Verdammte Teenager", murmelte er wütend. "Brauchst du Hilfe hier?"

Touya schüttelte den Kopf, nahm seinen alten Briefkasten an sich und legte ihn am Boden ab, bevor er begann, den neuen in die Lücke zu halten und anzuschrauben. Es dauerte nicht allzu lange und Shindo lehnte die ganze Zeit neben ihm an der Wand, schaute fachmännisch zu und gähnte ab und zu leise. Schließlich war Touya fertig und Shindo tat endlich, wofür er eigentlich gekommen war: seine Post holen.

"Was machst du heute?" fragte er verschlafen und kratzte eine Stelle bei der "5" auf seinem Shirt.

Touya zuckte nur die Schultern. "Keine Ahnung. Du kannst vorbeikommen, wenn du Lust auf eine Partie hast. Ansonsten muss ich nur ein Protokoll schreiben über die Tage in Korea. Montag ist ein abschließendes Meeting mit den Sponsoren, danach laden sie auf eine kleine Party ein."

Shindo sah ihn eine Weile lang an, dann ging er Touya voran die Treppen hinauf. Auf Touyas Stockwerk drehte er sich noch mal kurz um und fragte: "Siehst du sie dann am Montag?"

Touya starrte kurz zurück und merkte, wie die Zahnräder in seinem Kopf im Schneckentempo anliefen. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht, seit er vor zwei Stunden den zerstörten Briefkasten vorgefunden hatte, aber Shindo hatte Recht. "Ich schätze schon", erwiderte er und ging dann mit nur einem weiteren Nicken in seine Wohnung.

Er würde sie wiedersehen. SIE. Ayumi. Seine Traumfrau.

Ayumi

Für Ayumi gibt es nun auch einen Steckbrief :)

Viel Spaß mit diesem Kapitel.

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We lose control

In increasing pace

Warped and bewitched

A time to erase

Whatever they say

These people are torn

Wild and bereft

Assassin is born
 

(Muse - Assassin)
 

Das Meeting fand fünf Uhr am Nachmittags statt. Vormittags übernahm Touya im Institut drei Stunden Go-Unterricht. Er sah es als Vorbereitung für seine eigene Übungsgruppe, die am Mittwoch zum ersten Mal zusammentreffen würde.

Gegen eins gingen seine Schüler, und weil er nicht für vier Stunden im Institut bleiben wollte – zwei Reporter lungerten in der Lobby herum – fuhr er nach Hause. Dort angekommen lief er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, gleich zu Shindo, um die Zeit mit einer ausgiebigen Partie Go zu vertreiben.

Der Meijin sah für diese Uhrzeit überaus wach aus und grinste Touya beim Öffnen fröhlich an. In der Hand schwenkte er eine lila Dose, so überschwänglich, dass etwas auf seine Fußmatte schwappte.

"Guck mal, Touya, das ist ein neuer Energy-Drink, er schmeckt nach Pfirsich! Und das Zeug macht super-wach!!" Er griff nach Touyas Hemdärmel und zog ihn in die Wohnung, die heute seltsam süßlich roch. Vermutlich hatte er schon einiges mehr verschüttet.

"Wie viele davon hast du schon getrunken?" fragte Touya misstrauisch. Er kannte Shindo ja euphorisch, aber selten war er grundlos so hibbelig wie an diesem Tag.

"Keine Ahnung, bei fünf habe ich aufgehört, zu zählen. Willst du auch?" Touya schüttelte den Kopf und ging hinter Shindo her in dessen Wohnzimmer. Es sah aus wie nach einem feindlichen Luftangriff – auf dem Boden, dem Sofa und dem kleinen Tisch stand schmutziges Geschirr, lagen Klamotten und lebten vermutlich viele kleine Tiere, obwohl ihm solche in der Wohnung noch nie begegnet waren.

"Du solltest wirklich –"

"– mal wieder aufräumen, jaja, Mutter."

"Eigentlich meinte ich, eine Putzfrau in Betracht ziehen. Ich weiß ja, dass du zum Saubermachen nicht zu gebrauchen bist." Shindo lächelte ihm halbherzig zu und schob nebenbei mit dem Fuß Klamotten und Müll von einem rechteckigen Bereich seines Bodens zu allen Seiten weg. Dorthin schob er sein Goban. Es war das alte von seinem Großvater, dem er es zu seinem Einzug abgeschwatzt hatte. Obwohl es aus Kaya war, sah es nicht allzu hochwertig aus, aber Shindo schienen andere Werte daran zu binden als Aussehen.

Als um sie herum ein Krater freien Bodens innerhalb der wohnungsfüllenden Müllhalde geschaffen war, ließ Shindo sich auf den Boden plumpsen.

Touya sah sich skeptisch um. Als er das letzte Mal hier gewesen war, war es tatsächlich etwas ordentlicher gewesen, auch wenn ALLES ordentlicher erscheinen würde als das momentane Chaos.

"Wie zur Hölle schleppst du so viele Frauen in einer Wohnung wie dieser ab?" fragte er, ehrlich entgeistert. Davon abgesehen, dass sie vermutlich alles, was sie einmal fallen ließen, nie wieder in ihrem Leben sahen, war es unmöglich, auch nur einen Schritt zu gehen, ohne Angst zu haben, in irgendetwas ziemlich Ekliges zu treten. So erging es ihm zumindest. Aber laut Shindo war er ja auch ein "Clean-Freak", weil er sein Geschirr sofort wegstellte und seine benutzte Kleidung in einem Wäschekorb landete anstatt überall sonst.

Shindo grinste verschmitzt und erwiderte: "Tja, wenn sie hier ankommen, haben sie für ihre Umgebung eben keine Augen mehr. Jetzt lass uns endlich anfangen. Aber ich muss dich vorwarnen: ich bin so aufgedreht, mehr als Speed-Go ist echt nicht drin. Dafür bin ich fit genug für eintausend Partien!"

Touyas Mundwinkel zuckten und schließlich setzte er sich im Schneidersitz vor das Goban und nahm sich den Behälter mit weißen Steinen. Schon lange nutzten sie kein Nigiri mehr, um den Anfangenden zu bestimmen sondern wechselten sich nach jeder Partie ab. Es war ein leichtes, sich die Farben zu merken, denn Touya konnte noch jedes ihrer Spiele vom ersten bis zum letzten Zug aus seinem Gedächtnis abrufen.

Sie sprachen nicht viel und das fand er angenehm. Im Moment wollte er nicht reden. Sein Kopf war an zu vielen Orten gleichzeitig. Bei Ayumi, bei den Jungs, die er im Pokal begleitet hatte, bei den Sponsoren, denen er die Ergebnisse vorstellen musste – Japan war wieder nur auf dem zweiten Platz gelandet, während Korea einen weiteren Sieg zu verzeichnen hatte – und dann war da natürlich immer noch ganz weit in seinem Hinterkopf der gesprengte Briefkasten, an den ihn der klobige Kasten jeden Tag erinnerte, aus dem er nun seine Post holte. Er brauchte wirklich einen neuen.

Es war also nicht verwunderlich, dass Touya die meisten der Partien verlor. Shindo schien sich durch seine ungezählten Energy-Drinks nur noch besser konzentrieren zu können und was auch immer gerade durch seinen Kopf ging, er schien es gut im Hintergrund behalten zu können. Nach fast zwanzig Partien erhob Shindo sich schließlich und streckte und schüttelte die Beine etwas.

"Tee?" fragte er und Touya nickte dankbar. Nach langem Spielen war sein Mund meist trocken. Gelangweilt sah er sich im Zimmer um, bevor er begann, die Klamotten in seiner unmittelbaren Nähe zu greifen und alle auf einen Haufen beim Sofa zu werfen. Bis Shindo zurückgekehrt war, hatte sich der Krater um Touya beträchtlich vergrößert und auch der Wäschestapel war auf die Größe eines kleinen Kindes angewachsen.

"Touya, du bist wirklich ein Clean-Freak..."

~x~

Das Meeting lief viel besser, als Touya erwartet hatte. Offensichtlich bestand rege Nachfrage nach dem Fotoband des Hokuto-Cups und auch die Übertragungen der Partien im japanischen Fernsehen hatten mehr Zuschauer gelockt, als vorher abgeschätzt. Zwar wusste Touya, dass diese Erfolge nicht ihm zu verdanken waren, aber das Lob und den Dank nahm er trotzdem gern an. Einen Monat würde es bis zum Druck des Fotobandes dauern, danach war der diesjährige Pokal für ihn abgehakt.

Gegen halb sieben verließen sie alle zusammen das Institut und ließen sich zum Ort der kleinen Feier fahren. Sie fand in einem nahe gelegenen Hotel statt. Schon auf dem Weg redete jeder der Sponsoren auf Touya ein, erkundigten sich nach den Pokaltagen, um zu erfahren wie die Stimmung war, wie viele koreanische Firmen geworben hatten, ob ihre Vertreter eine gute Figur gemacht hatten.

Die Stellen über die Jungs schönte Touya etwas, doch den Rest versuchte er so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben. Als er gerade von dem regen Interesse der koreanischen Presse erzählte, erreichten sie das Hotel und wurden bereits von einem Mitarbeiter empfangen. Touyas Handflächen waren verschwitzt und er wischte sie unauffällig an seinen Hosen ab.

Dann folgte er den Männern. Er sah sich kaum um, obwohl er solche edlen Hotels eher selten von innen sah. Nicht, dass er es sich nicht leisten konnte, aber die Anlässe waren rar. Sie wurden zu den Fahrstühlen begleitet, und nun brach ihm nicht nur an den Händen der Schweiß aus. Ob das immer so war, wenn man seine gleich Traumfrau sehen würde?

Mit jeder Etage wurde er nervöser; er begann, seine Finger zu reiben, weil seine Hände langsam kalt wurden. Er hoffte, dass er oben keine Hände schütteln müsste, denn seine waren jetzt kalt und schweißig, nicht gerade geeignet für einen guten ersten Eindruck.

Als die Fahrstuhltüren aufglitten, betraten sie direkt die Feier, für die ein Penthouse gemietet worden war. Überall standen Tische, um die sich die Menschen drapiert hatten. Auf einem Buffet standen Häppchen und Sektgläser zur freien Verfügung. Ein Glas wurde ihnen schon beim Eintreten in die Hand gedrückt und Touyas Knöchel wurden weiß um den Stiel, als er sie in der Menge ausmachte.

Ayumi hatte lange, fließende schwarze Haare, die ihr fast bis auf die Hüften fielen. Sie sahen aus wie seidene Onyxe und glänzten selbst in dem gedämpften Licht des Raumes noch hell. Touya sah sie nur von hinten, aber bewunderte Ayumis schön geschwungene Konturen, die sie durch ein dunkelblaues Cocktailkleid hervorhob. Ihre schmalen Schultern erzitterten unter einem hellen Lachen, das ihm eine Gänsehaut verpasste. Er entschuldigte sich bei seinen Begleitern und ging langsam auf sie zu. Ihr Gesprächspartner, ein älterer Herr mit bereits ergrauten Schläfen bemerkte Touya, aber reagierte nicht auf ihn. Es schien ihm, im Gegenteil, gar nicht zu passen, dass dieser ihn in seinem Gespräch störte.

Touya ließ sich nicht beirren und stellte sich neben die beiden.

"Kanegawa-san, schön, Sie wiederzusehen", begrüßte er sie und lächelte nervös. Sie wandte sich ihm zu und belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

"Touya-san! Das freut mich auch! Wie war ihre Zeit in Korea?" Vertraut nahm sie seinen Arm und wandte sich von dem älteren Herren ab, der nun säuerlich in seinen Sekt starrte. Sie führte ihn zum Balkon der Suite, auf dem sie die einzigen waren. "Entschuldigen Sie, dass ich Sie so dreist benutzt habe, um Wasaka zu entkommen, aber Autos sind nun wirklich das letzte Thema, über das ich reden möchte", erklärte sie ihm mit einem verschmitzten Lächeln und ihm wurde ganz flau im Magen. Nebenbei machte er sich eine gedankliche Notiz, vor ihr nicht über seinen Sportwagen zu schwärmen.

"Stets zu Diensten", erwiderte er und lächelte weiter dümmlich. Dieses Lächeln würde sie sicher bald satt haben, wenn er nicht langsam etwas interessanter wurde. Also erzählte er ihr wie gewünscht von Korea. Er gab ihr einen kurzen Abriss von den Partien und den kleineren Problemen, wie dem Alkohol-Ausrutscher der Jungen am zweiten Abend. Ayumi schien sich blendend zu amüsieren an seiner Seite und Touya war froh, offensichtlich ein interessanterer Gesprächspartner zu sein als ihr voriger.

Niemand kam, um sie hereinzubitten, er schien auch nicht schmerzlich vermisst zu werden, also blieben sie auf dem Balkon. Als Touya geendet hatte, standen sie eine Weile an der Brüstung und betrachteten die Sterne, während die junge Frau von einem Sternschnuppenregen erzählte, den man in Tokyo allerdings wegen der Lichtverschmutzung nicht sehen konnte.

Als sie zu frösteln begann, reichte Touya ihr sein Jackett, das sie ohne zu viele Floskeln à la "Aber das geht doch nicht" und "Werden sie denn nicht frieren" einfach annahm. Wenn alles gut lief, würde er die Jacke absichtlich vergessen und dann mussten sie sich an einem anderen Tag noch einmal treffen, überlegte er, und musste sich ein Grinsen verkneifen.

Ayumi begann, ebenfalls von ihrem Job zu erzählen, auch wenn Touya davon nicht allzu viel verstand. Ihr Vater besaß ein IT-Unternehmen, das sich auf Software-Aufträge für Banken und Institute spezialisiert hatte, viel mit Datenauswertung, Modifizierung. Sie arbeitete in der Firma mit und war Teamleiterin für zwei mittelgroße Projekte. Ihr Vater hatte den Hokuto-Pokal mitgesponsert, weil er hoffte, so vom Go-Institut in Tokyo Aufträge zu erhalten. Ayumi erzählte etwas von den Projekten, an denen sie mitwirkte. Eines war für das Institut der Geowissenschaften, sie erklärte auch, was das Programm bewirken sollte, aber Touya verstand nur Bahnhof. Trotzdem nickte er immer wieder, als würde er ihr perfekt folgen können. Schon ihre Stimme zu hören reichte ihm vollkommen aus.

Es war gegen neun, als sie schließlich doch nach drinnen gebeten wurden. Sie hatten fast zwei Stunden draußen gestanden und geredet und Touya schwebte wie auf Wolken, so glücklich war er, Zeit mit ihr verbracht zu haben. Drinnen zog sie sein Jackett aus und gab es ihm zurück.Damit war sein wunderbarer Plan zerstört. Doch sie zog ihr Handy aus ihrer Handtasche und meinte: "Wir sollten uns auf jeden Fall wiedersehen. Es gibt noch so viel, was ich gerne wissen würde."

Touya lächelte und war froh, dass sie so direkt war, obwohl er kaum gezeigt hatte, wie gern er sie wieder treffen würde. Er nahm ihr Telefon entgegen und tippte seine Nummer ein. Sie speicherte sie und rief ihn kurz an, damit er auch ihre hatte, dann steckte sie es wieder ein und sah zu der kleinen Traube, die sich am Ausgang gebildet hatte.

"Mein Vater geht jetzt, also werde ich ihn begleiten. Vielen Dank für die Unterhaltung, Touya-san", meinte sie und streifte kurz seine Hand, bevor sie mit einem letzten Lächeln zum Fahrstuhl lief und sich von den anderen Herren verabschiedete. Touya wurde nicht gebraucht, niemand sah sich nach ihm um oder wunderte sich, warum er die Gehenden nicht auch verabschiedete. Er sah wieder, für wie klein die Sponsoren seine Rolle eigentlich hielten. Für sie zählte nur das Geld.

Seufzend ging er zu einem der Tische und nahm sich einen Happen herunter. Sein Magen grummelte leise, um ihn daran zu erinnern, dass er gern mehr davon hätte, weil er den halben Tag lang schon aus Vorfreude kein Essen mehr angefasst hatte. Auch jetzt beließ er es bei dem einen Stück und wanderte dann etwas ziellos durch den Raum, bis er von einem Mann angesprochen wurde, der nur etwas älter war als er und sich anscheinend für Go im Allgemeinen interessierte. Er wollte offensichtlich etwas Theorie erläutert bekommen, und da Touya sowieso nichts anderes zu tun hatte, stellte er sich mit dem Herrn an einen Tisch und begann, mit Sushi-Happen Go-Regeln zu erklären.

~x~

Den Dienstag und Mittwoch verbrachte er in einer Schwebe, als würde er auf Watte laufen und höre die Welt durch einen Filter, der Lärm aus- und dafür Vogelgezwitscher einblendete. Er hatte eine Partie im Gosei-Wettkampf, die er nur durch einen Schleier wahrnahm, aber ohne Probleme gewann. Shindo schien sehr befremdet von ihm zu sein, aber dachte sich seinen Teil und ließ Touya seinen Spaß. Sie spielten nur am Dienstag eine Partie gemeinsam, weil Shindo etwas in Eile war. Er hatte wieder mehr Aufträge, bei denen er Spiele kommentierte, und das Institut hatte ihm keinen besonders schönen Zeitplan aufgestellt.

Am Mittwoch war es schließlich soweit: Touyas Lerngruppe sollte das erste Mal zusammentreffen. Er war den ganzen Vormittag lang nervös gewesen, hatte bereits Pizzen bestellt für eine halbe Stunde nach Beginn, hatte ein drittes Goban von Shindo organisiert und seine Wohnung gefühlte fünf Mal aufgeräumt. Bei den letzten zwei Malen hatte er so genau geschaut, dass am Ende wirklich kein Haar mehr zu finden war und kein Staubkorn auf dem Boden lag. Schließlich war er eine halbe Stunde zu früh so nervös, dass er überhaupt nichts mehr machen konnte. Er saß kerzengerade auf dem Sofa und starrte die Uhr an, die tödlich langsam tickte.

Erst das Klingeln erlöste ihn aus seiner Starre. Sie waren sieben Minuten zu früh. Nicht, dass er nicht bereit war, dachte Touya.

Als er öffnete, standen Miyagi und Hikaru vor der Tür, die er höflich hinein bat. Sie überreichten ihm ein kleines Geschenk: grünen Tee, der recht teuer aussah. Touya bedankte sich stotternd und lief unkoordiniert in die Küche, um gleich welchen aufzusetzen. Warum hatte er noch keinen zubereitet?, schalt er sich innerlich.

"Hausschuhe stehen im Flur, bedient euch ruhig", rief er aus der Küche heraus und füllte Wasser in seinen Kocher. Dann stellte er ihn an und ging wieder zu den Jungen. "Wollt ihr eine Wohnungsführung oder so?"

Die beiden sahen sich fragend an und nickten dann schüchtern. Wann würden sie diese Beklommenheit um ihn herum nur ablegen? Vermutlich erst, wenn Touya zu den Lerngruppen nicht mehr im Anzug bereitstand, dachte er beiläufig. Aber mit Anzügen machte man nichts falsch. Shindo band ihm ja so gern auf die Nase, dass er keinen Modegeschmack hatte, deswegen ließ er meist die Finger von seiner Shirt-Schublade.

Touya begann in der Küche mit der Führung. Sie hatte eine Stahl-Optik, die ihm von Anfang an gefallen hatte. In der Mitte des Zimmers stand ein Tresen, der allerdings noch nie genutzt worden war, weil er nie Lust hatte, zu kochen, und er sein Essen meist vor dem Goban einnahm.

"Fasst ruhig alles an, Shindo macht das auch nicht anders", meinte er, doch die beiden standen nur in der Mitte des Raumes herum und sahen sich mit großen Augen um. Viel gab es eigentlich nicht zu sehen, denn er hing nie Bilder oder Fotos auf, die Küche sah fast noch so aus, wie er sie übernommen hatte.

"Da drüben ist das Bad, hier kommt das Wohnzimmer." Er führte sie in den Raum am Ende des Ganges und machte eine Geste, die das ganze Zimmer einschloss. Gerade als er sie auffordern wollte, sich auch hier gern umzusehen, klingelte es wieder. "Mein Haus ist euer Haus", meinte er noch und ging dann wieder zur Tür. Sageki stand davor, auch er hatte Tee mitgebracht. Wann war den Jungen aufgefallen, dass er viel davon trank? Er bedankte sich bei dem Jungen und zeigte auch ihm die Hausschuhe.

Das Wasser in der Küche kochte mittlerweile. Touya wies Sageki an, zu den anderen zu gehen, während er den Tee fertigmachte. Er setzte eine Kanne auf und griff dann nach vier Keramikschalen, bevor er wieder in sein Wohnzimmer ging. Dort standen die Jungen bereits vor seinem Regal mit den DVDs, CDs und Büchern. Sageki zog gerade eine CD aus einem der Fächer.

"Die habe ich auch", meinte er und Touya sah auf. Mendelssohn Bartholdy.

"Dann leg sie ein", erwiderte er und lächelte. Musik war immer gut. Sageki folgte seinen Anweisungen, während Hikaru gerade durch die DVDs ging.

"Wow, Touya-sensei, ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Filme über Go gibt..." meinte er ehrfurchtsvoll, tippte immer wieder einen an, um ihn ein Stück herauszuziehen und dann wieder reinzuschieben.

"Ich auch nicht. Shindo schenkt mir ständig welche, keine Ahnung, wo er die immer auftreibt." Miyagi sah ihn zweifelnd an und Touya konnte sich denken, dass sein Schüler sich wunderte, warum Shindo ihm Filme schenkte und alles in seiner Wohnung anfasste, wie er vorher gesagt hatte. Er fragte allerdings nicht nach. Auch sie wussten schon, bevor sie den Ouza überhaupt kennengelernt hatten, dass zwischen ihm und Shindo eine seltsame Freundschaft oder Rivalität bestand. Go Weekly hatte erst vor einem halben Jahr wieder ein riesiges Special darüber herausgebracht, das ihren ganzen Werdegang vom ersten Treffen an beleuchtete. Touya hatte es nicht sonderlich toll gefunden, dass dort sein halbes Leben offenbart worden war, aber das war nun einmal Teil ihrer neuen Prominenz.

Die Klänge von Mendelssohns vierter Sinfonie begannen lebhaft, durch das Zimmer zu schallen. Sageki drehte den Ton etwas herunter und wandte sich dann Touya zu. Er nickte zu den drei Goban in der Mitte und Touya nickte zurück.

"Dann lasst uns anfangen", meinte er zu den anderen beiden und setzte sich vor das mittlere Goban. "Ihr drei gegen mich."

Sie kamen zu ihm getrabt und nahmen an den Goban Platz, in der gleichen Aufstellung wie schon bei ihrem letzten Wettkampf: Sageki, Miyagi, Hikaru. Touya schob ihnen die schwarzen Steine zu und nahm sich die Behälter mit den weißen Steinen.

"Wir spielen ohne Handycap, gebt einfach euer Bestes."

Und das taten sie. Anfangs ließen sie sich von Touyas schnellem Tempo mitreißen. Da er gegen drei auf einmal spielte, konnte er bei keinem besonders lange nachdenken, stattdessen setzte er intuitiv und meist nur wenige Sekunden nach dem Zug seines Gegenübers. Die Jungen ließen sich leicht bedrängen, weil sie versuchten, ebenso schnell zu reagieren, das führte zu leichten Fehlern. Miyagi, der kühlste Kopf von ihnen, fing sich am schnellsten und ließ sich immer mehr Zeit. Bei seiner Partie begann schließlich auch Touya, mehr als nur wenige Sekunden über seinen nächsten Zug nachzudenken.

Die anderen beiden merkten auch schnell, dass sie mit Schnelligkeit allein nicht gegen ihn ankamen und nahmen sich nach und nach mehr Zeit. Nach der Hälfte der Zeit sah Touya einen wirklich wunderbaren Zug in Miyagis Partie. Er wusste, wie er ihn sofort unschädlich machen konnte, es würde nur einen Ausweg geben, einen sehr komplizierten, den der Junge vermutlich nicht sehen würde. Doch stattdessen wählte Touya einen sanften Ansatz, der die Strategie nicht sofort untergrub. Er wollte zusehen, was der andere daraus machte.

Miyagi warf ihm einen Blick zu. Offensichtlich hatte er tatsächlich den Zug erwartet, den Touya unterlassen hatte. Der Ouza bot ihm nur allzu offensichtlich eine Öffnung und er wusste nicht, was dies bedeuten sollte. Nach reichlicher Überlegung ergriff er die Chance.

Diese Partie wurde die interessanteste, doch auch die anderen beiden sorgten für Spannung. Nach einer halben Stunde kam ihre Pizzen an, die sie beim Spielen herunterschlangen. Insgesamt hatten sie für diese Partien etwa eineinhalb Stunden gebraucht. Danach ging Touya zu einer recht knappen Diskussion zu allen Partien über. Bei der von Hikaru wurde er durch das Klingeln der Tür unterbrochen. Da seine Gruppe vollständig war, konnte es eigentlich nur einer sein.

"Wofür hast du verdammt nochmal einen Schlüssel?" knurrte er, als er Shindo vor der Tür stehen sah.

"Was ist denn los, haben die Knirpse dich geschlagen, dass du so schlecht gelaunt bist?" fragte Shindo fröhlich und trat ein. "Ich dachte mir, du könntest etwas Verstärkung gebrauchen. Außerdem habe ich immer noch keinen Tee gekauft."

Er fragte sich, woher Shindo das Gespür dafür hatte, wann es in dieser Wohnung frischen, heißen Tee gab, denn er hatte nicht zum ersten Mal genau den Moment abgepasst, in dem er gerade wieder welchen aufgesetzt hatte. Seufzend schloss Touya die Tür hinter seinem Nachbarn und deutete aufs Wohnzimmer, während er in die Küche ging und eine Tasse holte.

Er hörte, wie Shindo die drei begrüßte und sich zu ihnen setzte, um sich die Partien anzusehen. Touya kam mit der Tasse dazu und reichte sie Shindo, der sich etwas eingoss.

"Miyagi, sieht aus, als hättest du hier wirklich schön gespielt", murmelte Shindo konzentriert und zeigte auf die Stelle, die sich nach Miyagis gutem Zug entwickelt hatte. Der Junge strahlte ihn stolz an und erwiderte: "Touya-sensei war sanft zu mir, sonst wäre es nicht so ausgegangen."

"Dann lass uns auch eine Partie spielen. Und gegen Mini-Me möchte ich auch spielen. Sageki, du übernimmst den Ouza."

Du übernimmst wohl eher meine Lerngruppe, dachte Touya amüsiert und setzte sich vor das erste Brett. Er hatte nichts dagegen, dass Shindo mitmachte, ganz im Gegenteil. Er würde dem Ganzen noch mehr Würze geben.

Schritte; Schnitte

Die Story hat jetzt ein neues Cover :) Ein Fanart, das mir sehr gut gefällt. Einfach mal refresh drücken, falls ihr noch das alte seht <3

Nebenbei vielen Dank an die Favoritennehmer. Ich liebe euch x3

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You and me fall in line

To be punished for unproven crimes

And we know that there's no one we can trust

Our ancient heroes

They are turning to dust
 

And these wars they can't be won

Does anyone know or care how they begun?

They just promise to go on and on and on

But soon we will see

There can be only one
 

(Muse - United States of Eurasia)
 

Sie spielten bis in die Nacht, Sageki legte immer wieder neue CDs ein und lieh sich am Ende zwei aus. Touya und Shindo zofften sich nicht. Das hatten sie in letzter Zeit überhaupt selten. Vielleicht war Shindo zu abgelenkt mit seinem Privatleben und er selbst zu sehr auf Wolke Sieben gefangen. Die zwei Tage lang hatte er überlegt, ob er Ayumi schon anrufen solle, doch sie nahm es ihm wie so vieles ab. Früh um neun klingelte sein Handy, als er gerade auf dem Weg zu einer neuerlichen Partie war.

"Hallo?" ging er heran, während er gerade seine Autoschlüssel aus der hinteren Tasche seiner Hose fischte.

"Hallo, Touya-san" meldete sich Ayumis Stimme, die wie ein Windspiel klang. Er lächelte und merkte, wie etwas Anspannung aus seinen Schultern floss. "Ich habe heute ein Meeting in der Nähe des Go-Instituts und dachte, wir könnten vielleicht zusammen Mittag essen gehen."

Touya lächelte glücklich in sich hinein. "Gern, ich bin ab eins frei", erwiderte er. Eher sogar, wenn er seinen Gegner vernichtete. Er musste zugeben, dass er in letzter Zeit nicht mehr alle Partien wirklich ernst nahm, meist reichte ein Minimum an Kraft, um seine Gegner zu besiegen – warum also alles geben?

"Klasse, dann warte ich vor dem Institut auf sie. Bis dann", flötete sie fröhlich und legte auf. Er sah noch eine Weile sein Handy an, als wolle er ihm danken, dann steckte er es ein und die Schlüssel ins Zündschloss. Er startete den Wagen und fuhr an.

Dann hielt er wieder. Irgendetwas war komisch. Sein Wagen klang seltsam. Er fuhr sein Fenster herunter, um besser hören zu können, dann fuhr er wieder an, diesmal langsamer. Seine Reifen quietschten lauter als sonst.

Er hielt wieder an und schaltete den Motor aus. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen öffnete er die Fahrertür und stieg aus. Er schlug die Tür zu und sah es sofort: seine Reifen waren platt. Alle vier.

Touya verschränkte die Hände an seinem Hinterkopf und starrte fassungslos seine luftlosen Reifen an. War das ein Streich gewesen? Schon wieder? Er beugte sich zum ersten Reifen hinunter und musste nicht lang suchen. Er sah einen geraden Schnitt, vielleicht fünf Zentimeter lang. Würden Jugendliche wirklich vier Reifen an einem Auto zerschneiden und dann – soweit er das beurteilen konnte – einfach abhauen, ohne die anderen Autos auch nur anzurühren?

Er wollte nicht länger darüber nachdenken. Er stieg ein, fuhr die wenigen Meter, die er eben gefahren war, zurück in seine alte Parklücke und ging dann wieder ins Haus. Wütend nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Warum er? Warum heute? Warum musste ihm etwas die Laune verderben, nachdem er gerade ein Date mit seiner Traumfrau vereinbart hatte? Oder sie mit ihm, aber das war ja auch egal.

Mit viel heißer Luft im Bauch hämmerte er gegen Shindos Tür. Dann klingelte er. Dann hämmerte er wieder, weil es ihm viel zu lange dauerte.

Erst sein fünftes Klingeln wurde schließlich belohnt, indem Shindo die Tür öffnete. Er sah zerzaust und müde aus, anscheinend hatte Touya ihn gerade aus dem Bett geholt. Offensichtlich hatte er nur ein Shirt aber keine Hose gefunden, so stand er in T-Shirt und Boxershorts im Türrahmen und sah sein Gegenüber mürrisch an.

"Du musst mich fahren", knurrte Touya und bei seinem Ton sah Shindo überrascht auf. Er schien kurz zu überlegen, ob er widersprechen sollte. Er entschied sich dafür.

"Ehrlich gesagt habe ich gerade jemanden da", meinte er und deutete vage in Richtung Schlafzimmer.

"Dann lass uns Schlüssel tauschen", erwiderte Touya und hielt ihm seinen Autoschlüssel vor die Nase. Shindo wirkte mehr als verwirrt, ging aber schließlich zurück in seine Wohnung, um auf Schlüsselsuche zu gehen. Nach einigen Minuten kam er zurück und überreichte Touya Schlüssel und Papiere.

"Was ist denn los?" fragte er, doch Touya schüttelte nur den Kopf und meinte: "Sieh's dir nachher selbst an. Und fahr mit der Bahn zum Institut." Shindo verzog den Mund, musste dann allerdings gähnen. Er murmelte ein "Bis später dann" und schloss die Tür vor Touya. Dieser lief wieder auf den Parkplatz und brauchte nicht lange, um den roten Sportwagen zu entdecken, dessen Schlüssel er nun in der Hand hielt. Er stieg ein und ließ den Motor aufheulen, um sich etwas abzureagieren. Dann zischte er aus der Einfahrt und in den morgendlichen Verkehr.

Wer auch immer seinen Wagen so zugerichtet hatte, im Moment wollte Touya ihn am liebsten brennen sehen.

~x~

Sein Gegner konnte einem wirklich Leid tun. Touya war ausgesprochen selten so schlecht gelaunt, dass er sein Go als Klinge nutzte, um seinen Kontrahenten zurechtzustutzen. Aber heute hatte er sich dafür entschieden. Er wollte nicht mit so viel negativer Energie auf Ayumi treffen, also ließ er seine ganze Anspannung in der Partie heraus.

Nach etwa zwei Stunden gab sein Gegner schließlich auf. Es war ein junger 3-dan, der Touya sehr eingeschüchtert für die Partie dankte. So harte Spiele waren nicht üblich in der beginnenden Phase eines Titelturnieres, und dies hier war noch eine der Vorrunden für den Gosei. Touya dankte seinem Gegenüber und zog sich zurück. Er fuhr mit dem Fahrstuhl bis ganz oben und stellte sich an die Fensterwand, wo er versuchte, sich etwas zu sammeln.

Sein Handy klingelte und Shindo war dran. Er hatte immer ein gutes Gespür dafür, wann Touyas Partien endeten. Er schnipste das Telefon auf und sofort kam ihm einer von Shindos Redeschwallen entgegen.

"Oh mein Gott, Touya! Was hast du dir da nur wieder eingebrockt?! Langsam glaube ich, du ziehst das Unheil an, vielleicht liegt es an deinen pinken Glückssocken, die eigentlich Unglückssocken sind!!"

"Shindo", unterbrach er diesen. "Du bist der mit den Glückssocken, ich glaube nicht an so etwas." Nebenbei fragte er sich, ob Shindo wieder von seinem neu entdeckten Energy Drink genascht hatte, der ihn so hyperaktiv machte.

"Wie auch immer." Man konnte das Augenverdrehen förmlich heraushören. "Ich habe die Werkstatt angerufen, die kümmern sich darum. In einer Stunde kommen sie hier vorbei, bist du dann wieder zu Hause?"

Touya sah auf die Uhr. Es war noch nicht mal halb eins. Wenn er Ayumi um eins traf, wäre er unmöglich nach weniger als einer halben Stunde daheim. "Nein."

"Hm... Also gut, dann gebe ich Yun deine Schlüssel und er wirft sie am Ende in deinen Briefkasten. Oder meinen, falls er Angst vor deinem hat, haha!" Touya fragte sich, wer Yun überhaupt war und warum ausgerechnet der auf seinen Wagen aufpassen sollte, aber er widersprach nicht. Wenn etwas schief ging, konnte er es zumindest auf Shindo schieben. "Wie lange bist du noch im Institut?"

"Eine halbe Stunde etwa."

"Okay, ich beeil mich, ich brauche die Schlüssel noch."

Touya erklärte ihm, dass er die vorsichtshalber einem der Protokollanten geben würde, falls sie sich nicht mehr erwischten, dann dankte er Shindo und legte auf. Wenigstens war diese Angelegenheit bald geklärt.

Die nächste halbe Stunde tigerte er auf dem obersten Stockwerk herum und sah immer wieder nervös aus dem Fenster. Was, wenn es zu regnen begann? Er hatte keinen Schirm und kein Auto und sie sollte doch nicht nass werden. Noch war keine Wolke am Himmel, aber das konnte doch ganz schnell gehen, oder?

Zehn vor eins ging er schließlich nach unten und, nachdem er den Schlüssel wie versprochen bei jemandem hinterlegt hatte, nach draußen, wo er sie schon warten sah.

"Ich hoffe, sie haben noch nicht zu lange gewartet", entschuldigte er sich und bot ihr seinen Arm.

"Nein, habe ich nicht. Das wäre bei dem schönen Wetter aber auch nicht schlimm gewesen."

Er führte sie nur wenige Straßen weiter in ein kleines, spanisch angehauchtes Restaurant, in dem er kurz vor seiner Partie einen Tisch reserviert hatte. Ein Tisch war besetzt durch ein Paar, zwei weitere durch Geschäftsmänner in Anzügen, zu denen Touya auch gut hätte zählen können. Damit war der Laden auch schon fast gefüllt. Sie nahmen an dem ihnen zugewiesenen Tisch Platz und bestellten gleich ihre Getränke.

Obwohl Touya anfangs wieder so nervös war, dass er auf seiner Stirn kalten Schweiß spürte, legte sich dies bald, als Ayumi die Konversation aufnahm und ihm unbefangen von ihrem Meeting erzählte. Er stellte wieder einmal fest, wie wunderschön ihre glatten, langen Haare waren und wollte sie gerne mal anfassen, aber dafür war es eindeutig noch zu früh. Auch ihre Lippen, die er, wenn sie redete, fast unaufhörlich anstarrte, sahen göttlich aus. Voll und schön geschwungen, manchmal sah er beim Reden ihre geraden, hellen Zähne aufblitzen.

Er wollte diese Frau für sich, keine Frage. Er wollte sie mehr als alles andere.

~x~

Auch Shindo hatte an diesem Tag im Rahmen des Gosei-Turniers eine Partie, die halb zwei begann. Als er sich am Empfangstresen erkundigte, wohin er zu gehen hatte – er bekam zwar einen Plan zugeschickt, aber zum Ende des Monats hin war der grundsätzlich unauffindbar – überreichte ihm der junge Mann dort gleich seine Autoschlüssel. Shindo schenkte ihm ein kurzes Lächeln und ging dann zum Fahrstuhl, der ihn in den dritten Stock brachte.

Mittlerweile war er wirklich wach und das sogar ohne Kaffee oder andere Aufputschmittel. Als Touya ihn am Morgen aus dem Bett geklingelt und gehämmert hatte, hatte er gerade erst drei Stunden geschlafen, was seinem Date von letzter Nacht geschuldet war. Am liebsten wäre er danach sofort wieder in seinen komaähnlichen Schlaf gefallen, aber Touyas Verfassung hatte ihn so neugierig gemacht, dass er einfach hatte nachsehen müssen. Da Yun keine Probleme damit gehabt hatte, das tosende Geklingel zu überhören und weiterzuschlafen, hatte Shindo ihn einfach in der Wohnung im Bett gelassen und war in Jogginghose und übergeworfener Jacke auf den Parkplatz gestiefelt.

Und das war der Moment, seit dem er wach war. An Touyas dunklem Sportwagen waren alle vier Reifen zerstochen worden. In diesem Moment ging ihm so einiges durch den Kopf. Zum einen, dass Touya wirklich an diesem Auto hing, dass sein Herz daran hing und er nun wahrscheinlich vor Wut kochen musste. Ihm kam auch in den Sinn, dass seine eigenen Reifen, die mitsamt dem Auto gerade in Touyas Besitz waren, hoffentlich ganz blieben. Und der Briefkasten fiel ihm wieder ein. Ob das die gleiche Person sein konnte? Aber wer tat so etwas, immerhin handelte es sich hier schon um Sachbeschädigung, und neue Reifen würden ein paar tausend Yen kosten. Trotzdem wirkte es wie ein Kinderstreich – denn welcher Erwachsene würde sich bitteschön in der Nacht auf einen Parkplatz schleichen, um die Reifen seines Feindes zu zerschneiden?

Gut, er würde das vielleicht tun, aber das hatte er nicht. Und wer konnte Touya denn auch nicht leiden? Shindo hatte zwar kein gutes Gespür für die Gesamtheit der Pros im Institut, aber er hatte das Gefühl, Touya war höchstens gefürchtet, nicht aber verhasst.

Erst als die Partie begann, konnte er das Gegrübel lassen und sich wieder konzentrieren.

~x~

Nachdem Shindo seine Partie gewonnen hatte nahm er schwungvoll die Treppen nach unten, fragte schnell am Empfang nach seinen nächsten Terminen – heute um sechs Kommentieren und am nächsten Tag um zehn die nächste Partie – und lief dann ins Parkhaus. Touya hatte den Wagen nah am Ausgang abgestellt und Shindo stellte zufrieden fest, dass der andere nichts im Auto verändert hatte, sogar Sitz und Spiegel waren gleich, was vielleicht auch daran lag, dass sie gleich groß waren.

Er parkte leichthändig aus und fuhr hinaus in den Stadtverkehr. Bis zum Apartment brauchte er an guten Tagen nur zehn Minuten, heute etwas länger. Er stellte das Auto dort neben Touyas dunklen Wagen, der nun wieder betriebsbereit war und aussah, als sei nichts passiert.

