Revoco? von Caro-kun ================================================================================ Kapitel 1: Worms 1521 --------------------- Hellwach und stocksteif lag Lisa in ihrem Bett und starrte an die Decke. Lauschte ängstlich. Da! Schon wieder! Gedämpft drangen Schreie durch die Tür in das Zimmer des Johanniterhofes. Was war das nur? Ein Mensch? Oder doch etwas ganz anderes? Und wie konnte Vater dabei nur schlafen? Das kleine Mädchen drehte den Kopf, um einen prüfenden Blick auf den Mann zu werfen, der in dem Bett an der gegenüberliegenden Seite lag. Nein, es sah nicht so aus, als würde er aufwachen. Und ihn wecken, das traute sie sich nicht. Seit gestern waren sie hier in Worms. Es sei der Reichstag, hatte Vater ihr erklärt. Staunend hatte Lisa auf seinen Schultern gesessen und ihren Blick über die vielen Menschen, Stände und andere Attraktionen schweifen lassen. Sogar ein paar Soldaten hatte sie in der Menge ausmachen können. Für ihren Vater schien allerdings nur ein Ereignis wirklich interessant zu sein: Der Prozess um Martin Luther! Seit Tagen redete er von nichts anderem mehr, und dass Luther vor dem Kaiser niemals klein bei geben und seine Schriften widerrufen würde! Da ihre Mutter bereits tot war und sich zu Hause somit niemand um das kleine Mädchen kümmern konnte, war ihrem Vater gar nichts anderes übriggeblieben, als sie mitzunehmen. Lisa hatte das alles unheimlich spannend gefunden, nur leider waren in dem Gerichtssaal Kinder nicht zugelassen und Vater hatte ihr auch nicht erlaubt, während seiner Abwesenheit das Gasthaus zu verlassen, da es draußen auf dem Markt viel zu gefährlich für sie wäre. So war die anfängliche Freude schnell in Missmut umgeschlagen. Jedoch hatte sie ihren Vater an diesem Tag schneller wiedergesehen, als sie erwartet hätte: Man habe Luther einen Tag Bedenkzeit gewährt, hatte er berichtet. Die endgültige Entscheidung würde erst morgen fallen. Lisa wurde in ihren Gedanken jäh unterbrochen, da wieder diese unheimlichen Laute zu hören waren. Ein qualvolles Schreien und Flehen. Oder etwa jemand, der sehr verzweifelt betete? Genauere Worte, die ihr Aufschluss darüber gegeben hätten, konnte sie nicht verstehen. Das Mädchen mit den blonden Locken setzte sich auf. Sollte sie nachsehen? Auch wenn sie Angst hatte? Aber schlafen würde sie so oder so nicht können, erst Recht nicht, wenn sie weiterhin im Unklaren darüber blieb, was los war. Also hielt sie für einen kurzen Moment die Luft an und schluckte. Dann erst schwang sie ihre Beine aus dem Bett. Barfuß und im Nachthemd schlich sie sich aus dem Zimmer. Nun konnte sie die Stimme etwas deutlicher hören. Lisa folgte ihr vorsichtig und brauchte tatsächlich nur ein paar Schritte gehen, ehe sie vor einer der vielen Holztüren zum Stehen kam und den Mann im Inneren ganz klar verstehen konnte. „Hinfort mit dir, Teufel!“, schrie er gerade, dann gab es ein Geräusch, als würde Ton an der Wand zerschellen. Die Kleine zuckte zusammen. Da stritt jemand mit dem Satan! Allerdings kam sie nicht dazu, sich weitere Gedanken darüber zu machen, denn plötzlich konnte sie Schritte hören. Jemand kam den Gang entlang, direkt auf sie zu. Fieberhaft suchte Lisa nach einem Ort, an dem sie sich verstecken könnte. Zu ihrem Zimmer zurück würde sie es nicht schaffen! Da fiel dem Mädchen die große Truhe, neben sich, ins Auge. In ihr wurden Bettlaken und Decken aufbewahrt. Ohne groß zu