Liebe deinen Feind von Imp ================================================================================ Erkenntnis ---------- Hastig stopfte sich Uri den nächsten Bissen in den Mund und schluckte ihn fast im Ganzen herunter, nur um sich gleich darauf ein weiteres riesiges Stück Fleisch in den Mund zu stopfen. Der Junge hatte es schrecklich eilig und wollte so schnell wie möglich vom Tisch aufstehen, doch der Teller leerte sich einfach nicht. Die anderen Waisenkinder amüsierten sich schon seit einer Weile über seine Hektik und kicherten leise, als Uri sich verschluckte und husten musste. Gewöhnlich war er der Erste, der sich an den Tisch setzte, und der Letzte, der wieder aufstand. Die Kinder schlossen Wetten ab, ob er in seiner Hast den Teller mitessen würde, und feuerten ihn begeistert an, obwohl der Junge den Trubel um sich herum überhaupt nicht wahrnahm. Eine gefühlte Ewigkeit später wurde endlich der Tellerboden sichtbar und Uri sprang mit dem letzten Stück Brot in der Hand auf. ohne auf die missbilligenden Blicke der Nonnen zu achten, stürmte er aus dem Speiseraum. Er rief der Köchin noch im Vorbeirennen seinen Dank zu, dann war er aus dem Raum verschwunden und hastete die Gänge entlang. In der Eingangshalle des Waisenhauses angekommen steuerte er zielstrebig auf die schwere Tür zu und bemerkte erst im letzten Augenblick den gebrechlichen Hausverwalter, der den Weg mit seiner Leiter versperrte. Unruhig hüpfte Uri von einem Bein aufs andere. Ihm war bewusst, dass Chiron auch noch da sein würde, wenn er ein paar Minuten später kam, dennoch zerrte jede Verzögerungen an seinen Nerven. Er hatte Chiron und Senna in den letzten Jahren immer wieder neugierige Fragen zu ihrer Vergangenheit gestellt, aber die beiden wimmelten ihn stets ab oder wechselten geschickt das Thema, -und jetzt, wo er endlich die Chance bekam seine Neugierde zu befriedigen, stellte ihm das Schicksal eine klapprige Leiter in den Weg! Uri stand kurz davor umzudrehen und sich ein Fenster zu suchen, aus dem er klettern konnte, als der Hausverwalter unvermittelt die Sprossen herabstieg und mühselig die Leiter verrückte. Schnell packte der Junge einen Tritt und half beim Umsetzen, ohne das dankbare Lächeln des Mannes überhaupt zu bemerken. Nachdem der Hausverwalter seine Last abgesetzt hatte, streckte er gutmütig eine Hand aus, um Uri auf die Schulter zu klopfen. Aber noch bevor er den Jungen erreichen konnte, war dieser aus der Tür gesprungen und ließ den alten Mann verwirrt zurück. Keuchend kam Uri vor dem Haus seiner Freunde zum Stehen und stützte sich erst mal erschöpft auf den Knien ab, um seine unregelmäßige Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Einige Augenblicke später hatte er sich soweit beruhigt, dass er sich wieder aufrichten konnte. Sein ganzer Körper kribbelte vor Vorfreude, als er die Tür öffnete und eintrat. Zielstrebig ging er zur Küche und suchte nach Chiron. Doch verwundert musste er feststellen, dass außer ihm niemand da war. Gerade als er in dem kleinen Gemüsegarten nach seinen Freunden suchen wollte, kam ihm Senna freundlich lächelnd entgegen. „Na, das ging aber schnell“, meinte sie amüsiert und stellte einen Eimer Wasser in die Spüle. „Chiron ist noch nicht wieder da. Der Sattler kam vorhin vorbei und bat ihn um Hilfe. Ich fürchte, du wirst dich also noch etwas gedulden müssen.“ Bestürzt ließ Uri die Schultern hängen und machte ein trauriges Gesicht. Er hatte sich so beeilt und jetzt würde er doch warten müssen. Frustriert ließ er sich auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf auf die Hände. Ein leises Lachen erklang und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Senna. Sie hielt die tropfende Spülbürste in der Hand und sah ihn an. „Lass den Kopf nicht hängen, ich mache dir einen Vorschlag: Ich spüle das Geschirr schnell fertig, dann erzähle ich dir, wie es weiter geht. Schließlich ist es auch meine Geschichte.“ Sofort hellte sich Uris Gesicht wieder auf und er nickte erfreut. Er bemühte sich, auf seinem Stuhl nicht vor Aufregung auf und ab zu hüpfen und konzentrierte sich stattdessen auf Senna. Während er die Frau bei ihren routinierten Bewegungen beobachtete, bemerkte er zu seiner Verwunderung plötzlich eine völlig neue Seite an ihr. Er hatte schon immer Sennas Anmut und Geschicklichkeit bewundert, aber erst jetzt erkannte er die Aura von Stärke, die die Frau umgab. Ihm fiel auf, dass ihre schlanken Arme nicht einfach nur dünn, sondern gut trainiert waren. Ihr Gang wirkte auf einmal nicht mehr nur tänzelnd, sondern zeigte deutlich den federnden Schritt von Kämpfern. Verwundert schüttelte Uri den Kopf. Wie hatte er diese Hinweise bloß so lange übersehen können? Nachdenklich lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass Senna sich zu ihm gesellte. Endlich legte Sie den letzten Becher beiseite und trug den Eimer mit Spülwasser nach draußen. Als sie zurückkam, trocknete sie sich die zarten Hände an einem groben Tuch ab und setzte sich Uri gegenüber an den Tisch. Sie bedachte Uris Ungeduld mit einem flüchtigen Lächeln, dann ließ sie ihren Blick aus dem Fenster schweifen und suchte nach dem passenden Anfang. „Meine Eltern kamen bei einem Überfall der Ausgestoßenen ums Leben.