In seiner Wohnung erwartete ihn dann ein ziemlicher Schock. Der Blick in das Wohnzimmer offenbarte einen sauberen Boden und im ersten Augenblick dachte Shindo, er wäre ausgeraubt worden. Gerade, als er sich fragte, was Einbrecher mit seiner Unterwäsche wollten, kam Yun aus seiner Küche geschlurft, eine Schüssel Cornflakes in der Hand.

"Hey", begrüßte ihn der junge Mann. "Ich hab mich mal bedient und hier im Gegenzug etwas entrümpelt. Was auf dem Boden lag, hab ich einfach mal weggeschmissen", meinte er mit einem Schulterzucken.

Shindos Augen weiteten sich ungesund. Alles?! Yuns Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. "Mann, dein Gesicht! Keine Sorge, das Zeug hängt zum Trocknen im Schlafzimmer."

"Puh", seufzte Shindo erleichtert, dann lächelte er. "Touya meinte, ich solle mir 'ne Putzfrau besorgen, aber wenn ich das so sehe, glaube ich, du solltest einfach öfter herkommen."

Yun kam zu ihm und musste sich strecken, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. "Ich bezweifle, dass ich viel Lust aufs Aufräumen habe, wenn ich hier bin."

Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer, aus dem Shindo seinen Fernseher tönen hörte. Yun fläzte sich auf die Couch und kaute an seinen Cornflakes herum, bevor er wieder anfing, zu reden.

"Warum leihst du deinem Nachbarn eigentlich dein Auto?" fragte er beiläufig und sah ihn neugierig an.

"Du meinst Touya? Der ist nicht irgendein Nachbar. Wir kennen uns schon ewig und sehen uns täglich und... er ist einfach Touya. Das ist ganz normal bei uns."

Der andere sah ihn einen Moment lang an und fragte dann: "Hattet ihr Sex?"

Hätte Shindo etwas getrunken, dann hätte er sich jetzt garantiert verschluckt. "WAS?!" bekam er schließlich heraus.

"Naja, ich dachte, er ist vielleicht der, von dem du erzählt hast, mit dem du das erste Mal –"

"Ooooh – nein! Nein nein nein. Nein." Genug der Neins, dachte er genervt. "Touya hat... und ich... wir würden... er ist... argh. Also erstens: Nein. Zweitens: Er ist gerade hinter einer Frau her. Und drittens: Irgendwie habe ich ihn immer als geschlechtsloses Überwesen betrachtet. Also nein."

Yun grinste nur in sich hinein und erwiderte nichts mehr.

Nach etwa einer Stunde ging Yun. Sie hatten die Zeit noch für etwas anderes als Fernsehen genutzt.

Der junge Mann war sehr angenehme Gesellschaft. Hong hatte Shindo eine Website für ihresgleichen gezeigt, auf der er diese Woche etwas gesurft und sich mit anderen Männern geschrieben hatte. Dabei war er unter anderem auf Yun gestoßen, mit dem er sich nach der Lerngruppe am Vorabend noch getroffen hatte.

Obwohl er nicht einmal ein Foto hochgeladen hatte, stellte er fest, wie einfach es war, darüber andere Homo- oder Bisexuelle kennen zu lernen, die nur allzu bereit waren, sich für nur eine Nacht zu treffen. Es war auf jeden Fall viel einfacher, als Frauen abzuschleppen, weil viele der Kerle ebenfalls nach nichts Festem suchten.

Gegen fünf wurde er beim Dösen auf der Couch gestört, als es an der Tür klingelte. Er trabte vor und öffnete, um wie schon am Morgen Touya zu sehen. Dieser hielt seinen eigenen Autoschlüssel in die Höhe, den er eben aus seinem hässlichen Briefkasten gefischt hatte. "Danke dafür, ich schulde dir was. Beziehungsweise diesem... wie auch immer er hieß. Danke jedenfalls."

"Kein Problem", erwiderte Shindo und gähnte leise. "Ich richte es ihm aus. Wie war die Partie?"

Touya überlegte kurz. "Frustabbauend." Sie lächelten sich an und der Ouza verabschiedete sich. Irgendwie sah er gar nicht mehr frustriert aus, dachte Shindo. Ob etwas passiert war?

Sie mussten unbedingt mal wieder Go gegeneinander spielen, dann würde sich diese Frage schnell aufklären.

~x~

Am nächsten Tag hatte Shindo wieder eine Partie auf dem Weg zum Gosei. Er spielte gegen einen Jungen, der erst vor einem Jahr zum Pro aufgestiegen war.

Aufgrund der fehlenden Erfahrung war er keine große Herausforderung, aber Shindo spielte sanft, um ihm nicht den Spaß zu nehmen. Er wusste noch gut, wie Sai ihn früher immer vernichtend geschlagen hatte, in seiner Insei-Zeit, und wie er dann immer an sich gezweifelt hatte. Nur weil man von einem starken Gegner dominiert wurde, hieß das nicht, dass man selbst nicht gut war.

Nach der Partie ließ Shindo sich viel Zeit. Er trank noch einen Kaffee und blätterte in der ausgelegten Go Weekly, in der die Japan-Korea-Partien des Hokuto-Cups diskutiert wurden.

Er wusste nicht, wie er sich die Zeit vertreiben sollte, denn er wollte noch nicht nach Hause. Am frühen Nachmittag sollte er mit irgendeinem hohen Tier aus irgendeiner großen Firma Shidougo spielen. Es war besser, nicht so genau zu wissen, um wen es sich handelte.

Er saß gerade im Eingangsbereich auf einer Couch, als es etwas lauter wurde.

"Kopf hoch", hörte er eine junge Stimme, die ihm bekannt vorkam. "Shindo Meijin war heute noch nett zu dir. Du hast doch wohl nicht erwartet, gegen einen Titelträger zu gewinnen?"

Die Gruppe junger Pros bog um die Ecke, unter ihnen der Junge, den er gerade besiegt hatte, und neben ihm Sageki, wohl die ihm bekannte Stimme.

Shindo schürzte die Lippen und beobachtete die Jungen. So war er damals auch gewesen, zwischen Isumi, Waya und Fukui. Manchmal vermisste er diese Zeit.

Sagekis und sein Blick trafen sich plötzlich. Der Junge lächelte und winkte ihm zu. Dann entschied er sich dafür, herüberzukommen.

"Shindo Meijin, herzlichen Glückwunsch zum Sieg."

Shindo lächelte. Für einen Sieg in einer so frühen Wettkampfphase hatte er schon ewig keine Komplimente mehr bekommen.

"Danke, Junge. Ich hoffe, dein Freund dort ist nicht zu enttäuscht", erwiderte er zwinkernd.

"Keine Sorge, Satoru brauchte mal einen Dämpfer. Wenn ich meine Partie morgen gewinne, treffe ich in drei Tagen auf sie."

"Dann viel Glück für morgen. Und ich verspreche, ernsthaft gegen dich zu spielen." Shindo grinste breit und Sageki verabschiedete sich, um zu den auf ihn wartenden Jungen zu laufen. Da würde er wohl gegen den Kleinen spielen, das könnte interessant werden.

Die Zeit bis zu seiner Shidougo-Lektion verging nun viel schneller und auch die Stunde mit dem Klienten lief gut für ihn und sein 'Schüler' war ebenfalls sehr zufrieden mit ihm. Guter Dinge fuhr Shindo nach Hause. Touyas Wagen stand noch nicht auf dem Parkplatz, sonst hätte er sich wohl davon überzeugt, dass auch noch alles dran war. Man konnte ja nie wissen. Vermutlich hatte Touya einfach etwas Pech gehabt mit zwei blöden Streichen, die beide ihn getroffen hatten. Vielleicht brauchte er auch pinke Glückssocken. Obwohl Shindos Glückssocken gar nicht pink sondern türkis waren und er sie nur sehr selten trug, dachte er schmollend.

Pfeifend lief er über den Parkplatz und betrat ihren Apartmentkomplex. Sein Blick streifte Touyas weißes Ungetüm von einem Briefkasten. Wann hatte er nochmal Geburtstag? Er brauchte unbedingt einen neuen, vielleicht war die Titelverteidigung ja eher dran oder so etwas. Gründe fand er eigentlich immer, den anderen zu beschenken.

Noch während er darüber nachdachte bestieg er leichtfüßig die Treppenstufen, seine Schritte wurden allerdings immer langsamer beim Besteigen. Kurz bevor er Touyas Etage erreichte, hielt er an. Vor der Tür saß Sageki und schien zu schlafen.

Streuner

They'll laugh as they watch us crawl

The lucky don't share at all

No (Hey) hope (Hey) for fate (Hey)

It's a random chance selection

I want the truth
 

Try to ride out the storm

Whilst they'll make you believe

They are the special ones (We have not been chosen)
 

Injustice is the norm

You won't be the first

And you know you won't be the last
 

(Muse - Unnatural Selection)

Als Shindo von seinem Tag im Institut nach Hause kam, sah er Sageki an Touyas Türschwelle sitzen und offensichtlich auf den Ouza warten.

Shindo war so verblüfft, dass er stehen geblieben war. Mit dem Rücken an Touyas Tür gelehnt saß Sageki mit geschlossenen Augen auf dem Boden und hörte Musik aus seinem MP3-Player. Als Shindo sich schließlich bewegte, regte sich auch der Junge und sah ihn überrascht an. Langsam nahm er die Stöpsel aus den Ohren.

"Was machst du hier?" fragte Shindo den Jüngeren, immer noch ziemlich verwirrt. Ihre Lerngruppe fand nur einmal die Woche statt, und zwar mittwochs. Das war vor zwei Tagen gewesen. Ein anderer Grund für das Erscheinen Sagekis wollte ihm nicht einfallen.

Der Junge zeigte vage auf seine Tasche. "Ich wollte Touya-san nur die CDs zurückgeben, die ich am Mittwoch von ihm ausgeliehen habe."

"Aha."

Dumpf stand Shindo da und starrte weiter auf den Jungen. Sie hatten sich heute erst im Institut gesehen, das war gar nicht lange her. Er musste sie da schon dabeigehabt haben. Wieso hatte er die CDs nicht einfach Shindo gegeben?

"Tja..." murmelte er schließlich und wusste nicht so recht, was er mit dem Jungen machen sollte. Er konnte ihn doch nicht einfach vor Touyas Tür sitzen lassen? Es war noch nicht Sommer, so sonderlich warm war es nicht und der Junge würde sich vermutlich erkälten, wenn Touya sich nicht bald blicken ließ. Shindo seufzte und meinte schließlich: "Entweder du gibst mir die Platten oder du kommst mit nach oben und trinkst einen Tee."

Sageki überlegte kurz, erhob sich dann und blickte ihn auffordernd an. Shindo seufzte wieder, denn eigentlich hatte er gehofft, nicht den Babysitter spielen zu müssen. Auf dem Weg ins obere Stockwerk zog er sein Handy hervor und rief Touya an.

"Touya Tengen", grinste er in den Hörer.

"Was ist los?" fragte der andere und schien etwas gehetzt.

"Dein Welpe hat sich hierher verirrt und möchte von niemand anderem gestreichelt werden. Wann kommst du ihn abholen?" Er grinste weiter und hörte ein leichtes Grummeln Sagekis hinter sich. Touya schien kurz verwirrt, verstand dann aber und meinte, er sei sowieso schon im Auto und auf dem Weg, aber dass sich ein Stau anbahne. Nachdem Shindo aufgelegt hatte, kam er etwas ins Grübeln. Er war doch erst vor fünf Minuten selbst gefahren, da waren die Straßen komplett frei gewesen. Ob Touya aus einer anderen Richtung kam?

Er schloss dem Jungen die Tür auf und murmelte nur: "Nicht erschrecken." Dann fiel ihm wieder ein, dass Yun ja aufgeräumt hatte.

Er ging vor in die Küche und ließ Sageki im Flur stehen. Der würde sich schon zurechtfinden. Weil er immer noch keinen Oolong gekauft hatte – mal wieder ein Grund, Touya einen Besuch abzustatten – machte er ihnen Früchtetee, und während das Wasser kochte, lief er ins Wohnzimmer zu dem Jungen.

"Mach dir einen Film an, wenn du magst", meinte er und deutete auf das große Regal, das seine vorzeigbare Sammlung beherbergte. "Aber Touya ist in ein paar Minuten da."

"Wir könnten eine schnelle Partie spielen", schlug Sageki vor. Shindo grinste. Das war ganz Touyas Schüler. Er nickte und zog sein Goban hervor, das Yun ordentlich unter einem Sessel verstaut hatte. Er schob dem Jungen Schwarz zu und sie begannen ihr Speed-Go.

Sie spielten sogar drei Partien, bevor der Ouza an der Tür klopfte. Während Shindo lief, um ihm zu öffnen, räumte Sageki die Steine weg und das Goban auf und schnappte sich seine Umhängetasche. Dann kam er vor, um seinen Lehrer zu begrüßen.

"Sageki?" fragte Touya überrascht. Auch er schien den Jungen nicht erwartet zu haben, doch fing sich schnell und winkte ihn zur Tür. Während er seine Schuhe schnürte, betrachtete Shindo Touya. Er wirkte etwas müde, aber ansonsten recht fit. Und sie hatten immer noch kein Go gespielt, dabei wollte er doch wirklich wissen, was mit dem anderen los war.

Touya bemerkte, wie er gemustert wurde, und sah ihn ebenfalls an.

"Alles klar bei dir?" fragte Shindo.

Touya lächelte ihn an, eines seiner seltenen, ehrlich glücklichen Gesichter, was ihn immer noch müde wirken ließ. "Natürlich, Shindo, keine Sorge."

Und schon war Sageki bereit und die beiden auf dem Weg nach unten. Shindo wollte wissen, was mit Touya los war. Es brannte ihm unter den Fingern, jetzt nach unten zu laufen und ihn sofort um eine Partie zu bitten, aber anscheinend wollte Sageki etwas mit ihm besprechen, was er nicht vor Shindo tun wollte. Also musste er sich gedulden.

~x~

An diesem Tag sah er Touya nicht mehr. Er verbrachte stattdessen die Zeit in seiner Wohnung damit, alte Partien zu studieren und zum gefühlt tausendsten Mal alte Shuusaku Honinbo Kifu durchzuspielen. Er spürte Sai so stark darin wie eh und je. Er dachte nicht mehr so oft an den Geist wie kurz nach dessen Verschwinden, aber manchmal wünschte er sich, noch einmal mit ihm reden zu können.

Ihm danken, das wollte er. Dafür, dass er ihm Go gezeigt hatte, worin er tatsächlich ein Genie auf dem aufsteigenden Ast war. Und für all den Beistand und die Freundschaft, die sie verbunden hatte. Am fünften Mai nahm er sich noch immer jedes Jahr frei und widmete den Tag Sai, indem er an Torajiros Geburtsstätte oder zu Stationen seines Lebens fuhr oder sich ausgiebig den Honinbo Kifu widmete.

Manchmal träumte er von Sai. Eigentlich nicht nur manchmal, sondern fast jede Nacht auf die eine oder andere Weise, und es waren meist Alpträume. Es waren Träume, in denen er Sai oder eine andere, ihm nahe stehende Person, auf irgendeine tragische Weise verlor. Oder Sai, der stumm weinte oder ihm Vorwürfe machte. Das Ganze hatte erst begonnen, als er seinen ersten Titel gewonnen hatte. Plötzlich waren wieder Schuldgefühle aufgekommen, weil er darüber nachgedacht hatte, wie sehr Sai sich nach solchen Momenten gesehnt hatte und wie schnell er sie ohne Hikaru erreicht hätte, hätte er nur einen Körper gehabt.

Seitdem wälzte er sich fast jede Nacht in schlechten Träumen hin und her, aber er hatte bemerkt, dass es sich besserte, wenn er etwas lautere Umgebungsgeräusche hatte.

~x~

Am nächsten Tag im Institut hoffte Shindo eigentlich, Touya zu treffen, um nachzufragen, wann er heute zu Hause sei. Er plante, den anderen bei Sushi – ganz nach seinem Geschmack – und einer Partie Go zum 'reden' zu bringen. Der Plan scheiterte daran, dass er Touya nicht traf. Stattdessen begegnete ihm wieder Sageki, der viel zu früh zu seiner Gosei-Partie erschien. Er sah Shindo und kam wie auch am Vortag zu ihm gelaufen.

"Shindo Meijin, guten Tag!"

"Hallo, Sageki. Hast du gestern bekommen, was du wolltest?"

Der Junge sah verschämt auf den Boden, nickte aber. "Ich brauchte Touya-sans Rat, Entschuldigung, dass ich das nicht gesagt habe."

"Kein Problem, er ist sowieso ein besserer Problemlöser als ich. Trefft ihr euch heute noch einmal?" fragte er scheinheilig.

Sageki schüttelte den Kopf. "Nein, heute trifft er sich doch wieder mit Kanegawa-san." Shindo sah ihn verwirrt an. Wer war das nochmal? "Sie wissen schon, die Dame, mit der er sich jetzt so häufig trifft."

"Ahja", murmelte er und starrte auf den Boden. Davon wusste er gar nichts. Wieso hatte Touya ihm davon nicht erzählt? Aber Sageki wusste davon? Das war nicht fair. Sie standen sich doch näher als anderen. Er wollte es sein, dem Touya zuerst von allen Damen, die er kannte und traf, erzählte. Das tat er selbst doch sonst auch.

Er sah auf und bemerkte, dass der Junge noch vor ihm stand und ihn abwartend ansah. "Tja", meinte Shindo und versuchte, zuversichtlicher zu klingen. "Ich muss dann auch los. Viel Glück nachher, wir sehen uns dann übermorgen bei unserer Partie."

Der Meijin verließ das Gebäude fluchtartig in Richtung Parkhaus und setzte sich dort in seinen wunderschönen roten Wagen. Weil die Seitenscheiben dunkel getönt waren übersahen die meisten Menschen, wenn er einfach nur in seinem Auto saß. Das tat er ab und zu, wenn er für sich sein wollte, um etwas nachzudenken. Er schaltete leise das Radio an und ließ es vor sich hin dudeln.

Shindo wusste nicht, warum ihn die Sache so aus der Bahn warf. Wenn etwas mit ihm los war, über das er reden wollte, dann war Touya meist der Erste, an den er dachte. Der andere wusste genau, wie er ihn beruhigte oder ihn wieder klar sehen ließ. Touya wählte immer den Weg über Go, obwohl er auch einfach fragen könnte, aber Shindo wusste, dass Touya aus ihren Partien genauso viel lesen konnte, wie aus Gesprächen.

Damals, als Touya Kouyo gestorben war, hatte Shindo Touya oft besucht, weil dieser drohte, sich zu vergraben. Sie spielten stundenlang Go, tagelang, bis es Touya irgendwann besser gegangen war. Meistens hatten sie die Nacht über geredet, als es Shindo zu spät gewesen war, um noch nach Hause zu gehen. Dann hatte Touya ihm sein Herz geöffnet.

Er wusste, dass es dem anderen schwer fiel, über seine Gefühle zu reden, aber sie waren so etwas wie Brüder, eben beste Freunde, er sollte derjenige sein, zu dem Touya nach jedem Date gelaufen kam, um von seiner Herzdame zu schwärmen.

Schließlich startete Shindo den Motor und fuhr nach Hause. Er fuhr einen kleinen Umweg – das machte er häufiger, wenn er seltsamer Stimmung war. Daheim fläzte er sich auf die Couch und stellte einen Film an. Auf dem Weg nach oben hatte er bei Touya geklingelt, aber wie erwartet war dieser nicht zu Hause gewesen. Es war allerdings auch erst Mittag. Shindo beschloss, sich zwei Science Fiction Streifen anzusehen und es dann noch einmal versuchen.

Nebenbei saß er an seinem Laptop und schrieb wieder auf der neu entdeckten Internetseite mit anderen Typen. Ab und zu wunderte es ihn, wie oft er dort eindeutige Angebote erhielt, die er allerdings alle ignorierte. Auch bei Frauen war ihm nie egal gewesen, wen er vor sich hatte, schließlich teilte man einen sehr nahen Moment, das konnte er nicht mit irgendjemandem.

Mit Hong war es deswegen etwas ganz Besonderes gewesen. Besser als mit Frauen, die er gerade erst einen Abend kannte. Es war so verdammt gut gewesen, dass er den Koreaner jeden Abend in Korea wieder aufgesucht hatte. Jetzt zurück in Japan suchte er sich andere, aber mit keinem war es so gut.

Er schrieb sich etwas mit Yun hin und her und erzählte ihm von der Sache mit Touya. Yun war Kindergärtner. Er hatte eine sanfte, ruhige Art, die Shindo an ihm mochte, und er hörte gut zu und traf schnell seine Entscheidungen. Auch das mochte Shindo an ihm. Yun riet ihm nur, was er selbst auch schon beschlossen hatte: dass er mit Touya reden müsse. Und zwar wirklich reden, nicht Go spielen.

Der erste Film ging schneller zu Ende, als erwartet. Er schaltete den zweiten ein und schrieb weiter mit Yun. Nebenbei verfasste er eine lange Nachricht an Hong, weil er sich gerade irgendwie nach Unterstützung sehnte.

Schließlich war auch der zweite Film vorbei und er schaltete Fernseher und Laptop ab und stand unschlüssig in seinem Wohnzimmer. Dann gab er sich einen Ruck, nahm seinen Schlüssel vom Schlüsselbrett – das Yun freigeräumt hatte und an dem deshalb auch Touyas Ersatzschlüssel hing, den er aus Gewohnheit aber hängen ließ – und trabte die Treppen herunter. Er klopfte an und wartete.

Niemand öffnete. Auch nach dem dritten und vierten Klopfen nicht.

Mit einem Seufzen ließ er sich auf den Boden sinken. So hatte Sageki auch gestern hier gesessen, dachte er. Es war gar nicht so unbequem, wie erwartet. Ob Touya noch lange brauchte? Wenn Shindo nach oben ginge, würde er sicher alle zehn Minuten wieder herkommen, am besten blieb er gleich sitzen. Also blieb er.

Zwischendurch überlegte er, Touyas Schlüssel zu holen und sich selbst einzulassen, aber so erweckte er den Eindruck von mehr Dringlichkeit und sie würden auf jeden Fall reden können.

Fast zwei Stunden lang saß er da und wartete, aber die Zeit wurde ihm nicht zu lang, denn in seinem Kopf waren hunderte Partien Go abgespeichert, die er bei Langeweile abrief und durchspielte. Schließlich sah er aus dem großen Fenster des Hausflurs, wie Touyas Wagen auf den Parkplatz rollte. Er hatte keine verdunkelten Scheiben, aber aus der Entfernung konnte er den Ouza trotzdem nicht erkennen. Er sah aber, dass Touya alleine war. Das war seine einzige Sorge gewesen.

Kurze Zeit später hörte er die Haustür schließen und wie Touya seinen Briefkasten öffnete. Bei dem Gedanken an das weiße Ungeheuer verzog Shindo den Mund. Dann hörte er das Erklimmen von Treppenstufen und kurz darauf erschien Touyas Kopf am Treppenabsatz und sprang mit jedem Schritt höher.

Touya sah überrascht auf, als er Shindo bemerkte. Er bot ihm eine Hand zum Aufstehen und während er Shindo aufhalf, meinte er: "Wozu nochmal besitzt du meinen Schlüssel?"

"Du weißt doch, dass ich den nicht mehr finde", log Shindo und folgte dem anderen in die Wohnung. Er kickte seine Schuhe von sich und ging in die Küche. "Ich mach Tee."

"Okay", stimmte Touya zu und folgte ihm. Er setzte sich auf den Tresen in der Zimmermitte und beobachtete Shindo. In all der Zeit, die Touya hier wohnte, hatte Shindo ihn noch nie auf diesem Tresen sitzen sehen, dafür hatte er Touya immer für viel zu akkurat gehalten.

"Wir müssen reden", sagte er ohne Umschweife und sah den anderen direkt an. Touya zog eine Augenbraue in die Höhe und sie verschwand unter seinen Haaren. "Sageki hat mir von dem Mädchen erzählt, das du triffst."

Touya schmunzelte. "Habe ich vergessen, dich um Erlaubnis zu bitten?"

"Nein, darum geht es doch gar nicht, aber... du hast mir gar nichts erzählt."

"Doch, in Korea, am Abend als du –"

"Ich meine, wirklich erzählt. Dass ihr euch trefft und so." Ich habe ein Recht darauf, so etwas zu erfahren, hätte er fast gesagt, aber er wusste, dass es kindisch klang. Er goss den Tee auf, aber Touya schwieg. Als Shindo sich mit der Kanne in der Hand zu ihm drehte, trafen sich ihre Blicke und Touya sah ihn nur an. Shindo schürzte die Lippen. Er hasste es, wenn sie sich so anschwiegen, es war nicht die angenehme Stille, die es sonst war. Also sprach er als Erster wieder. "Ich wollte zuerst davon wissen. Ich dachte, wenn etwas Wichtiges passiert, würdest du vielleicht mal zu mir kommen. Aber immer muss ich auf dich zukommen."

Touya seufzte, während sie ins Wohnzimmer gingen und sich bei dem Goban niederließen. Sie verstanden stumm, dass eine Partie jetzt für beide Seiten das Richtige war. Aber ums Reden würde es sie nicht herumbringen.

"Tut mir leid", meinte Touya schließlich. "Das war keine Absicht. Wir haben uns nur so wenig gesehen."

"Mir tut’s auch leid, ich bin ja froh, wenn’s bei dir so gut läuft, aber das hat mich echt gewurmt. Wir waren doch immer ein Team!"

Touya lächelte leicht und setzte den ersten Stein. Nach einigen Zügen, aus denen Touya vermutlich wieder eine halbe Welt lesen konnte, meinte der Ouza: "Und es gibt keinen Grund, auf Sageki eifersüchtig zu sein. Er hat mir sein Herz ausgeschüttet, da hatte ich das Gefühl, ihm auch irgendetwas Persönliches erzählen zu müssen."

Shindo verzog spöttisch den Mund. "Pfff, ich und eifersüchtig! Der Knirps kommt doch gerade erst in den Stimmbruch."

Touya lachte leise. Es stimmte, langsam fing Sagekis Stimme an, sich zu verändern, Shindo hatte es bei den bei den letzten Gesprächen gemerkt. Ab und zu rutschte sie in eine tiefere Stimmlage ab, die sich sehr von der hellen Kinderstimme unterschied. Das Ganze war jetzt schon ziemlich lustig, dabei kam es noch recht selten vor.

Und dann begann Touya, zu erzählen. Von ihrem ersten Treffen am Montag bei der Feier und wie sie sich danach fast jeden Tag wieder gesehen hatten. Es hatte ihn offenbar wirklich erwischt. Er schwärmte davon, wie direkt und umgänglich Ayumi war und wie gut sie sich von Anfang an verstanden hatten. Dass er bei ihr ganz anders sein und ohne Zwänge reden konnte, und er sprach von ihren fließenden schwarzen Haaren und den wunderschönen Lippen.

Fast zwei Stunden lang schwärmte er von dem Mädchen und Shindo war froh, das alles endlich zu hören. Er war froh für Touya, der so glücklich wirkte, wie lange nicht mehr.

"Seid ihr jetzt zusammen?" fragte er schließlich, als Touya eine Weile still war.

Dieser lächelte und schüttelte den Kopf. "Wir treffen uns doch erst seit einer Woche. Aber sie ist so zielstrebig, dass es vermutlich nicht mehr lange dauert."

"Klingt nach 'ner Superbraut, die solltest du dir auf jeden Fall angeln."

"Sie angelt sich mich schon, glaub mir. Ich muss nur dastehen und warten. Also mach dir keine Sorgen." Touyas Go war nun anders. Schon in Korea, kurz nachdem er sie kennengelernt hatte, hatte es einen sanften Zug gehabt, doch nun war es schon wieder anders. Schmeichelhaft und spielerisch, fast etwas liebevoll, würde Shindo es beschreiben. Es war ungewöhnlich, aber nicht unpassend.

Shindo war froh, gekommen zu sein. Endlich hatte er alles erfahren. Es war bereits später Abend, als sie alles ausgetauscht hatten und sich Sushi bestellten. Dann setzten sie sich zusammen auf Touyas Ledersofa, wegen dem er diesmal nichts sagte, und plauderten über den Gosei-Wettkampf, in dem sie früher oder später noch aufeinander treffen würden, wovon sie beide überzeugt waren. Als es später wurde legte Shindo eine Komödie ein, die sie, auf der Couch hängend, sahen. Irgendwann gegen eins war er eingeschlafen und Touya hatte ihn zugedeckt und auf Fernsehen geschalten.

So konnte es ewig bleiben, dachte er am nächsten Morgen. Genau so war es auch schon so lange gewesen.

~x~

Während Shindo sich ab und zu mit Yun und manchmal auch mit anderen Männern oder Frauen traf, sahen Touya und Ayumi sich fast jeden Tag. Es dauerte trotzdem fast einen Monat, bis sie schließlich offiziell zusammenkamen.

Es war unübersehbar, dass Touya sehr glücklich war, sogar im Institut wurde Shindo darauf angesprochen. Sie sahen sich nicht mehr ganz so oft, aber Shindo versuchte, jede Woche zu Touyas Lerngruppe zu gehen. Miyagi brachte mittlerweile noch einen Freund mit und so waren sie jetzt bereits zu sechst und Touya hatte ein neues Goban kaufen müssen.

Es war der erste Mittwoch, nachdem Touya mit Ayumi zusammengekommen war. Die Lerngruppe nahm er so ernst wie eh und je und er würde sie auch nicht vernachlässigen, hatte er Shindo versprochen.

Shindos Wohnung litt unter einer längeren Abwesenheit von Yun und war wieder auf ihren Urzustand zurückgesetzt. Auf dem Weg zu Touya kramte er ewig zwischen seinen Schuhen herum, um den fallen gelassenen Schlüssel zu finden. Noch während er da stand, hörte er ein markerschütterndes Klirren vom Balkon her.

Er schreckte auf und sah in die Richtung des Geräusches. In der nächsten Sekunde sprang er in sein Wohnzimmer zurück, riss die Balkontür auf und starrte in die Dunkelheit. Entfernt hörte er Schritte hallen, die sich schnell entfernten. Unter ihm riss auch Touya die Tür auf.

"Touya??"

"Hast du ihn gesehen?" rief Touya nach oben, er wirkte kurzatmig.

"Nein. Scheiße, was war das?"

"Mein Fenster."

Saeki, Yun

Sorry, heute kommt das Kapitel ganz schön spät. Mein Freund und NaNoWriMo haben mich etwas aufgehalten :)
 

Für Yun gibt es jetzt auch einen Steckbrief!

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I know you've suffered

But I don't want you to hide

It's cold and loveless

I won't let you be denied
 

Soothing

I'll make you feel pure

Trust me

You can be sure
 

I want to reconcile the violence in your heart

I want to recognise your beauty's not just a mask

I want to exorcise the demons from your past

I want to satisfy the undisclosed desires in your heart

(Muse- Undisclosed Desires)
 

Den Weg zu Touyas Wohnung hatte Shindo noch nie schneller zurückgelegt. Nicht, dass er den direkten Weg über seinen Balkon genommen hätte, aber er war im Sprint die Treppen hinunter und durch die bereits geöffnete Tür gerannt. Als er in Touyas Wohnzimmer stolperte, sah er bereits Scherben und einen faustgroßen Stein auf dem Boden liegen. Touya stand wieder am Fenster und sah angestrengt in die Nacht.

Shindo holte einen Besen und fegte das Glas zusammen, da klingelte es schon an der Tür. Er ging öffnen, denn Touya schien immer noch versteinert. Miyagi und sein Kumpel, Satoru, kamen hinein und plapperten etwas von einem Jungen, der sie auf dem Parkplatz fast umgerannt hatte. Als sie Shindos immer noch geschocktes Gesicht sahen, hielten sie inne und schauten fragend. Er ruckte nur mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer und schloss die Tür wieder.

Die beiden sogen erschrocken die Luft ein, als sie den Scherbenhaufen entdeckten. Shindo überlegte kurz und fragte dann: "Was habt ihr gerade gesagt über einen Jungen, der über den Parkplatz gerannt ist?"

Touya drehte sich endlich um und sah die Jungen aufmerksam an.

Satoru war es, der antwortete. "Es war kurz nachdem wir das Scheppern gehört haben, aber wir dachten, jemand hätte ein Glas fallen lassen oder so. Er ist in einem Riesentempo an uns vorbei, viel haben wir nicht gesehen. Er war etwas kleiner als wir und hatte schwarze Haare, aber mehr konnte man im Dunkeln nicht erkennen."

Shindo und Touya sahen sich ernst an und dachten das Gleiche: das waren keine Streiche mehr, das war Aggression, die genau auf Touya gerichtet war. Nur, was konnte er einem kleinen Jungen getan haben?

Es klingelte erneut. Shindo ging die wenigen Schritte zurück und öffnete den drei Jungs, die noch in der Runde fehlten. Sageki hielt ein Päckchen in der Hand und grinste, allerdings nur, bis er den Ausdruck seines Gegenübers sah. Shindo fragte sich, was die Jungen in seinem Gesicht lasen, aber es schien aufschlussreich genug zu sein. Auch sie strebten an ihm vorbei zum Ort des Geschehens und wirkten geschockt.

"Touya-san, hast du dir irgendwie in letzter Zeit mal Feinde gemacht?" fragte Sageki. Er war irgendwann dazu übergegangen, Touya zu duzen. Sageki schien Touya als eine Art Ziehvater angenommen zu haben, was vielleicht damit zusammenhing, dass seine Eltern aus Tokyo wegziehen wollten. (Letzteres war die Kurzform des vertraulichen Gesprächs zwischen Sageki und Touya, wegen dem Sageki vor Kurzem vor der Tür seines Lehrers gehockt und gewartet hatte.)

"Man sollte meinen, mit dem Briefkasten bist du schon gestraft genug", knurrte Shindo.

Sageki blickte zwischen ihnen hin und her und lächelte wieder. "Ach stimmt. Hier, Touya-san, wir haben zusammengelegt." Er hielt Touya das Päckchen hin, das diesen schließlich aus seiner Starre erlöste. Er deutete ein Lächeln an und nahm es entgegen, etwas überrascht von dem Gewicht, das der Karton in seiner Hand hatte. Mit fahrigen Fingern öffnete er das Paket und zum Vorschein kam ein neuer Briefkasten. Er war schwarz mit modellierten Ranken an der Seite. An der Unterseite waren in weißer Farbe die Schriftzeichen für "Tengen" und "Ouza" und daneben ein gemalter Löwe.

"Ihr hättet doch nicht –"

"Wir wollten uns nicht mehr gruseln, wenn wir herkommen", fiel ihm Hikaru-kun ins Wort und grinste. Sie hatten alle gewusst, wie verhasst Touya sein Monster-Briefkasten war. "Sehen Sie es als frühes Geburtstagsgeschenk."

Er betrachtete den Briefkasten lächelnd, dann zeigte er auf den Löwen. "Was hat es damit auf sich?"

"Du hast doch den Löwenpokal gewonnen, gleich nachdem du Pro wurdest", erwiderte Sageki. Touya zog die Augenbrauen hoch. Das war etwa zehn Jahre her. "Ich war damals fünf und mein Opa hat mir immer von den Go Pros erzählt. Auch von dir. Er hat mir erzählt, wie du die ganzen eingesessenen Pros hast alt aussehen lassen."

"Danke, Jungs", lächelte Touya sie an und Shindo war froh, ihn doch wieder halbwegs gut gelaunt zu sehen. Das konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihrer Mitte immer noch ein großer Stein und Glasscherben lagen. Er machte sich wieder daran, diese zusammenzukehren und warf sie dann behutsam in einen Mülleimer.

Solange die Jungen da waren, und sie blieben meist lange bis nach Mitternacht, so wie auch heute, sprachen sie nicht mehr von dem Vorfall. Vergessen konnten sie ihn allerdings schwerlich, denn den ganzen Abend über wehte kühle Nachtluft durch das Loch in der Balkontür herein.

Als schließlich auch Sageki gegen zwei gegangen war, standen Shindo und Touya am Fenster und sahen in die Nacht.

"Du solltest die Polizei einschalten", murmelte Shindo und nippte an einem seiner Energy-Drinks, die er mittlerweile auch in Touyas Kühlschrank deponiert hatte.

"Ich würde das gerne allein klären. Ich will wissen, was ich ihm getan habe." Shindo seufzte. Konnte Touya nicht einfach mal andere Leute machen lassen? Er legte dem Ouza eine Hand auf die Schulter und sah ihn aufmunternd an.

"Ich werd auf jeden Fall die Augen offen halten. Was meinst du, könnte er noch tun?"

"Keine Ahnung, ich war nie ein Kind, das Streiche gespielt hat", erwiderte Touya.

"Das glaube ich", grinste Shindo. Stattdessen überlegte er, was einige seiner Schulkameraden gelegentlich angestellt hatten. Klingelstreiche, Wasserbomben, Scherzanrufe. Aber was konnte nach dem Sprengen eines Briefkastens, Zerschneiden von Autoreifen und dem Einschlagen eines Fensters noch kommen? "Naja, wenigstens den Briefkasten bist du jetzt los."

Touya lächelte, diesmal wieder ehrlich, und auch Shindos Mundwinkel zogen sich nach oben.

"Da fällt mir ein –", meinte Touya plötzlich, "Der Fotoband ist rausgekommen. Zweihundert sind schon verkauft, ich hab einen gratis bekommen." Er lief in sein Schlafzimmer und kramte in einem Schrank herum, bis er mit den Fotobuch zum Hokutopokal zurückkam, das er Shindo in die Hand drückte. Sie setzten sich auf die Couch – diesmal wieder mit Touyas üblicher Ermahnung – und betrachteten die Fotos gemeinsam. Dazu war Touya bisher selbst nicht wirklich gekommen.

Auf den ersten Seiten waren Fotos der Teilnehmer und kurze Lebensläufe abgedruckt – in klein war auch Touya dabei – dann folgten schon die Fotos, ab und zu unterbrochen von den Kifus der Spiele. Da waren Fotos von ihrer Ankunft, eines, wie Touya und Ko Yongha Hände schüttelten.

Es gab Fotos von den Jungs während ihrer Partien und gleich nach ihrem ersten Sieg, auf denen Sageki noch gerötete Augen hatte. Da war auch das Gruppenfoto mit Touya, auf dem er wie der große Bruder der drei wirkte.

Touya merkte an, dass der Fotograf von der Eröffnungsveranstaltung tatsächlich kein Foto belassen hatte, auf dem Touya zu sehen war. Er wusste noch gut, wie verdammt müde er gewesen war. Und wie er Shindo mit Hong gesehen hatte. Das Ganze kam ihm vor, als wäre es Jahre her, dabei waren es nur etwa sechs Wochen.

Auch vom zweiten Tag gab es einige Fotos, anscheinend hatten die Jungs nach dem Korea-China-Tag gemeinsam mit dem Fotografen und einem Teil des Teams eine kleine Stadttour gemacht. Sogar ein paar Sehenswürdigkeiten schienen sie besucht zu haben. Shindo musste zugeben, dass die Jungen ausgesprochen fotogen waren.

Langsam blätterten sie durch die Fotos vom Tag der Japan-Korea-Partien. Es gab auch Bilder von Touya, wie er nervös in der vorderen Reihe des Zuschauerraums saß und auch wie er und Shindo sich unterhielten. Shindo sah, wie ernsthaft sie wirkten. Sie waren keine Jungen mehr wie bei ihrem ersten Hokutopokal. Sie waren erwachsen geworden, auch wenn er das ungern zugeben wollte.

Es gab Fotos von nach der Niederlage, die Jungen sahen sehr gefasst aus.

Und schließlich erreichten sie ihren Abschied, zwei, drei Bilder vom Flug und schließlich von ihrer Ankunft in Japan. Das vorletzte Foto waren von ihnen beiden, müde, aufeinander gestützt, aber glücklich lächelnd.

Dieses Bild sah Shindo lange an. So sahen sie beieinander also aus. Es sah so natürlich aus, weil sie die Nähe des anderen gewohnt waren. Das Bild war einfach perfekt.

"Gut, nicht wahr?" meinte Touya. "Ich hatte auch keine Ahnung."