überlegen, kletterte Lisa hinein. Bis auf einen winzigen Spalt schloss sie den Deckel. Das Erste, was sie nun sehen konnte, war ein Schatten, der sich langsam an der weißen Wand entlang schob und diesem Schatten folgte ein Mann. Er war schlank und unter der dunklen Samtkappe, die er trug, kamen braune, halblange Locken zum Vorschein. Das Mondlicht brachte die Falten seiner schwarzen Seidenrobe zum Schillern und der ernste Ausdruck auf seinem, noch recht jungen Gesicht, ließen ihn so würdevoll wirken, dass Lisa unwillkürlich die Luft anhielt. Noch nie hatte sie einen so edlen Herrn aus der Nähe gesehen. Das war ganz bestimmt ein Fürst! Oder ein Bischof! Oder jemand von noch höherem Stand! Er war jetzt vor der Tür stehen geblieben, hinter der bis vor wenigen Momenten, noch die Männerstimme zu hören gewesen war. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lehnte er sich schon fast beinahe an das Holz und lauschte konzentriert. Was eigentlich überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, denn die Worte, die in wenigen Sekunden erneut einsetzten, konnte sogar das kleine Mädchen noch klar und deutlich verstehen: „Ich spüre deinen fauligen Atem im Nacken. Du willst mich stumm sehen! Zitternd! Zitternd, wie ein Tier vor der Schlachtbank!“, die Stimme wurde lauter, immer verzweifelter, „Ich weiß was du jetzt denkst, Satan: Wo ist dein Glaube jetzt? Und wo deine Großsprecherei? Deine Großsprecherei~“, er brach ab, schreiend. Dann gab es einen dumpfen Schlag und alles war ruhig. Lisas Herz raste, aber auch die Augen des jungen Mannes vor der Tür weiteten sich kurz erschrocken und seine Hand schnellte alarmierend zu der Eisenklinke! Was war da drin geschehen? War der Insasse irgendwo aufgeschlagen und brauchte Hilfe? Dann aber, war seine Stimme wieder zu hören, diesmal jedoch so leise, dass die Kleine wirklich Mühe hatte sie zu verstehen: „Christus … ich bin dein … Erlöse mich!“ Also hatte er doch gebetet, überlegte das Mädchen. Gebetet um den Kampf gegen den Teufel zu bestehen. Mit einem Mal drückte der Herr in den Seidengewändern die Klinke nach unten und öffnete die Tür. So weit, dass Lisa einen guten Blick ins Innere der Kammer hatte. Dort lag ein Mann, in einer dunklen Kutte, mit seitlich von sich gestreckten Armen auf dem Boden. Ein Mönch. „Ich hätte ja nicht damit gerechnet, dass gerade Ihr Euch vor mir niederwerft, Bruder Martin!“, der andere lächelte spöttisch. Jetzt erst hob der Mönch den Kopf von den Holzdielen. „Girolamo Aleander!“, flüsterte er fassungslos. Scheinbar war das der Name seines Gegenübers, wie Lisa daraus schloss. Der Gedanke war in ihrem Kopf noch gar nicht richtig beendet gewesen, da hatte sich Bruder Martin auch schon blitzschnell aufgerappelt und eine leichte Verbeugung angedeutet: „Euer Exzellenz!“ Exzellenz also. Standen Exzellenzen höher als Fürsten oder Bischöfe? Die Kleine wusste es nicht. „Weshalb seid Ihr hier?“, fragte der Mönch weiter nach. Aleander schnaubte daraufhin nur unwillig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Als ob Ihr Euch das nicht denken könntet, Martin Luther!“ Bei dem Namen horchte Lisa schlagartig auf. Das war Martin Luther? Der, der hier in Worms – wie hatte Vater das noch mal erklärt – vor dem Kaiser die Bücher, die er geschrieben hatte, widerrufen sollte? Doch warum eigentlich? Waren die etwa so falsch? Aleander sprach weiter: „Es ist ja nicht so, als wenn wir diese Diskussion nicht schon einmal gehabt hätten!