Shindo nickte. Tja, das bewies wohl einfach, dass sie irgendwie zueinander gehörten. Sie hatten es ja schon immer gewusst, deswegen waren sie ewige Rivalen für den jeweils anderen. Aber es waren einfach zwei Hälften, die hier zusammenkamen. Wie im Go. Touya war schwarz – ruhig und tiefgründig – während Shindo weiß war: kindlich und verspielt.

Shindo wusste, dass er sich allein wegen diesem Foto den Fotoband kaufen würde.

~x~

Am nächsten Tag stand Shindos nächste Partie an in der neuen Runde des Gosei-Wettkampfes. In dieser Woche begannen die Qualifikationspartien für den Tengen-Titel, in denen er allerdings noch nicht spielen musste. Sein Platz in den späteren Runden war durch seinen Rang bereits gesichert. Der Niveauanstieg war bereits spürbar im Kampf um den Gosei, doch auch in dieser Runde konnte ihm niemand die Stirn bieten, das wusste er jetzt schon. Erst in der nächsten Runde, bereits nächste Woche, traf er auf Touya. Er freute sich auf diese Partie und sein Nacken kribbelte, wenn er daran dachte. Sie trafen bei Weitem nicht oft genug aufeinander für seinen Geschmack...

Nach seiner Partie traf er Saeki, mit dem er früher in Morishitas Lerngruppe gewesen war. Saeki war jetzt Anfang dreißig und ein mäßig erfolgreicher Pro. Er besaß keinen Titel, aber im letzten Jahr war er der Herausforderer für den 10-dan gewesen. Er trug die hellbraunen Haare immer noch auf etwa fünf Zentimetern Länge und wirkte wie früher wie ein sehr fröhlicher Mensch.

"Ich habe letztens gegen Touyas Liebling vom Hokutopokal gespielt", erzählte Saeki grinsend, während er gut gelaunt an einem Pfeiler neben Shindo lehnte. Shindo wusste nicht, was es war, aber etwas wirkte verändert an dem Dunkelblonden.

"Welchen meinst du? Sie sind alle drei seine Lieblinge", grinste Shindo.

"Matsuda", erwiderte Saeki. Shindo brauchte eine halbe Ewigkeit bis er darauf kam, dass 'Hikaru-kun' eigentlich Matsuda Hikaru hieß. Am Ende stieß er ein langes "Aaaah " aus. "Ich habe ihn zwar geschlagen, aber er kann ein richtiger kleiner Kampfzwerg sein", fuhr Saeki fort. "Ein bisschen wie du damals."

"Ich bin nur kein Zwerg mehr. Kämpfen kann ich immer noch."

"Aber das musst du nur noch selten." Saeki lächelte leicht und es wirkte fast etwas bitter. Shindo war an ihm vorbeigezogen, er hatte ihn so schnell überrundet, obwohl er doch viel jünger war. Aber er hatte immer gewusst, was für ein Talent Shindo innewohnte, es war gar nicht verwunderlich gewesen. Trotzdem hatte er immer gern der Ältere und Bessere bleiben wollen. Nun war er nur noch der Ältere.

"Vor einer Weile habe ich Morishita-sensei getroffen. Seine Tochter hat eine Konditorei eröffnet", erzählte Saeki weiter.

Sie unterhielten sich noch fast eine Stunde. Neben den offensichtlichen Informationen, die sie austauschten, sendete Saeki vieles unterbewusst aus. Er erwähnte nie eine Freundin. Shindo hatte sowieso plötzlich das Gefühl, Saeki sei Yun sehr ähnlich mit seiner sanften, freundlichen Art. Die Bitterkeit schien dem Alter geschuldet und kam selten hervor.

Aufgrund seines Verdachtes tauschte er schließlich Nummern mit Saeki und nahm sich vor, auf les-garçons, der Seite, auf der er seit Neuestem so viel surfte, nach dem anderen zu suchen.

Ihre Unterhaltung wurde durch Touya abgebrochen, der gerade selbst von einer Partie kam und sie zufällig entdeckte. Er schien gar nicht herüberkommen zu wollen, doch dann entschied er sich anders. Saeki verabschiedete sich von ihnen und ging in Richtung der Fahrstühle.

"Meijin", grüßte Touya unbewegt, während er unbewusst mit dem Daumen den Knöchel seines Mittelfingers massierte. Shindo lächelte matt. "Touya Tengen", erwiderte er.

"Hast du gerade Zeit?" fragte der Tengen und Ouza.

Shindo sah auf die Uhr. Gegen vier stand das Kommentieren einer Partie an. Er hatte etwa zwei Stunden, also nickte er.

"Ich treffe Ayumi jetzt, komm doch mit. Ich wollte euch einander längst vorstellen." Shindo lächelte breit. Er wusste, was es bedeutete: er nahm die Stelle des Schwiegervaters ein. Wenn sie ihm nicht gefiel, würde sie es schwer haben. Außerdem hatte er mittlerweile schon einiges von der besagten Dame gehört und war schon gespannt darauf, sie selbst treffen zu können.

Sie machten aus, dass Touya ihn danach wieder zum Institut fuhr und nahmen den dunklen Sportwagen des Ouza.

Ayumi hatte sich anscheinend schon daran gewöhnt, ihren eigenen recht straffen Zeitplan um den von Touya herum zu basteln, da dieser noch nicht etabliert genug war, um viele Terminwünsche an das Institut zu richten. Sein Vater hatte das gekonnt, aber der hatte auch ein paar mehr Titel gehabt als er.

Sie trafen sich nur fünf Minuten vom Institut entfernt in einem kleinen Bistro. Shindo war sehr gespannt und als er einen Blick in den Laden warf, wusste er sofort, wer Ayumi sein musste. Sie war wunderschön und auch ihm fielen die glatten, seidenen Haare auf, von denen Touya so gern schwärmte. Wäre sie noch zu haben, dann wäre sie auch nach seinem Geschmack gewesen.

Nicht nur, dass sie eine wahre Schönheit war. Auch Shindo mochte ihre Geradlinigkeit und Ehrlichkeit, mit der sie ihn sofort begrüßte.

"Shindo-san! Endlich treffe ich Sie, Touya-san redet kaum von jemand anderem", lächelte sie fröhlich und verbeugte sich. Sie klang, als kenne sie ihn schon ewig.

Sie setzten sich zu dritt an einen Tisch beim Fenster und Ayumi begann, von einem neuen Projekt zu erzählen. Ihr längstes war gerade in der Abschlussphase und es wurden die letzten Treffen mit den Kunden durchgeführt, in denen die Software implementiert und vor Ort getestet wurde. Offensichtlich waren nur minimale Fehler aufgetreten – da hatte sie schon viel Schlimmeres erlebt. Wenn alles gut lief, war dieses Projekt also bald abgeschlossen und sie konnte sich auf die anderen beiden konzentrieren.

Es dauerte nicht lange, bis auch Shindo zu erzählen begann, von Turnieren und Wettkämpfen im Ausland, an denen er gemeinsam mit Touya teilgenommen hatte. Er holte peinliche Geschichten raus und schonte den anderen nicht unbedingt. Wie die Woche, in der er herumerzählt hatte, Touya hätte sich in einer Bar geprügelt, obwohl er nur eine mit aller Macht gewischt bekommen hatte, weil er Shindo aus einem Alptraum hatte wecken wollen. Das hatte er kein zweites Mal versucht.

Oder wie er Touyas Monatsplan vom Institut mal mit seinem eigenen vertauscht hatte und der Ouza zwei seiner Partien durch Abwesenheit verlor, bevor er es bemerkte. Er erzählte auch von Touyas schrecklicher Kleiderwahl, wie einem lila Hemd zu dunkelblauem Anzug und dazu eine hellblaue Krawatte. Und das war noch einer seiner guten Tage gewesen.

Mittlerweile trug Touya zur Arbeit fast nur noch dunkle Anzüge mit weißem Hemd, weil man da einfach nichts falsch machen konnte und er so nicht ständig Shindos Sticheleien zu hören bekam.

Sie blieben so lange zusammen in dem Bistro, bis Shindo nur noch zehn Minuten bis zu seinem Termin hatte. Touya und er verabschiedeten sich schließlich hastig und eilten zum Auto und damit zum Institut.

"Und?" fragte der Ouza, nachdem sie kurze Zeit still im Wagen gesessen hatten.

Shindo lächelte schief. "Sie ist toll", erwiderte er nach ein paar weiteren Sekunden. "Ein Wunder, dass du so ein Mädchen gefunden hast, aber irgendwann muss sich dieses Gesicht ja mal auszahlen", grinste er belustigt. Touyas Mundwinkel zuckten leicht und für den Rest der Fahrt schwiegen sie. Beim Institut sprang Shindo nur aus dem Auto und rief Touya ein Danke zu, bevor er hinein sauste und gerade noch rechtzeitig kam.

Es war eine weitere Partie im Rahmen des Gosei-Turniers: zwei mittelklassige Pros, viel Publikum gab es nicht. Shindo wusste von seinem kleinen Fanclub, der regelmäßig seine Partien und Veranstaltungen besuchte, doch an diesem Tag war keine der jungen Damen anwesend.

Am Nachmittag, nachdem die Partie recht unspektakulär geendet hatte, rief er Saeki an. An diesem Tag brauchte er ein Ventil, um etwas Anspannung abzulassen, und wenn er richtig lag, war Saeki vermutlich auch nicht gerade abgeneigt. Er erzählte dem anderen am Telefon, er wolle gern mal wieder eine Partie gegen ihn spielen und lud ihn zu sich nach Hause ein. Auf dem Weg zu seiner Wohnung bestellte er Pasta zu seiner Adresse und dort angekommen beseitigte er die gröbste Unordnung im Wohnzimmer.

Gegen acht klingelte es und Shindo sprang zur Tür, um zu öffnen. Vor ihm stand der Pasta-Bote und hinter diesem sah er Saeki die Treppen hochsteigen. Er winkte dem Älteren zu und bezahlte ihr Essen. Dann winkte er ihn herein und ins Wohnzimmer.

"Hey! Sieh dich am besten nicht zu genau um", grinste er und schloss die Tür hinter ihnen. Dann wuselte er in die Küche und holte zwei Teller. "Wollen wir einen Film sehen?"

Saeki wirkte erst etwas überrascht, weil sie sich ja eigentlich für Go verabredet hatten, nickte dann aber. Shindo wählte einen Western, bei dem man mit viel Fantasie etwas Homoerotik hineininterpretieren konnte. Das war seine Art, ein großes Fragezeichen aufzustellen. Mit Frauen war so etwas immer einfacher gewesen, da begab man sich nicht auf Glatteis, wenn man vermutete, dass sie auf Männer standen.

~x~

Noch während des Filmes hatten sie angefangen, rumzuknutschen und hatten es nicht einmal mehr ins Schlafzimmer geschafft. Saeki hatte ihn zwar anfangs an Yun erinnert, war allerdings in vielerlei Hinsicht ganz anders. Yun war sanft und ruhig, während Saeki rastlos wirkte. Das war er früher nicht gewesen. Stattdessen hatte sich ein fast grober Zug an ihm gezeigt, der Shindo wieder an die Bitterkeit erinnerte, die er in seinem früheren Senpai vorher nie gesehen hatte.

Die Nacht war nicht besonders schön. Während bei der Nacht mit Hong die Freundschaft zwischen ihnen alles umso Intensiver gemacht hatte, konnte er jetzt Saekis Neid genau spüren, der plötzlich ihre Beziehung durchdrang. Er war immer noch ein netter Kerl, nur vielleicht nicht mehr zu Shindo. Dieser war froh, als er am Morgen allein auf seiner Couch aufwachte und nur eine kurze Nachricht Saekis auf der Garderobe vorfand:

Guten Morgen. Viel Erfolg mit dem Gosei. Man sieht sich.

Oder in anderen Worten: ruf bloß nicht an und den Titel würde ich dir auch nicht gönnen, dachte Shindo bei sich. Er seufzte. Sein Rücken schmerzte und die Nacht war den Aufwand und das bisschen Vorfreude überhaupt nicht wert gewesen. Stattdessen hatte er sich runterziehen lassen von Saekis plötzlicher Düsterkeit.

Er brauchte jetzt wirklich etwas, was seine Stimmung aufhellte. Erst später hatte er seinen ersten Termin an diesem Tag. Touya war vermutlich beschäftigt. Wenn er nicht im Institut war, verbrachte er die meiste Zeit mit Ayumi, sodass Shindo sich manchmal etwas einsam und vernachlässigt fühlte. Er konnte es Touya allerdings nicht verdenken, denn er sah sehr gut, wie vernarrt er in seine Freundin war.

Stattdessen rief er Yun an. Plötzlich sehnte er sich nach dem Kindergärtner, der ihn mit seiner lieben Art immer beruhigen konnte.

"Hey, kann ich dich sehen?" fragte er direkt am Telefon. Der andere zögerte kurz, dann nannte er ihm die Adresse seiner Arbeitsstätte. Shindo fuhr sofort los. Dort angekommen stand er erst eine Weile vor dem Eingang. Eigentlich konnte er ja nicht so gut mit Kindern. Schließlich fasste er sich ein Herz und betrat das Gebäude, dessen Eingang ihn mit bunten Bildern anlächelte.

Er stand in einem langen Flur, von dem viele Zimmer abzweigten – aus einigen von denen hörte er Kinderlachen und -weinen, dazu die besänftigenden Stimmen von Frauen. Aus einem Raum rannten gerade zwei Knirpse heraus, mit Stöcken bewaffnet, die sich gegenseitig jagten. Hinter ihnen her stürmte Yun aus dem Zimmer und lachte ausgelassen. Er wirbelte herum und sah Shindo im Eingang stehen. Sofort wurde er ernst und kam zu ihm getrabt.

"Ist was passiert?" fragte er besorgt. Yun war toll, dachte Shindo. Er hatte schwarze Haare, die ihm wirr in Stirn und Nacken hingen und jetzt vom Rennen zerzaust waren. Er hatte warme, braune Augen, die immer sanft wirkten und weiche Hände, die immer viel wärmer waren als Shindos. Der Go-Profi wusste einiges über Yun, dabei kannten sie sich eigentlich erst seit Kurzem. Yun war gerade erst zwanzig, aber in mancher Hinsicht viel erwachsener als er.

"Hmm", machte Shindo und lehnte den Kopf an die Schulter des anderen, wofür er sich etwas hinunterbeugen musste. Er atmete den Geruch des anderen ein, Mandeln und Fingerfarbe, und merkte, wie er schon ruhiger wurde. "Willst du vielleicht mit mir zusammen sein?" murmelte er in die Schulter. Er meinte es so. Obwohl er einige Männer und Frauen getroffen hatte, wollte er endlich etwas Ernstes. Er hatte zwar keine unsterblichen Gefühle für Yun, aber ein bisschen liebte er ihn schon, also warum nicht?

Yun war einige Momente still, entspannte sich dann aber unter dem anderen. "Shindo... natürlich. Ja, gern", lächelte der er und küsste Shindo sanft auf die heruntergebeugte Stirn. Es würde nicht ewig halten, aber im Moment fühlte Shindo sich, als bräuchte er jemanden, an den er sich halten konnte. Und Yun war genau der Richtige.

Klingelstreiche

Sorry für die längere Winterpause ^^' Ab jetzt hoffentlich wieder regelmäßige Updates!

Vielen Dank fürs dabei-bleiben!

~x~
 

"You could be my unintended

Choice to live my life extended

You could be the one I'll always love

You could be the one who listens to my deepest inquisitions

You could be the one I'll always love(...)

I'll be there as soon as I can

But I'm busy mending broken pieces of the life I had before

Before you
 

(Muse - Unintended)
 

Als die beiden Titelträger an diesem Morgen gemeinsam in Shindos Auto zum Institut fuhren, sprachen sie kein Wort. Beide mussten sich mental auf das vorbereiten, was ihnen bevorstand.

Der Angriff auf Touyas Balkonfenster war gerade genau eine Woche her und er hatte bereits für neues Glas gesorgt. Auch Ayumi war geschockt gewesen, als sie von dem Vorfall erfuhr und sie hatte seitdem etwas Scheu, zu ihm zu kommen. Doch das war kein Problem, ihre Wohnung war nur zwanzig Minuten von seiner entfernt.

Als sie im Institut ankamen, sprachen sie noch immer kein Wort. Es herrschte Grabesstimmung, als sie zu zweit das Parkhaus verließen und schließlich im dritten Stock aus dem Fahrstuhl traten. Dort wartete schon Shindos Fanclub, ein Großteil war heute vertreten. Am Eingang zum Partie-Raum standen drei Reporter, die sich offensichtlich schon eine Weile die Beine in den Bauch standen.

Shindo und Touya passierten die Menschenansammlung, ohne auf jegliche Fragen oder Rufe zu reagieren. Sie gingen direkt in den Raum, in dem sie ungestört waren. In dem sie gleich ihre Partie gegeneinander begehen würden. Touya war schon seit drei Tagen hibbelig. Ihre letzte offizielle Partie lag tatsächlich schon eine ganze Weile zurück und war eine sehr knappe Entscheidung zu seinen Ungunsten gewesen.

Ihre besten Partien hatten sie, wenn sie beide von nichts Privatem abgelenkt waren, doch das konnten sie gerade beide nicht von sich behaupten. Vor fünf Tagen war es, dass Shindo ihm gesagt hatte, er hätte nun einen Freund. Es war dieser Yun, der schon an dem Tag da gewesen war, als Touyas Reifen zerstochen worden waren. Touya hatte ihn noch nicht kennengelernt, aber was Shindo von ihm erzählte klang sehr sympathisch, also freute er sich für den anderen. Das war seit langer Zeit Shindos erste Beziehung, aber er hatte bereits erklärt, dass es ihm mit Yun nicht wirklich ernst war. Davon abgesehen, dass Yun offensichtlich Shindos lockere Beziehungsansichten teilte, tat er ihm offensichtlich gut.

Touyas eigene Beziehung lief so gut, wie er nie erwartet hatte, und er wusste, dass er das alles Ayumi verdankte. Immer wieder musste er Treffen absagen oder verschieben, weil einer seiner Jungs anrief oder ihn das Institut über kurzfristige Veränderungen informierte. Seltsamerweise passierte das in letzter Zeit irgendwie häufiger, zumindest kam es ihm so vor. Und trotzdem hatte Ayumi immer Verständnis, passte ihre Termine an oder sagte sie ab, nur damit sie sich regelmäßig sehen konnten. Besonders glücklich war sie darüber nicht, daraus machte sie auch kein Geheimnis, aber Touya hoffte, dass sie erkannte, wie sehr er sie mochte und es deswegen tolerierte.

Es war für ihn wie ein Traum gewesen, als sie ihn gefragt hatte, ob sie nicht zusammen sein wollten. Sie hatte es ganz direkt und unromantisch gefragt, aber er hatte trotzdem eine trockene Kehle bekommen und kaum sprechen können.

Genervt erinnerte er sich selbst an die kommende Partie und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Goban. Seine Augen strichen liebevoll darüber, er nahm die Linien, Knoten und Sterne in sich auf und dachte daran, wie häufig er schon so vor einem Brett gesessen hatte.

Er liebte Go. Daran bestand kein Zweifel. Nach dem Tod seines Vaters hatte er aufgeben wollen, weil es ihn zu sehr an diesen erinnert hatte, aber hätte Shindo ihn nicht davon abgebracht, dann hätte er es selbst auch recht bald erkannt, dass er ohne Go einfach nicht sein konnte.

Touya wünschte sich Musik. Aber er besaß keinen MP3-Player oder etwas Vergleichbares, nur sein Handy, das eine schreckliche Tonqualität ausspuckte.

So verbrachte er die letzten zehn Minuten schweigend, ebenso wie Shindo. Wäre es nach Touya gegangen, dann wären sie schon viel eher hier gewesen, aber es war gut, dass sie nicht noch länger vor den Goban sitzen mussten. Jetzt wusste er auch, warum Shindo immer so knapp ankam, nämlich, damit er sich nicht mehr zu lange vor der Partie unter Druck setzen konnte. Touya versuchte, sich zu entspannen, indem er tief ein- und ausatmete, aber es half nichts.

Schließlich wurde die Partie eröffnet, sie führten das Nigiri durch und Touya begann. Er eröffnete auf seinem favorisierten Punkt, dem linken unteren Stern. Shindos Mundwinkel zuckten, weil er das wusste. Er hingegen hatte keine Lieblingsstellen auf dem Goban, er mochte es, wenn immer wieder neue Formen entstanden und so antwortete er auf diesen Anfangszug jedes Mal anders. Heute wählte er einen Punkt, der diesem fast gegenüber lag.

~x~

Yun hatte einen beruhigenden Einfluss auf Shindo. Man merkte es ihm nicht direkt an, aber sein Go sprach wie immer Bände. Entgegen seiner sonst recht wilden, kreativen Strategie ging er plötzlich gut strukturiert und entspannt vor.

Doch auch Touya merkte man seine Begleiterin an. Er war ebenfalls eher sanft und unbeschwert, nicht wie der lauernde Tiger, der er sonst in offiziellen Partien war.

Man merkte, dass sie beide nicht absolut konzentriert bei der Sache waren, auch in Go Weekly wurde etwas Ähnliches bei der Diskussion ihrer Partie geschrieben. Die Go-Welt hatte sich einen tobenden Kampf erhofft, wie sie ihn gelegentlich gaben, aber bekommen hatte sie nur ein Geplänkel auf hohem Niveau – wenigstens das wurde ihnen zugestanden.

Touya gewann mit drei Moku Vorsprung, aber besonders eindrucksvoll war die Partie nicht gewesen, das musste er zugeben. Auf dem Heimweg schließlich meinte Shindo dann: "Tut mir leid, ich war einfach zu abgelenkt."

Touya lächelte. Das wusste er längst. "Ich doch auch. Wie ist es mit Yun?" Normalerweise fragte er nicht, sondern wich dem Thema eher aus, aber heute war er guter Laune. Außerdem waren sie befreundet, da sollte man so etwas auch mal fragen, dachte er.

Shindo fuhr heute ruhig, nicht so schnell wie sonst. Er nahm nicht einmal die Chance wahr, eine fast-rote Ampel doch noch zu nehmen. Als sie an der Ampel warteten lehnte er den Kopf etwas zurück und antwortete schließlich: "Er ist wirklich super. Lieb, ruhig, sanft... Genau das, was ich nicht bin."

"Wann lerne ich ihn denn mal kennen?" Touya war insgeheim froh, dass Shindo nicht mehr von Bett zu Bett zog sondern sich endlich einmal für eines entschieden hatte. Er hatte häufiger die armen Mädchen bemitleidet, die Shindo nachgeweint hatten, wenn er sie schon längst zurückgelassen hatte. Und er brannte darauf, den kennen zu lernen, der es schaffte, Shindo an sich zu binden. Der ihn auch noch dazu brachte, von sich aus vorzuschlagen, eine Beziehung zu führen.

Shindo bog auf ihren Parkplatz. "Wir sind nicht für alle Zeit zusammen, ich werde ihn nicht heiraten so wie du Ayumi." Er zwinkerte in Touyas Richtung. "Also kein Grund, euch einander so bald vorzustellen. Vielleicht trennen wir uns schon nächste Woche." Das bezweifelte Touya zwar, aber er sagte nichts mehr dazu. Shindo ging diese Beziehung wirklich seltsam an. Anscheinend hatte er Angst davor, über lange Verpflichtungen nachzudenken.

Sie stiegen aus und gingen langsam auf den Apartmentkomplex, in dem sie beide wohnten, zu. Touya warf einen prüfenden Blick in Richtung seines Wagens. Alles war normal.

"Triffst du sie heute noch?" fragte Shindo, als sie bei Touya angekommen waren.

Dieser schüttelte den Kopf. "Und du ihn?"

"Nein. Ich bestell uns was Mexikanisches." Mit flinken Schritten war Shindo nach oben verschwunden, während Touya seine Tür aufschloss und sie nach dem Betreten der Wohnung angelehnt ließ. Nur zwei Minuten später war Shindo wieder da, umgezogen und etwas elanvoller als vorher.

Er holte sich einen seiner heiß geliebten Energy Drinks aus dem Kühlschrank und lief dann zu Touya, der bereits das Goban hervorgeholt hatte. Heute war Mittwoch, was hieß, dass die Jungs gegen Nachmittag oder Abend hier eintrudeln würden. Sagekis Stimme war mittlerweile ein Quell der Erheiterung, weil sie wie wild von einer Tonlage in die andere sprang. Der Junge hatte einen wirklich heftigen Stimmbruch und Shindo machte sich nicht gerade selten darüber lustig; Sageki ertrug das alles mit großer Würde und meinte zu Touya, dass diese Phase ja auch nicht ewig andauern würde. Fast wie Shindo mit seiner Beziehung, dachte er kurz.

Sie spielten eine lange Partie, die fast drei Stunden dauerte und weit interessanter war als jene, die sie eben im Kampf um den Gosei gespielt hatten. Als sie fertig waren – es war eine knappe Entscheidung von einem halben Moku geworden – blieben sie weiter vor dem Goban sitzen. Shindo sah nachdenklich auf die ausgebreitete Partie.

"Ich denke, du wirst auf Ogata treffen. Kurata ist noch im Rennen, aber er ist seit einer Weile nicht mehr so gut in Form. Gegen Ogata wirst du es nicht schaffen."

Touya musterte ihn aus halb geöffneten Augen. Shindo war meist sehr präzise in seinen Vorhersagen, vor allem, was den Ouza anging.

"Das Tengen-Turnier beginnt bereits, die Kleinen kämpfen noch um ihre Plätze", meinte Shindo weiter. "Aber diesmal werde ich es sein, der dich herausfordert. Endlich. Kannst du dir vorstellen, wie atemberaubend aufregend das wird? Fünf Partien gegeneinander in so kurzer Zeit! Am liebsten würde ich alle anderen gleich heute besiegen, damit wir damit anfangen können."

Touya lächelte. Er war froh, dass Shindo vom Können her nicht an ihm vorbeigezogen war, das hätte er schwer verkraftet. Stattdessen standen sie jetzt zueinander in einem Gleichgewicht und wurden miteinander immer besser. Wenn einer einen langen Schritt in Richtung Perfektion nahm, dauerte es nicht lange, bis der andere gleichgezogen war.

Gegen vier Uhr klingelte es und Shindo öffnete die Tür. Miyagi stand davor und sah ziemlich zerzaust aus. Er trug einen großen Rucksack auf dem Rücken und hatte sich eine Reisetasche umgehängt.

"Wohin willst du denn heute noch?" fragte Shindo verwundert und ließ ihn ein.

Miyagi lächelte müde und erwiderte: "Ich komme gerade von Kyoto, da war ein Jugendturnier." Er warf einen Blick ins Wohnzimmer und sah Touya dort sitzen. "Zweiter Platz, Touya-sensei!"

"Gut gemacht! Ich schätze mal, Yashiro junior hat den ersten?"

"Jap!" rief er zurück und stellte seine Taschen im Flur ab. Shindo bot ihm einen seiner Drinks an, doch Miyagi lehnte wie immer ab. Shindo hatte Touya mal gesagt, dass er fand, Miyagi sei wie er vor zehn Jahren. Genauso korrekt und förmlich. Mit Touya ging er mittlerweile auch lockerer um, aber im Institut lief er immer noch herum wie ein wandelndes Brett, mit geradem Rücken und tadellosen Manieren.

'Wenn er weiter Umgang mit dir hat, wird er das ganz schnell ablegen', hatte Touya daraufhin prophezeit.

"Satoru ist früh rausgeflogen. Ich glaube, er hat in letzter Zeit etwas auf dem Herzen", sagte Miyagi gerade, als er neben Touya Platz nahm. Shindo setzte sich wieder dem Ouza gegenüber und sie verteilten die Steine, um schnell ein, zwei Partien Speed-Go zu spielen. Miyagi sah ihnen häufig zu, damit gab er sich meist schon zufrieden, während Sageki und Hikaru immer selbst spielen wollten.

"Touya-sensei", sagte er nach den ersten zwei Partien, gerade, als Shindo und sein Lehrer das Brett abräumten und wieder die Schalen tauschten. "Hat die Polizei eigentlich etwas rausbekommen wegen dem Typen, der Ihr Fenster eingeworfen hat?"

Shindo zog die Augenbrauen nach oben und sah Touya an. Entweder er war nicht auf dem neuesten Stand oder Miyagi war es nicht. Ob Touya ihn wieder mal ausgelassen hatte in der Informationskette?

Touya schüttelte den Kopf und erwiderte: "Ich habe keine Anzeige erstattet. Ich würde das lieber selbst klären. Wenn es ein kleiner Junge ist, will ich gern wissen, was ich ihm getan haben könnte. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was das sein könnte."

"Haben Sie sich irgendwelche Feinde gemacht?" fragte der Junge nachdenklich.

"Nicht, dass ich wüsste", erwiderte Touya. Die Schale mit den schwarzen Steinen in seiner Hand hatte er völlig vergessen. Fast hatte er auch den unerfreulichen Vorfall schon wieder vergessen. Eigentlich hoffte er, die Kinderstreiche überstanden zu haben.

~x~

Einen Monat später erst kam der nächste Schlag, obwohl 'der kleine Giftzwerg' nach Shindos Aussage eher einen Schritt zurück damit nahm.

Nun waren es Telefonstreiche. Der Unbekannte begann gegen acht, auf Touyas Telefon zu Hause anzurufen. Wenn Touya ranging, folgte keine Antwort. Ging er nicht ran, dann klingelte es, bis der Anrufbeantworter ansprang. Nach zwei Tagen riet Shindo ihm, das Telefon abzustöpseln, nachdem die Anrufe abends begannen. Natürlich hatte er prompt am nächsten Morgen einen Anruf des Instituts verpasst. Steckte er das Telefon allerdings nicht ab, so ging das Geklingel bis in die späten Nachtstunden und brachte ihn um den Schlaf.

Nach einer schlaflosen Woche verbrachte Touya einige Nächte bei Ayumi, um wenigstens etwas zur Ruhe zu kommen. Sie bot ihm nur allzu gern Unterschlupf und bekochte ihn am Abend, um ihn abzulenken.

Es war einer dieser Abende, an dem Shindo ihn anrief und unbedingt reden wollte. Touya brach überstürzt auf und entschuldigte sich bei seiner Freundin, dann fuhr er in einem enormen Tempo zu seiner Wohnung. Er parkte gleich neben Shindos Auto und gerade als er zum Haus ging, rief der Meijin ihn an.

"Dreh wieder um, ich sitz im Wagen", meinte er zu Touya. Dieser blieb verwirrt stehen und ging dann langsam wieder zurück. Er öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. Kein Wunder, dass er Shindo nicht gesehen hatte, die getönten Scheiben ließen kaum einen Blick ins Innere zu. Dabei wusste er eigentlich, dass Shindo sich gern in sein Auto zurückzog, wenn er für sich sein wollte. Umso überraschender fand er es, dass Shindo ihn nun bei sich haben wollte.

Vorsichtig sah er zu dem anderen herüber. Shindo saß auf dem Fahrersitz, die Arme hingen leblos herunter und er starrte dumpf vor sich hin. Touyas Gedanken rasten. Was konnte passiert sein? Hatte er eine wichtige Partie gehabt an diesem Tag oder war es Yun? War seiner Familie etwas zugestoßen oder hatte er eine Frau geschwängert? Ihm fielen viel zu viele Möglichkeiten ein und eine war unheilvoller als die vorige.

Er schluckte trocken. Shindo brauchte Zeit, und die würde er ihm geben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit redete Shindo schließlich.

"Er hat zwei Tage nicht mehr angerufen", murmelte Shindo.

Touya sah ihn konzentriert an. "Yun?"

"Was? Nein... der Kerl, der dich terrorisiert. Dein Telefon war jetzt immer still."

"Achso."

Darauf folgte wieder eine lange Pause. Shindo sah immer noch geschockt und leer aus, kaputt und traurig. Sie saßen fast eine Stunde im Auto, als er schließlich damit herausrückte.

"Meine Mama... hatte einen Unfall. Sie liegt im Krankenhaus und sie sind nicht sicher, ob sie durchkommt", sagte Shindo mit belegter Stimme.

Touya schwieg. Er kniff die Lippen zusammen. Shindo hatte seine Mutter immer sehr geliebt, obwohl er ihr das selten gezeigt hatte. Auch der Ouza hatte sie kennengelernt und sehr gemocht. Er fühlte sich hilflos, weil er nicht wusste, was er für Shindo tun konnte. Was hatte der andere damals getan, als Touyas Vater gestorben war? Was sagte man in solchen kritischen Momenten? Touyas Hände verkrampften sich und er schluckte noch einmal. Schließlich beugte er sich zu Shindo herüber und legte die Arme um ihn. Er spürte, wie der andere zitterte und dass seine Haut kalt war. Er schniefte an Touyas Ohr und dieser dachte, dass Shindo selbst mit dreiundzwanzig Jahren im Moment wie ein kleiner, verlorener Junge wirkte.

"Wir gehen sie besuchen, so oft du willst", murmelte Touya schließlich, immer noch die Arme um Shindo gelegt. Dieser reagierte endlich. Er erwiderte die Umarmung behutsam, fühlte sich aber steif an unter Touyas Händen. "Wenn du möchtest, komme ich mit", versicherte er dem anderen.

Shindo hörte nicht auf zu zittern, aber nach wenigen Minuten schob er Touya von sich. Sie hatten ihre Probleme nie mit Reden oder Umarmungen geklärt, sondern auf dem Goban. Aber man konnte ihm ansehen, dass er daran gerade keinen Gedanken verschwendete.

"Tut mir leid, Touya... Ich wusste nicht, mit wem ich reden konnte. Du warst der einzige, der... mit dem... also..." Sein Satz endete in einem leisen Schniefen.

Touya betrachtete ihn. Insgeheim fragte er sich, warum er nicht Yun angerufen hatte, seinen Partner. Anscheinend war es ihm wirklich nicht ernst. "Das ist kein Problem. Ich werde immer da sein."

Shindo brauchte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. Er redete nicht allzu gern über Dinge, die ihn belasteten, und Touya wollte er diese Probleme erst recht nicht aufbürden.

Schließlich sprach er wieder über unwichtige Sachen. Er erzählte von seinen letzten Tagen, von der stillen Wohnung unter ihm und wie er Yun ab und an getroffen hatte. Sie hatten ein bisschen aufzuholen, denn sie hatten sich drei Tage lang nicht gesehen.

Touya erzählte auch etwas von Ayumi, denn Shindo hörte ihm gern dabei zu. Er hatte mal gesagt, dass nichts ihn so glücklich machte, wie die Tatsache, wie glücklich Touya und Ayumi zusammen waren. Neben ihm schien der junge Mann sich langsam wieder zu entspannen.

"Ayumi will dich übrigens auch mal wieder sehen. Sie hat echt einen Narren an dir gefressen! Fast wäre ich eifersüchtig, aber sie–"

Shindo packte seine Hand und drückte so fest zu, dass Touya aufkeuchte.

"Was –" Die andere Hand landete auf seinem Mund, während Shindo an ihm vorbei aus dem Fenster starrte.

"Sieh dir das an." Langsam ließ Shindo ihn los und er drehte sich im Zeitlupentempo zur Seite, um auch nach draußen zu sehen. Einen Meter von Shindos Auto entfernt stand Touyas dunkler Wagen.

Der Junge, der zwischen den beiden Autos stand, konnte die beiden durch die getönten Scheiben nicht sehen, obwohl er sich in alle Richtungen drehte, um sicherzugehen, nicht gesehen zu werden. Er war zum Greifen nahe.

"Meinst du, das ist er?" flüsterte Shindo kaum hörbar.

Touya zuckte die Schultern. "Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Außerdem steht er nur da, oder? Meinst du, er macht sich nochmal an die Reifen? Glaubst du, das ist der Kleine mit dem Briefkasten, den Reifen, den Anrufen...?"

Sie sahen sich an und zuckten die Schultern, da hörten sie plötzlich ein metallisches Kratzen. Ihre Köpfe ruckten zur Seite. Der Junge, der gerade so hoch war wie Touya in dem tiefen Sitz, lief langsam zur Seite, das kratzende Geräusch war nun konstant. Als er zwei Schritte zur Seite machte, sahen sie, was er tat: mit einem Schlüssel in der Hand ritzte er tiefe Linien in Touyas Lack.

Noch während Touya geschockt auf die Kinderhände starrte, die gerade seinen Wagen misshandelten, war Shindo schon zur Tür raus. Der Junge fuhr herum, konnte aber bei Weitem nicht schnell genug reagieren. Shindo griff ihn an seinem dunklen Anorak, hob ihn daran hoch und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Fahrertür von Touyas Auto.

Endlich konnte Touya reagieren. Er sprang aus der Tür und hörte Shindo laut fluchen.

"Du kleines Arschloch! Du verdammter, kleiner Penner!!" schrie Shindo den Jungen an.

Touya betrachtete den Kleinen. Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Haru

Haru hat jetzt auch einen Steckbrief :)

~x~
 

This means nothing to me

'Cause you are nothing to me

And it means nothing to me

That you blew this away
 

'Cause you could've been number one

If you only found the time

And you could've ruled the whole world

If you had the chance
 

You're still nothing to me

And this is nothing to me

And you don't know what you've done

But I'll give you a clue

(Muse - Uno)
 

Obwohl es bereits zehn Uhr war, waren Sageki, Miyagi und Hikaru sofort zur Wohnung gekommen. Nun saßen sie vor dem Knirps, der vielleicht gerade elf Jahre alt war und sein Gesicht bis zur Nase im Anorak vergraben hatte.

"Kennt ihr ihn?" fragte Touya die Jungs, die den Kleinen alle drei düster anstarrten. Sie schüttelten synchron den Kopf. "Also kein Insei", murmelte er.

"Wie heißt du?" fragte Shindo den Jungen, längst nicht zum ersten Mal. Der schwieg weiter. "Warum hast du das angestellt?" Immer noch Schweigen. Shindo war schlecht gelaunt. Schließlich kniete er sich vor den Jungen, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Keiner hielt ihn auf. "Jetzt hör mal zu, du kleine Mistkröte! Was du da getan hast nennt man Sachbeschädigung. Du hast Kosten von mehreren Tausend Yen verursacht. Weißt du, wie viel Lackieren kostet?! Und neue Reifen? Wir werden deine Eltern informieren und sie werden jeden verdammten Yen zurückzahlen, das verspreche ich dir."

Eine Träne rollte über die Wange in den Kragen des Kleinen und schließlich sagte er mit zittriger Stimme: "Er hat es verdient."

Das stimmte Shindo nicht gerade versöhnlicher. "WAS HAT ER DIR DENN ANGETAN?!"

Der Junge sprang auf und keifte nun endlich zurück. "NICHT MIR, ABER MEINEM BRUDER!" schrie er. Für seine Körpergröße konnte er erstaunlich laut brüllen.

"Deinem Bruder?" fragte Touya und zog eine Augenbraue in die Höhe. "Wie war nochmal dein Name?"

"Hisayoshi Haru", sagte er nach kurzer Pause. Touya überlegte. Hisayoshi läutete ein winziges Glöckchen in seinem Hinterkopf, aber er erinnerte sich nicht. Er sah seine drei Schüler an. Sageki hatte die Augenbrauen gehoben. Touya nickte ihm zu, damit er redete.

Sageki flüsterte, vermutlich weil seine umspringende Stimme im Moment für unpassende Heiterkeit gesorgt hätte. "Hisayoshi... Hideki? Der vor drei Jahren zum Pro wurde?" Der Junge nickte mit gesenktem Kopf.

"Ich habe vor einem halben Jahr oder so gegen ihn gespielt. Aber was soll ich ihm bitte getan haben, außer ihn besiegt zu haben?" fragte Touya, der langsam selbst die Geduld verlor. Shindo hatte sich mittlerweile wieder gesetzt und versuchte, sich zu beruhigen. Touya vermutete, dass er den Jungen als Ventil benutzte für den Schock, den er durch den Unfall seiner Mutter erlitten hatte. Aber er würde ihn nicht stoppen, Shindos Wohlergehen war ihm wichtiger als das des Jungen, der nun auch noch den Lack seines Wagens zerkratzt hatte.

"Das kann man doch nicht spielen nennen", knirschte der Kleine wütend und funkelte Touya an. Was auch immer dieser verbrochen hatte, es schien den Jungen immer noch sauer zu machen. Trotzdem, der Ouza meinte, es wäre eine ganz normale Partie gewesen, er hatte nicht besonders schlecht gespielt, sonst würde er sich doch daran erinnern?

"Ach ja?" hakte er schließlich nach. Alle anderen waren still und schienen ihm den Vortritt zu lassen.

"Ja." Der Junge war stur, aber dann wollte er es doch loswerden. "Sie waren unnötig grausam. Sie haben ihn nicht einmal als Gegner betrachtet, Sie haben von Anfang an gar nicht gekämpft, weil Sie wussten, dass Sie gewinnen würden. Das war grässlich."

Touya starrte ihn an. "Hat dein Bruder das gesagt?"

"Er hat gar nichts gesagt." Die Stimme des Kleinen überschlug sich fast, weil er so schnell redete. "Aber jeder hat es gesehen, wie sie ihn gedemütigt haben! Das war... das war... unterste Schublade! Das Allerletzte!"

Shindo sprang wieder auf. "Nun hör aber –"

"Shindo Meijin." Touyas Stimme war schneidend. Der Meijin sah ihn verblüfft an und sie maßen sich einige Augenblicke, dann grinste Shindo schief und erwiderte: "Ihr Zeuge."

Touya konnte sich nicht mehr genau an die Partie erinnern, was dafür sprach, dass er eben nicht anders gespielt hatte als sonst. Allerdings stimmte es schon, dass er bei einfachen Gegnern keine hundert Prozent gab... Darauf hatte ihn aber noch nie jemand angesprochen, er hatte immer gedacht, dass selbst seine reduzierte Spielweise auf andere immer noch elitär wirkte.

"Hast du das irgendjemanden sagen hören, Haru? Dass ich deinen Bruder bloßgestellt hätte?"

"Ich war dort und habe die Partie gesehen."

Touya betrachtete ihn wachsam. Wollte dieser Knirps etwa behaupten, er durchschaue Touya mehr als die anderen Besucher der Partien? Er wäre doch darauf angesprochen worden, wenn jemand dachte, er spiele nur mit seinen Gegnern. Das Institut sähe das sicher nicht gern. "Du bist kein Insei, woher kannst du Go spielen?"

"Mein Bruder hat es mir gezeigt, vor einem Jahr."

Touyas Mund war trocken. Ein Jahr und er durchschaute ihn schon. Sein Blick huschte zu Shindo. Dieser Junge, der da vor ihnen saß, könnte ein Genie sein. Er sah einen Schatten von Shindos jüngerem Selbst in dem Kleinen. Im nächsten Moment schon fasste er seinen Entschluss.

"Wir werden deinen Eltern und deinem Bruder nichts sagen, aber dafür habe ich Bedingungen." Die anderen starrten ihn entsetzt an. Dieser Junge hatte ihm nun ein Vierteljahr das Leben schwer gemacht und er wollte ihn einfach so davonkommen lassen?

Haru überlegte eine Weile. Seine Eltern müssten alles zurückzahlen. Sie waren nicht wohlhabend, aber es sollte reichen. Dann wüssten sie und Hideki davon und sein Bruder wäre vermutlich enttäuscht von ihm. Das wollte er auf keinen Fall. Nach einigen Minuten nickte er widerwillig.

"Du legst die Insei-Prüfung ab und gehst zu dem nächsten Pro-Examen. Jeden Mittwoch wirst du hier erscheinen, und wenn du als Pro arbeitest, wirst du mir die Hälfte des Geldes, das ich deinetwegen ausgeben musste, zurückzahlen."

Mittlerweile starrten Shindo und die Jungs ihn an, als hätte er gerade offenbart, eine außerirdische Lebensform auf der Suche nach Eiscreme zu sein.

"Hast du sie noch alle?" stob Shindo auf. "Dieser Kerl ist kriminell, du solltest ihn zur Polizei bringen, stattdessen willst du einen Go-Spieler aus ihm machen? Was, wenn er beginnt, zu lügen oder die Leute im Institut zu bestehlen?"

Haru schnaufte empört, aber es blieb ungehört, weil auch die anderen jetzt alle zugleich redeten. Es dauerte eine Weile, bis sie nach und nach verstummten. Touya ging nicht auf ihre Zweifel und Einwände ein. Er hatte seine Entscheidung gefällt. Wenn er so ein Talent sah, konnte er es nicht einfach vorübergehen lassen, er musste zugreifen. Er wollte diesen Jungen formen, wollte ihn zu einem grandiosen Go-Spieler machen.

"Also, Haru? Soll ich deinen Eltern bescheid sagen, oder nimmst du meine Bedingungen an?" Der Junge kaute nervös auf seiner Unterlippe herum.

"Ich nehme an", murmelte er kleinlaut. Touya nickte. Er holte Zettel und Stift, die er dem Jungen reichte.

"Gib mir deine Nummer."

Haru zögerte wieder, tat dann aber wie geheißen.

"In zwei Wochen findet die nächste Insei-Prüfung statt, ich werde wissen, ob du da warst. Mittwoch nächste Woche wirst du bei unserer Lerngruppe mitmachen. Und jetzt geh nach Hause." Haru vergrub wieder die Nase im Anorak, stand auf und ging ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück aus der Wohnung.

Touya drehte sich zu seinen vier Gästen, die ihn nur befremdet ansahen. Shindo sagte nichts, sondern nahm seine Sachen und verließ kommentarlos die Wohnung. Auch die Jungs erhoben sich und gingen ohne viele Worte zum Eingang, um ihre Jacken zu holen und zu gehen. Sageki drehte sich noch einmal auf dem Absatz herum und sah ihn durchdringend an. "Ich weiß nicht, ob ich gemeinsam mit einem kleinen Verbrecher bei dir lernen möchte, Touya-sensei."

Touya starrte ihnen nach, als sie schweigend die Treppe hinuntergingen. Er verstand nicht. Sahen sie denn nicht, dass dieser Junge aller Wahrscheinlichkeit nach ein großes Genie war? Dass er Touya übertreffen könnte? Warum war nur er so euphorisch, wenn er daran dachte, Haru zu lehren?

Touya saß eine Weile grübelnd auf seinem Bett im Schlafzimmer, bis es an der Tür klingelte. Er überlegte, ob Shindo eventuell zurückgekommen war, um ihm noch einmal den Kopf zu waschen, aber Shindo klopfte normalerweise und klingelte nicht. Er öffnete und sah Ayumi vor sich.

Überrascht bat er sie herein. Sie wirkte etwas außer Atem und schon bevor sie ihre Jacke abgelegt hatte, sprudelte sie los. "Shindo hat mich angerufen und meinte, ich solle mit dir reden. Ist etwas passiert? Du bist schließlich vorhin so überstürzt aufgebrochen."

Touya lächelte und nahm sie liebevoll in den Arm. Er liebte diese Frau einfach. Er sog ihren angenehmen Geruch ein und leitete sie dann an der Hand ins Wohnzimmer. Er kochte ihr Tee, weil er wusste, wie schnell sie fror und dann warme Getränke mochte. Als er zurückkam saß sie angespannt auf der Kante seiner Ledercouch und erwartete ihn ungeduldig. Sie nahm die Tasse und schlang ihre schlanken Finger darum, ohne den Tee zu trinken.

Touya seufzte. Er hoffte, dass sie ihn verstehen würde. "Wir haben den Jungen getroffen, der das mit dem Auto und dem Briefkasten angestellt hat."

Sie hob die Augenbrauen und es sah einfach entzückend aus, dachte er bei sich. "Und der Scheibe und den Anrufen?" fragte sie und schürzte die Lippen. Sein Herz krampfte sich kurz zusammen, bevor es schneller schlug. Wie konnte eine Person nur so schön sein? Er war ihr einfach unrettbar verfallen.

"Genau der."

"Und wieso wollte Shindo jetzt, dass ich komme? Hast du ihm den Kopf abgerissen?"

Er schüttelte den Kopf. "Ich möchte ihn als meinen Schüler aufnehmen."

"Du möchtest WAS?!" Okay, jetzt sah sie vielleicht nicht mehr so liebreizend aus, aber selbst mit der kleinen Wutfalte zwischen den Augenbrauen war Ayumi immer noch wunderschön.

In den fast zwei Monaten, die sie nun zusammen waren, hatten sie sich noch kein einziges Mal gestritten. Anders als mit Shindo, mit dem er sich ständig wegen Kleinigkeiten in die Haare kriegte, störte ihn an Ayumi nichts und sie gab ihm nie einen Grund, sich zu ärgern. Nun gab er ihr anscheinend einen Grund.

"Entschuldige mal, aber dieser Junge hat dich terrorisiert! Er hat dein geliebtes Auto verschandelt und ich hatte schlaflose Nächte, weil ich Angst um dich hatte! Und das Erste, was dir einfällt, ist, ihn zu deinem Ziehsohn zu machen wie die anderen?"

"Er hat außerordentliches Talent, ich kann ihn nicht ungefördert lassen, Ayumi."

"Jetzt denk doch mal an etwas anderes als Go! Hier geht es um reale Werte!"

Touya schluckte. Er wusste, dass er nicht erwarten konnte, dass sie seine Leidenschaft verstand. Er verstand ja auch nichts von ihrer.

Es folgte eine zwei Stunden andauernde Diskussion, denn Streit konnte man es nicht nennen. Touya blieb ruhig und gefasst, während Ayumi mal außer sich und mal aufgelöst war. Er versuchte, ihr seine Begeisterung klarzumachen, aber sie wollte nicht hören. Realitätsfern nannte sie ihn, doch auch er wollte sich nicht umstimmen lassen.

Sie diskutierten lange und ausdauernd, nicht nur über den Jungen, irgendwann ging es auch darum, wie Touya Go immer an die erste Stelle in seinem Leben stellte und Ayumi sich danach richten musste. Er wusste nicht, warum sie nicht sah, dass sie sein Ein und Alles war. Sie war wie ein Magnet für ihn, er musste einfach zu ihr. Wenn er sie sah, verschwand alles um sie herum, da gab es auch kein Go mehr in seinem Kopf, wieso erkannte sie das nicht?

Er wurde sauer, weil sie seinen Standpunkt nicht verstand. Ihm war egal, was Haru bisher getan hatte, denn sein Talent schien so groß zu sein, dass es die ganze Go-Welt erschüttern würde – was machte da ein Briefkasten und ein Auto aus?

Sie schrien nicht, aber sie warfen sich trotzdem alle möglichen Gemeinheiten an den Kopf, kühl und gelassen. Gegen eins waren sie schließlich erschöpft. Sie waren zu keinem Ergebnis gekommen, denn eigentlich war die Entscheidung längst getroffen und Touya ließ sich nicht reinreden. Ayumi war zwar nicht glücklich mit seinem Beschluss, aber er ließ sich nicht davon abbringen.

Höchst unzufrieden verließ sie die Wohnung und lehnte das Angebot ab, von Touya gefahren zu werden. Als sie fort war schlurfte Touya wieder ins Schlafzimmer und ließ sich müde aufs Bett fallen. Anscheinend war er der Einzige, den sein neuer Fund freute.

Sein Vater hätte es verstanden. Er hätte seine Entscheidung gutgeheißen, dachte Touya sehnsüchtig. Dabei hatte er wirklich erwartet, dass Shindo ihn unterstützen würde.

~x~

Zwei Tage später kam Shindo abends zu ihm. Er hatte auf dem Heimweg Huhn mitgebracht und kam damit gleich zu ihm. Touya hörte das Klopfen und lief mit dem Telefon in der Hand zur Tür. Er verabschiedete sich von seiner Freundin und öffnete.

Der Ouza zog eine Augenbraue nach oben und sah Shindo abschätzend an. Der andere hatte ihn die letzten zwei Tage mit Ignorieren gestraft und sich nun offensichtlich eines Besseren besonnen. Der Meijin ging an ihm vorbei und in die Küche, wo er sich selbst Tee machte. Schweigend richtete Touya Teller mit ihrem Essen an, die er ins Wohnzimmer brachte und diesmal nicht vor das Goban stellte sondern auf den Couchtisch.

Dann wartete er. Shindo ließ sich Zeit und kam nach einigen Minuten mit zwei Tassen, die er neben dem Essen abstellte. Er nahm sich weder eine der Tassen noch einen Teller sondern starrte nur auf den Tisch. Touya tat es schon leid, dass er nicht selbst auf den anderen zugegangen war. Dass Shindos Mutter verunglückt war hatte er in seinen Hinterkopf verdrängt, doch jetzt sah er es Shindo wieder an.

"Meine Mama schläft noch immer", sagte Shindo plötzlich. "Aber sie ist jetzt stabil und nicht mehr in Lebensgefahr."

Touya bekam gleich ein noch schlechteres Gewissen, weil er ursprünglich versprochen hatte, Shindo zu unterstützen. "Morgen... könnte ich mitkommen. Gegen Vier habe ich Zeit", murmelte er und sah auf seine Hände.

Shindo versuchte sich an einem Lächeln, dann nahm er sich sichtbar ein Herz. "Tut mir Leid wegen meiner Reaktion... Ich verstehe ja, warum du das gemacht hast, aber... Ich habe mir auch Sorgen gemacht. Du warst es mir schuldig, das mit mir abzusprechen", nuschelte er undeutlich. Touya lächelte. Manchmal konnte Shindo unbewusst wirklich niedlich sein. Er zeigte selten, wie viel ihm wirklich an Touya lag, denn es war nicht nötig. Aber wenn er es tat, war der andere immer sehr froh.

"Ist schon gut", meinte er schließlich, um Shindo aus seiner misslichen Lage zu befreien. Entschuldigungen waren nicht gerade seine Stärke. Als das aus dem Weg geräumt war, konnten sie endlich essen. Shindo machte sich hungrig über das Mitgebrachte her und trank zwischendurch vorsichtig seinen noch heißen Tee.

Nach einer halben Stunde waren sie gesättigt und glücklich, aber noch nicht entspannt genug, um eine Partie zu spielen. Shindo spielte mit Touyas Handy herum und sie unterhielten sich.

"Warum hast du übrigens Ayumi geschickt?" fragte der Ouza. Diese Frage hatte ihn beschäftigt, seit seine Freundin an dem Abend aufgetaucht war.

Shindo zuckte die Schultern und sah weiter auf das Handy hinab. "Ich dachte, sie könnte dich vielleicht eher umstimmen", murmelte er abgelenkt.

"Wirklich grandiose Idee, Shindo", erwiderte Touya augenrollend. "Dank dir hatten wir also unseren ersten Streit. Und es hat nichts geändert."

"Tja, dann tust du für sie wohl doch nicht alles", meinte Shindo enttäuscht.

Touya lächelte sanft. "Unter anderen Umständen vielleicht schon. Aber wenn es stimmt, was ich in Haru sehe, dann wird er unsere Größe erreichen. Du kannst nicht leugnen, dass es dir nicht auch in den Fingern juckt."

"Vielleicht... Aber in der Go-Welt geht es nicht nur um Talent. Es geht auch um Ehre. Selbst wenn er normalerweise nicht kriminell ist – er war ein frecher kleiner Bengel, der uns angeschrien hat."

Touya grinste breit. "So wie du damals, als Ogata-san dich doch noch in die Insei-Prüfung gesteckt hat?" Shindo wusste nichts zu erwidern. Früher war er ein unhöflicher kleiner Rüpel gewesen, jetzt sah man ihn als schelmischen jungen Mann. Natürlich hatte er etwas von seinem schlechten Benehmen auch abgelegt. Touya nahm ihm sein Handy ab und meinte: "À propos Haru, ich habe ihm gar nicht gesagt, wann er Mittwoch da sein soll."

Er tippte schnell eine SMS und suchte dann nach Harus Namen im Adressbuch. Er hatte so viele Kontakte aus dem Institut, von der Presse und über seinen Vater, dass er eine Weile suchen musste. Harus Name stand nicht an der Stelle, an der er sein sollte.

Der Ouza zog die Augenbrauen zusammen. Zwischen Go-Institut und Hikaru sollte er stehen, aber der Name fehlte. Er hörte, wie Shindo kicherte. Mit einem genervten Blick auf den anderen sah er seine Kontakte durch.

"'Mistkröte'?" fragte er, als er den Eintrag fand. Shindo grinste breit und fröhlich. Touya sendete die SMS und änderte den Namen dann wieder zurück. "Du wirst ihn schon noch schätzen lernen", versprach er seinem Freund. "Spätestens, wenn er dir den Meijin nimmt."

~x~

Als er später am Tag Harus nicht gerade fröhliche Antwort erhielt, war der Absender 'Teufelsknirps'. Er verdrehte die Augen, obwohl Shindo nicht mit ihm im Institut war, dann änderte er den Namen wieder zu 'Haru'.

Touya sah sich die Liste der laufenden Partien an, einige waren bei den Vorrunden des Tengen-Turniers, aber keine weckte sein besonderes Interesse. Stattdessen ging er in den Souvenirshop und sah sich etwas um. Shindo hatte in etwa einem Monat Geburtstag und er tat sich immer schwer damit, dem anderen etwas zu schenken. Die erste Titelverteidigung hatte er ausgelassen und auch an Weihnachten hatte Shindo nichts bekommen, während Touya geschätzte achtmal im Jahr zu noch so abwegigen Anlässen etwas geschenkt bekam.

Er wusste, dass Shindo Fächer mochte, aber er hatte ihm schon zu den letzten zwei Geburtstagen einen besorgt. Ein Goban war eine noch überflüssigere Idee.

Deprimiert zog er nach zwanzig Minuten wieder ab. Er hatte einfach keine Idee. Aber er hatte noch etwas Zeit, bis es soweit war. Vielleicht konnte Ayumi ihm weiterhelfen.

Rastlos ging er aus dem Gebäude und auf die Straße, wo er seine Freundin anrief. Sie hatten sich gleich am Morgen nach ihrem Streit versöhnt. Er war zu ihr gefahren, weil er nicht hatte schlafen können und sie gebeten, ihm freie Hand zu lassen.

Sie ging ran und begrüßte ihn matt. Seit Kurzem lief es nicht mehr so glatt in ihrem neuen Projekt und als Projektleiterin musste sie dafür geradestehen und wenn nötig Nachtschichten einlegen. Auch sie ließ sich da nicht reinreden. Er versuchte, sie etwas aufzumuntern und erzählte ihr von Harus neuen Spitznamen in seinem Telefon.

Während er also gerade von Shindos neuem Lieblingsstreich erzählte kam Saeki mit langen Schritten an und passierte ihn ohne ein Wort. Shindo hatte angedeutet, was mit Saeki passiert war, vor allem, wie verstört er danach gewesen war. Touya hatte es Leid getan, aber andererseits war er Saeki fast dankbar, weil er der Grund war, wegen dem Shindo mit dem Rumschlafen aufgehört hatte. Nicht, dass er den Neid des früheren Schülers Morishita-senseis guthieß, und er wollte selbst nach dem Vorfall auch nichts mit dem Blonden zu tun haben, aber er hatte Shindo gezeigt, dass gemeinsame Nächte auch Negatives mit sich bringen konnten, auf einer ganz anderen Ebene als oberflächlicher Trauer und Vorwürfen.

Ayumi merkte, dass er plötzlich abgelenkt war und meinte, sie müsse jetzt leider weiterarbeiten. Er verabschiedete sich und ging wieder ins Institut. Heute war wirklich alles wie verhext... Er langweilte sich wie sonst selten und niemand war da, um ihn zu unterhalten. Nicht einmal ein Reporter war im Gebäude, die konnten ihn sonst schon aus einem Kilometer Entfernung riechen!

In Gedanken noch bei Shindo und Saeki schlenderte er die Gänge des Instituts entlang, beobachtete andere, die gerade Partien gegeneinander austrugen oder über das Spiel fachsimpelten, sah tobenden Kindern hinterher und warf einen Blick auf den Raum, in dem sonst die Inseis übten, die heute aber nicht da waren. Er war sich sicher, dass Haru die Prüfung bestehen würde, obwohl es schien, als würde er selten selbst spielen sondern eher Partien beobachten, ein bisschen wie Miyagi vielleicht.

Er musste herausfinden, welcher der älteren Pros die neuen Anwärter testete, um sicherzugehen, dass Haru auch geprüft werden konnte. Die Frist für die Anmeldung war vermutlich längst wieder um. Shindo hatte sie damals auch versäumt, als er kurzfristig entschloss, Insei werden zu wollen.

Langsam ging er weiter und sah den erst vor zwei Jahren eingerichteten Internetbereich des Instituts. Hier wurde Net-Go vorgestellt, aber die PCs mit Internetzugang konnten auch für andere Dinge genutzt werden. Er setzte sich an einen im hinteren Bereich, um nicht von Besuchern angesprochen zu werden. Dort rief er seinen Mailingdienst auf und sah nach, ob er Nachrichten bekommen hatte. Er las die wenigen und saß dann wieder gelangweilt vor dem Bildschirm und überlegte, was er tun konnte. Unstet wanderte sein Blick über den blendend hellen Bildschirm, bis er auf das Adressbuch fiel, das er kurzerhand öffnete und durchsuchte. Bei einem Namen hielt er inne.

Ko Yongha.

Kurz entschlossen schrieb er eine Mail nach Korea.

Verantwortung

Ein außerplanmäßiges Update, wegen der langen Flaute :) Hoffe, es gefällt euch. <3

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Don't kid yourself

And don't fool yourself

This love's too good to last

And i'm too old to dream
 

Don't grow up too fast

And don't embrace the past

This life's too good to last

And i'm too young to care
 

Don't kid yourself

And don't fool yourself

This life could be the last

And we're too young to see

(Muse - Blackout)
 

Mit Yun war es nach fast zwei Monaten vorbei. Sie trennten sich im Guten, aber Shindo konnte sich einfach nicht mehr auf eine Beziehung konzentrieren.

Seine Mutter lag nach ihrem Verkehrsunfall noch immer im Krankenhaus. Die Ärzte sagten ihn ständig, sie sei auf dem Weg der Besserung, aber er konnte keinen Unterschied erkennen. Doch es war auch keine Verschlechterung sichtbar, also könnte sie, wenn man dem Doktor Glauben schenkte, bald aus dem künstlichen Koma erwachen. Mittlerweile hatte er seine Mutter einige Male gemeinsam mit Touya besucht. Dieser gab ihm etwas Halt.

Mit Yun war Shindo gern zusammen gewesen und sie blieben weiter Freunde, aber jetzt, wo er mit den Gedanken ständig woanders war, wollte er niemanden mehr so nah bei sich haben. Er wollte lieber öfter für sich sein und vor sich hin grübeln. Sie sahen sich immer noch fast genauso oft wie vor der Trennung, aber nicht mehr unter dem Beziehungsaspekt.

Dass Touya und Ayumi noch immer so verliebt wie eh und je waren, machte ihn dafür umso glücklicher. Touya lächelte häufiger und redete fast nur noch von ihr, aber er schaffte es trotzdem, in wichtigen Momenten auch für Shindo da zu sein, was dieser ehrlich bewunderte. Er selbst würde das nicht so zuverlässig hinkriegen.

Haru hatte die Insei-Prüfung bestanden und kam auch zu der mittwöchigen Lerngruppe. Er schien viel Spaß am Go zu haben, auch wenn er immer noch halb auf Kriegsfuß mit Touya stand und seine Freude deswegen nicht zeigte. Die anderen Jungs in der Lerngruppe konnten ihn immer noch nicht besonders gut leiden, was immer wieder zu erbitterten Partien führte. Unter den Insei war er dafür schnell beliebt, weil er sich so einfach begeistern konnte. Sein Name in Touyas Telefon war zwischenzeitlich schon 'Straßenköter', 'Unhold' und 'Ekelpaket' gewesen, bis Touya festgestellt hatte, dass Namensänderungen auch mit einer PIN belegt werden konnten.

In diesem Jahr fiel Shindos Geburtstag auf einen Freitag. Am Abend lud er die Jungs, sowie Touya, Ayumi und Yun zu sich ein. Die jüngeren Pros wussten nichts von seiner früheren Beziehung mit Yun, er hatte es ja auch nicht vor sich her getragen. Aber auch mit ihnen hatte der Kindergärtner sich leicht angefreundet, obwohl sie sich nur wenige Male begegnet waren.

Er hatte überlegt, einen seiner früheren Insei-Freunde einzuladen, aber spontan fiel ihm nur Waya ein, denn Isumi war nach China gezogen, Fuku hatte den Betrieb seines Vaters auf Kyushu übernommen und mit den anderen war der Kontakt weit früher abgebrochen. Und Waya und Touya auf eine Feier zu bringen war selbst nach so vielen Jahren keine gute Idee, weswegen er es seit vier Jahren vermied.

Weil Shindo nicht wusste, was er machen konnte, damit alle auf seiner kleinen Feier zufrieden waren, bat er Yun um Hilfe. Der schlug einen Spielabend vor, und da sie keine weiteren guten Ideen hatten, war es beschlossen.

So trafen sie sich gegen sieben. Yun beschenkte ihn bereits vorher: er hatte zwei mittelgroße, linsenförmige Kuchen gebacken, einer weiß und einer schwarz, und sie sahen aus wie große Go-Steine. Das Geburtstagskind war überglücklich gewesen und hatte ihn stürmisch umarmt und geküsst. Kurz darauf war Miyagi gekommen, wie immer etwas zu früh. Die anderen kamen kurz darauf – Haru hatte er natürlich nicht eingeladen – und schenkten ihm einen großen Band mit Shuusaku-Kifus, über den er sich riesig freute. Er hatte sie mit schwarzen und weißen Kuchenstücken belohnt.

Ayumi kam einzeln und war vor Touya da. Sie überreichte Shindo einen großen Blumenstrauß und eine Flasche Sake, auf der 'Glückswasser' stand. "Damit du Akira das nächste Mal besiegst", fügte sie zwinkernd hinzu.

Touya war zu spät, weil er noch von einer Reporterin aufgehalten worden war. Er hatte sogar Shindos Geschenk in seiner Wohnung vergessen, versprach aber, es später zu holen. Als sie komplett waren, begannen sie mit den Brettspielen, die Yun mitgebracht hatte. Go war nicht dabei.

Sie fingen mit einer abgewandelten Form von 'Mensch ärgere dich nicht' an, mit einem großen Feld für bis zu acht Spieler. Shindo hatte unerwartet viel Spaß dabei, besonders, wenn er Touyas Figuren einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Bald hatte er sich alle Mitspieler zum Feind gemacht und kam kaum ein paar Schritte weit, ohne geschlagen zu werden. Sie lachten ausgelassen, als Shindo zum zehnten Mal seine Figur zurückstellen musste. Schließlich gewann Hikaru-kun, der still vor sich hin gespielt hatte, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ayumi wurde Zweite und Touya Dritter.

Sie spielten mehr als fünf Spiele an diesem Abend und Shindo gewann kein einziges, was ihm allerdings nichts ausmachte. Er war ein guter Verlierer. Gegen Mitternacht gingen die Jungen, denn sie wollten keinen Ärger mit ihren Eltern bekommen. Die Erwachsenen blieben zurück und Shindo holte seine neue Cocktailausrüstung hervor, die er sich selbst spendiert hatte.

Was er mixte schmeckte zwar nicht sonderlich gut, aber es war genießbar, mehr verlangten seine Gäste zum Glück auch gar nicht. Sie redeten angeregt über ihre kleinen Schützlinge, die mittlerweile für Touya, Ayumi und ihn wie Kinder waren. Langsam verstand Shindo das Verhältnis, das damals zwischen Morishita und Waya bestanden hatte: sein Lehrer hatte Waya auch wie einen Sohn behandelt, manchmal sogar besser als seine eigenen Kinder, die selbst kein Go spielten.

Alle drei, sowie Miyagis Freund Satoru, der mittlerweile auch fester Bestandteil der Lerngruppe war, waren noch gut im Rennen um den Tengen vertreten. Shindo zweifelte zwar noch immer nicht daran, dass er Touyas Herausforderer sein würde, aber mittlerweile schätzte er ihre besser als nur für die erste Vorrunde ein. Den Gosei hatte Touya vor einer Weile knapp verfehlt, an Ogata war er gescheitert. Als nächstes stand der Meijin auf dem Programm, wieder eine Chance, sicher auf Shindo zu treffen.

Während Touya und er überlegten, welcher ihrer Schützlinge wohl am weitesten kommen würde und wer die meisten Fortschritte gemacht hatte, wandten sich Yun und Ayumi gelangweilt ab und fragten einander über den Job aus. Yun konnte immer viele Anekdoten erzählen von den Kindern, die er betreute. Bald hörten sie ihm alle drei gespannt zu und Shindo lächelte ihn glücklich an.

Gegen drei schlief Yun auf der Couch ein, während die anderen über den Tokyoter Verkehr diskutierten. Ayumi gehörte zu denen, die der Umwelt zuliebe noch Bahn fuhren, obwohl sie es dort nicht selten mit etwas anhänglichen Zeitgenossen zu tun hatte. Shindo und Touya schworen auf ihre Autos, obwohl auch die Straßen oft verstopft waren, das zogen sie aber den stickigen, engen Zügen gern vor.

Schließlich verabschiedeten sich auch Touya und Ayumi, und als sie gegangen waren, hievte Shindo Yun hoch und schleifte ihn ins Schlafzimmer und in sein Bett. Yun roch toll, immer noch nach Mandel, aber diesmal nicht nach Fingerfarben. Shindo hatte ihn immer noch sehr gern. Gerade, als er sich dazulegen wollte, klopfte es. Er richtete sich wieder auf und trottete zum Eingang.

Touya stand davor und hielt ein flaches, in Geschenkpapier gewickeltes Paket in der Hand. "Ich hatte es doch unten vergessen", meinte er und reichte es Shindo. "Alles Gute zum Vierundzwanzigsten."

"Pssst, sag das nicht so einfach", murmelte Shindo. "So alt bin ich auf gar keinen Fall." Er zog Touya in die Wohnung und riss arglos das kleine Geschenk auf. Zum Vorschein kam ein Bilderrahmen, darin ein Bild von ihnen beiden. Es war vom Hokutopokal in Korea, aber nicht das, das sie im Fotoband bewundert hatten. Auf diesem Bild standen sie in der Eingangshalle des Hotels, anscheinend während einem der ersten zwei Tage. Shindo schien zu reden und hatte die Hand zu einer ausschweifenden Geste gehoben. Touya stand neben ihm und sah lächelnd zu Boden.

"Woher hast du –"

"Ich hab bei Ayumis Vater angefragt, der hatte mit den anderen Sponsoren die Bilder ausgesucht und mich dann mit dem Fotografen in Verbindung gesetzt. Er hatte noch ein paar Bilder von uns, aber das hier war einfach perfekt."

Shindo lächelte. Das Bild war wirklich perfekt. Das waren sie beide, in ihrer abgestimmten Koexistenz. Shindo kommunikativ und mitreißend und Touya sanft zuhörend, Seite an Seite. Er umarmte Touya und hielt ihn eine Weile im Arm. Seit es mit Yun aus war, hatte er irgendwie mehr Bedürfnis nach Nähe. "Danke", murmelte er. Er zog Touya mit sich in die Wohnung. "Jetzt musst du noch bleiben."

Touya lächelte und tat, wie geheißen. Shindo machte ihnen schwarzen Tee, den er übermäßig zuckerte. Damit setzten sie sich jeweils an ein Ende von Shindos bequemer Couch, sodass sie sich ansehen konnten.

"Halte ich dich von Ayumi fern?" fragte Shindo.

Der andere schüttelte den Kopf. "Sie ist todmüde. Zwei aus ihrem Team sind krank geworden und sie schuftet für beide mit. Da ist nicht viel mit ihr anzufangen, sobald ihr Kopf das Kissen berührt hat." Shindo war zu müde für ein zweideutiges Kommentar und vermutlich war Touya dankbar dafür.

"Ich würde gerne wieder ins Ausland", murmelte Touya in seinen Tee. Er trank nicht, aber er genoss die aufsteigende Wärme. "Ayumi hängt an Japan."

Shindo betrachtete ihn nachdenklich. "Ich hänge auch an Japan", meinte er und lächelte schief. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass Touya ihn bei solchen Überlegungen einbezog, aber irgendwie vielleicht doch. Gegen wen sollte er sonst andauernd spielen?

Shindo schlief nach einer Weile mit dem Tee in der Hand ein. Touya nahm ihm die Tasse ab und stellte sie auf den Tisch, dann stellte er leise den Fernseher an und verließ die Wohnung.

~x~

Am nächsten Mittwoch hatte Touya um sechs Uhr abends eine Partie und Shindo erklärte sich bereit, die Lerngruppe zu übernehmen, bis der Ouza da war. Weil er den Termin erst vergaß, kam er zwanzig Minuten zu spät an, und die Jungen warteten bereits genervt. Zu allem Überfluss hatte er Touyas Schlüssel wie immer nicht sofort zur Hand und den brauchte er auf jeden Fall, denn in seiner Wohnung standen nicht genug Goban und sie wollten auf Touya in dessen Wohnung warten. Also ging er noch einmal nach oben, die eigene Wohnung umkrempeln. Nach fünfzehn Minuten war er endlich fündig geworden und Murphys Gesetz verfluchend rannte er wieder nach unten, um den Jungs aufzuschließen. Für Ende September war es im Treppenhaus recht kalt und die fünf waren nicht gerade bester Laune, als er sie endlich einließ.

Auch für Essen hatte er nicht gesorgt – von Touya waren sie das gewohnt. Also rief er schnell bei einem Pizzalieferanten an und holte Saft aus dem Kühlschrank. Die Jungs hatten bereits die Goban in die Zimmermitte geschoben und erste Partien begonnen.

Shindo seufzte. Da hatte er ja schon mal gründlich versagt. Hoffentlich verpetzten sie ihn nicht. Touya traf nur eine halbe Stunde später ein und sorgte schon allein mit seiner Anwesenheit für mehr Ruhe. Haru beschwerte sich sofort, dass Shindo sie vergessen hatte und warf diesem dann einen grimmigen Blick zu.

Der Meijin entschuldigte sich für kurze Zeit, weil er sich noch nicht einmal hatte umziehen können, und ging schlapp nach oben. Touya hingegen war voller Energie und spielte gleich die erste Partie gegen Sageki, während Miyagi ihnen zusah.

"Tja, da hat euch Shindo wohl etwas hängen lassen, hm?" murmelte er bei einem der Eröffnungszüge. Haru neben ihm schnaubte verächtlich, doch die anderen ignorierten ihn.

"Wir waren kurz davor, zu gehen", meinte Sageki düster und knallte geräuschvoll einen Stein auf das Goban.

"Ich dachte, er ist so eine Art Idol für euch", lächelte Touya.

Sageki wiegte den Kopf und erwiderte nach kurzer Pause: "Shindo-san ist wie der coole Onkel, und du bist unser Vater. Ihn sehen wir vielleicht zweimal im Jahr und er darf all die tollen Sachen machen – uns Zeug schenken und Eis kaufen und bei ihm dürfen wir lange aufbleiben. Aber sobald es ihm zu viel wird, gibt er uns an dich weiter, ein Machtwort möchte er auch nicht sprechen, weil er ja der Coole ist. Es ist die Rolle, in der man sich des Wohlwollens der Schützlinge sicher ist, aber bei der man keine Verantwortung übernehmen muss."

Verantwortung... Das war tatsächlich ein gutes Stichwort, dachte Touya. Verantwortung war Shindos Schwäche, vermutlich der Grund, warum er sich nie auf Beziehungen einließ, sondern früher One-Night-Stands bevorzugte und auch bei Yun immer darauf bestanden hatte, dass es nichts Ernstes sei.

Touya hatte eine Idee, wie er Shindo etwas mehr Verantwortung aufbürden konnte. Gleich am nächsten Tag würde er ihr nachgehen. Jetzt musste er sich erstmal darauf konzentrieren, die Stimmung der Jungen wieder etwas zu heben und auch Shindo aufzumuntern, wenn dieser wieder da war. Dass er die Gruppe so enttäuscht hatte, schien ziemlich an ihm zu nagen.

Shindo war nach einer halben Stunde wieder da, frisch geduscht und diesmal fast in Hochstimmung. Er wirbelte ins Wohnzimmer und verlangte sofort eine Partie gegen Sageki. Dieser hatte seinen Stimmbruch mittlerweile so gut wie überstanden, nur noch selten sprang seine Stimme verzweifelt zwischen den Tonlagen hin und her und Shindo konnte sich nicht mehr darüber lustig machen.

"Wer ist übrigens das süße Mädchen, mit dem ich dich letztens gesehen habe?", grinste Shindo ihn kurz nach Beginn ihrer Partie an.

Sageki lief rot an, meinte aber nur lässig: "Eine Insei."

"Habt ihr auch schon Freundinnen?" fragte Shindo lächelnd in die Runde.

Die Jungen sahen betreten zu Boden, bis auf Haru, der so konzentriert spielte – oder Shindo wie immer so gekonnt ignorierte – dass er die Frage nicht mitbekommen hatte. Sie schüttelten alle die Köpfe, bis auf Satoru. Dieser erwiderte: "Keine Freundin, aber meine Hochzeit ist bereits beschlossen worden, als ich drei war." Er zuckte mit den Schultern. "Ich brauche mir also keine Sorgen machen."

Manchmal waren die Jungen viel erwachsener als er selbst, dachte Shindo. Es war seltsam, aber auch ein bisschen beruhigend. Sie waren die Zukunft der Go-Welt, Verantwortungsbewusstsein war essenziell. Auch wenn Touya ihm immer einen Mangel genau davon vorwarf.

Während der Partien spielte Sageki den DJ, denn er legte immer wieder andere von Touyas klassischen CDs auf. Shindo merkte, dass Sagekis Spielweise mit der Art der Beschallung wechselte. Heute hatte er sich für Wagners Walküre entschieden und entsprechend offensiv war seine Strategie.

An diesem Abend hörten sie schon um zehn mit den Spielen auf, weil die Jungen Lust bekamen, einen Film zu sehen. Hikaru und Haru stürmten nach oben in Shindos Wohnung, um einen auszusuchen. Die inhaltvollen Filme aus Touyas Sammlung interessierten sie nicht besonders, aber sie liebten Shindos DVD-Kollektion. Wenn Sageki sich CDs von Touya auslieh, lieh Hikaru sich DVDs von Shindo aus.

Nach kurzer Zeit kamen sie zurück, zwei japanische Horrorfilme in der Hand. Sie wollten den anderen die Wahl lassen, aber da die keine Ahnung hatten, was überhaupt der Unterschied bei Horrorfilmen sein sollte, fiel die Wahl doch wieder ihnen zu. Sie schoben den neueren der Filme ein und setzten sich dann vor die Couch.

Touya hatte längst festgestellt, dass eine Couch und ein Sessel zu wenig waren für seine mittlerweile wachsenden Runden, die er empfing. Er wollte schon lange auf Sofasuche gehen, aber es hatte sich einfach nicht ergeben. Touya nahm im Sessel Platz und sah Shindo zu, der sich auf die Couch fläzte.

"Shindo –"

"Jaja, das Leder, das Leder, ich weiß, Touya! Kauf dir verdammt nochmal eine Sitzgelegenheit auf der man auch sitzen darf." Sie rollten simultan die Augen.

Miyagi setzte sich neben Shindo, Sageki saß ganz außen. Satoru musste wohl oder übel auch auf dem Boden.

Die einzigen, die wirklich Spaß an dem Film hatten, waren Haru, Hikaru und Shindo, während Miyagi neben ihm wie Espenlaub zitterte, bis er den Arm um den Jungen legte. Touya dachte öfter, dass Shindo einen guten Vater abgäbe, selbst nach dem Zwischenfall früher am Abend. Miyagi jedenfalls schien sich durch die Umarmung zu beruhigen.

Touya wusste nicht, was andere an solchen Filmen gut finden konnten. Man bekam Angst und sonst nichts. Besonders gut unterhalten fühlte er sich jedenfalls nicht. Da waren ihm Shindos inhaltlose Westernstreifen um einiges lieber.

~x~

Am nächsten Tag, als er eigentlich seine neue Geschenkidee für Shindo besorgen wollte, überraschte Ayumi ihn nach seinem Feierabend. Sie hatte einen Picknickkorb gepackt und wollte mit ihm in einen großen Park gehen. Das war viel zu verlockend, als dass er es überhaupt hätte ablehnen können. Noch dazu sah sie wieder wunderschön aus. Ihre Haare waren etwas lockig, das hatte sie für ihn getan, und weil sie sich beeilen musste, um pünktlich zu kommen, waren ihre Wangen rot und die Augen funkelten.