“ „Ihr wollt, dass ich widerrufe!“, sagte Martin zwar leise, aber keineswegs ängstlich. „Ganz recht!“ Kaum merklich schüttelte der Mönch daraufhin den Kopf. Nur sehr kurz verzogen sich die Mundwinkel seines Gegenüber zu einem ungläubigen Lachen: „Wieso nicht? Erklärt es mir! Ich verstehe es nicht! Wenn Ihr nicht widerruft, wird man Euch töten!“ „Ja, aber wenn ich widerrufen, ist alles für das ich bis jetzt gekämpft habe auf ewig verloren!“, Luthers Augen sprühten mit einem Mal Funken. „Das ist es doch so oder so!“, fauchte Aleander, „Wer, meint Ihr hält uns noch auf, wenn Ihr nicht mehr da seid? Dieses Problem lässt sich nur aus der Welt schaffen, in dem man die Wurzel des Übels packt und sie ausreißt. Und das seid Ihr!“, drohend zeigte er mit dem Finger auf Martin, sprach dann aber in einem ruhigen, eiskalten Tonfall weiter, „Sobald Ihr erst einmal verbrannt seid, wird es ganz leicht die Menschen wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Glaubt mir!“ Nachdenklich sah Luther ihn an. „Ich hatte anfangs geglaubt, Ihr wärt ein Mann, der mit ganzem Herzen Christus nachfolgt, Aleander!“, sagte er schließlich, „Aber jetzt? Jetzt sehe ich in Euch einen Tyrannen, der es als einziges Ziel sieht das Evangelium zu zerstören!“ Lisa war sich nicht sicher, aber sie meinte zu erkennen, wie nach diesem Vorwurf sämtliche Farbe aus Girolamos Gesicht wich und er fassungslos nach Luft schnappte: „Das ist nicht wahr!“ Im Bruchteil einer Sekunde hatte er den Mönch am Kragen seiner Kutte gepackt, während das Mädchen noch glaubte, er würde ihm mit bloßen Händen an die Kehle springen. „Das ist nicht wahr!“, schrie er, „Nehmt es zurück! Sofort!“ Doch Martin schwieg. Mit einem wütenden Knurren stieß Aleander ihn zur Seite, wirbelte dann herum und schickte sich an zu gehen. Blitzschnell verschloss Lisa nun den Deckel der Truhe. Zusammengekauert lauschte sie mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit. Sie konnte keine Schritte mehr hören. War er vorbeigegangen, ohne sie entdeckt zu haben? Plötzlich fiel silbriges Mondlicht in ihr Versteck. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte die Kleine zusammen! Da stand der Mann in der schwarzen Seidenrobe, hatte den Deckel geöffnet und starrte mit eisigem Blick auf sie herab. Bevor Lisa auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, hatten Aleanders lange Finger auch schon mühelos ihren Oberarm umschlossen. Grob zerrte er sie aus der Truhe, so dass sie sich die Zehen an dem harten Holzrand stieß. Lisa wollte schreien, ihm sagen, dass er ihr weh tat, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Noch viel zu tief saß der Schreck. Ohne sie loszulassen oder den Griff zu lockern, kam er ihr mit seinem Gesicht immer näher. „Soweit ich weiß, gehören Kinder um diese Zeit ins Bett!“, zischte er. „Kein Tyrann also, ja?“, Martin war mit verschränkten Armen hinter ihn getreten, „Dann lasst Eure Wut nicht an dem Mädchen aus! Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun!“ Von einer Sekunde auf die andere gab Aleander ihren Arm frei und zog dabei schon fast provozierend eine Augenbraue nach oben, dann wandte er sich ab. Lisa blickte Luther ins Gesicht, wollte ihm eigentlich danken, doch der sah Girolamo Aleander nur wie in Trance hinterher. „Ich werde nicht widerrufen!“, murmelte er, „Niemals!“ ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)