Er liebte diese Frau so abgöttisch, dachte er zum hundertsten Mal. Mit einem sanften Lächeln schob er die Hand in ihren Nacken und zog sie zu einem zärtlichen Kuss zu sich. Ihre Lippen waren warm und weich. Ihm wurde schwindlig von ihrer Nähe und sein Herz wollte auch nicht aufhören, durchzudrehen. Wie sollte er das nur ein Leben lang aushalten?

Er steuerte das Auto an, doch Ayumi nahm seine Hand und zog ihn in Richtung Straße. "Es ist doch nicht weit, sei nicht so faul." Seufzend drückte er ihre Hand und verschlang ihre Finger dann ineinander.

Wie konnte eine Frau nur so perfekt sein?, dachte er nicht zum ersten Mal. Nicht nur, dass sie in ihrem Beruf erfolgreich war, nebenbei schaffte sie es, eine perfekte Freundin zu sein, noch dazu sah sie immer wunderschön aus.

Sie verbrachten den Nachmittag gemeinsam im Grünen und Touya schwebte in Glückseligkeit. Ayumi erzählte ihm von ihrem Team, das langsam wieder vollständig war, sodass sie nicht mehr allzu viele Nachtschichten schieben musste. Im Gegenzug erzählte er von der Go-Welt. In drei Wochen stand bereits die Entscheidung um den Tengen-Herausforderer an. Die letzte Vorrunde um Shindos Titel, den Meijin, hatte auch schon begonnen und würde etwa einen Monat später im Titelmatch enden.

Als der Abend hereinbrach gingen sie zurück zum Institut und zu Touyas Auto. Schweigend fuhr er sie beide zu sich. Es war eine Weile her, dass sie die Nacht miteinander verbracht hatte, und Touya war entsprechend aufgeregt als sie die Treppen zu seiner Wohnung nahmen, immer wieder von sehnsüchtigen Küssen unterbrochen. Seine Finger zitterten so stark, dass ihm der Schlüssel zweimal aus der Hand fiel. Er lachte atemlos, schloss schließlich auf und zog Ayumi mit sich.

~x~

Das Sofashopping verlegte er auf den nächsten Vormittag. Ayumi musste bereits um sieben los und er stand um neun auf. Er überlegte, Shindo mitzunehmen, aber der würde ihm ja sowieso nur reinreden. Gut, die Ledercouch war vielleicht wirklich nicht die beste Idee gewesen, wenn man einen ständigen Besucher wie Shindo hatte, aber sie hatte ihn einfach so angelächelt. Und die Verkäuferin war so nett gewesen.

Er seufzte. Vielleicht war er manchmal einfach zu leichtgläubig. Er nahm seinen Schlüssel von der Kommode, warf noch einen Blick um sich und verließ dann die Wohnung. Das Einrichtungshaus seiner Wahl war eine halbe Stunde entfernt, die er summend und gut gelaunt zurücklegte.

Diesmal ließ er sich nicht beraten, sondern schlenderte alleine die Gänge entlang und sah sich um. Mittwochs waren sie normalerweise zu siebt und er hatte nur Sitzgelegenheiten für vier von ihnen. Schließlich landete er bei den langen Ecksofas. Da hätten vermutlich noch mehr Leute Platz.

Eine ganze Weile stand er vor einer dunklen Ledercouch und debattierte innerlich. Auf der einen Seite er, auf der anderen Shindo. Er selbst deutete immer wieder auf die unschlagbare Optik hin und dass er sich ruhig mal etwas leisten könne. Shindo argumentierte, dass er gerade eine Couch kaufen wollte, auf der eine Truppe Halbstarke rumlümmeln würde und dass das nun gerade das Unpassendste schlechthin war.

Touya biss sich auf die Unterlippe. Genau deswegen hatte er Shindo nicht mitgenommen. Wieso dachte er jetzt extra darüber nach, was der Meijin zu seiner Wahl zu sagen hätte? Das war wirklich nervig.

Schließlich ging er langsam und etwas niedergeschlagen weiter. Er hielt vor einer anderen Couch aus dunklem Stoff, der etwas nach Jeans aussah. Das wäre zwar nie seine erste Wahl gewesen, aber es sah in Ordnung aus. Vermutlich würde Shindo sie mögen. Der Preis konnte ihn jedenfalls nicht schocken. Sein Konto quoll über vor Geld, das er nie nutzte. Nicht einmal die Anschaffung seines Autos hatte ein großes Loch hineinschlagen können, da würde er ein Sofa schon verkraften.

Er sprach einen jungen Verkäufer an, der vermutlich genauso alt war, wie er selbst und sich so ein Sofa nicht leisten konnte. Er folgte ihm zu einem der Tresen mit Computern und diktierte genau, welches Sofa mit welchem Stoff er wann und wohin geliefert bekommen wollte.

Als das erledigt war, setzte er sich in sein Auto und fuhr weiter. Jetzt würde er Shindo etwas kaufen. Er hatte schon genaue Vorstellungen, was es sein sollte.

Geschenk

"She had something to confess to

But you don’t have the time so

Look the other way

You will wait until it's over

To reveal what you’d never shown her

Too little much too late"

(Muse - Muscle Museum)
 

Shindo war nicht gut gelaunt. Er hatte um sieben aufstehen müssen, weil das Institut eine seiner Partien auf acht Uhr gelegt hatte. Eigentlich hatte er vor einigen Jahren mal abgesprochen, dass seine Partien immer auf später am Tag gelegt wurden, aber heute war das nicht möglich gewesen.

Und dann hatte sich das Aufstehen nichtmal gelohnt. Trotz Müdigkeit hatte er seinen Gegner mit Links geschlagen. Um zwölf hatte er dann eine Partie in der zweiten Vorrunde des Tengen-Turniers. Nur noch Sageki und Hikaru waren übrig in dieser Runde, aber er würde nicht gegen sie spielen müssen, außer, einer der beiden erreichte die dritte Runde. Das nächste Pro-Examen fand erst im Frühjahr statt, was bedeutete, dass er sich um Haru noch keine Sorgen machen brauchte. Ihm war allerdings klar geworden, dass er sich vorsehen musste, sobald der Knirps zum Pro aufstieg. Sie konnten sich immer noch nicht besonders leiden, aber Shindo ließ Abneigung nicht sein Einschätzungsvermögen beeinflussen. Meistens zumindest.

Seine zweite Partie ging Shindo nach drei Bechern Kaffee an. Heute hatte er niemanden im Institut getroffen, mit dem er reden konnte. Er hatte sich also zwei Stunden langweilen müssen. Er hatte versucht, Touya anzurufen, mehrmals, aber dieser ging nie ran. Dabei hatte er heute einen freien Tag. Wie konnte er ihn anders verbringen, als Shindo zu unterhalten, fragte der sich ironisch.

Er überstand auch die zweite Partie unbeschadet. In letzter Zeit konnte niemand ihm mehr etwas anhaben, er lief langsam zu Höchstform auf. Hoffentlich erreichte er diese bis zum Tengen-Finale.

Halb drei war er zu Hause. Touyas Wagen stand noch nicht in der Einfahrt und er fragte sich, was der Ouza gerade tat. Ayumi musste doch arbeiten? Hatte Touya sich etwa plötzlich ein Hobby zugelegt? Naja, vielleicht war er auch mit einem der Jungen unterwegs. Das war auch schon ein-, zweimal vorgekommen.

Shindo reckte sich, als er aus dem Auto stieg, und ging langsam zum Haus und die Treppen hinauf. Er gähnte herzhaft während er die Tür aufschloss. In seiner Wohnung warf er den Schlüssel beiseite, trottete ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Er schlief schneller ein, als er eine Go-Eröffnung führen konnte.

~x~

Geweckt wurde er von einem nervigen Mix aus Klopfen und Klingeln. Er schrak hoch und beeilte sich, denn als er diese Geräusche das letzte Mal in Verbindung miteinander gehört hatte, waren Touyas Reifen zerstochen worden.

Diesmal sah Touya nicht aufgelöst aus, sondern positiv aufgeregt. Er schob Shindo zurück in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich, blieb aber im Eingang stehen.

"Die Jungs haben gesagt, die bist der coole Onkel", redete Touya los. Wortschwalle waren sonst nicht sein Ding sondern eher Shindos, aber diesmal schien er wirklich aufgeregt zu sein. Shindo hob eine Augenbraue.

"Der coole Onkel?"

"Ja, und ich habe die Vaterrolle. Weil ich Verantwortung übernehme und du nicht."

Shindo betrachtete ihn eine Weile lang skeptisch. Dafür war er jetzt aufgestanden? "Wenn du mir jetzt nur meine sozialen Defizite aufzeigen willst, gehe ich wieder schlafen.

"Du schläfst in letzter Zeit oft allein", meinte Touya. Shindo zuckte nur die Schultern. Er hatte eben gerade keine Lust auf andere Menschen in seinem Bett. Ab und zu schlief Yun bei ihm, aber das wurde immer seltener.

Touya nahm ihn beim Handgelenk. Shindo schreckte verwundert auf. Sonst fasste der andere ihn nie an – es war seltsam, wenn er die Initiative ergriff. Touyas Griff war fest, anders als seine immer noch recht zierliche, knochige Figur vermuten ließ. Er öffnete die Tür wieder und davor stand eine große Transportbox, die Shindo nicht so ganz deuten konnte.

Touya nahm sie und hob sie ihn die Wohnung, dann schloss er die Tür wieder. Shindo wartete nicht auf eine Erklärung. Das war eine Box für Tiere, er hatte einmal eine im Institut gesehen, mit einer Katze darin. Touya kam hinzu und öffnete die Luke, damit das Tier hinaus konnte. Shindo atmete gespannt ein und beugte sich hinunter.

In die Ecke gedrückt sah er einen kleinen Welpen, der bei seinem Anblick zu winseln begann.

Er richtete sich wieder auf und sah Touya fragend an.

Dieser zuckte die Schultern und sagte: "Ich dachte, du wärst eher ein Hundemensch. Er muss dreimal am Tag raus. Einen Namen hat er noch nicht."

"Du hast mir einen Hund gekauft?" fragte Shindo, um seine Gedanken zu ordnen. Touya lehnte an der Wand zwischen Flur und Küche und nickte. "Ich habe gar kein Zeug für ihn."

"Ich hab alles Mögliche besorgt, bringe ich dir gleich hoch."

Shindo seufzte. "Ich will gar keinen Hund."

Touya lächelte. "Glaub mir, du willst einen. In einer Woche wirst du mir dankbar sein."

~x~

Am Abend bezweifelte Shino diese Vorhersage. Aus Angst vor Shindo hatte der Welpe gleich nach Verlassen seiner Box auf dem Boden Wasser gelassen.

Er war ein kleiner weißer Hund mit schwarzen Pfötchen und auch das Fell um die Augen war kreisförmig schwarz. "Er sieht aus wie ein Panda", meinte Shindo, als er gemeinsam mit Touya versuchte, den Hund zum Fressen zu bewegen. Touya hatte tatsächlich an alles gedacht. Er hatte Futter, Näpfe, Leinen, einen Schlafkorb, Bürsten und noch alles mögliche sonderbare Zeug besorgt und in Shindos Wohnung verteilt.

"Er braucht einen Namen", sagte Touya, leise, um den Hund nicht zu erschrecken.

Shindo seufzte. Anscheinend war es dem anderen ernst damit, dass er ihn behalten sollte. Wie passte denn ein Hund in sein Leben? "Panda", meinte er. "So soll er heißen."

Panda betrachtete ihn misstrauisch und wackelte dann zu Touya. Shindo betrachtete seinen Hund und Touya. Sie passten viel besser zueinander. Panda schien nicht besonders agil, auch auf Bälle und Stöckchen reagierte er nicht. Vielleicht reichte es, wenn er nur einmal am Tag rausging? Vermutlich nicht...

"Und wie genau bist du auf einen Hund gekommen?" seufzte er und wedelte mit den Händen beim Versuch, Panda zu sich zu locken. Der Welpe betrachtete ihn lange und ausgiebig, bevor er sich auf den Boden drückte und den Kopf auf Touyas Fuß ablegte.

Touya kraulte ihn mit den Fingerspitzen am Kopf und erwiderte dann: "Keine Ahnung, ich fand es eben passend. Ich finde, du musst lernen, auf andere Acht zu geben. Du hast du Jungs einfach vergessen, das geht so nicht."

Shindo seufzte und starrte auf seine Hände. Touya hatte ja Recht, und das wurmte ihn noch mehr.

"Ich überlege, Ayumi einen Antrag zu machen", eröffnete Touya ihm plötzlich. Sie sahen sich einen Augenblick an, dann breitete sich ein Lächeln auf Shindos Gesicht aus.

"Wirklich?! Wow, Touya – wow! Das... das ist schön. Wie lange seid ihr jetzt zusammen?"

"Drei Monate. Aber es kommt mir viel länger vor." Shindo kam es auch viel länger vor. Er selbst hatte sich auch schon so gut mit Ayumi angefreundet, dass er sich freuen würde, wenn sie Teil seiner kleinen Familie werden würde, die er mit Touya fast schon war. Er dachte an seine Mutter. Tiere waren im Krankenhaus bestimmt nicht erlaubt.

"Soll ich dir Tipps geben für die Hochzeitsnacht?" fragte er grinsend und wackelte mit den Fingern, um Panda endlich zu sich zu locken. Der Welpe richtete sich auf und schnupperte sich langsam in Shindos Richtung vor, bis er diesen schließlich erreichte und seine Fingerkuppen abschleckte. Shindo kicherte leise.

"Ich glaube nicht, dass ich die nötig habe", erwiderte Touya augenrollend und lehnte sich gegen die Wand im Flur. Er beobachtete, wie Panda auf Shindos Schoß kletterte und es sich dort gemütlich machte. Er hatte genau die richtige Wahl getroffen. Er hatte einen Hund gesucht, der nicht zu hyperaktiv war, weil er gemerkt hatte, dass Yun mit seiner inneren Ruhe auch Shindo angesteckt hatte. Nun wollte er nicht unbedingt den Welpen mit Yun vergleichen, aber er hoffte darauf, dass Panda Shindo half, etwas ausgeglichener zu werden.

"Ich habe mich öfter gefragt, wie es wäre, mit uns beiden." Touya starrte ihn an, aber er erwiderte den Blick nicht, sondern sah weiter konzentriert dem Hund zu. "Ich meine ja nur... weil wir uns so gut kennen."

Seit mit Yun Schluss war, hatte er tatsächlich ab und zu darüber nachgedacht. Nicht oft, aber es war doch immer die Frage da, wie es gewesen wäre, hätte er sich eher für Männer begeistert. Er war darauf gekommen, als ihm bewusst geworden war, dass die Nähe zu Hong das Erlebnis schöner gemacht hatte. Auch mit Yun war es immer besser geworden, je mehr sie einander kannten. Und derjenige, der ihn am besten kannte, war nun einmal Touya.

Shindo seufzte und lehnte sich zurück. Es war nicht so, dass er ständig daran dachte, redete er sich ein. Er neidete Ayumi auch nicht, dass sie mit Touya zusammen war, er war einfach nur neugierig. Dass die beiden bald verlobt sein würden, machte ihn viel glücklicher, als er erwartet hätte.

"Tut mir leid, Shindo", meinte Touya schließlich. "Selbst wenn Ayumi nicht wäre, hätte ich daran, glaube ich, kein Interesse. Zum einen, weil du ein Mann bist, und zum anderen, weil da auch eine Menge kaputtgehen könnte. Das hast du doch bei Saeki gesehen. Wirst du je wieder normal mit ihm reden können?"

Shindo seufzte wieder. "So wäre es nicht mit uns. Aber ich versteh dich, ich will dich ja auch gar nicht überreden. Sag mir lieber, wann du den Kniefall wagst", lenkte er das Thema wieder auf Touyas ursprüngliche Ankündigung.

"In drei Wochen verteidige ich den Tengen. Danach frage ich sie." Touya lächelte verliebt und Shindo dachte, dass Ayumi sich wirklich glücklich schätzen konnte, einen Mann zu kriegen, der so vernarrt in sie war. Zwar klagte sie ab und zu darüber, immer zurückstecken zu müssen, wenn ihnen Go in die Quere kam, aber Shindo sah genau, dass Touya in den richtigen Momenten immer seine Freundin wählte. Das musste sie einfach auch sehen.

"Der Meijin ist nur einen Monat später dran", sagte Shindo und lächelte. Er freute sich auf die Partien gegen Touya.

Der Ouza richtete sich langsam auf. Panda beobachtete ihn misstrauisch, bewegte aber außer Augen und Ohren nichts. Ihm schien es auf Shindos Schoß zu gefallen.

"Ich treffe mich noch mit Sageki. Du kommst klar hier?"

"Du meinst das also ernst mit dem Hund?" fragte Shindo zweifelnd. Nicht, dass er das warme Bündel auf seinen Beinen nicht süß fand und so... Touya nickte und sah auf die Uhr.

"Wie wär's mit einem ersten Spaziergang für ihn? Ich muss nur drei Straßen weiter, komm doch mit."

Shindo nahm Panda, der fast in nur eine seiner Hände passte, und setzte ihn auf den Boden, um in seiner Wohnung nach der Leine zu suchen, die Touya irgendwo zurückgelassen hatte.

Gemeinsam verließen sie das Haus und gingen die Straßen entlang. Sie konnten nicht allzu schnell laufen, weil Panda wegen seinen kurzen Beinen kaum hinterherkam. Dafür war er nicht so riesig interessiert an seiner Umwelt, nur selten blieb er stehen, um an einer Zeitung oder einem Baum zu schnuppern. Als Touya sich verabschiedete, bellte Panda ihm hinterher; es klang absolut niedlich, wie Shindo fand.

Nach einer weiteren halben Stunde schlugen sie zu zweit den Rückweg ein und Shindo fand, dass das hier gar nicht so schlecht war. Sein Welpe war zum Glück nicht besonders anspruchsvoll, vielleicht reichten zwei Spaziergänge am Tag.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, das ganze Hunde-Equipment von Touya in der Wohnung zu verstauen und einzurichten. Den Korb stellte er ins Wohnzimmer, die Bürsten kamen ins Bad, für das Futter hatte er in der Küche mehr als genug Platz. Der Welpe saß meist im Wohnzimmer herum und beobachtete ihn, manchmal folgte er ihm auch in das jeweilige Zimmer. Sie würden sich schon gut verstehen, dachte Shindo.

Spät am Abend fiel er müde ins Bett. Er hatte schon fast die zwei Partien eher an diesem Tag vergessen, so beschäftigt war er seitdem gewesen. Panda hatte er in den Korb im Wohnzimmer gesetzt, doch gerade, als er sein Licht ausschalten wollte, fiel ihm auf, dass der Welpe vor seinem Bett saß. Er war zu klein, um hochzuspringen, und so saß er nur da, sah ihn aus den schwarz umrandeten Augen an und fing an, leise zu winseln.

Shindo seufzte. "Na gut... Aber die Nummer zieht sonst nicht, dass du's weißt." Er nahm den Hund mit einer Hand und legte ihn auf die Decke neben sich, dann schaltete er das Licht aus. Gerade, als er sich auf den Bauch gedreht hatte, merkte er, wie Panda tapsig auf seinen Rücken stieg und sich dort hinlegte. Noch einmal seufzte er. "Super, Hund, ganz großes Kino..."

~x~

Am nächsten Tag hatte er gegen Mittag eine Partie, und weil er für das Gassi gehen sowieso früh aufstehen musste, entschied er sich, mit Panda zu Yuns Arbeit zu fahren. Der Hund nahm die Autofahrt so stoisch hin wie die meisten anderen Gegebenheiten. Er legte sich auf den Beifahrersitz und sah Shindo zu.

Am Kindergarten angekommen legte er dem Welpen die Leine an, trug ihn allerdings hinein. Viel war noch nicht los, es war gerade erst halb neun und nicht alle Kinder waren schon hergebracht worden. Shindo wusste bereits, wo er nach Yun suchen musste. Der junge Kindergärtner war Leiter der Schmetterlingsgruppe. Shindo wartete kurz vor der Tür mit den bunten Schmetterlingen und lauschte, ob es drinnen besonders laut war. Er wusste, dass es dann nicht gut war, hineinzugehen, weil er selbst für noch mehr Unruhe sorgte. Yun dagegen schaffte es meist schnell, die Kinder zu beruhigen.

Es war still, also öffnete er vorsichtig die Tür. Er war kaum zur Hälfte drin, als ein kleines Mädchen ihn entdeckte und quietschte.

"Hundchen!" rief sie und kam angelaufen. Schüchtern blieb sie vor Shindo stehen, der sie um über einen Meter überragte. Sie legte den Kopf in den Nacken, wippte auf ihren Füßen vor und zurück und sah ihn mit großen Augen an. "Streicheln?"

Yun kam angelaufen und lachte. Shindo rieselte es angenehm den Rücken hinunter.

"Nur, wenn du das in einem Satz sagst", schmunzelte Shindo. Er wusste, dass Yun das den Kindern immer einbläute, aber bei Fremden fielen sie oft in Ein-Wort-Sätze zurück.

"Darf ich ihn mal streicheln?" fragte sie artig und Shindo kniete sich lächelnd hin, sodass Panda und das Mädchen auf einer Ebene waren. Längst waren auch die restlichen Kinder angelaufen gekommen und Yun beobachtete ihn mit warmem Blick. Währenddessen griffen gleich mehrere Kinderhände nach Pandas Fell, sie passten gar nicht alle auf den kleinen Hundekörper. Der Welpe ließ alles geduldig über sich ergehen und machte keinen Laut.

"Wie heißt er?" fragte ein Junge mit einer charmanten Zahnlücke.

"Panda", erwiderte Shindo und er hörte Yun kichern. Die Kinder waren begeistert, und weil sein Hund sich so ruhig verhielt, ließ er ihn bei den Kindern und stellte sich zu seinem früheren Freund.

"Ein Hund?" fragte dieser grinsend und gab ihm einen Kuss.

Shindo zuckte mit den Schultern und sah dem Bündel Kinder zu, in dem irgendwo sein Welpe lag. "Touya hat ihn mir geschenkt. Er meint, ich müsse lernen, Verantwortung zu übernehmen."

"Keine schlechte Idee", lächelte Yun. Shindo sah ihn säuerlich an und setzte sich auf einen der Kinderstühle.

"Touya will Ayumi einen Antrag machen", erzählte er. Yuns Augen leuchteten auf.

"Das ist ja toll! Wie schön, das freut mich für die beiden." Shindo grinste, weil der Kindergärtner so glücklich war. Nach kurzer Zeit war leises Winseln aus der Kindermenge zu hören und Shindo kam seinem Hund zu Hilfe. Er nahm ihn wieder auf den Arm und so außer Reichweite der Kinder. Die Gruppe um ihn löste sich langsam auf und widmete sich wieder ihrem Spielzeug.

Nach zwanzig Minuten wurde das letzte Mitglied der Schmetterlingsgruppe gebracht, ein kleines vierjähriges Mädchen, das Yun immer sehr gemocht hatte, weil sie schon so klug war. Ihre Mutter brachte sie herein und zog ihr die Jacke und Stiefel aus. Kaum, dass sie ihre Schuhe los war, kam sie zu Shindo gelaufen und legte vorsichtig eine Hand auf Pandas Kopf.

"Der ist aber schööön!" lachte sie. Ihre Mutter verabschiedete sich gehetzt mit einem knappen Gruß und auch Shindo wollte bald gehen. Es war gerade neun, drei Stunden noch bis zu seiner Partie. Die Kinder verabschiedeten sich ausgiebig von Panda, Yun winkte ihm nur lächelnd nach.

Panda wollte nicht lange spazieren. Er leitete Shindo durch zwei Querstraßen und dann, gewollt oder nicht, genau zum Auto, vor dem er sich demonstrativ neben die Beifahrertür setzte. Shindo musste lachen, schloss auf und setzte den Welpen auf seinen Platz.

Zu Hause schien er auch nicht besonders interessiert daran zu sein, herumzutollen. Futter war ihm viel lieber. Satt legte er sich schließlich neben Shindo auf die Couch und döste vor sich hin, während sein Herrchen die Morgennachrichten sah. Shindo stellte fröhlich fest, dass sie anscheinend ganz ähnliche Interessen hatten – Panda mochte sein Auto, lag gern auf der Couch und wollte nicht allzu viel unterhalten werden. Nur seine Go-Kompatibilität hatte Shindo noch nicht getestet.

Halb zwölf machte er sich bereit für seine Partie. Ob er Panda solange in der Wohnung lassen konnte? Vermutlich schon. Ein bisschen blutete ihm das Herz, als er den Welpen auf seiner Türschwelle zurückließ und ging, aber er würde ja bald zurückkommen.

Nach seiner Partie fuhr er noch zum Krankenhaus, um seine Mutter zu besuchen. Vor Ort kannte man ihn bereits, die Schwestern grüßten nett und ließen ihn ohne Fragen passieren. Im Zimmer seiner Mutter lag noch eine Frau, die sich bei einem Haushaltsunfall das Gesicht verbrannt hatte. Sie war ab und zu wach, wollte sich aber nie mit Shindo unterhalten.

Er nahm am Bett seiner Mutter Platz und nahm ihre Hand, die er liebevoll streichelte. Sie sah alt aus, wie sie da auf dem Bett lag, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Der zuständige Arzt hatte ihm zwar gesagt, es bestehe keine Lebensgefahr mehr, aber sie wachte auch nicht auf. Dabei brauchte er sie doch. Er war erst vierundzwanzig, er konnte seine Mutter noch nicht verlieren.

"Mama", flüsterte er und strich immer wieder über die Hand, die jetzt so klein und blass wirkte. "Wach endlich auf. Ich hab dir so viel zu erzählen. Ich habe jetzt einen Hund. Er heißt Panda, und du musst ihn auch streicheln." Er schluckte trocken. Ihm fiel es schwer, mit ihr zu reden, aber der Arzt hatte gesagt, es könnte hilfreich sein. "Ich war mit ihm im Kindergarten bei Yun. Die Kiddies haben ihn geliebt."

Er redete eine Weile von seinem Welpen und von Touya und vom Go. Er hatte seit ihrem Unfall ein schlechtes Gewissen, weil er sich davor so selten hatte blicken lassen in seinem Elternhaus. Seine Mutter war nun tagsüber immer alleine und redete höchstens mal mit Akaris Mutter oder anderen Nachbarn. Sie musste ihn schrecklich vermissen. So wie er sie jetzt.

"Ich komme bald wieder", murmelte er zum Abschied und legte ihre Hand zurück neben ihren schmalen Körper.

Bevor er losfuhr, saß er noch eine Weile im Auto. Es war angenehm, er konnte einfach ruhig sein und ein bisschen nachdenken. Touya wollte Ayumi den Antrag nach dem Tengen-Turnier machen. Ironisch dachte Shindo, dass es ziemlich unfair war, ihm das zu sagen, denn so würde er Touya ungern besiegen wollen, immerhin wäre die Verlobung dann durch Touyas Niederlage gezeichnet. Andererseits mochte dieser den Titel Tengen – aus welchem Grund auch immer – sowieso nicht sonderlich leiden, warum ihn also nicht dieser Bürde entledigen?

Schließlich fuhr er wieder nach Hause, nahm gemächlich die Treppen nach oben und öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Es war verdächtig still und Panda saß nicht mehr im Eingangsbereich. Im Flur allerdings sah Shindo irgendetwas Watteähnliches, was dort definitiv nicht hingehörte. Ohne seine Schuhe auszuziehen trat er mit angehaltenem Atem ein und ging in sein Wohnzimmer.

"Oh neeeein", jammerte er, als er sah, was sein neuer Mitbewohner angestellt hatte: eine Sofaecke war komplett aufgerissen; aus ihr quoll die weiche Füllung.

Und inmitten des Wattemeeres schlief Panda seelenruhig.

Tengen

Konnte nicht widerstehen und habe einen Steckbrief für Panda angelegt :)

Danke fürs dabei-bleiben und schonmal Entschuldigung für den Cliffhanger. <3

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"Come let the truth be shared

No-one ever dared

To break these endless lies

Secretly she cries
 

She burns like the sun

And I can't look away

And she'll burn our horizons make no mistake
 

And I'll hide from the world

Behind a broken frame

And I'll burn forever

I can't face the shame"

(Muse - Sunburn)
 

Touya lachte, als Shindo ihm von Pandas Zerstörungsaktion erzählte. Sie hatten eine Bar gefunden, in der Hunde erlaubt waren und diese als Zielpunkt des Abendspaziergangs gewählt. Shindo fiel auf, dass Touya in letzter Zeit nicht mehr so häufig gelacht hatte, aber das würde er schon ändern können.

"Weißt du, Touya, vielleicht schenke ich dir auch einen Hund und setze ihn auf dein nerviges Ledersofa an!" grummelte er in seinen Bourbon.

"Ich habe mir ein neues bestellt. Die Ledercouch bleibt aber auch."

"Ach, endlich?" kommentierte Shindo die Eröffnung. Ein neues Sofa war anscheinend längst überfällig, dachte Touya. Er sah dabei zu, wie der Welpe an Shindos Schuh leckte, was diesen gar nicht zu stören schien. Trotz Startschwierigkeiten hatten sie sich offensichtlich zusammengerauft und Panda folgte Shindo treu auf Schritt und Tritt, wenn sie in der Wohnung waren. Touya als seinen Retter aus dem Tierheim schien er längst vergessen zu haben.

Sie waren schon lange nicht mehr zu zweit in einer Bar gewesen. Das letzte Mal war mit Yongha und Hong Suyong in Korea gewesen und da hatte Shindo sowieso nur Augen für Hong gehabt. Endlich konnten sie mal wieder ausgiebig über die Go-Welt philosophieren und ihre Erfahrungen austauschen. Touya hatte allerdings nicht sonderlich viel erlebt. Am Vorabend hatte er spontan noch einen Termin als Kommentator bekommen und hatte dafür Ayumi absagen müssen, was diese nicht besonders prickelnd gefunden hatte.

"Und was machst du jetzt mit ihm, wenn du tagsüber weg bist?" fragte Touya, während er unbewusst in seinem Rusty Nail rührte.

Shindo zuckte die Schultern. "Zu manchen Partien kann ich ihn mitnehmen, aber wenn ich einen langen Tag habe, ist das unmöglich. Vielleicht bringe ich ihn zu Yun. Von den Kindern ist keines allergisch und sie mochten Panda allesamt." Er beugte sich etwas zu Touya vor. "Ich muss jetzt übrigens aufräumen, weil der kleine Vielfraß schon an zwei Shirts und einer Boxershorts rumgekaut hat, die herumgelegen haben. Super, Touya, ich habe dich durchschaut!"

Touya musste wieder lachen. Er war heute bester Laune, auch weil er gerne mit Shindo sprach. In zwei Wochen würden sie wissen, ob Shindo der Tengen-Herausforderer war. Mittlerweile war Kurata ausgeschieden, von den gefährlichen Pros war nur noch Ogata übrig.

Touya wurde immer unruhiger, je näher der Zeitpunkt kam, an dem er seinen Titel verteidigen musste. Er fragte sich, ob sein Vater sich auch so gefühlt hatte. Dabei hatte er noch mehr Titel gehabt, um die er zu bangen hatte.

"Hmm", murmelte Shindo. "Wenn das nächste Titelmatch schon so bald ist, sollte ich vielleicht wieder nach einem Geschenk suchen", meinte er grinsend. Der letzte Anlass war wirklich schon zu lange her. "Willst du vielleicht auch einen Hund?"

Touya lächelte und schüttelte den Kopf, dann nippte er an seinem Drink. Shindo hatte für ihn bestellt und keine schlechte Wahl getroffen.

"Hast du irgendeinen Wunsch?"

"Du musst mir nichts schenken. Es ist nur ein Titel und gut möglich, dass du ihn gewinnst."

Shindo rollte die Augen. "Entschuldige mal, Touya, es ist nicht nur ein Titel – immerhin ist es dein Lieblingstitel", ärgerte Shindo ihn grinsend. "Und ganz ehrlich – du willst deiner Freundin einen Antrag machen – als ob ich dich da schlagen könnte, du wirst in Topform sein."

"Gib nicht schon auf", murmelte er nur. Shindo hob Panda hoch, weil dieser gerade anfing, an seinem Schuh herumzukauen. Er setzte ihn auf die Bank neben sich, wo der Welpe sich zusammenrollte. "Ich schreibe mir seit einer Weile Mails mit Ko Yongha", erzählte Touya. Shindo zog überrascht die Augenbrauen hoch.

"Ach ja, ihr habt ja plötzlich entdeckt, dass ihr auf einer Wellenlänge seid, nicht wahr? Hast du das nicht so gesagt?"

"Oh, das denke ich immer noch, keine Sorge. Weißt du, dass er verlobt ist?"

"Er hat es mal erwähnt."

"Ich glaube, sie planen langsam die Hochzeit. In einem halben Jahr oder so, ich weiß nicht mehr genau."

"Alle heiraten und verloben sich – und ich kriege einen Hund. Ganz großes Kino." Shindo klang etwas bitter, aber Touya bezweifelte, dass eine Hochzeit wirklich das war, was Shindo wollte. Trotzdem wollte er in der kommenden Woche helfen, Ayumis Verlobungsring auszusuchen.

Yongha hatte dem Ouza geschrieben, er und Shindo seien auch eingeplant für die Hochzeit, aber er hatte Touya auch eingeladen, ihn vorher mal zu besuchen, damit er die Glückliche kennenlernen konnte. Shindo hatte er nicht erwähnt. Im neuen Jahr, wenn seine Titel gesichert waren und keine großen Events anstanden, plante er den Flug nach Korea, ohne Shindo.

~x~

Die nächste Woche war ziemlich anstrengend für Touya. Er besuchte alle Partien des Tengen-Turniers, die in seinem Zeitplan Platz fanden, um seine Gegner und auch Shindos momentane Verfassung einschätzen zu können. Dafür musste er Ayumi ab und zu absagen und konnte sie nur noch abends sehen.

Shindo hatte sich für die Morgenspaziergänge ein junges Mädchen als Hundesitterin gesucht, das seinen Schlüssel hatte und ihn so nichtmal wecken musste. Panda hatte sich am Anfang zwar etwas störrisch angestellt und Shindo nicht verlassen wollen, aber mittlerweile nahm er den Spaziergang stoisch wie immer hin.

Der Meijin lief dafür langsam zur Höchstform auf. Er schlug Ogata in der letzten Runde und brachte damit alle Augen in diesem Wettbewerb auf sich. Touya wusste, dass die Entscheidung nun so gut wie sicher war. Die Partie zwischen Ogata und Shindo war sensationell gewesen und er hatte gespannt im Publikum gesessen und zugesehen.

Die wenige übrige Freizeit verbrachte er damit, von einem Internet-PC des Instituts aus Mails an Yongha zu schreiben.

In dieser Woche schaffte es Touya nicht mal, den Verlobungsring zu kaufen, ständig kam irgendetwas dazwischen oder Shindo hatte keine Zeit. Ganz auf sein eigenes Urteilsvermögen wollte er sich aber auch nicht verlassen, denn Shindo sagte ja so gern, dass er keinen Geschmack habe.

Das Meijin-Turnier hatte begonnen; die ersten Vorrunden sollten allzu ungeeignete Teilnehmer aussieben. Von den Jungen bestand jeder außer Satoru. Haru schien sehr neidisch auf die anderen zu sein, die bereits in großen Wettkämpfen mitspielen konnten, während er längst Vierter in Gruppe Eins der Insei war und ständig gewann. Touya hatte Recht gehabt mit seiner Einschätzung des Kleinen. Er gewann sogar gegen Miyagi häufig; der schien irgendwie schwach gegen ihn zu sein, so wie Waya damals gegen Fuku, hatte Shindo mal gesagt.

In der Woche darauf fanden die letzten Partien auf dem Weg zum Tengen statt und Shindo gewann sie am Donnerstag, obwohl er am Vorabend noch lange bei Touya und der Lerngruppe geblieben war. Er war eben durch und durch Profi, hatte er grinsend zu Touya gemeint, doch dieser wusste, dass Shindo seinem letzten Gegner technisch überlegen gewesen war.

Die Entscheidung stand also: Shindo war der Anwärter auf den Tengen-Titel und bereits in der nächsten Ausgabe von Go Weekly kamen wildeste Spekulationen, was das für ihre Freundschaft bedeuten würde. Beide akzeptierten in dieser Woche keine Interview-Anfragen, um das Feuer nicht auch noch anzufachen.

Stattdessen gingen sie am Freitag gemeinsam den Ring kaufen. Touya wählte einen schmalen Goldring mit durchsichtigem Stein und Shindo war einverstanden. Es ging so schnell, dass sie nach weniger als zehn Minuten wieder aus dem Laden raus waren und sich dann in eine Bar verzogen, die schön weit vom Institut entfernt war, damit ihnen nicht wieder Reporter auflauerten.

"Es ist dir also wirklich ernst", lächelte Shindo in seinen Drink, als sie bereits eine Weile in der Bar saßen. Diesmal hatte Touya sich nur einen Kaffee bestellt, Shindo blieb bei Bourbon. Er drehte die Tasse zwischen den Fingern und beobachtete, wie die Linien der Milch sich verzerrten.

"Ich schätze schon. In einer Woche spiele ich gegen dich, danach soll es soweit sein."

"Das wäre die letzte Chance, mein Angebot noch anzunehmen", grinste Shindo scherzhaft und nahm noch einen Schluck. Touya verdrehte die Augen. "Bisher fanden es alle gut", behauptete der Meijin. Touya schüttelte nur den Kopf und beließ es dabei. Er würde ihn nicht an Saeki erinnern, den hatte er schon zu oft als Trumpfkarte ausgespielt.

"Das wäre Fremdgehen für mich, Shindo. So ein Mensch bin ich nicht."

"Nein", bestätigte dieser. "Ich weiß. Fragst du sie gleich am Donnerstag, wenn alle Partien durch sind?"

"Freitag soll es sein."

"Mach dir keine Sorgen, sie kann nur Ja sagen."

Am Tag darauf begannen ihre Partien. Früh um zehn, damit hatte Touya schonmal einen beträchtlichen Vorteil. Diesmal fuhren sie nicht gemeinsam zum Institut. Touya war wie immer viel früher da und wartete nervös im obersten Stockwerk, von wo er die Menschen, die die Straßen entlangeilten, nur als schwarze Punkte wahrnahm. Sageki fand ihn dort zehn Minuten vor Beginn und gesellte sich zu ihm.

"Hast du heute eine Partie?" fragte Touya verwundert.

Sageki schüttelte den Kopf. "Ich bin gekommen, um dich spielen zu sehen. Die anderen sind auch da. Da unten ist ein riesiger Trubel, sie mussten einen zweiten Raum freimachen und noch schnell Ashiwara-sensei anrufen, damit in jedem Raum die Partie erläutert wird. Stühle sind auch noch nicht genug da. Shindo-sans ganzer Fanclub ist angereist, es wimmelt nur so von Reportern und alten Männern und so ziemlich jeder namhafte Pro ist hier, um euch zu sehen."

Touya vergrub die Hände in den Taschen seiner Anzughose und seufzte. Das hätte Sageki ihm besser nicht erzählt. Von hier oben hatte er nichts davon mitbekommen. Gut möglich, dass sich mehr Köpfe da unten tummelten als an anderen Tagen. Er legte Sageki eine Hand auf die Schulter und leitete ihn dann zum Fahrstuhl.

In fünf Minuten begann die Partie. Im richtigen Stockwerk angekommen ging Touya ohne ein weiteres Wort in den Yugen no ma, der Raum für Titelpartien, wo er von den Menschenmengen abgeschottet war. Zu seiner Überraschung war Shindo bereits dort.

Er setzte sich dem Meijin gegenüber und sie warfen sich ein verstohlenes Lächeln zu.

"Wo ist Panda?" fragte Touya.

"Ich habe ihn zu Yun gebracht. Hier ist einfach zu viel los für ihn... Heute ist der große Tag, hm? Alles oder nichts."

"Jep, alles oder nichts", murmelte Touya. Um so viel ging es ihm eigentlich gar nicht. Würde er den Titel verlieren, würde er Ayumi trotzdem den Antrag machen, auf das Geld war er auch nicht angewiesen, er konnte also ganz ruhig an die Partien rangehen. Bis zu fünf Spiele sollten es werden, wenn nicht einer von ihnen vorher schon drei gewann.

Die letzten fünf Minuten vergingen wie im Flug und schließlich ließ die Protokollantin sie anfangen. Shindo ließ sich zehn Minuten Zeit für seinen ersten Zug. Es erinnerte Touya ein bisschen daran, wie Shindo damals gegen seinen Vater dreißig Minuten bis zum ersten Stein gebraucht hatte. An dem Tag hatte es zu schneien begonnen, das wusste er immer noch, obwohl es ihm wie zu einer anderen Zeit vorkam. Er war jetzt ein ganz anderer Mensch. Sein Leben drehte sich nicht mehr nur noch um Go und Shindo.

Es wurde ein hitziges Gefecht. Je weiter sie hineingerieten, desto lauter knallten die Steine, desto ernster wurden ihre Gesichter. Auch wenn Shindo privat ein Lotterleben führte – beim Go war auch er ein ganz anderer Mensch. Er war erwachsen und stark und traf genau die richtigen Entscheidungen.

Drei Stunden nach Beginn, etwa zur Hälfte der Partie, begann Touya, wie verrückt zu schwitzen. Ständig musste er sich Hände und Stirn abwischen, Schweiß brannte ihm in den Augen, dabei war das Zimmer kühl gehalten. Shindo zeigte keine Anzeichen von Nervosität. Ging es nur Touya so? Anscheinend konnte er sich nicht mehr einreden, für ihn stehe nichts auf dem Spiel. Wenn er den Titel verlor, würde auch seine Entscheidung, Ayumi den Ring anzustecken, ins Schwanken geraten. Er musste gewinnen.

Von da an wurde Touya immer stärker. Shindo gab noch vor der Endphase auf, er hatte genau berechnet, dass er bereits verloren hatte.

Da sie sich eigentlich so viel Zeit nehmen konnten, wie sie wollten, war es etwas unüblich, ein Titelmatch an einem Tag durchzuspielen, selbst wenn noch so viele folgten. Aber Shindo und Touya hatten von vornherein im Institut angefragt, ob die Partien für je einen Tag angesetzt werden könnten. Sie kannten ihre Spielweisen, beide mochten es nicht, ewig auf den Ausgang zu warten.

Touya ging sofort. Er nickte den Gratulanten nur höflich zu, die Jungs kamen gar nicht durch bis zu ihm, aber er sah, wie sie grinsend winkten. Haru streckte ihm einen Daumen entgegen und grinste frech, Touya lächelte zurück. Dann ging er schnellen Schrittes zum Parkhaus und fuhr zu seinem Apartment. Sogar dort wartete ein Reporter auf ihn, der anscheinend schon informiert worden war, wie die Partie ausgegangen war.

Touya seufzte, nachdem er den Mann abgeschüttelt hatte. Erst in seiner Wohnung hatte er endlich die Ruhe, die er wollte. Das konnte eine anstrengende Woche werden.

~x~

Das wurde sie tatsächlich. Am Samstag, dem Tag der ersten Partie, hatte er Ayumi nicht mehr sehen können, weil er nicht wollte, dass sie von dem Reporter, der den ganzen Tag lang auf dem Parkplatz vor dem Gebäude herumlungerte, belästigt wurde.

"Wann sehe ich dich dann überhaupt mal wieder, Akira?" klagte sie am Telefon. Sie klang nicht besonders glücklich.

"Nächsten Freitag müssen wir unbedingt reden", versprach er ihr. Freitag, der Antrag.

"Das heißt, wir sehen uns jetzt eine Woche lang nicht?" Sie schniefte leise und Touya hoffte, dass er sie nicht zum Weinen gebracht hatte.

"Nur, bis die Partien vorbei sind." Er wollte doch nur nicht, dass sie in Schwierigkeiten geriet wegen seinem Beruf, aber anscheinend verstand sie das nicht. Er hatte einfach Sorge um sie, noch dazu wollte er sie nicht ins Rampenlicht der Medien zerren, sondern sie genau davor beschützen.

Am Montag fand ihre Partie erst um zwölf statt, Shindo hatte Panda vorher im Kindergarten abgeliefert, aber das war auch das Einzige, was sich geändert hatte, denn er verlor wieder, diesmal sogar noch schneller. Es waren nicht ganz so viele Zuschauer wie am Samstag da, aber in einen Raum passten sie immer noch nicht alle hinein.

Am Dienstag fuhren sie gemeinsam zur Partie, die wieder mittags begann. Vorher kam Touya mit zum Kindergarten. Die Kinder kannten Panda offensichtlich schon gut und nahmen ihn freudig in ihre Mitte. Yun begrüßte Touya fröhlich und nahm seine Hände, um ihm zur baldigen Verlobung zu gratulieren.

Touya hoffte, dass Shindo nicht unbedingt jedem von dieser Sache erzählte, denn dann würde es nicht lange dauern, bis Ayumi selbst auch davon wusste.

Im Institut waren am Dienstag immer noch genauso viele Besucher wie am Vortag. Wenn Touya heute gewann, war die Entscheidung durch und es würden keine weiteren Partien folgen. Das wussten sie beide, und gerade deshalb bäumte Shindo sich diesmal wirklich auf. Touya hatte keine Chance, Shindo zeigte seine wahre Stärke, die er nur unter Druck wirklich entfesseln konnte. Sie spielten zwar bis zum Ende, aber die Entscheidung war mit zweieinhalb Moku Abstand mehr als eindeutig. Danach verbrachten sie keine weitere Zeit zusammen. Shindo brachte Touya zum Apartment und fuhr dann noch zum Kindergarten; Touya war es ganz recht so.

Er wollte diesen verdammten Titel behalten. Er hatte ihn nun schon drei Jahre, hatte ihn zweimal verteidigt; der Titel war ein Teil von ihm, so wie der 10-dan damals zu seinem Vater gehört hatte. Es war nicht der Titel, mit dem man ihn rief, aber er war trotzdem seiner gewesen. Er musste sich einfach beweisen, dass er das schaffen konnte, auch um sich selbst zu zeigen, dass sein Vater stolz auf ihn wäre.

Touya hörte nach einer Weile, dass Shindo zurückkam, aber er wollte den anderen gerade nicht sehen. Natürlich fand er es fabelhaft, dass er diese wichtigen Partien ausgerechnet mit seinem langjährigen Gefährten bestreiten konnte, aber andererseits wollte er selbst an Shindo keinen Titel verlieren. Besonders nicht an Shindo. Es würde ihn stören. Das würde lange zwischen ihnen stehen.

Shindo kam auch nicht nach unten. Anscheinend ging es ihm ganz ähnlich. Touya war aufgefallen, dass der Meijin sich schon länger nicht mehr mit einer Frau oder einem Mann getröstet hatte. Ob das an seinem Welpen lag? Vielleicht hielt er ihn einfach zu sehr in Atem, als dass er zu solchen Gelegenheiten kam.

In zwei Tagen war die finale Entscheidung, das fünfte Match, wenn Shindo am nächsten Tag gewann. Wenn nicht, dann hatte Touya seinen Titel erfolgreich verteidigt. Zum dritten Mal infolge. Dann konnte er Ayumi mit gutem Gewissen die alles entscheidende Frage stellen.

Am nächsten Morgen wartete Shindo schon auf dem Parkplatz auf ihn.

"Touya Tengen", grüßte er. Er lächelte nicht, aber in seinen Augen saß wie immer der Schalk. Bei der Begrüßung wurde Touya sofort leichter ums Herz. Shindo würde ihm den Titel gönnen, wenn er ihn verteidigte.

Im Auto versuchte Shindo weiter, Touyas Zweifel zu zerstreuen. "Weißt du, das Preisgeld für den Meijin ist höher als das für Ouza und Tengen zusammen. Kein Wunder, dass du dir zu meiner Titelverteidigung nie ein Geschenk für mich leisten kannst." Shindo grinste vor sich hin und Touya war ihm wirklich dankbar. Offensichtlich wollte der andere, dass er heute wirklich alles gab, ohne ihn zu schonen.

Und genau das tat er.

Touya legte alles in die Offensive; statt seine Areale zu sichern, griff er eher Shindos an und drängte ihn in die Ecken des Goban, bis Shindo nichts anderes tun konnte, als aufgeben. Er hatte einfach keine Wahl mehr, Touya war plötzlich übermächtig, weil er seine Sorgen um sein Gegenüber hinter sich gelassen hatte. Er hatte sich gelöst und war weiter aufgestiegen.

Shindo sprang schnell über seinen Schatten. Er gab auf und fiel Touya dann in die Arme. "Du hast es geschafft", flüsterte er. "Jetzt ist sie dein. Herzlichen Glückwunsch, Touya Tengen." Er hielt Touya lange im Arm, bis sich einer der Protokollanten räusperte, der mit einem enormen Blumenstrauß bereitstand. Schließlich ließ der Meijin von ihm ab und gab ihn frei, damit auch andere gratulieren konnten.

Touya nahm die Blumen und schon kamen die ersten Leute hereingeströmt, die nicht länger vor der Tür warten wollten. Ashiwara, der wieder kommentiert hatte, kam zu ihm und auch Saeki war in der Menge, die seine Hand schüttelte oder sich vor ihm verbeugte. Sogar zwei Mädchen aus Shindos Fanclub gratulierten ihm, obwohl sie nicht besonders glücklich dabei aussahen. Bereitwillig gab er den Reportern ein paar Sätze als Kommentar und versprach ihnen ein Interview in einer Woche.

Nach einer ganzen Weile hatten es auch die Jungen geschafft, sich zu ihm durchzuschlagen. Sageki umarmte ihn fröhlich und bat ihn um ein Autogramm auf einem kleinen weißen Go-Stein. Touya unterschrieb mit 'Tengen'.

"Um eure Stunden heute Abend kommt ihr aber nicht herum", drohte Touya und die Jungen sahen ihn überrascht an. Sie hatten erwartet, er würde die Lerngruppe an diesem Abend ausfallen lassen, um sich von den Partien zu erholen. Ganz falsch lagen sie damit nicht.

Als sie am Abend ankamen, standen keine Goban bereit, stattdessen waren da nur Shindo und Touya, letzterer ungewohnt leger gekleidet.

"Wir gehen aus. Ich lade euch alle zum Essen ein", eröffnete er der kleinen Gruppe und so zogen sie los.

Ayumi schickte ihm an dem Abend noch eine SMS, um zu gratulieren. Er wusste nicht, was er antworten sollte, also schrieb er gar nichts. Zwei Tage waren es nur noch, bis er den großen Schritt wagen wollte.

Er feierte an diesem Abend sehr ausgiebig. Obwohl zwei der Jungen am nächsten Morgen Termine im Institut hatten, tranken sie auf sein Wohl. Shindo schenkte ihm einen Band mit Kifu vergangener Tengen-Turniere, den Touya dankbar entgegennahm. Mal wieder hatte sein Freund eine sehr gute Wahl getroffen.

Sie waren zuerst in einem Restaurant und zogen dann durch verschiedene Bars. Shindo schaffte es nicht, ihn dazu zu überreden, in einen Club zu gehen; selbst, als Touya bereits die Straßen entlang torkelte – da hatten die Jungs allerdings schon aufgegeben, diesen denkwürdigen Anblick verpassten sie also – lehnte er das immer noch ab. Sie nahmen sich zu zweit ein Taxi und Shindo musste den schwankenden Touya stützen. Er nahm ihn hoch in seine Wohnung, weil Touya seinen Schlüssel nicht mehr fand und Shindo ihm nicht an die Hose gehen wollte.

Touya verbrachte die Nacht in Shindos Bett, während der Meijin auf dem Sofa bei laufendem Fernseher schlief. Panda hatte er wohlweislich nicht mehr von Yun abgeholt.

Weil das Tengen-Turnier sich bereits frühzeitig entschieden hatte mussten sie am nächsten Tag nicht ins Institut. Touya verbrachte fast den ganzen Tag in Shindos Bett, absolut verkatert, und Shindo kümmerte sich rührend um ihn. Er war froh, Ayumi für den Vorabend nicht eingeladen zu haben, denn so sollte sie ihn auf keinen Fall sehen. Zwischendurch holte Shindo seinen Welpen von Yun ab und besorgte einen Rosenstrauß für Touyas Vorhaben am nächsten Tag.

Am Abend ging es Touya schließlich gut genug, um das Bett zu verlassen, aber er wollte bei Shindo bleiben. Also hockte er sich auf die Couch, in eine Decke gewickelt. Panda lag neben ihm und winselte ab und zu, um gestreichelt zu werden. Er schrieb Ayumi eine SMS, um ihr mitzuteilen, wann er am nächsten Tag da sein würde. Später sah er sich mit Shindo einen Film an und ergab sich seiner Nervosität, obwohl der andere ihm immer wieder einschärfte, dass er nichts zu befürchten hatte. Aber so einen Antrag machte man nunmal nicht alle Tage.

~x~

Der große Tag war nach ewig erscheinendem Warten endlich gekommen. Freitag. Heute sollte als der Tag von Touyas und Ayumis Verlobung in die Geschichtsbücher eingehen. Nunja, sofern es die Geschichtsschreiber scherte.

Touya war weg und Shindo wartete nervös in der Wohnung.

War es überhaupt möglich, dass sie Nein sagte? Touya war ein verknallter Idiot, aber welche Frau würde einen Mann abweisen, nur weil der sie zu sehr liebte? Trotzdem blieb eine Restsorge übrig, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Er war bereits eine halbe Stunde mit Panda rausgegangen, war aber schnell wieder nach Hause gelaufen, um auch ja den wichtigen Anruf, der ja sicher folgen würde, nicht zu verpassen.

Er rechnete herum. Um sechs war Touya losgefahren, bei Feierabendverkehr war er also vielleicht halb sieben bei Ayumi. Jetzt war es um sieben. Wie lange dauerte so ein Antrag? Ob sie danach Sex hatten? Dann würde er sich wohl noch länger gedulden müssen, bis er die frohe Kunde hörte. Er hatte Sekt kaltgestellt, falls Touya am nächsten Tag oder noch in der Nacht feiern wollte.

Shindo schritt seine Wohnung auf und ab. Mit Flur und Wohnzimmer kam er auf eine Lauffläche von vielleicht zehn Metern, wie oft war er die nun schon entlanggegangen? Und warum verdammt nochmal wollte er plötzlich so viel rechnen? Das war noch nie seine Stärke gewesen.

Er spielte etwas mit Panda, bis es fast halb acht war.

Dann ging er in die Küche und sah sich um. Essen konnte er jetzt unmöglich. Aber ein Tee würde ihn vielleicht beruhigen. Er machte sich gleich eine große Kanne, nur um sicherzugehen. Als er das Wasser in die Kanne goss und zusah, wie es sich dunkler färbte, merkte Shindo, dass er immer ruhiger wurde.

Es klopfte. Damit war es vorbei mit seiner Ruhe.

Shindo blickte auf. Es war halb acht. Waren sie schon fertig? Ohne weiter nachzudenken schoss er aus der Küche um die Ecke und riss die Tür auf.

Da stand Touya, in seiner Hand das Kästchen mit dem Ring.

Er weinte stumm.

Verlust

Weiteres außerplanmäßiges Update. Dieses Kapitel hat unfairerweise viel Spaß gemacht beim Schreiben. Feedback wie immer gern gesehen.

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"Pure hearts stumble

In my hands, they crumble

Fragile and stripped to the core

I can't hurt you anymore

(...)

The sunshine trapped in our hearts

It could rise again

But I'm lost, crushed, cold and confused

With no guiding light left inside
 

Oooo

You were my guiding light"
 

(Muse - Guiding Light)
 

Shindos Grinsen verblasste augenblicklich. Er hatte Touya erst ein Mal weinen sehen, als dessen Vater gestorben war. Das war so lange her, dass er es schon längst vergessen hatte.

Er nahm Touyas Jackenärmel und zog ihn in die Wohnung, dann umarmte er ihn. So fest, dass der andere fast unter ihm verschwand und er sich sorgte, ihm wehzutun. Touyas Tränen flossen noch immer und sein Kinn zitterte. Es ließ ihn aussehen wie einen kleinen Jungen, verloren und hilflos.

Shindo ahnte dunkel, was los war, aber er konnte nicht nachfragen. In diesem Moment konnte er nur für Touya da sein.

Sie standen zehn Minuten im Gang. Shindo streichelte Touya über die Haare, bis er merkte, dass der andere nicht mehr stumm schluchzte. Er zog ihn an der Hand ins Schlafzimmer. Touya streifte abwesend die Schuhe ab und legte sich hin, Shindo legte sich dazu und umarmte ihn wieder fest.

"Also?" flüsterte er nach einer Weile. Touya weinte immer noch ohne einen Laut. Konnte er nicht einfach schreien oder laut klagen? Shindo kam nicht damit klar, dass der andere nichts sagte. Er wusste nicht, was er denken sollte. Gerade, als er begann, genauer über den Grund für Touyas frühes Auftauchen nachzudenken, fing dieser an, zu reden.

"Ich... ich war bei ihr." Er würde den anderen nicht drängen, schärfte Shindo sich ein, und es fiel ihm sehr schwer, sich daran zu halten. Am liebsten hätte er Touya geschüttelt und gerufen 'Komm zu dem Part, den ich noch nicht kenne!'. Aber das tat er nicht. Stattdessen strich er über Touyas Rücken.

"Der Antrag... der Ring... dazu kam es gar nicht. Sie... sie hat geweint, als ich kam." Shindos Augen brannten. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. So hatte das alles doch nicht laufen sollen. Touya sollte vor Glück weinen und in Ayumis Armen liegen.

"Sie meinte..." Touya brach in leises Schluchzen aus und klammerte sich an Shindo. Dem rollten selbst die ersten Tränen aus den Augenwinkeln. Was war da nur passiert? Sie sollten doch jetzt die glücklichsten Menschen der Welt sein. Er wäre Trauzeuge gewesen, Ayumi wäre die schönste Braut geworden, die er je gesehen hatte, und er hätte Touya mit Reis beworfen, vielleicht ein bisschen kraftvoller, als es der Brauch vorschrieb. Sie wären Kanegawa Akira und Kanegawa Ayumi und er wäre der verliebteste Ehemann aller Zeiten gewesen.

Sie weinten beide, Arm in Arm, Shindo konnte die Tränen nicht mehr stoppen.

Irgendwann begann Touya, zu erzählen. Er hatte Ayumi weinend in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie hatte ihm erzählt, dass er sie in den letzten Wochen immer wieder enttäuscht hatte. Ständig hatte er ihre Treffen abgesagt, nie Zeit für sie gehabt, war abgelenkt gewesen. Er hatte versucht, ihr zu erklären, dass das wegen seines Titelturniers gewesen war.

'Du hast zwei Titel, wenn du nicht sogar noch mehr gewinnst. Soll das ewig so weitergehen?' hatte sie unter Tränen gefragt. Er war ganz ruhig gewesen, hatte ihr versprochen, sich zu bessern, mehr Zeit freizumachen, alles, was in seiner Macht stand.

Doch es hatte nicht geholfen.

'Go ist dir wichtiger als alles andere', hatte sie immer wieder gesagt. Das könnte er nie aufgeben, egal, wie oft er es ihr versprach. Und wenn er es aufgab, war er nicht mehr der Mann, in den sie sich verliebt hatte.

Was hätte er tun sollen? Es gab gar keinen Ausweg aus diesem Dilemma, wenn sie es so ausdrückte.

'Was willst du jetzt tun?' hatte er verzweifelt gefragt. Mit roten, verheulten Augen hatte sie ihn angesehen.

'Es ist vorbei. Ich mache Schluss.'

Ab da wusste Touya nicht mehr viel von dem, was vorgefallen war. Er hatte Ayumi nichts von dem Ring erzählt. Aber er hatte versucht, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Unzählige Male hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte, aber sie hatte nur gesagt, dass das nun zu spät kam.

Irgendwie war er dann zu Shindo gefahren. Ab da kannte der andere die Geschichte.

Shindo sagte nichts mehr dazu. Er wusste nicht, womit er Touya hätte trösten können. Noch dazu heulte er selbst immer noch. Also blieb er still.

Irgendwann schlief Touya ein. Shindo hielt ihn weiter fest im Arm, auch, um sich selbst zu trösten.

Er konnte es einfach nicht fassen. Das war unmöglich. Er hatte zwar gewusst, dass Ayumi unglücklich gewesen war mit Touyas Terminplan, aber dass es sie zu Tränen reizen würde, hätte er nie gedacht. Warum hatte sie nicht gesehen, wie verliebt er war? Für Shindo war das glasklar gewesen.

In dieser Nacht schlief er nicht mehr. Er dachte die ganze Zeit darüber nach, was vorgefallen war. Was aus der Erweiterung ihrer Familie geworden war. Als er hörte, wie seine junge Hundesitterin die Tür aufschloss und Panda abholte, wartete er, bis er die Tür zuklappen hörte. Dann stand er auf und ging ins Wohnzimmer. Er nahm das Telefon und meldete Touya im Institut krank und sagte Bescheid, dass er selbst auch zu Hause bleiben würde. Seine Gesprächspartnerin war nicht sonderlich erfreut, aber er ließ keine Widerrede zu.

Danach legte er sich wieder zu Touya. Dieser war mittlerweile aufgewacht und starrte nur mit leerem Blick auf sein Kissen. Shindo strich ihm immer wieder über die Haare, weil er immer noch nicht wusste, was er sagen konnte.

"Du hast meine Termine abgesagt?" murmelte Touya leise. Shindo drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und drückte dann seine eigene Stirn dagegen, doch Touya reagierte nicht einmal.

"Ich kümmer mich um dich", murmelte er.

~x~

Touya blieb den Rest des Tages im Bett. Er aß, wenn Shindo ihn dazu überredete und als Panda aufs Bett gesetzt wurde, kuschelte er auch etwas mit dem Welpen, aber alles in allem verhielt er sich mehr wie eine Leiche als etwas anderes.

Shindo schrieb Yun eine SMS, damit der junge Mann am Abend vorbeikam und Panda für eine Weile mitnahm. Als er kam, sagte er nichts von Touya sondern überreichte Yun nur den jungen Hund und wimmelte ihn dann wieder ab.

Auch am Sonntag blieb Touya und verbrachte den ganzen Tag über in Shindos Bett. Wäre er in seiner eigenen Wohnung, würde Shindo eh die ganze Zeit bei ihm verbringen, also war es schon ganz gut so. Shindo flößte ihm literweise Tee ein und machte Suppe, er wechselte die Bettwäsche, lüftete, motivierte Touya dazu, sich wenigstens umzuziehen.

Am Montag rief er wieder im Institut an. Er selbst hatte an diesem Tag eine Partie, die er auch besuchen würde, Touyas Termine sagte er jedoch wie gehabt ab und kündigte an, dass der andere noch für mindestens drei Tage außer Gefecht gesetzt war.

Sageki und Hikaru riefen bei ihm an, doch er beantwortete ihre Fragen nicht und meinte nur, die Lerngruppe am Mittwoch würde ausfallen. Gegen Mittag fuhr er zu seiner Partie und ließ Touya solange allein. Der Ouza schlief die meiste Zeit, wenn Shindo nicht bei ihm war. Zu Gesprächen war er kaum fähig, nur ab und zu sagte er etwas, meist ein zusammenhangs- oder belangloser Satz.

Als Shindo zurückkam fand er den anderen vor, wie er ihn zurückgelassen hatte. Das Kissen war etwas nass – Touya hatte wieder geweint. Das tat er auch noch viel zu viel. Er legte sich wieder zu ihm, strich vorsichtig über Touyas Seite und seine Arme, die ganz kalt waren.

Shindo hatte schon eine Weile nichts mehr gegessen. Er war gar nicht mehr hungrig. Er hätte sowieso nichts runterbekommen, weil er sich so sehr um Touya sorgte und selbst trauerte. Diese Sache ging ihm so sehr ans Fundament, dass er auch nicht gewusst hätte, was er tun sollte, wenn Touya nicht seine Hilfe gebraucht hätte. Vermutlich wäre dann er es gewesen, der den ganzen Tag depressiv im Bett gelegen hätte.

Leise erzählte er Touya von der Partie; er rekonstruierte jeden Zug, damit der andere seinen Kopf etwas anstrengte. Bei schlechten Zügen von Shindos Gegenüber zuckte er sogar manchmal unruhig mit den Zehen. Das war schon ein Fortschritt.

Am nächsten Tag ging Shindo wieder zu seiner nächsten Partie ins Institut. Vor Ort warf er gleich noch einen Blick auf Touyas Monatsplan und sortierte mit einem Sekretär gemeinsam wichtige Partien nach hinten. Das Meijin-Turnier begann auch für Touya bald, bis dahin war er hoffentlich wieder halbwegs... lebendig.

Als er im Parkhaus bereits zufrieden aufseufzte, weil er niemanden getroffen hatte, der über Touya reden wollte, sah er Haru am Auto lehnen. Er ignorierte den Jungen und stieg ein, doch natürlich wollte der Teufelsknirps ihn nicht in Ruhe lassen. Er stieg auf der Beifahrerseite ein.

"Was ist mit Touya-sensei?" fragte er energisch.

"Kann dir doch egal sein", murmelte Shindo bitter. Dieser Zwerg hatte Touya das Leben schwer gemacht und jetzt plötzlich war er besorgt? Niemandem war Touya so wichtig wie Shindo, niemand anderes hatte das Recht, ihn jetzt zu sehen oder zu wissen, wie schlecht es ihm ging. Nur er, sein bester Freund, hatte dieses Privileg. Touya lag in seinem Bett, unterlag seiner Fürsorge. Er war bei ihm.

"Ist es aber nicht", fauchte Haru. "Touya-sensei war es, der mich in die Go-Welt zerrte, mich zwang, Insei zu werden und für den ich die Pro-Prüfung im Frühjahr ablege. Er ist verantwortlich für mich, ich habe ein Recht darauf, zu wissen, wieso er nicht mehr auftaucht."

Shindo ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken und seufzte. "Wieso solltest du mehr Recht dazu haben als Sageki, Miyagi und Hikaru?"

"Das habe ich nicht. Aber die anderen trauen sich nicht, nachzufragen."

Der Meijin lachte trocken, dann atmete er einige Male tief durch. "Wenn er zurückkommt, soll er entscheiden, ob er euch das erzählt. Wenn du mal wieder Lust auf Klingelstreiche und eingeworfene Fenster hast – im Moment ist er bei mir, ziel also höher. Und jetzt raus hier."

Haru murrte, stieg aber aus.

Was dachte sich dieser Knirps nur?

Shindo grummelte den ganzen Weg über. Er war froh, auf dem Parkplatz niemanden aufzufinden und sprintete zum Eingang. Er lief die Treppen nach oben. An seiner Tür angekommen, klammerte er sich am Türrahmen fest, weil ihm plötzlich schwarz vor Augen wurde. Er musste einige Sekunden warten, bis es ihm besser ging. Dann schloss er auf und sah Touya im Flur stehen.

"Ich... wollte Tee machen", meinte Touya verdutzt. Er trug immer noch die Sachen vom Vortag und seine Haare waren verwuschelt, weil Shindo so oft durch sie gestreichelt hatte in den letzten Tagen.

"Tu dir keinen Zwang an", lächelte Shindo. "Du solltest übrigens mal duschen und dich umziehen." Touya lächelte nicht, er schlurfte nur wortlos weiter in die Küche. Der Meijin lehnte am Durchgang zum Flur und betrachtete den anderen. Er sah Touya nur von hinten: der Ouza wirkte kleiner als er eigentlich war, seine Schultern hingen nach unten, ebenso wie sein Kopf.

Shindo ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Geh du ins Bad, ich kümmer mich hierum." Der andere nickte und drehte ab.

Eine halbe Stunde später lagen sie wieder nebeneinander im Bett. Shindo hatte ihm Suppe gemacht, die Touya protestlos gelöffelt hatte. Mittlerweile schlief er wieder und Shindo strich ihm wieder über die Haare. Immerhin war Touya heute aufgestanden, das war ein weiterer Fortschritt.

Am nächsten Morgen wurde Shindo schon beim Aufstehen schwarz vor Augen. Er ließ sich wieder aufs Bett fallen und wartete, bis ihm nicht mehr übel war, dann ging er ins Bad. Sein Ausflug ins Institut fiel kürzer aus, damit er bald wieder bei Touya war. Als er ankam, saß Touya mit angezogenen Knien im Bett und schaute aus dem Fenster. Sein Blick war immer noch so leer, dass Shindos Herz sich verkrampfte.

Am Tag darauf machte Touya sich selbst Essen und am übernächsten Tag fand Shindo ihn im Wohnzimmer vor, wie er eine alte Go Weekly durchblätterte.

"Montag gehe ich wieder zu meinen Partien", erklärte Touya ihm. Er wirkte noch längst nicht gesund oder lebendig, weit entfernt von seinem alten Selbst, aber Shindo widersprach ihm nicht. Vielleicht würde Go ihm helfen, über seinen Verlust hinwegzukommen.

"Ich hole Panda morgen von Yun ab", erklärte Shindo, während er seine Jacke auszog. Er musste sich am Sofa festhalten, weil ihm so schlecht war. "Bitte bleib noch mindestens bis Montag hier, Akira." Touya nickte nur, sein Körper wirkte wie eine leere Hülle.

Samstag stand er früh auf. Er stellte Touya Tee neben das Bett und verließ die Wohnung gegen neun, dann fuhr er zu Ayumi.

Sie öffnete sofort und sah ihn verwundert an, dann bat sie ihn in ihre Wohnung. Ayumis Apartment war so geschmackvoll eingerichtet, dass Shindo früher immer neidisch geworden war. Jetzt hatte er keinen Blick mehr dafür. Sie bot ihm etwas zu Trinken an, was er ablehnte.

"Warum hast du das gemacht, Ayumi?" fragte er sie, als sie sich in ihrer Küche gegenübersaßen. Sie senkte den Blick und sah selbst traurig aus.

"Es ging einfach nicht mehr. Er... Ich habe immer die zweite Geige gespielt, das kann ich einfach nicht."

"Du warst aber nie zweitrangig für ihn", erklärte Shindo nachdrücklich. "Go ist sein Beruf, sein einziges Hobby. Aber du... du... warst alles andere."

Sie schüttelte nur den Kopf. "Shindo, ich habe auch einen Beruf und ich habe auch Hobbys, aber die habe ich hintenan gestellt. Wenn er angerufen hat, bin ich sofort gesprungen. Wenn ich gerade losging, hat er mir abgesagt – viel zu viele Male. Ich habe manche Tage nur hier gesessen und auf seinen Anruf gewartet." Ayumi schniefte, doch sie blieb stark. "Als er diesen Titel wieder gewonnen hat, da... ich dachte, er würde wenigstens anrufen oder vorbeikommen, aber es kam gar nichts. Ich möchte nicht mein ganzes Leben lang warten müssen."

Er legte ihr die Hand auf den Rücken, weil auch sie drohte, loszuweinen. Immer musste er stark sein, dachte Shindo. Keiner tröstete ihn, obwohl es ihn genauso hart getroffen hatte.

Er konnte nicht erzählen, dass Touya ihr einen Antrag machen wollte, das sollte sie lieber direkt von ihm erfahren, wenn sie je wieder befreundet sein konnten.

Stattdessen blieb er nicht lange sondern verabschiedete sich bald. "Er hat sein Leben an deiner Seite gesehen", meinte er zum Abschied. Im Auto kamen die Tränen wieder. Diesmal heulte er laut vor sich hin, das Gesicht in den Händen vergraben, und schrie all die Sachen heraus, die er so lange nicht hatte sagen können. Wie sehr die beiden auch ihn verletzt hatten. Dass er nicht immer stark sein wollte.

Er musste Yun sehen.

Eine halbe Stunde später war er vor dessen Wohnung. Das Treppensteigen hatte ihm nicht gerade gutgetan, aber es ging noch, also klingelte er. Yun öffnete, er sah noch ganz verschlafen aus und trug Pyjamas.

"Shindo? Komm rein."

"Hey", lächelte Shindo und küsste ihn im Vorbeigehen auf die Wange. Das war schon so normal geworden, dass er darüber gar nicht nachdachte. Panda kam schwanzwedelnd auf ihn zugelaufen und quietschte fröhlich. Sie hatten sich eine Woche nicht gesehen und Shindo kam es vor, als sei sein Hund in der Zeit ein ganz schönes Stück gewachsen. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Er passte längst nicht mehr in nur eine seiner Hände, mittlerweile füllte er beide.

Er kniete sich zu Panda und der Hund sprang freudig an ihm hoch und leckte ihm über die Nase, wenn er sie erreichen konnte. Shindo lachte leise und streichelte ihn glücklich. Gut, Touya hatte Recht gehabt, als er ihm den Hund geschenkt hatte. Er wollte jetzt nicht mehr ohne ihn leben.

"War er lieb?"

"Der reinste Engel", erwiderte Yun.

Shindo erhob sich wieder. Im nächsten Moment wurde ihm so schwarz vor Augen, dass er das Bewusstsein verlor und vornüber auf Panda kippte.

~x~

"...gut? ... ... mache mir Sorgen... ... was? ... Bei... ..."

Shindo hörte bruchstückhaft Yuns Stimme, als er langsam aufwachte. Er lag auf der Schlafcouch im Wohnzimmer, eine Decke um ihn geschlungen und Yun schien zu telefonieren. Kurz darauf erklang ein leises Piepen und jemand setzte sich zu ihm.

"Ich habe Ayumi angerufen. Du hättest mir doch davon erzählen können, Shindo..."

Er öffnete die Augen und zwinkerte einige Male, bevor er merkte, dass er weinte. Der Kindergärtner beugte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm. Endlich. Endlich tröstete ihn jemand. Shindo begann zu schluchzen.

"Sie... sie hat ihn verlassen!" weinte er. "Sie hat sein Herz gebrochen. Es blutet. Ich habe ihn sterben sehen, Yun." Shindo weinte immer weiter und aus ihm sprudelte immer mehr von dem Schmerz der letzten Woche. "Er ist innerlich tot."

Yuns Hände streichelten seine Seiten, dann hielt der andere inne. "Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?" fragte er ernst.

"Weiß nicht... gestern oder so." Am Mittwoch hatte er die Suppe gekostet, die er Touya gemacht hatte. Das war schon etwas länger her. "Ich trinke viel Tee", log er.

"Du musst etwas essen."

"Wie kannst du jetzt an Essen denken?? Touyas Leben ist vorbei, ich muss wieder zu ihm, er..."

"Shindo." Yuns Stimme war zum ersten Mal nicht sanft. "Ich weiß, dass du dich um ihn kümmerst. Aber du musst dich auch um dich selbst kümmern. Ich mache dir jetzt Essen und du gehst erst, wenn es in deinem Magen ist."

Er nickte unruhig. "Schon gut, in Ordnung." Fahrig wischte er die Tränen fort und setzte sich auf. Wieder wurde ihm schlecht. Schon möglich, dass er nicht gut auf sich geachtet hatte, aber was tat das zur Sache?

Yun machte ihm gebratenen Reis und er schaffte nur wenige Happen, bevor er aufgeben musste. Der Kindergärtner zeigte sich gnädig und bestand nicht darauf, dass er alles aß, stattdessen packte er ihm den Rest, der eigentlich der größere Anteil war, ein und bat ihn, den für sich und Touya zu Hause warm zu machen.

"Ich komme Montag nach der Arbeit bei dir vorbei. Wehe dir, wenn du dann noch abgemagerter bist", teilte Yun ihm mit, als er seine Sachen wieder zusammensuchte. Panda leckte ihm glücklich die Zehen, als er Shindo die Leine nehmen sah.

"Dann bis Montag", murmelte Shindo und verließ mit seinem Welpen die Wohnung.

~x~

"Ich bin wieder da", rief er in die Wohnung, als er zu Hause ankam. Er hörte leise Geräusche aus dem Wohnzimmer und ging ihnen nach, nachdem er Panda von seiner Leine und sich selbst von den Schuhen befreit hatte.

Dort saß Touya auf der Couch und sah Star Wars, eine Tasse Tee in den schlanken Fingern. Er sah auf, als Shindo hinzutrat. "Den hab ich noch nie gesehen."

"Wurde langsam mal Zeit", lächelte Shindo. "Yun hat uns Essen mitgegeben." Yun hatte auch gesagt, dass er mehr trinken solle, dann würde sein Kreislauf sich bald wieder erholen. Also nahm er Touya den Tee aus der Hand und trank die Tasse selbst leer. Der andere leistete keinen Widerstand. Dann schlurfte er in die Küche und häufte den Reis auf einen großen Teller, den er in die Mikrowelle stellte. Nach zwei Minuten nahm er den dampfenden Teller wieder heraus, holte zwei Löffel und brachte das Essen ins Wohnzimmer. Er setzte sich neben Touya und stellte den Teller auf seinem Knie ab, bevor er dem anderen einen der Löffel reichte.

Mit seinem Löffel zog er eine Linie durch die Mitte des Reis' und erklärte: "Jeder eine Hälfte." Er war zwar selbst noch satt von den wenigen Happen, die er bei Yun gegessen hatte, aber dann würde er eben seine Hälfte verkleinern, wenn Touya nicht hinsah.

Sie brauchten bis zum Ende des Films, um den Teller gemeinsam zu leeren und durch geschickte Einwürfe wie 'Oh, die Szene ist jetzt wichtig' hatte Shindo seinen Anteil am Essen deutlich verringert. Danach räumte er das Geschirr weg und sah, wie Touya wieder ins Schlafzimmer trottete. Er legte sich wieder zu dem anderen und schob sein Knie zwischen Touyas Beine.

"Tja, jetzt sind wir ja doch miteinander im Bett gelandet", schmunzelte Shindo, als sie eine Weile dort gelegen hatten. Touya schien tatsächlich leicht zu lachen, obwohl er nicht sicher sein konnte.

"Shindo..." murmelte Touya und legte das erste Mal auch einen Arm um den anderen. "Es tut mir leid, dass ich dich hängengelassen hab. Ich... ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, dem es schlecht geht."

"Shhh", machte Shindo, sein Mund strich dabei über Touyas Stirn. "Du hilfst mir, indem du hier bleibst, bis du wieder fit bist."

Der erste große Schritt war gemacht. Touya sprach wieder. Shindo war froh, dass er anscheinend den schwersten Part überstanden hatte.

~x~

Tatsächlich ging Touya am Montag wieder zu seinen Partien. Er gab das Meijin-Turnier auf, weil er wusste, dass er in den höheren Runden, spätestens gegen Shindo, nicht bestehen konnte. Seine anderen Partien ließ er auf den Vormittag verschieben.

Die Lerngruppe am Mittwoch sagte er ab, rief die Jungen aber selbst an, obwohl Shindo anbot, das zu übernehmen. Wenn er mittags von seinen Partien wiederkam, ging er mit Panda raus. Viel mehr tat er allerdings immer noch nicht.

In der Mitte der Woche kam Touyas Sofa an. Er betrat das erste Mal seit fast zwei Wochen wieder seine eigene Wohnung, doch er blieb nicht lange. Shindo war froh, dass Touya sich so auf ihn verließ. Als sein Vater damals gestorben war, hatte er versucht, alles mit sich selbst auszumachen und Shindo hatte sich ihm aufdrängen müssen, damit er die Hilfe annahm; jetzt blieb Touya von sich aus in der Nähe.

Freitag war der erste Tag, an dem Touya sich nicht tagsüber ins Bett legte. Er blieb zwar auf dem Sofa, aber Shindo empfand es wieder als großen Fortschritt. Sein eigenes zertrümmertes Herz schien auch langsam zu heilen. Er weinte nicht mehr im Schlaf. Sogar seine Alpträume traten nicht mehr auf, wenn er bei Touya schlief.

Nach einer weiteren Woche lächelte Touya das erste Mal. Am Samstag, drei Wochen nach seiner Trennung, schimpfte er das erste Mal wieder mit Shindo. An diesem Tag war Shindo sich sicher, dass er Touya endlich zurückhatte, dass sein Freund vielleicht bald wieder unter den Lebenden weilte.

Reanimation

Ich werde versuchen, Updates jetzt samstags und mittwochs zu halten.

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"Far away

This ship is taking me far away

Far away from the memories

Of the people who care if I live or die
 

Starlight

I will be chasing the starlight

Until the end of my life

I don't know if it's worth it anymore
 

Hold you in my arms

I just wanted to hold

You in my arms
 

My life

You electrify my life

Let's conspire to ignite

All the souls that would die just to feel alive
 

But I'll never let you go

If you promised not to fade away

Never fade away"

(Muse - Starlight)
 

Als Ayumis Hiobsbotschaft einen Monat her war, gingen Touya und Shindo das erste Mal wieder gemeinsam in eine Bar.

Touya wollte Shindo danken und mit ihm reden und er wollte endlich nicht mehr in der Wohnung rumhängen, also wählte er eine Bar, die fast eine Stunde von ihrer Wohnung entfernt war. Er ließ Shindo fahren, weil er nicht das Gefühl hatte, sich auf den Verkehr konzentrieren zu können.

"'Beach paradise'?" las Shindo vor, als sie vor dem Laden ankamen, den er ausgesucht hatte. Shindo sah skeptisch aus und Touya zuckte nur mit den Schultern. Er war noch nie hier gewesen, das qualifizierte die Bar mehr als alles andere. Er wollte nicht mehr an Orte gehen, mit denen er Ayumi verband, deshalb die weite Entfernung. Es hatte eine Weile gedauert, bis er etwas gefunden hatte, zu dem Panda mitkommen durfte. Der junge Hund, der mittlerweile kein Welpe mehr war – Touya hatte gar nicht mitbekommen, dass er gewachsen war, während er getrauert hatte – hatte ihm nur jaulend den Platz vorne neben Shindo überlassen.

"Jetzt komm schon", murmelte er ungeduldig und ging an Shindo vorbei in den Laden. Sie wurden von einer Schönheit im Bikini begrüßt, obwohl draußen schon kühle Temperaturen vorherrschten.

"Aloha", lächelte sie ihnen entgegen und nahm Touya und Shindo auf je eine Seite, um sie zu einem Strandkorb zu geleiten. Sie schritten durch hellen Sand, der Touya an eine Südseeinsel erinnerte, und im Strandkorb angekommen reichte die Dame ihnen die Karten.

Touya streifte Schuhe und Socken von den Füßen und grub seine Zehen in den weichen Sand, der sanft darüber rieselte. Er lehnte sich zurück und betrachtete Shindo.

Der Meijin war dünner geworden, es sah irgendwie ungesund aus an ihm. Sogar sein Gesicht sah magerer aus als noch vor einem Monat. Noch dazu hatte er seit längerem tiefe Schatten unter den Augen und ab und an hustete er ungesund. Touya hatte ihn lange nicht mehr wirklich angesehen. Die letzten Wochen hatte er wie durch einen Schleier wahrgenommen, an viel konnte er sich nicht mehr erinnern. Er wusste noch, dass Shindo oft mit ihm im Bett gelegen und ihm etwas erzählt und ihn gestreichelt hatte.

Ohne Shindo wäre er vermutlich einfach vor sich hin vegetiert, hätte nicht gegessen oder getrunken, sich nicht gewaschen, das Bett bis jetzt nicht verlassen. Er wusste, dass die Sache auch an Shindo genagt hatte und war umso dankbarer für die Unterstützung.

"Bestell du für mich", meinte er zu Shindo und dieser schürzte lächelnd die Lippen, während er die Karte studierte.

"Betrinken wir uns heute?" fragte der Meijin und blätterte weiter zu den Cocktails. Touya schüttelte den Kopf. In der Laune, in der er gerade war, sollte er nicht zu viel trinken, das konnte einfach nicht gut enden.

Die Kellnerin kam wieder vorbei. "Was kann ich euch bringen?" fragte sie und ihre überaus weißen Zähne blitzten im simulierten Sonnenlicht.

"Einen B&B und... Vodka Sour bitte." Sie nickte, nahm ihm die Karte ab und ging. Auch Shindo zog Schuhe und Socken aus. Panda sah aufmerksam zu. Er hatte die für Shindo nervige Angewohnheit, ihm immer die Füße zu lecken, wenn sie in Reichweite waren, also vergrub auch er seine Füße bis zu den Knöcheln im Sand. Pandas gespitzte Ohren sanken wieder nach unten.

"Tut mir leid, dass ich dein Bett so lange blockiert habe. Du hast schon lange keine Frau mehr abgeschleppt", meinte Touya spitzbübisch. Sie hatten ewig keine Partie Go mehr gespielt, also konnte er nicht sicher sein.

"Mir war nicht danach", erwiderte Shindo und deutete ein Lächeln an. Touya seufzte innerlich. Anscheinend war Shindo angeschlagener, als er erwartet hatte, das konnte man nicht mit seichten Witzen kitten. Sie sollten unbedingt eine Partie spielen, wenn sie wieder in der Wohnung waren. "Was passiert jetzt?" fragte Shindo nach einer Weile.

Touya kaute auf seiner Unterlippe herum. Davor hatte er sich gefürchtet: an die Zukunft denken. Er wollte keine Pläne schmieden, denn in diesen Plänen würde Ayumi nicht vorkommen. Er musste ohne die Liebe seines Lebens planen, dieser Gedanke schmerzte immer wieder.

"Den Meijin habe ich aufgegeben... Aber Mitte Dezember ist der Ouza fällig. Ansonsten... habe ich mir nichts überlegt. Ich denke allerdings darüber nach, im Januar oder Februar nach Korea zu fliegen um Yongha zu besuchen. Das wäre bestimmt gute Ablenkung."

"Korea klingt gut. Wir könnten zusammen ein Hotelzimmer nehmen und ich –"

"Ich wollte alleine fliegen", murmelte Touya.

Shindo sah ihn überrascht an. "Oh." Betretene Stille machte sich zwischen ihnen breit, bis der Blonde sich räusperte. "Na gut, dann... kann ich ja in der Zeit wieder mit anderen mein Bett füllen. Du sagst ja eh immer Nein." Shindo grinste schelmisch und Touya lächelte zurück, weil er froh war, dass der andere langsam wieder scherzte. Tatsächlich hatte ihm Shindo schon eine ganze Weile keine gemeinsame Nacht mehr vorgeschlagen.

Ihre Getränke kamen schnell und sie stießen klirrend an. Mal wieder hatte Shindo genau die richtige Wahl für ihn getroffen, denn Touya mochte keine süßen oder bitteren Drinks. Vodka Sour war perfekt, erfrischend und angenehm.

"Ich habe noch eine Menge Kram von ... ihr. Vielleicht könnten wir es morgen zusammenpacken und du bringst es ihr?" Shindo nickte.

Touya hatte ursprünglich vorgehabt, um Ayumi zu kämpfen. Er hatte es sich wirklich vorgenommen, aber immer, wenn er das Gespräch im Kopf durchspielte, blieb da kein Schlupfloch. Er sollte so bleiben, wie er war, er sollte weiter Go spielen, aber gleichzeitig sollte es ihm nicht mehr wichtig sein. Nicht mehr Go zu spielen hätte ihn genauso zerstört wie diese Trennung.

Doch was konnte Touya sonst tun, wenn Ayumi nicht glücklich war? Er würde immer Termine haben, die er nicht absagen konnte, und ab und zu würde sich der Zeitplan ändern. Er hatte sich immer ergeben in dieses Schicksal gefügt, aber da hatte er auch keine Lebensgefährtin gehabt. Es gab keine Möglichkeit, Ayumi hatte selbst gesagt, die Trennung sei für immer.

Er musste es akzeptieren. Dass die Liebe seines Lebens vertan war, ihn nicht mehr wollte. Er würde weiterleben, das hatte ihm der letzte Monat bewiesen, obwohl er sich nur die Hälfte der Zeit lebendig gefühlt hatte. Es gab noch andere Dinge, für die man leben konnte, wie Shindo und Go, aber es würde lange dauern, bis er verstehen würde, dass Ayumi jetzt nicht mehr zu diesen Dingen gehörte. Denn sie wollte nicht, dass sein Leben ihr gehörte.

Touya seufzte und versuchte, diese Gedanken abzuschütteln. Es würde ihm gut tun, Japan für eine Weile zu verlassen, auch von Shindo brauchte er etwas Abstand nach dieser langen Zeit, die sie so nah beieinander verbracht hatten.

"Naja, jedenfalls... dachte ich, ich mache endlich mal was, zu dem du mich schon vor einer Weile überreden wolltest." Shindos Gesicht schnappte nach oben und er sah Touya mehr als überrascht an. Touya musste leicht grinsen. "Lass uns in einen Club gehen."

~x~

Das war zwar im ersten Moment nicht unbedingt der Wunsch gewesen, den Shindo am liebsten erfüllt bekommen hätte, aber im Nachhinein meinte er zu Touya, dass der Abend wirklich sensationell gewesen war. Panda hatten sie nach der Bar nach Hause gebracht, dann hatte Shindo den Club wählen dürfen.

Touya war nie in einem Club gewesen, deshalb verband er damit auch keine schmerzlichen Erinnerungen. Er hatte zwar kaum Rhythmusgefühl, stellte aber fest, dass sich sowieso niemand um sie beide scherte, also ließ er sich von der Musik tragen und bewegte sich träge.

Zu Hause angekommen kam er wieder mit zu Shindo, sie stolperten atemlos lachend in die Wohnung und fielen dann nebeneinander auf die Couch.

Shindo holte kurz darauf seine Cocktailausrüstung hervor und mixte ihnen noch etwas Kühles.

Er lehnte sich über die Sofalehne zu Touya und reichte ihm eines der Gläser, bevor sie anstießen. "Danke für den Abend, Touya", lächelte er, bevor er einen Schluck nahm.

Als sie später ins Bett taumelten, wusste Touya, dass Shindo wieder versuchen würde, ihn rumzukriegen. Er merkte es daran, wie der andere ihn ansah. Was auch immer Shindo sich dachte: Touya schien irgendwie in seiner Sammlung zu fehlen.

Sie lagen wieder nebeneinander, die Beine miteinander verschränkt und der Meijin stützte den Kopf auf einen Arm, während er mit der anderen Hand wieder Touyas Seite entlang und über die Haare strich.

Aber er tat es nicht wie in den letzten Wochen; nach einer Weile hielt er inne, um Touya auf die Stirn zu küssen. Seine Hand wanderte zu Touyas Shirtsaum und spielte damit. Gerade als er versuchte, die Hand darunter zu schieben, stoppte Touyas Hand ihn.

"Shindo... wie oft muss ich noch Nein sagen?"

"Es würde dir gefallen."

"Tut mir leid, aber es geht nicht. Nicht... jetzt."

Shindo legte die Stirn an seine und ließ die Hand, wo sie war. Touya hatte die Vermutung, der andere wolle irgendeine Art Wiedergutmachung für die Wochen, die er sich selbstlos um ihn gekümmert hatte, aber das war sicher nicht die Art Dankeschön, die Touya leichtfertig vergeben würde. Nichtmal an Shindo.

~x~

Am Montag begannen Shindos Meijin-Partien gegen einen jungen, aufstrebenden Pro, der sich überraschend gegen die anderen Herausforderer behauptet hatte. Er war nur ein 5-dan, aber Shindo hatte geschworen, ihn nicht zu unterschätzen.

Touya ging zu allen seinen Partien und am Mittwoch fand seit fünf Wochen wieder einmal die Lerngruppe statt, in Shindos Wohnung.

Davor waren sie beide unten bei Touya gewesen und hatten Ayumis Sachen zusammengepackt und in Kisten verteilt. Ohne ihre Klamotten in seinem Schrank wirkte dieser wieder grau und farblos. Ohne ihre Schminke war sein Bad nur noch halb so gefüllt und sie entsorgten auch den Saft, den er nur für sie gekauft hatte und der sich schon in seine Einzelteile zersetzt hatte.

Shindo war gleich danach losgefahren um es zu ihr zu schaffen, während Touya in seiner Wohnung für Ordnung gesorgt und die Goban hinaufgetragen hatte. Ob die Jungs es seltsam finden würden, wenn sie an diesem Abend bei Shindo waren?

Er selbst konnte nicht wirklich festmachen, warum er noch hier war. Vielleicht, weil er sich haltlos fühlte und Shindo die einzige Konstante war, die er über lange Jahre kannte. Früher war da sein Vater gewesen, aber an dem konnte er sich jetzt nicht mehr orientieren... Er fand es auch seltsam, was für eine Richtung seine Beziehung zu Shindo jetzt eingeschlagen hatte. Vielleicht hatte er ihn tatsächlich unbewusst als Ersatz für Ayumi genommen, er erinnerte sich nur an das viele Kuscheln in der Zeit nach der Trennung. Dabei war es noch gar nicht vorbei, sie teilten sich immer noch ein Bett.

Touya wusste, dass er dem ein Ende bereiten musste. Aber er konnte es noch nicht, er brauchte Kontakt, der ihn ablenkte. Nicht mehr lange, redete er sich ein. Er würde Shindo nicht mehr lange benutzen.

Als es klingelte huschte er zur Tür und sah Sageki vor sich stehen. Der Junge war wirklich immer zuverlässig zu früh. Touya nickte mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer und Sageki folgte ihm kurz darauf. Heute würde es keine klassische Musik zu ihren Partien geben, denn Shindo besaß keine Klassik. Vermutlich war Sageki zum ersten Mal in dieser Wohnung, fiel Touya auf dem Weg ein, und er hielt inne.

"Ich brauche keine Wohnungsführung", kam ihm der andere schon zuvor. "Sie ist ja nicht viel anders als deine. Nur... naja, mehr wie Shindo-san eben." Touya grinste sarkastisch – da hatte er wohl Recht. Shindo war nunmal ein wilder, unbändiger Mensch; gelegentlich, obwohl sich die Unordnung schon merklich gebessert hatte, seit Panda mit ihm hier wohnte. Was für eine ungewollt kluge Anschaffung, musste Touya sich insgeheim loben.

Sageki sagte nichts über die vergangenen Wochen und auch, als sie bis auf Shindo nach einer halben Stunde komplett waren, fragte keiner der Jungen nach. Touya wunderte sich etwas darüber, aber er hatte das Gefühl, Shindo hätte ihnen irgendetwas eingebläut, was sie nun im Hinterkopf behielten. Im Übrigen war er froh darüber, die letzten Wochen nicht nochmal gedanklich durchleben zu müssen, vor allem nicht den Grund für seine Verfassung, also sagte er auch von sich aus nichts.

Als Shindo ankam besserte sich die Stimmung merklich, auch wenn er erstmal begann, sich mit Haru anzukeifen, weil der Junge sich ohne zu fragen zwei DVDs genommen hatte, die er beim nächsten Mal zurückbringen wollte.

Touya musste lächeln. Wenigstens daran hatte sich nichts geändert, das war beruhigend. Er merkte allerdings, dass die Jungen noch etwas scheu waren, und er selbst war noch nicht wirklich auf der Höhe. Ein Glück hatte Ayumi nicht vor dem Titelkampf mit ihm Schluss gemacht, denn sonst wäre er garantiert um einen Titel ärmer und sein Mitbewohner könnte sich nun Shindo Tengen nennen.

Er spielte an diesem Abend auch gegen Shindo, der selbst Go-technisch noch nicht ganz fit war. Wie sollte er so seinen Titel verteidigen?, wunderte Touya sich, doch tatsächlich hatte Shindo heute bereits seine zweite Partie abgelegt, bisher stand es eins zu eins. Nicht der optimale Start, aber besser als zwei Niederlagen war es allemal.

Die Jungen blieben an diesem Abend wieder lange, sie alle schienen einiges nachzuholen zu haben, immerhin hatten sie fünf Wochen nicht mehr mit ihrem Lehrer geredet oder gespielt, beides klagten sie jetzt ein. Weit nach Mitternacht ging Miyagi als Letzter und Touya war kurz davor, direkt auf dem Boden einzuschlafen.

"Komm, ins Bett schaffst du es auch noch", murmelte Shindo und stieß ihn mit dem Knie an. Touya gähnte darauf träge und erhob sich, um ihm zu folgen. Als sie sich im Bett wieder gegenüberlagen, begann Shindo, von seiner Partie an diesem Tag zu erzählen, von dem jungen Talent, das sein Gegner war. Touya sank langsam in den Schlaf. Er hatte seit Wochen nicht mehr geträumt und dafür war er ziemlich dankbar, denn was auch immer sein Hirn in der Nacht verarbeiten würde, es musste schmerzhaft sein.

~x~

Shindo verteidigte seinen Titel schließlich ohne große Probleme.

Die Wochen bis zum Ouza-Wettkampf flossen an Touya vorbei. Er zog endlich wieder in seine eigene Wohnung und sah Shindo von da an seltener als noch zu Zeiten seiner Beziehung. Er brauchte einfach etwas Abstand zu dem anderen Go-Spieler, außerdem hatte er im Institut einiges aufzuholen, also ließ er seinen Terminplan wieder voller gestalten.

Nachdem es ihm langsam wieder besser ging, er dem Leben wieder irgendeine Art Sinn beimaß, verbesserte sich auch seine Go-Statistik wieder und schließlich konnte auch er seinen Titel verteidigen, obwohl es bei ihm etwas knapper zuging als beim Tengen-Turnier.

Fast zwei Monate war es nun her, dass Ayumi sich von ihm getrennt hatte, aber Touya dachte noch immer jeden Tag an sie, vor allem, wenn er allein in seiner Wohnung war. Sageki schien da so eine Ahnung zu haben und kam öfter vorbei, um mit Touya Musik zu hören und Partien zu spielen, außerdem schenkte er ihm ab und an CDs, die er 'unbedingt hören musste'.

Touyas Herz fühlte sich immer noch krank und gebrochen an, aber er merkte, dass es besser wurde. Anfangs musste er sich noch dazu durchringen, wieder unter Menschen zu gehen, doch langsam wurde es wieder zur Normalität.

Er ließ sich vom Institut zwei Wochen im Januar freihalten und buchte seinen Flug nach Korea für Mitte Januar. Yongha wusste schon Bescheid, Shindo hatte er noch nichts gesagt, weil sie sich zu selten gesehen hatten. Er beschloss, das an seinem Geburtstag nachzuholen und es im gleichen Zug auch den Jungen zu unterbreiten.

Der vierzehnte Dezember war selbst für diesen Monat ein sehr kalter Tag. Touya hatte kaum mitbekommen, wie die Jahreszeiten sich verändert hatten, so beschäftigt war er mit sich selbst gewesen, doch jetzt fror er in seinem Anzug auf dem Weg von der Wohnung zum Auto. Der Tag im Institut fiel ereignislos und trist aus, er gewann eine Partie und musste dann zu einer Messe und gegen die Sponsoren spielen.

Als er schließlich am Abend auf dem Weg nach Hause war genoss er die Ruhe seines Autos solange er konnte, denn für acht Uhr hatte er seine Gäste eingeladen, und so wie er das abschätzen konnte, war er sowieso schon viel zu spät dran.

Tatsächlich wartete nur Haru, als Touya bei sich ankam. Der Junge hatte sich wirklich gemausert. Sein Pro-Test stand in nur wenigen Monaten bevor, und auch wenn er immer noch etwas störrisch war, so hatte Touya sich mittlerweile seinen Respekt verdient. Shindo und Haru allerdings waren immer noch wie Katz und Maus, wenn sie nicht gerade Go spielten.

"Alles Gute, Touya-sensei", begrüßte der Junge ihn und brachte ein halbes Lächeln zustande, was ihm trotz allem immer noch schwer fiel. Er hielt eine Blume in der Hand, eine rote Calla, die er Touya halbherzig in die Hand drückte. Touya lächelte verschmitzt und schloss ihnen auf. Nachdem sie in Hausschuhe geschlüpft waren nahm er das Telefon und überlegte, was er bestellen sollte.

"Sushi ist okay", murmelte Haru im Vorbeigehen und wieder musste Touya lächeln. Was auch immer mit dem Jungen los war, es war weit besser als ihr Anfang zusammen. Also rief er beim Lieferservice an und bestellte so viel, dass es für doppelt so viele Leute ausreichen würde, nur um sicherzugehen. Haru hatte sich derweil auf das neuere Sofa geworfen, das so lang war, dass er zweimal draufpassen würde, und las nun in einem Buch mit Kifu, das er vor der Tür schon gelesen hatte. Touya wusste, dass es richtig gewesen war, Haru in die Go-Welt zu bringen, denn auch wenn er es nicht direkt sagen würde liebte er das Spiel mittlerweile genauso sehr wie Shindo. Er war der Beste in Gruppe eins der Insei, wenn auch nicht der Liebling seines Lehrers.

Das Klingeln an der Tür kündigte Miyagi und Satoru an, die ihm einen Buchband schenkten: Kifu von Touya Koyo, davon hatte es am Erscheinungsdatum nur einhundert Exemplare gegeben. Touya dankte ihnen und ließ sie ein, die Tür ließ er diesmal angelehnt, damit die nächsten Gäste allein eintreten konnten.

Als Satoru das Wohnzimmer betrat und die Blume sah, die Haru Touya geschenkt hatte, prustete er los. Die anderen sahen ihn skeptisch an, bis er sich gefangen hatte und kichernd erklärte, was er so lustig fand. "Die Calla – pfff. Sie steht für Anerkennung. Du hättest Touya-san auch einfach sagen können, dass du ihn jetzt respektierst."

Miyagi sah Satoru ungläubig an. "Und das weißt du warum?"

Satoru kicherte immer noch. "Ach, ich hab doch 'ne Verlobte. Ich hab ihr mal Alpenveilchen geschenkt und sie hat einen Riesenterz veranstaltet." Die anderen schauten fragend. "Gleichgültigkeit. Dafür stehen sie. Naja, und danach musste ich erstmal alle Blumen und ihre Bedeutungen recherchieren, bevor ich ihr wieder etwas schenken konnte."

Touya schmunzelte und die Jungen warfen sich erleichterte Blicke zu. Er hatte nicht gewusst, dass sein Verhalten für sie so offensichtlich gewesen war, aber was machte er sich vor? Er hatte sich zwei Wochen in Shindos Wohnung vergraben und war danach wochenlang auf dem Zahnfleisch gekrochen und noch immer war er nicht ganz auf der Höhe, kein Wunder also.

Nach einer halben Stunde kam Shindo schließlich als Letzter an, er schenkte Touya wie so oft einen Film und nörgelte darüber, mal wieder Sushi essen zu müssen.

Als sie alle im Wohnzimmer versammelt und mit ihrem Essen beschäftigt waren, entschied Touya sich dafür, die Neuigkeiten zu verbreiten.

"Ich fliege im Januar für zehn Tage nach Korea", erzählte er seinem Stück Nigiri Sushi. Es wirkte nicht besonders begeistert, also verschlang er es mit einem Happs.

Distanz

" And I don’t want you to think that I care

I never would

I never could

Again

Why can’t you just love her?

Why be such a monster?

You bully from a distance

Your brain needs some assistance
 

But I’ll still take all the blame

'Cause you and me are both one and the same

And it's driving me mad

And it's driving me mad

I’ll take back all the things that I said

I didn't realise I was always talking to the living dead"

(Muse - Escape)
 

Als Touya aufsah, starrten ihn alle an; die Jungs schienen nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollten, während Shindo fast entgeistert wirkte.

"Man kann sich einfach so Urlaub nehmen im Institut?" fragte Haru überrascht und vergaß für kurze Zeit, dass er ja immer eher kühl Touya gegenüber war.

"Jap, kein Problem", meinte Touya. "Vorausgesetzt man hat bereits einen gewissen Status erreicht", fügte er zwinkernd hinzu. Shindo hatte sich mittlerweile wieder gefangen – Touya fragte sich sowieso, warum der andere so komisch reagiert hatte, schließlich hatte er doch vorher schon von Touyas Plänen gewusst – und wünschte ihm viel Spaß.

Der Abflug war nur noch einen Monat entfernt, aber in letzter Zeit hatte Touya sowieso nur von Tag zu Tag gelebt, also galt es erstmal, seinen Geburtstag mit den anderen zu feiern. Touya hatte lange überlegt, was er mit ihnen unternehmen konnte, möglichst etwas, das ihn nicht an Ayumi erinnerte, aber Trinken gehen wollte er auch nicht – am Ende war er zu dem Entschluss gekommen, mit seinen Gästen Go zu spielen. Shindo hatte mit den Augen gerollt, aber auch nichts dagegen gehabt.

Touya plante, gegen alle gleichzeitig zu spielen, aber Shindo machte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung, denn er würde nur ungeteilte Aufmerksamkeit akzeptieren. Er brauchte nie lange, um seinen nächsten Zug zu planen und machte sich einen Spaß daraus, Touya mit Zügen zu verwirren, bei denen er besonders lange nachdenken musste. Touya gab nach nur zehn Minuten auf und stimmte einer loseren Runde zu, bei der er zuerst gegen Shindo spielte.

Der andere wirkte nicht glücklich mit Touyas Entscheidung, gleich fast zwei Wochen in Korea zu bleiben; der Ouza konnte es in den aggressiven Zügen sehen, die ab und zu durchbrachen.

"Was ist denn los?" murmelte Touya nach der Hälfte, als Shindo gerade einen Zug ausführte, der unnötig impulsiv war.

"Ich weiß nicht..." erwiderte Shindo und hielt den Blick gesenkt. Die Jungs konnten sie hören, deswegen wollte er nicht so recht damit herausrücken, aber schließlich tat er es doch. "Du hast mir doch versprochen, dass wir... also..."

Touya verdrehte die Augen. Warum war Shindo so verdammt besessen von diesem Gedanken? Er dachte, mit seiner letzten Aussage hatte er dem endlich einen Riegel vorgeschoben, aber irgendetwas schien den Meijin immer noch an diesem Gedanken festhalten zu lassen. "Man, Shindo", stieß er entnervt aus. "Du wirst schon wissen, wenn es soweit ist, okay? Und jetzt reiß dich mal etwas zusammen, sonst gewinne ich am linken unteren Stern und damit auch die Partie."

~x~

Touya war froh, Japan hinter sich lassen zu können.

Er saß im Flieger, der gerade auf der Landebahn in Seoul aufschlug – besser konnte Touya es zumindest nicht bezeichnen – seine Hände waren schweißnass und er hatte den ganzen Flug lang kein Auge zugetan, obwohl er bis zu seinem Abflug um fünf nicht geschlafen hatte. Er hatte Shindo überredet, ihn nicht zum Flughafen zu fahren und stattdessen ein Taxi genommen.

Auf wackligen Beinen stolperte er wenige Minuten später aus dem Flieger und das Gateway entlang. Es war nach sieben, noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber der Himmel war bereits hell. Bei der Kofferausgabe wartete Yongha auf ihn und umarmte ihn stürmisch beim Wiedersehen.

"Touya! Es ist toll, dass du hier bist! Jian freut sich riesig, dich kennenzulernen", plapperte Yongha ungewohnt redselig los. In den Wochen zuvor hatten sie sich fast täglich Mails geschrieben und auch Touya freute sich, Yongha wiederzusehen, obwohl er sich wünschte, der andere würde sich etwas beruhigen, weil er unnötig viel Aufsehen am Flughafen erregte.

Im Auto versiegte Yonghas Redefluss schließlich, vermutlich, weil Touya nie etwas erwiderte.

"Warum hast du Shindo nicht eingeladen?" fragte er nach einer Weile des Schweigens. Yongha war wie Shindo ein unruhiger und rasanter Autofahrer, bei dem Touya sich alles andere als sicher fühlte.

"Weil ich dich... im Moment interessanter finde", kam nach langer Zeit die Antwort, über die Yongha anscheinend wirklich nachgedacht hatte. Touya erwiderte nichts sondern starrte aus dem Fenster. Korea sah nett aus, vor allem, bevor die Menschen erwachten und ihre Häuser verließen. Ruhiger und weniger bunt als Tokyo, so kam es ihm jetzt zumindest vor. Er war erst viermal im Land gewesen.

"Wir sind da", informierte Yongha ihn gerade, als er auf einen Parkplatz einbog. Sie hielten vor einem Wolkenkratzer, der recht luxuriös aussah; auch die Autos, die bereitstanden, waren eher vom Kaliber Sportwagen als Kleinwagen. Yongha nahm Touyas Tasche und ging dann ihm voran zum Hochhaus. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl, in dem auf dem Weg nach oben ziemlich nervige Musik dudelte, bis in den fünfzehnten Stock.

Die Wohnung war weiträumig und hell und zeigte eindeutig Spuren weiblichen Lebens, denn egal, wie viel Geschmack Yongha bei der Wahl von Anzügen bewies, die Einrichtung war nochmal auf einem ganz neuen Level von ‚stilvoll‘. Touya, dem Shindo solchen Geschmack ja selbst immer absprach, sah sich staunend und bewundernd um.

Vom Ende des Flurs her trat eine junge Frau in den Gang und kam langsam auf sie zu.

"Ah, Touya, das ist meine Verlobte. Jian, das ist Touya Akira." Wenn man Yongha so hörte, konnte man fast meinen, er hätte sich Manieren beibringen lassen... Touya lächelte die Frau an und verneigte sich vor ihr.

"Sehr erfreut", meinte er auf Koreanisch. Ein bisschen schwermütig fühlte er sich. Eine Verlobte hätte er auch gehabt, fast. Aber das war nicht der Augenblick, wieder in die alten Depressionen zurückzufallen, dachte er und nahm sich zusammen. Jian war schmal und klein, kleiner noch als Ayumi, sie hatte blonde Ringellocken, die ihr kaum bis auf die Schultern reichten. Ihre karamellfarbenen Augen wirkten verträumt und so, als sei sie gerade ganz woanders in Gedanken.

"Willkommen in Korea, Touya-san", murmelte sie und verzog ihr Gesicht, sodass es fast wie ein Lächeln aussah. Das schien sie nicht oft zu tun.

"Dankeschön."

"Komm", meinte Yongha und deutete auf eine Tür links vom Wohnzimmer. "Ich zeige dir das Gästezimmer."

Touya blieb an seinem Platz stehen und räusperte sich, bevor er sprach. "Ich habe ein Hotelzimmer genommen. Shindo wäre vermutlich ziemlich sauer, wenn ich hier bei euch bleibe, er ist jetzt schon eifersüchtig." Er lächelte leicht und Yongha sah ihn zögernd an, bevor er die Tasche wieder abstellte.

"Gut", meinte der Koreaner langsam. "Okay. Gut. Jian ist sowieso keine gute Köchin." Sie ging an ihm vorbei und stieß ihn hart gegen die Schulter, doch er verzog keine Miene. Yongha schien eine Weile zu überlegen. Wenn er still war und nachdenklich auf den Boden sah, wirkte er wieder wie ein unnahbarer Schönling, genau wie früher, dachte Touya. Doch ein bisschen erwachsener war er schon geworden, obwohl er immer noch einen Hang dazu hatte, andere zu provozieren.

Sie beschlossen, ins koreanische Go-Institut zu fahren. Touyas Hotelzimmer war erst ab elf beziehbar, im Institut konnten sie solange die Zeit totschlagen. Später wollten sie zu einer Ausstellung, in der auch einige von Jians Werken gezeigt wurden. Die junge Frau weigerte sich, Touya die Bilder zu zeigen, an denen sie gerade in ihrem Atelier arbeitete. "Frauen", hatte Yongha augenrollend gemeint.

Touya mochte es im Institut. Es war nicht so steril wie das japanische, die Räume waren heller und offener. Als sie eintrafen, liefen ihnen schon geschäftig junge Go-Spieler entgegen, die zum Getränkeautomaten und dann zurück in einen der Räume stürmten. Yongha erklärte ihm, dass die koreanischen Insei viel mehr Zeit im Institut verbrachten als die japanischen. Sie waren fast jeden Tag vor Ort und so waren ihre Gruppen fast wie Familien, weil sie sich oft sahen und untereinander gut kannten. Er selbst war kein Insei gewesen, aber Hong hatte noch einige Freunde aus der Zeit damals.

Sie sahen den jungen Koreanern zu, wie sie ihre Plätze vor den Goban einnahmen und ihre Partien begannen. Touya sah in ihren Gesichtern die gleiche Liebe zum Spiel wie bei den Pros, die er kannte. Yongha langweilte sich, er interessierte sich nicht für die Insei, die ihm noch nicht in der Pro-Welt gegenüberstehen konnten, also zog er Touya schließlich weiter.

Er zeigte ihm die verschiedenen Räume, erklärte, welche Partien dort meist ausgetragen wurden. Im Institut hingen auch die Zeitpläne der eingeschriebenen Pros aus, eine durchaus praktische Einrichtung. Yongha hatte mittags eine Partie, danach würden sie zu der Ausstellung gehen.

Gegen halb elf nahm Touya sich ein Taxi, wobei er Yonghas ausdrückliches Angebot, ihn zum Hotel zu fahren, ablehnte. Er brauchte etwas Ruhe und Zeit für sich. Er war extra nach Korea gekommen, um Abstand zu bekommen, vor allem von Shindo, da konnte er es auch nicht ab, statt Shindo nun Yongha als ständigen Begleiter zu haben.

Er checkte ein und brachte seinen Koffer auf sein Zimmer. Es war ein recht luxuriöses Hotelzimmer, auf dem Schreibtisch standen Wasser und Obst bereit, das breite Bett wirkte weich und einladend, alles lud ihn dazu ein, länger zu bleiben, also gab Touya nach und sah sich weiter um. Im Bad fand er eine ebenerdige Badewanne, die etwa so groß war wie sein Bett.

Er pfiff leise. Ein Bad konnte er noch nehmen, immerhin hatte er einen Flug und viel Autofahren hinter sich. Handtücher lagen bereits daneben, also musste er nur das Wasser aufdrehen. Während sich das Becken füllte, schlüpfte er aus seinen Sachen, die er achtlos am Rand liegen ließ, und stieg über drei marmorne Stufen ins Wasser, das ihn warm und angenehm empfing.

Touya lächelte zufrieden in sich hinein, während er sich von der Wärme umschmeicheln ließ. Genau das hatte er gewollt. Ruhe. Einsamkeit. Das war genau das Richtige.

Gerade, als er langsam tiefer sank, klingelte sein Telefon. Shindo war die einzige Person, die einen individuellen Klingelton hatte und das auch nur, weil er es selbst so eingestellt hatte. Touya seufzte und ließ sich gemächlich zu dem Rand treiben, an dem seine Sachen lagen. Vielleicht gab Shindo ja in der Zwischenzeit auf. Fehlanzeige, natürlich.

"Ja?" beantwortete er den Anruf.

"Du lebst noch!" hörte er Shindos Stimme, gemeinsam mit einem statischen Knistern in der Leitung.

"Natürlich lebe ich noch, Shindo. Korea ist sicherer als Japan." Er gähnte leise in sich hinein und fragte sich, ob er den Tag ohne Schlaf überstehen würde. "Was ist los?"

"Nichts. Ich wollte nur hören, wie es dir geht. Ob Yongha vergessen hat, dich abzuholen und ob dir schon was geklaut wurde."

"Mir geht es gut, Shindo. Yongha war pünktlich dort und ich nehme gerade ein Bad. Das Hotelzimmer ist auch gut. Bald gehe ich wieder zum Institut und nach seiner Partie gehen wir in eine Ausstellung."

Shindo war eine Weile leise und Touya hörte es nur gelegentlich knistern und knacken. "Super. Das ist... schön. Na gut, dann... meld dich bald mal wieder."

"Ich bin nur zehn Tage weg, das wirst du schon aushalten", murmelte Touya verschlafen. Shindo wirkte nicht begeistert und verabschiedete sich schmollend. Touya legte das Handy auf den Stapel seiner Sachen und ließ sich seufzend tiefer zurück ins Wasser gleiten. Wie sollte er Japan vergessen, wenn es ihn immer wieder einholte?

~x~

"Das ist also eines ihrer Bilder?" fragte Touya und legte den Kopf etwas schief. Es war... eigenwillig. Er fand es nicht so schlecht wie Yongha, als er sie in ihrer ersten Ausstellung lauthals kritisiert hatte, es hatte durchaus etwas Interessantes, aber spontan konnte er nicht sagen, was auf dem Bild zu sehen war.

Jian trat zu ihnen und legte ihrem Verlobten vorsichtig eine Hand auf den Arm. Die Geste wirkte sehr vertraut, gerade weil sie so schüchtern war.

Touya erkannte plötzlich, was auf dem Bild war. Es war Yonghas Hand mit einem Go-Stein. Abstrakt und farblich ganz anders interpretiert, aber das war es. Er fragte sich, ob Yongha sich dessen bewusst war, entschied sich aber, ihn nicht zu fragen.

"Wie viel kostet dieses Bild?" fragte Touya Jian. Sie sah überrascht auf und ihre Karamellaugen wirkten wieder abgelenkt. Sie betrachtete kurz das Bild und erwiderte dann: "Das ist schon verkauft. Wenn du möchtest, male ich dir ein anderes."

Touya hob die Hände. "Oh nein, so ein Aufwand soll es nicht sein. Vielleicht hole ich mir einfach einen Print davon. Es würde sehr gut in meine Wohnung passen."

Sie nahm eine seiner Hände. Ihre Finger waren schmal und kühl, auf ihrem Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. "Du bekommst ein neues Bild. Aber es wird etwas dauern."

"Danke", meinte er verdutzt. Yongha grinste ihn breit an, nicht unbedingt die Reaktion, die Touya erwartet hätte, wenn seine Verlobte die Hand eines anderen umklammerte. Aber anscheinend bedeutete es, dass er unerwartet Jians Vertrauen errungen hatte. Hinter sich hörte er eine leise Diskussion über eines der anderen Bilder und die junge Frau horchte ebenfalls auf, bevor sie seine Hand losließ und zu den beiden Herren ging, die sich gerade über ihr Bild unterhielten.

Yongha stellte sich neben ihn und flüsterte: "Du erkennst, was da drauf ist?"

Touya lachte leise. "Du weißt es nicht?"

"Doch, sie hat es mir gesagt. Ich sehe trotzdem nichts. Aber wenn du es siehst, muss es ja doch da sein." Yongha verdrehte die Augen. "Naja, ich verstehe sowieso nichts von dem ganzen Gemale. Ihre Bilder sind schön und so, und sie bringen auch nicht wenig ein, aber wieso kann man einen Kreis nicht einfach als Kreis malen? Kunst ist echt nicht mein Ding."

Touya lächelte und betrachtete weiter das Bild. Es war wie eines von diesen Rätselbildern: sobald man den Inhalt erkannt hatte, konnte man ihn einfach nicht mehr nicht sehen. "Shindo könnte auch nichts damit anfangen", erwiderte er und musste breiter lächeln. Zwei Banausen unter sich, das wären sie.

Sie verließen die Ausstellung nach fast zwei Stunden. Touya hatte noch einige andere Bilder von Jian gesehen, aber nicht alle hatten sich ihm erschlossen. Er fragte sich, was sie für ihn malen würde. Das Paar bestand darauf, ihn in ein Restaurant einzuladen, und gemeinsam gingen sie einige Blocks von ihrer Wohnung entfernt in einen koreanischen Laden, in dem Touyas Begleiter schon bekannt zu sein schienen.

Da er nicht viel Ahnung von der koreanischen Küche hatte – die sich allerdings von der japanischen nicht allzu sehr unterschied, erklärte Yongha – bestellte er das gleiche wie der andere Go-Spieler.

"Du hast jetzt also beide deiner Titel verteidigt", begann Yongha das Gespräch, während sie auf ihre Speisen warteten. Der Koreaner hantierte gedankenverloren mit den Stäbchen herum.

"Jep. Jetzt ist erstmal nicht viel zu tun bei uns. Für die nächsten Titel habe ich noch keine großen Ambitionen, muss ich zugeben. Shindo hat seinen auch schon verteidigt, den kann ich ihm also auch nicht streitig machen."

"Wer ist dieser Shindo?" fragte Jian plötzlich. Touya sah sie verwundert an. Zum einen, weil sie beim Thema Go immer abzuschalten schien, zum anderen, weil es ihn verwunderte, dass Yongha anscheinend nichts über Shindo erzählt hatte.

"Er ist auch ein Pro, wir haben Yongha damals gemeinsam kennengelernt, vor über sieben Jahren... Man könnte sagen, Yongha hat ihn damals bis aufs Blut gereizt." Dieser grinste breit und schien sich zurückzuerinnern. Jian legte nur den Kopf schief und versank wieder in Schweigen.

~x~

Der Abend verlief angenehm. Yongha erzählte von der koreanischen Go-Welt und als es Jian zu langweilig wurde, lenkte sie das Thema auf andere Dinge, bei denen sie auch mitreden konnte. Touya hatte das Gefühl, sein koreanisch verbessere sich mit jeder Minute ihres Gespräches.

Die junge Frau war überraschend aufgeschlossen, ihre Schüchternheit schien sie bereits abgelegt zu haben. Sie und Yongha wirkten sehr harmonisch und Touya freute sich innerlich schon auf die Hochzeit, die für April angesetzt war.

Vor dem Restaurant trennten sie sich und Touya versuchte, das Hotel zu Fuß zu finden. Nach einer Stunde gab er auf und nahm sich wieder ein Taxi, nur um festzustellen, dass er eine Stunde lang in die falsche Richtung gelaufen war.

Im Hotel angekommen entschied er, sich an die Bar zu begeben. Der Barkeeper war ein junger Koreaner im Anzug, der eher demotiviert dreinblickte. Touya setzte sich an den Tresen und ließ den jungen Mann entscheiden, welchen Drink er servieren würde. Er bekam einen Old Fashioned und fragte sich, ob das irgendein Hinweis sein sollte. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte.

Touya genoss die Zeit alleine, ohne den Barkeeper weiter zu beschäftigen. Er drehte das Cocktailglas zwischen den Fingern und dachte über Ayumi und die geplatzte Verlobung nach. Den Ring hatte er noch. Er könnte ihn umtauschen, aber das wäre auch nur Verdrängung der Tatsachen, redete er sich ein. Es würde für ihn keine Frau mehr geben, die er so sehr liebte.

Touya lächelte in sich hinein. Er war vierundzwanzig und schon so verbittert. Klasse. Oder 'ganz großes Kino', wie Shindo sagen würde.

Jian hatte angemerkt, dass Touya ziemlich viel von Shindo redete. Auch Yongha hatte irgendwann genug gehabt und gemeint, er solle endlich nicht mehr von Shindo reden oder eben wieder nach Japan fliegen. Dabei war es ihm nicht so vorgekommen, als hätte er den anderen Pro so oft erwähnt.

Er nahm einen Schluck von dem Getränk. Entgegen seiner Erwartung schmeckte es ihm. Der junge Koreaner schien tatsächlich Ahnung zu haben von seinem Metier. Oder aber es war einfach leicht, ihm einen passenden Drink zu mixen, denn Shindo lag ja auch immer richtig mit seinen Bestellungen.

Da, schon wieder Shindo. Er seufzte. Es würde besser werden, wenn sie nicht mehr miteinander telefonierten.

~x~

Die Urlaubstage vergingen viel zu schnell. Er verbrachte die Tage im koreanischen Institut, traf andere koreanische Pros, verbesserte seine Sprachkenntnisse und ging abends meistens mit Yongha und Jian essen.

Erst nach einigen Tagen traf er Hong Suyong und nutzte die Gelegenheit für eine Partie.

Das koreanische Institut gefiel ihm gut. Nach kurzer Zeit kannten ihn die Pros und Insei bereits, wer Zeit hatte, spielte eine Partie mit ihm, und er lernte sogar zwei Titelträger kennen, die ihn zum Mittag einluden. Sie waren älter als Shindo und er, und sie waren nicht gut auf Yongha zu sprechen, der ihrer beider Titel anstrebte.

Die Zeit in Korea war so interessant, dass er es kaum glauben wollte, als er am Morgen des vorletzten Tages aufwachte. Shindo und er hatten tatsächlich seit seinem zweiten Tag nicht mehr telefoniert und er hatte fast gar nicht mehr an Shindo, Japan, Ayumi und all das Zurückgelassene gedacht.

An diesem Tag hatte sich Yongha extra freigenommen, damit sie zum ersten Mal etwas Sightseeing in Seoul machen konnten. Sie fingen mit Tempeln an, gefolgt von den fünf erhaltenen Palästen in der Stadt und flanierten schließlich durch das modernste Viertel, in dem Yongha ihm etwas zur aktuellen Architektur erklärte.

Sie waren fast den ganzen Tag unterwegs, erst als die Sonne sich bereits wieder senkte ließen sie sich für einen Kaffee in einem Coffeeshop nieder. Es war mittlerweile so kalt draußen, dass Touya seine Finger schon seit über einer Stunde nicht mehr spüren konnte. Yongha musste ihm den Kaffeebecher tragen, weil er seine Hand nicht dazu bringen konnte, danach zu greifen.

Nach einigen Minuten, in denen er die Finger um den Pappbecher geschlungen hatte, wurde ihm wieder warm und das Gefühl kam kribbelnd in seine Hände zurück.

"Morgen geht der Flieger", murmelte Yongha und wirkte fast etwas traurig. Er hatte die Zeit genossen, die er mit Touya verbracht hatte. Er schien keinen engen Freund in Korea zu haben, mit dem er sich häufig traf und gegen den er oft spielen konnte, so wie Shindo und Touya es in Japan taten. "Hat es dir hier gefallen?"

Er lächelte den Koreaner an. "Sehr sogar. Es gefällt mir fast besser als in Tokyo."

"Du kannst jederzeit wiederkommen."

"Ich glaube, das werde ich auch", erwiderte Touya. Er fühlte sich ein bisschen ausgelaugt und leer, aber auch glücklich. Er hatte so wenig an Japan gedacht, dass er auch fast vergessen hatte, dass sein Flieger schon am nächsten Tag gebucht war. Er könnte den Urlaub verlängern, dachte er bei sich. Aber nein, lieber käme er bald wieder.

Um sieben gingen sie gemeinsam mit Jian ins Theater, in dem ein Stück mit traditionellem Tanz vorgeführt wurde. Auch Jian war ihm ziemlich ans Herz gewachsen, mit ihrer ruhigen, etwas seltsamen Art, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn an diesem Abend war sie es, die darauf bestand, dass sie noch zusammen in eine Bar und dann ins Kino gingen.

Er war erst weit nach drei Uhr wieder im Hotel und entschied sich diesmal, dem Barkeeper, der ihn mittlerweile namentlich kannte, keinen Besuch abzustatten.

Auf seinem Zimmer streckte er sich in dem großen Bett aus, hatte aber das Gefühl, längst nicht schlafen zu können. Er war innerlich unruhig und fühlte sich schon seit einer Weile wieder leer und rastlos.

Er wusste, was das bedeutete, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Dieses Gefühl war angewachsen, seit er nicht mehr mit Shindo telefoniert hatte und seit er sich einredete, Japan nicht mehr zu brauchen.

Sein Herz zog sich unangenehm zusammen und erinnerte ihn daran, dass er sich zur Hälfte selbst belog. Er vermisste Japan nicht.

Aber er vermisste Shindo ganz fürchterlich.

Heimkehr

Sorry, Update etwas spät - dank des Übels namens Statistik-Klausur. What's done is done. Viel Spaß beim Lesen :)

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"There's a part in me you'll never know

The only thing I'll never show
 

Hopelessly I'll love you endlessly

Hopelessly I'll give you everything

But I won't give you up

I won't let you down

And I won't leave you falling

If the moment ever comes"

(Muse - Endlessly)
 

Am letzten Tag stand er erst spät auf. Das hatte er in diesem Urlaub noch gar nicht getan, außerdem fühlte er sich ausgelaugt vom Vorabend, und er hatte von Shindo und Ayumi geträumt. Während er noch gegen Mittag im Bett lag und die Decke anstarrte, dachte er an den japanischen Pro, der vermutlich noch schmollte, weil Touya die Anrufe untersagt hatte. Sein Mund war trocken, wenn er daran dachte, den anderen wiederzusehen. Es war ewig her, seit sie sich über einen so langen Zeitraum nicht gesehen hatten. Zehn Tage waren eine lange Zeit für sie.

Müde räkelte er sich auf dem Laken. Die Decke rutschte vom Bett und er begann zu frieren. Aufstehen schien nun unausweichlich. Mit einem Seufzen verließ er das Bett und ging sich duschen, bevor er einige Sachen – sein Vorrat sauberer Klamotten war beträchtlich geschrumpft – zusammensuchte und schließlich ohne Frühstück oder Mittag das Hotel verließ. Er wusste mittlerweile den Weg zum Institut und vor Ort traf er gleich einen der Titelträger, den koreanischen Jyudan, den er spontan zu einer Partie herausforderte. Der Koreaner hatte nur eine Stunde Zeit, willigte aber ein.

Nach der Partie traf er auf Hong Suyong, mit dem er in seinen Tagen in Korea nur wenige Worte, dafür aber viele Partien gewechselt hatte. Sie plauderten kurz und Touya stellte fest, dass sein koreanisch mittlerweile ausreichend gut für eine kaum stockende Konversation war, was ihn nicht wenig stolz machte. Die Sprache selbst gefiel ihm recht gut, er fand sie etwas einfacher als Mandarin. Vor fast acht Jahren hatte er begonnen, beide Sprachen zu lernen, um mit den ausländischen Konkurrenten im Hokuto-Pokal Floskeln austauschen zu können, und hatte seitdem nicht viele Gelegenheiten gehabt, die Kenntnisse aufzufrischen.

"Und, heute geht es zurück?" fragte Hong, nachdem er aufgegeben hatte. Langsam entwirrten sie die Formen auf dem Goban und lösten sie wieder in einzelne Steine auf. Touya mochte diese Tätigkeit, es war wie rein waschender Regen. Doch im Moment konnte es ihn nicht beruhigen. Er war seit dem Aufwachen angespannt und nervös und hatte die Vermutung, dass das an seiner baldigen Rückkehr lag.

"Der Flieger geht um neun", meinte er schließlich nach einer halben Ewigkeit zu Hong. Dieser sah ihn lächelnd an. Er wirkte ein bisschen wie Shindos Ex Yun, wenn er lächelte, aber ansonsten sah er ganz anders aus. Yun hatte weiche, gewellte Haare und wirkte immer sanft. Hong hingegen hatte ein markantes Gesicht entwickelt, das schnell seine Rundungen verloren hatte. Seine Haare waren glatt und nicht ganz so lang und seine Augen waren etwas heller als Yuns. Nein, besonders ähnlich sahen sie sich doch nicht.

"Geht es Shindo gut?" fragte Hong zögerlich. Anscheinend wollte er nicht allzu aufdringlich fragen, aber es schien ihn sehr zu interessieren. Touyas Hals wurde augenblicklich rau bei dem Gedanken an Shindo. Zehn Tage waren fast vorbei. Ob der andere sich verändert hatte? Ob er ihn auch vermisste? Wie oft er wohl hatte anrufen wollen? Touya hatte sich allabendlich dabei ertappt, mit dem Handy in der Hand zu überlegen, ob er Shindo nicht doch mal anrufen sollte. Ein weiterer Grund, warum er dem Barkeeper so häufige Besuche abgestattet hatte.

Er räusperte sich kurz, um Zeit zu schinden. Hong musste wirklich lange auf die Antworten warten, andererseits konnte Touya so tun, als fehlten ihm die koreanischen Worte. "Ihm geht es gut. Er hat seinen Titel verteidigt. Und ich habe ihm einen Hund geschenkt, aber das ist schon länger her."

"Oh, davon hatte er mir sogar erzählt. Wir telefonieren ab und zu. Selten."

"Hm", machte Touya. Er wollte nicht weiter über Shindo reden, sonst würde er vermutlich gleich zum Flughafen fahren und dort unruhig auf seinen Flug warten. Shindo wusste nicht, mit welchem Flieger Touya ankam, weil dieser nicht abgeholt werden wollte. Jetzt bereute er es ein bisschen, so stur gewesen zu sein.

Woran lag es nur, dass er plötzlich so sehnsüchtig war? Schrecklich, dachte er bei sich. Shindo war vermutlich kaum beeinflusst von Touyas Abwesenheit.

Yongha rettete ihn schließlich vor dem Thema Shindo, indem er sich zu ihnen gesellte und Hong etwas ärgerte. Offensichtlich liefen bald die Partien um einen der koreanischen Titel an und Yongha und Hong standen sich schon in der ersten Vorrunde gegenüber. Sobald die jüngeren Pros also ihre Qualifikationsspiele beendet hatten, würde ihre Partie angesetzt werden.

Hong ging nicht auf die Provokationen ein. Das war er noch nie, er hatte diese Seite an Yongha immer gekonnt ignoriert.

Touya verfolgte ihre kleine Auseinandersetzung und überlegte, ob Shindo sich diese Art von Yongha abgeguckt hatte.

Yonghas Sticheleien endeten erst, als jemand Unerwartetes durch die Drehtüren des Instituts eintrat: Jian war gekommen, um Touya zu verabschieden. Sie kam zu ihnen und begrüßte Hong halbherzig. Touya war schon aufgefallen, dass die beiden nicht allzu gut aufeinander zu sprechen waren.

Jian nahm seine Hände, das tat sie gern, denn sie sagte, dass Touya schöne Hände hatte und fing an, leise darüber zu reden, wie sie ihn vermissen würde, dass er sie unbedingt wieder besuchen musste und dass sie bereits an seinem Bild arbeitete. Er lächelte sie warm an und nahm sie schließlich in den Arm, wobei sie fast unter ihm verschwand.

"Danke. Ich komme ganz bestimmt wieder."

Eigentlich hatte er noch vier Stunden, aber sie sagte, sie wollte früh kommen, weil sie gleich an seinem Bild weitermalen wollte. So huschte sie auch nach kurzer Zeit wieder davon und Touya sah ihren blonden Locken hinterher.

"Schau sie nicht so an", murrte Yongha neben ihm und stieß ihm mit einem Knurren gegen den Oberarm. Dann zeigte er auf einen der Übungsräume, in denen Goban bereitstanden und nickte auch Hong zu. Zu dritt gingen sie zu den bereitstehenden Brettern und die beiden Koreaner setzten sich Touya gegenüber für eine letzte gemeinsame Partie.

~x~

Den Abschied hielt er so kurz wie möglich. Einige Insei und koreanische Pros kamen extra für ihn noch einmal ins Institut, um ihn zu verabschieden, dann ließ er sich von Yongha zum Flughafen bringen. Sie sagten ein paar knappe Worte, dann ging er ohne weiteres Aufhebens.

Er war viel zu früh vor Ort, was nicht unbedingt gut für seine Nervosität war. So hatte er sogar noch mehr Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Ungeduldig lief er vor dem Terminal auf und ab. Er war der einzige Passagier, der bisher dort war.

Zwei geschlagene Stunden verbrachte er damit, abwechselnd hin und her zu laufen, seine Hände zu kneten und sein Handy anzustarren. Noch konnte er Shindo anrufen und ihm seine tatsächliche Ankunft mitteilen. Aber was erhoffte er sich davon?

Schließlich war es soweit: er konnte endlich an Bord. Nicht, dass er sich danach so sehr gesehnt hatte, vielmehr sehnte er sich nach dem Moment, in dem er wieder heil japanischen Boden betrat. Fliegen war wirklich nicht sein Ding.

An Bord nahm er sich eine Handvoll Bonbons am Eingang und ignorierte den seltsamen Blick der Stewardess dabei. Kaum an seinem Platz angekommen öffnete er den ersten Bonbon und lutschte ihn mit geschlossenen Augen. Alles würde gut werden, sie würden schon nicht abstürzen.

Und was, wenn doch? Wo waren nochmal die Schwimmwesten? Würde er im Wasser nicht sowieso gleich erfrieren? Ob Shindo es ihm krumm nehmen würde, wenn er in einem Flugzeug starb?

Verdammte Gedanken, dachte er bei sich und steckte sich einen zweiten Bonbon in den Mund. Er versuchte, sich auf den Geschmack zu konzentrieren und darauf, nicht an seiner eigenen Spucke zu ersticken. Doch mit der Konzentration war es vorbei, als das Flugzeug langsam anrollte und sich der Pilot meldete. Als wollte Touya, dass dieser Typ eine Lautsprecheransage machte, der sollte sich lieber auf das Steuern des Fliegers beschränken.

Er hasste Fliegen einfach.

~x~

Sein Mund fühlte sich wund und zuckrig an und er hatte schon Zahnschmerzen von den vielen Bonbons. Seit zehn Minuten hatte er keine mehr essen können, die Stewardessen hatten ihn informiert, dass es an Bord keine mehr gab. Anscheinend hatte er sämtliche Vorräte gekillt. Wie hatte Shindo ihn sonst von seiner Flugangst abgelenkt? Tja, mit Go vermutlich. Aber er konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren, an Partien und Kifu zu denken.

Als sie schließlich auf dem Tokyoter Flughafen einrollten war er der Erste an der Tür. Erschöpft stolperte er die Gangway lang und war froh, als er endlich durch die Terminalhalle und zur Kofferausgabe lief, denn da war der Boden endlich wieder fest und unbeweglich. Seine zitternden Knie beruhigten sich und er versuchte, den eklig süßen Geschmack in seinem Mund zu verdrängen.

Während er auf seinen Koffer wartete, fühlte er sich langsam wieder besser.

Bis er eine unheimlich vertraute Stimme hörte.

"Papa, hierher!" rief jemand. Bevor Touya wirklich nachdenken konnte, oder er überhaupt verarbeiten konnte, wen er da hörte, hatte er sich schon umgedreht und starrte sie an. Und in diesem Moment – wie konnte es auch anders sein – merkte sie seinen Blick und sah ihn ebenfalls an.

Touyas Herz sackte ins Bodenlose und drohte, ihm körperlich wehzutun. Es schmerzte.

Ayumi sah ihn zögerlich an. Neben ihr stand ein junger Mann, der riesig auf Touya wirkte. Er hatte die Hand auf ihre Hüfte gelegt und winkte ihrem Vater zu. Ayumi löste sich langsam von ihm und kam auf Touya zu. Er wünschte, sie würde es nicht tun. Fast vier Monate hatte er sie jetzt nicht gesehen und hatte sich zur Genüge eingeredet, über sie hinweg zu sein, aber in diesem Moment wurde sein Hals kratzig und seine Augen brannten. Weil sie so schön war. Und weil es wehtat.

"Akira", sagte sie leise. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Sollte sie seine schütteln, ihn vielleicht sogar umarmen oder sich vor ihm verbeugen? Sie tat einfach nichts, genauso wie er. Er atmete tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

"Wie geht es dir?" fragte sie schließlich.

Wie sollte es ihm schon gehen? Der ganze Effekt seines Urlaubs war gerade zerschmettert worden.

"Gut." Schlecht. "Und dir?" Und wer ist dieser Typ da? Hast du dich schon über mich hinweg getröstet? War ich der Einzige, dem die Trennung so geschadet hat?

"Auch gut. Das da ist... Katsu. Er ist auch in der Firma meines Vaters." Und so, wie er bereits zu ihnen herübersah, war Touya schon klar, dass er sein Nachfolger war.

"Schön", murmelte er. Sein Koffer fuhr vorbei. Endlich. Er griff danach und zeigte mit dem Daumen gen Ausgang. "Ich muss dann auch."

"Ja... mach’s gut." Sie lächelte und er seufzte.

Er musste jetzt zu Shindo.

~x~

Im Taxi dachte er weiter nach. Ayumi war offensichtlich über ihn hinweg. Toll. Schön. Für sie.

Er wollte auch gerne weitermachen mit seinem Leben und er musste sich eingestehen, dass er in Korea nicht mehr jeden Tag an sie gedacht hatte. An Shindo schon, an Ayumi nicht mehr. Seine Heilung ging so schleppend voran und jetzt war sie gekommen und hatte die Wunde wieder ein Stück weit aufgebrochen. Es gab keinen anderen, an den er sich wenden konnte, nur Shindo.

Er wusste, was er jetzt wollte. Er wusste nur nicht, wie er Shindo darum bitten sollte. Er hatte ihm damals gesagt, er würde schon wissen, wenn es soweit war. Ob er es wirklich wissen würde?

Der Apartmentkomplex kam schneller in Sichtweite als er wollte, aber als er ankam, hatte er sich bereits entschieden. Er schlich die Treppen hoch, ließ den Koffer in seiner Wohnung zurück und ging dann zu Shindo nach oben. Vor der Wohnungstür blieb er stehen. Was, wenn Shindo schlief? Ob er es wirklich verstehen würde? Ob es okay war, wenn Touya ihn so benutzte? Aber er brauchte ihn gerade. Bei dem Gedanken an Ayumi begann sein Herz wieder, wie verrückt zu schmerzen.

Mit einer zittrigen Hand klopfte er. Er brauchte Shindo.

Die Wartezeit war viel zu kurz, um ihn in seiner Entscheidung sicherer werden zu lassen. Plötzlich standen sie sich gegenüber und er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wollte von Ayumi reden. Von Korea. Davon, wie er Shindo vermisst hatte, aber ihm fielen keine Worte mehr ein.

Shindo verstand. Er zog ihn am Jackenärmel zu sich in die Wohnung. Dann drückte er Touya gegen die sich schließende Tür, ihre Lippen trafen sich, Shindos sehnsüchtig und Touyas verzweifelt. Shindo schmeckte nach Tee und nach sich selbst und diese Mischung machte Touya so schwach, dass seine Knie wieder weich wurden. Der andere atmete zittrig aus und Touya ahnte, wie sehr er sich schon danach gesehnt hatte. Shindo seufzte in den Kuss und plötzlich war Touyas Kopf wie leergefegt.

Er hatte in seinem Leben nur zwei One-Night-Stands gehabt und nie war er wirklich euphorisch gewesen oder leidenschaftlich. Diese Frauen waren nichts Besonderes gewesen, nach einer Nacht hatte er sie schon vergessen. Aber das hier war Shindo. Der Mensch, den er seit Jahren in- und auswendig kannte, den er wie ein Buch lesen konnte, dessen Schwächen er ganz einfach akzeptieren konnte, als wäre es keine große Sache.

Shindo atmete bereits schwer, obwohl sie immer noch im Flur standen. Sie hatten sich einige Meter weiter in Richtung Wohnzimmer bewegt, bis sie wieder dazu übergegangen waren, den anderen blind und stumm zu küssen. Shindos Zunge strich ganz vorsichtig über seine Lippen, seine Zähne, spielte mit Touyas Zunge, was ihm ein weiteres Seufzen entrang. Ihrer beider Atem war heiß und unruhig, Touya bekam keine Luft, vielleicht, weil Shindo sich sehnsüchtig an ihn schmiegte, oder weil er der beste Küsser der Welt war.

Shindos Hände waren überall, sie fühlten sich an, als würden sie glühen und strichen immer wieder einen brennenden Pfad über Touyas Haut. Sein Hemd lag längst irgendwo zerknüllt am Boden, das Shirt, das er darunter getragen hatte, wurde ihm ihn einer flüssigen Bewegung von Shindo über den Kopf gezogen, bevor Shindos warme Lippen auf sein Kinn trafen und seinen Hals hinunter wanderten. Touya hatte die Augen geschlossen und versuchte, irgendwie zu atmen, während der andere eine Linie von Knutschflecken vom Hals zum Schlüsselbein zeichnete. Seine Brust hob und senkte sich wie unter Schluckauf und er zog Shindos Kopf an den Haaren zurück zu seinen Lippen.

Vor seinen Augen war jetzt schon alles weiß, während sie sich stöhnend küssten. Er stieß sich von der Wand ab und zog den anderen stolpernd mit in Richtung Wohnzimmer. Vielleicht rammte er die Tür, er merkte nichts. Er wollte nur zum Sofa und das hier vertiefen.

Shindo hielt ihn von hinten fest und biss in sein Ohrläppchen. Er spürte den Atem in seinem Ohr und sein ganzer Körper erschauderte. Scheiße, wenn das so weiterging war ihm egal, ob er ein Sofa oder den Boden unter sich hatte. Sogar die Wand war ihm recht.

Shindos Hände wanderten weiter nach unten, doch wieder löste sich Touya von ihm und versuchte, das Sofa zu erreichen. Shindo nahm seine Hand und zog ihn ins Schlafzimmer, zu seinem breiten, einladenden Bett. Shindo ließ sich rückwärts darauf fallen und zog ihn mit sich, ohne, dass ihre Lippen sich überhaupt trennten.

Touya schwebte in Shindos Geschmack, in seinem Geruch, war umfangen von seinen Berührungen. Er konnte nicht mehr denken, nicht mehr sehen; es gab nur sie beide. Fast reflexartig drängte er sich an den anderen, zerrte ihm das Shirt vom Leib, versuchte sich an Shindos Gürtel, der ihm in diesem Moment unüberwindbar vorkam. Shindo lachte heiser und half ihm. Das kurze, raue Lachen ließ ihn wieder erzittern.

Er wurde auf die weiche Decke gedrückt, konnte nichts anderes als gehorchen, während der andere küssend über seinen Oberkörper weiter nach unten wanderte. Während Shindos Zunge in seinen Bauchnabel tauchte, öffnete er Touyas Hose und zog sie ihm von den Beinen. Er rutschte wieder nach oben und leckte über Touyas Kiefer und Ohr, während seine Hand an Touyas Boxershorts beschäftigt war. Er keuchte auf und war nun endgültig Wachs in Shindos Händen. Sein Körper zuckte unkontrolliert und er stöhnte verzweifelt, als der andere die Hand in seinen Schritt gleiten ließ. Er vergrub die Nase in Shindos Haarschopf und krallte seine Finger in die Schultern des anderen. Shindo brauchte nicht lange, um ihn zum Höhepunkt zu treiben. Weiße Blitze zuckten vor seinen Augen, während er hilflos stöhnte und sein Gesicht an Shindos drückte, der ihm vorsichtige Küsse auftupfte.

Danach lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Shindo schien es nicht zu stören, dass er nicht auf seine Kosten gekommen war, im Gegenteil: er wirkte seltsam ruhig und zufrieden. Sein Arm lag unter Touyas Kopf, der zur Decke gerichtet und nun auch wieder mit Gedanken gefüllt war. Seit Touya hier angekommen war, hatten sie noch kein Wort geredet und er wusste nicht, was ihre ersten Worte sein sollten.

Shindo machte sich offensichtlich darüber keine Gedanken. "Ist etwas passiert in Korea?" fragte er und es klang besorgt.

Er überlegte, was er sagen könnte. Er wollte gern von allem erzählen, von den anderen Pros und den Insei und Yongha, Jian, Hong, den schrecklichen Flügen, seinem Hotel. Aber das alles war nicht der Grund gewesen, warum er hergekommen war. Naja, vielleicht ein bisschen, weil ihm klar geworden war, dass er Shindo so sehr vermisste, aber eigentlich war es wegen der Begegnung am Flughafen gewesen.

"Ich habe Ayumi am Flughafen gesehen", murmelte er. Seine Stimme klang seltsam fern und etwas belegt, obwohl er sich gerade nicht besonders schlecht oder traurig fühlte. Shindo drehte sich zu ihm und legte den anderen Arm um seinen Oberkörper. Seine Nase strich über Touyas Kiefer und fühlte sich angenehm warm an. "Ich glaube, sie hat schon einen Neuen." Shindo streichelte ihm in langsamen Zügen über die Schulter. Ob er bei Frauen auch immer so liebevoll gewesen war? Dann hatte Touya ihn vielleicht doch falsch eingeschätzt.

Ihm fiel plötzlich auf, dass er Shindos Hund gar nicht gesehen oder gehört hatte. "Wo ist Panda?" fragte er schläfrig. Es musste irgendwann nach Mitternacht sein.

Shindo kuschelte sich an ihn und er konnte das Lächeln beim sprechen heraushören. "Ich habe mit einer Hundeschule angefangen. Bleiben war das erste Kommando. Da hört er auch gut drauf, passt zu seiner Faulheit."

"Hundeschule?" fragte Touya skeptisch.

Der andere drückte ihm einen Kuss auf die Wange. "Irgendwie musste ich mich ja davon abhalten, das Handy anzustarren. Du hast es ja ganz herzlos durchgezogen, mich nicht mehr anzurufen."

"Oh, à propos." Touya richtete sich auf und war etwas orientierungslos. Seine Boxershorts hingen ihm irgendwo in den Kniekehlen und er zog sie hastig nach oben, bevor er zum Bettende kroch.

"Ich hatte nicht gedacht, dass du Boxershorts tragen würdest", murmelte Shindo grinsend. "Das ist viel zu jugendlich für dich."

"Du trägst doch auch welche", murrte Touya und wühlte in den Taschen seiner Hose, bis er eine kleine Platte hervorzog. Er rückte zurück zu Shindo und drückte sie ihm in die Hand. Der andere sah darauf, aber weil das einzige bisschen Licht im Zimmer aus dem Wohnzimmer hereinfiel erkannte er nicht viel.

"Was ist das?" fragte Shindo und drehte die Scheibe zwischen den Händen. Sie war etwa so groß wie sein Handteller, weiß und aus Keramik mit roten Zeichen darauf.

"Das ist eine Hochzeitseinladung", erwiderte Touya und streckte sich auf dem Rücken aus. Sein Bauch war klebrig von vorher, aber noch war er zu matt, um sich darum zu kümmern, auch wenn es ihm in den Fingern juckte. "Yonghas Verlobte hat sie gemacht. Sie ist Künstlerin."

"Hmm", erwiderte Shindo und sah die Einladung an. Touya betrachtete ihn verstohlen. Das eben war... naja, wozu sollte er sich belügen – es war phänomenal gewesen. Er hätte nicht gedacht, dass er mit Shindo so eine Art von Beziehung haben könnte, aber wie sie jetzt nebeneinander lagen wirkte es wie die normalste Sache der Welt.

"Wollen wir über das hier reden?" fragte Touya zögerlich. Er wollte die Sache gern klären bevor sie es noch einmal taten, denn das würden sie ganz sicher. Shindo drehte sich auf den Rücken und Touya sah sich endlich nach Taschentüchern um. In der Kommode neben dem Bett vermutete er welche, also schob er sich dahin. Er lag richtig.

Shindo beobachtete ihn stumm und schien nachzudenken. "Okay... rede."

Touya sah ihn an und verdrehte die Augen, nachdem er die Taschentücher über den Bettrand geworfen hatte. "Gut. Ich finde das hier –" Er wedelte mit der Hand zwischen ihnen herum. "– in Ordnung. Solange keiner verletzt wird."

"Soll heißen?"

"Solange keine Gefühle da sind. Wenn Liebe im Spiel ist, wird alles kompliziert, also läuft das hier nur so lange, wie keiner etwas Tieferes fühlt. Okay?"

"Hast du dir die Worte vorher überlegt?" fragte Shindo grinsend.

Touya zuckte mit den Schultern. "Ich habe mir vielleicht ein paar Gedanken gemacht."

Shindo lachte fröhlich auf und drückte ihm einen Kuss auf die Schulter. "Du bist echt zu verkrampft, Touya. Aber abgemacht."



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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  SchwarzflammeDethora
2017-06-05T19:04:38+00:00 05.06.2017 21:04
Hach, das war so schön. ^^
Die Story hat Tiefgang, wirklich super.
Selbst wer den Anime nicht kennt, sollte das lesen.
Touya und Shindo sind zwei Trottel, aber niedlich zueinander.
Würde gerne weiter lesen.

Gruß
Von:  Khyre
2014-03-04T18:13:19+00:00 04.03.2014 19:13
Wow, ein langer Weg bis hier her! Erstmal Kompliment für den Akt. Wunderschön, besonders die "Küsse auftupfen". Ich bin begeistert -^^-
Die Beziehung Touya Shindou hast du also so gelöst. Als Shindou ihn geküsst hat, saß ich auch einfach nur da und dachte: "Aha?"
Insgesamt bleibe ich bei dem, was ich gesagt habe. Noch mehr klare Linie und vor allem straffer müsste es sein. Sonst schön. Vielleicht überarbeitest du die Geschichte irgendwann einmal?
Mir hat es großen Spaß gemacht, sie zu lesen. An manchen Stellen bin ich gesprungen, weil manche Teile zwar in die Handlung gepasst haben, aber nicht unbedingt relevant waren. Das meine ich mit "man müsste sie straffen". Ich habe auch nicht geschaut, ob du seitdem noch Geschichten geschrieben hast, aber wenn ja, bin ich mir sicher, dass du auch noch besser geworden bist.
Mir gefällt dein Stil.
Was kann ich sonst noch sagen? Ich schreibe auch selbst und bin auf deine Geschichte gestoßen, weil mir der Anime vor ein paar Wochen empfohlen wurde und ich selbst versuche habe, eine Fanfic dazu zu schreiben. :) Ich finde, Fanfics sind mindestens genauso schwierig zu schreiben, wie eine frei erfundene Geschichte. Ich habe ziemlich besonders bei Touya viel mit mir gerungen, weil ich ihn realistisch darstellen wollte und zugleich eine gute Geschichte schreiben.
Was ich besonders interessant fand, war unsere unterschiedliche Auslegung von Touyas Anzügen. Bei dir ist es als Hauptgrund der schleuchte Kleidergeschmack, bei mir ist es eher ein Teil seines Charakters. Ich dachte mir, dass Touya gerne "zugeknöpft" herum läuft, weil das Körperliche ihm fremd oder peinlich ist.
Im Lesen bin ich vermutlich genauer als im Schreiben, zumal das Schreiben viel schwieirger ist, als eine Korrektur. Wenn du möchtest, kannst du mal lesen, was ich so fabriziert habe und selbst kommentieren. Die Story ist noch nicht sehr fortgeschritten und das ganze ist mehr so ein spontanes Projekt geworden. In erster Linie ist es ein Experiment, weil ich sonst sehr selten Fanfics schreibe. Aber es macht Spaß^^
So, genug gelabert. Ich hoffe, meine Anmerkungen helfen dir,
liebe Grüße,
Khyre
Von:  Khyre
2014-03-04T17:02:25+00:00 04.03.2014 18:02
Also als Zwischenbilanz (ich weiß, dass die Geschichte etwas älter ist):
Sehr schön geschrieben, die Charas sind auch glaubwürdig und die Handlungen sind sinnvoll verknüpft. Ich finde es toll, wie du die Umwelt und die Menschen darstellst. Man kann sich die Szenen sehr gut vorstellen.
Aber was fehlt ist die Spannung, der große Höhepunkt, das Ziel, die Unsicherheit, ob nicht doch etwas unerwartetes passieren wird - kurz, der große Bogen.
Wenn es so weiter geht, ist es eine "nette Geschichte", aber nicht mehr. Alltag, der dahin blättert.

Was ist mit dem göttlichen Zug?
Er kommt in deiner Beschreibung vor, wird aber über die vielen Kapitel hinweg nicht mehr thematisiert.

Was ist mit der Spannung zwischen Shindou und Touya? Du beschreibst ihre Beziehung glaubwürdig und lebendig, aber mit der Zeit geht immer mehr von der anfänglichen Reibung verloren. Man bekommt das Gefühl, dass beide eben irgendwann Erwachsene werden, die ein zufriedenes und vergleichsweise bürgerliches Leben führen werden. Dabei ist Shindou ein Junge, der quasi von einem Go-Gott ausgebildet wurde und Touya sein spannungsgeladenes Gegenstück. Sie müssten nicht nur einfache Freunde sein, da steckt mehr drin.

Ayumi. Eine wunderschöne Person, nahezu perfekt. Aber was für eine Funktion hat sie noch? Perfekte Charaktere sind am Anfang toll, aber auf Dauer langweilig. Wo ist der Haken an den Beziehung zwischen Touya und ihr? Sie streiten sich, vertragen sich dann aber wieder wie Intellektuelle, vernünftige, erwachsene es eben tun und wachsen nicht aus dem Streit. Am Anfang hat sie eine Wirkung auf Touya, später ist sie nur noch sein Engel, der ihn im Gegenteil sogar davon abbringt, ernsthaft Go zu spielen (gedanklich meine ich). Romane bieten eine Chance, Charaktere Dinge tun zu lassen, die wie Magie viel größere Wirkung im jeweilgen Leben des anderen haben.

Der kleine Junge. Über ihn kann ich noch nicht viel sagen, aber auch er wirkt "entschuldigt". Seine Geschichte hat sich bis vor zwei Kapiteln noch als parallelen Spannungsbogen fortgesetzt und seine Verfolgung war spannend. Nun stellt sich heraus, dass er nur einen Vergeltungsschlag ausgeübt hat und ein neues Talent wird. Damit verliert er wieder an Tiefe.
Als Leser habe ich mich gefragt, ob er mit Ayumi in Verbindung steht. Oder dass er vielleicht ein alter Nachfahre von Sai ist. Er hätte alles Mögliche sein können, aber letztlich ist er nur ein talentierter kleiner Junge.

Shindou. mir gefällt seine rastlose Art. Die wird im Anime schon angedeutet und man kann sich gut vorstellen, wie er von einer Beziehung zur nächsten wandert. Aber warum? Meist stecken hinter einem solchen Verhalten ungeahnte Sehnsüchte. Aber dafür gibt es keine Andeutungen und letztlich verliert sich dieser schwierige Charakter mit der langen Zeit, die es hier braucht, um seine Geschichte zu erzählen. Die erste Erfahrung mit diesem Koreaner hätten ihn noch mehr aufwühlen können. Der Koreaner könnte noch präsenter sein. Welche Rolle spielt Touya hier? Ich sage nicht, dass er und Shindou unbedingt ein Paar werden müssen, aber Touya ist immerhin ein Mann und omnipräsent in Shindous Leben. Shindou meinte zwar, dass er Touya als "geschlechtslos" ansieht. Andererseits ist er auch ein neugieriger Charater, der gerne herum experimentiert. Warum sich nicht noch ein paar weitere Gedanken zu Touya machen?

Der Zeitbogen. Eine Geschichte sieben Jahre später anzusetzen fand ich von vorne herein kritisch. Zumindest ein bisschen etwas sollte in dieser Zeit zwischen Touya und Shindou passiert sein.

Was ich jetzt alles angeführt habe sind einfach Dinge, die mir aufgefallen sind. Die Geschichte ist immer noch gut! Ich hoffe, dass sie dir weiter helfen (falls du sie dir einmal durchliest ^^')
Ich habe schon einige Geschichten lektoriert und war von deiner von Anfang an ziemlich begeistert. Die Geschichte pausiert schon seit Jahren, aber ich finde, in dir steckt Potential als Autorin. Weiter so :)
Ich würde mich freuen, wenn du meine Anmerkungen aufmerksam durchliest.
Liebe Grüße,
Khyre


Von:  Khyre
2014-03-04T16:17:46+00:00 04.03.2014 17:17
Schön, auch wenn der Fluss der Geschichte mir langsamer vorkommmt. Übrigens ist das, was du sagen willst, nicht "geschockt", sondern "schockiert".
Sonst sehr schön -^^-
Von:  Khyre
2014-03-04T15:38:17+00:00 04.03.2014 16:38
"[...]Und drittens: Irgendwie habe ich ihn immer als geschlechtsloses Überwesen betrachtet. Also nein." ^^b
Von:  Khyre
2014-03-04T14:53:58+00:00 04.03.2014 15:53
Oh, oh! Bin ja gespannt, was Touya aus der Situation macht.
Was ich noch sagen wollte: Auch das ganze Umfeld ist sehr gut gelungen! *___*
Bin total begeistert!
Von:  Khyre
2014-03-04T14:37:35+00:00 04.03.2014 15:37
Auch hier wieder: Sehr unterhaltsam! Ich liebe die kleinen verbalen Matches zwischen Touya und Shindou -^^-
Von:  Khyre
2014-03-04T14:19:51+00:00 04.03.2014 15:19
Wow, die Charas klingen überzeugend und das Kapitel ist sehr unterhaltsam geschrieben.
Ich freue mich schon auf die weiteren :)

Von:  Rebi-chan
2011-03-03T00:26:01+00:00 03.03.2011 01:26
*blinkblink* Keine Gefühle?
*hust*
Aber sonst gehts dem noch gut, oder wie? O.o *leicht aufreg*
Aki hats immer noch net begriffen *sigh*
Aber schönes Kapitelchen *o*
Darf ruhig mehr davon geben! xD
Mal gucken, wie lange die beiden das Spielchen treiben x3
Und irgendwie... ne, zu Ayumi verkneif ich mir jetzt nen Kommentar XD

Freu mich schon auf die Fortsetzung <3

LG Rebi-chan
Von:  Rebi-chan
2011-02-26T14:48:45+00:00 26.02.2011 15:48
*Hika zusammenfalt und in Akis Tasche steck*
Jetzt vermisst er ihn auch noch... Na wenn das nix wird, dann will ich nimmer Rebi heißen XDD

Hm, also wenn ich mich da an meinen Flug von Osaka rüber nach Seoul erinnere... Meiner war nich so schlimm XD Ich weiß nicht, was Aki eigentlich hat XD Flugangst? xDD Oder einfach nur ne Klapperkiste erwischt? o.o

Aber ein sehr schönes Kapitel ^^ Auch wenn ich eher gedacht hätte, dass Jian ihn an Ayumi erinnern würde und er dadurch wieder depressiv wird... Aber ging ja gut. Gott sei Dank XD

Freue mich schon auf das nächste Kapitelchen *o*

LG Rebi-chan ^.^


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