“, begann Senna schließlich. „Damals herrschte eine Dürre und ein erbitterter Kampf um Nahrungsmittel war in der Region entbrannt. Ich gehörte zu den wenigen Glücklichen, die nicht nur die Angriffe überlebten, sondern auch ein neues Heim finden konnten.“, sie stockte kurz und strich sich mit einer Hand durch das Haar ehe sie fortfuhr. „Priester des Mitternachtsordens durchsuchten die Ruinen der zerstörten Dörfer nach Überlebenden und fanden mich in den Überresten unseres Hauses. Ich war noch ein kleines Kind, kaum aus dem Krabbelalter heraus und letztendlich nur ein hungriges Maul das gestopft werden musste. Dessen ungeachtet haben sie mich selbstlos aufgenommen und großgezogen.“ Senna brach erneut ab und schwelgte lächelnd in Erinnerungen. „Mir wurde die gleiche Ausbildung zuteil wie den anderen Novizen. Du musst wissen, dass der Mitternachtsorden sich nicht aufs Kämpfen beschränkt. Wir sind Friedenswächter und obwohl wir niemals direkt in die Staatsführung eingreifen, stehen wir den Herrschern als Ratgeber und Diplomaten zur Verfügung. Unsere Ausbildung beschränkt sich die ersten zehn Lebensjahre auf das aneignen von Wissen. Wir lernen lesen und schreiben, machen uns mit der Geschichte und der Politik der einzelnen Länder und Grafschaften vertraut. Erst dann beginnt das körperliche Training, wobei wir aber unser Studium auch weiterhin fortsetzen.“ Skeptisch hob Uri die Augenbrauen. „Klingt nicht so, als ob du viel Zeit zum Spielen gehabt hast.“ „Das kann man wohl sagen“, meinte Senna amüsiert, „aber Disziplin und Aufopferungsbereitschaft wurden uns früh antrainiert. Mein Leben beim Orden bestand aus Lernen und Trainieren, trotzdem war es erfüllt. Alle Priester und Novizen bildeten eine Gemeinschaft, wir lebten und arbeiteten gemeinsam, wie eine Familie.“ Grübelnd legte Uri seinen Kopf auf die Arme. „Ich glaube, ich hätte mich ziemlich gelangweilt. Politik und Lesen, das ist nicht besonders aufregend.“ Leise lachte Senna auf. „Es waren andere Zeiten damals. Die Ausgestoßenen waren viel zahlreicher und aggressiver als sie es heute sind und die Grenzkonflikte zu den anderen Ländern erreichten ihren Höhepunkt. Es verging kaum eine Woche, in der nicht jemand überfallen oder ein Dorf ausgeräuchert wurde. Die Menschen lebten in Angst und Schrecken. Unser Orden hatte alle Hände voll zu tun, die Menschen zu beruhigen, Verwundete zu versorgen und diplomatische Missionen zu erfüllen. Glaub mir, ich war stets dankbar, wenn ich Gelegenheit fand, mich auf mein Studium zu konzentrieren.“ Uri schüttelte verwundert den Kopf. Die Reisenden, die durch das Dorf kamen berichteten immer wieder von schrecklichen Überfällen, aber er selbst war nie mit solcher Gewalt in Berührung gekommen. Solange er zurückdenken konnte, hatte er von großen Schlachten und heroischen Taten geträumt. Allerdings war ihm nie wirklich in den Sinn gekommen, welche Grausamkeiten damit verbunden waren. „Chiron hat dir bislang nur von unserer ersten Begegnung erzählt, oder?“ Sennas Frage riss Uri aus seinen Gedanken und ein Moment verging, ehe der Junge stumm nickte. „Gut dann sollte ich dort ansetzen, aber vorher musst du noch verstehen, wie ich Chiron damals erlebte.“ Ein ernster Ausdruck erschien auf Sennas schönem Gesicht. Sie sammelte sich kurz und begann zu erzählen. „Der Mitternachtsorden wurde seit jeher von Männern dominiert. Es gab nur wenige Frauen, die sich den Lehren anschlossen, auch wenn diese den gleichen Respekt erfuhren wie die Männer. Ich hatte als Novizin einen schweren Stand zwischen den ganzen Knaben und Männern, oder zumindest habe ich es mir eingebildet. Ich war stets bemüht, meinem Meister zu beweisen, dass ich ebenso geschickt und stark war wie die anderen Novizen. Mein Ehrgeiz und mein Stolz trieben mich zu Höchstleistungen, aber gleichzeitig stellten sie meine größte Schwäche dar. Ich stürzte mich immer wieder in prekäre Situationen und verdanke es nur dem Glück, dass ich diese überlebt habe. Der Kampf mit Chiron war so eine Situation.“ Senna unterbrach kurz, damit sie einen Schluck Wasser trinken konnte. Uri nutze die Gelegenheit, um fassungslos eine Frage zu stellen. „Ihr habt wirklich ernsthaft gekämpft? Ihr wolltet euch tatsächlich töten?“ Sennas Mund verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln. „Ja, wir waren erbitterte Feinde, aber es verhielt sich mit unserer Feindschaft, wie es sich mit vielen Dingen verhält. Es ist nicht immer alles so wie es erscheint.“ Die geheimnisvolle Antwort befriedigte Uris Neugierde nicht sonderlich und der Junge zog wieder fragend die Augenbrauen hoch. „Als mir klar wurde, WAS Chiron war, hätte ich fliehen müssen“, setze Senna ihre Erzählung fort. „Die Kinder der Drachen waren stets gefährliche Gegner und obwohl er nur ein paar Jahre älter war, musste ich damit rechnen dass Chiron ein Vielfaches meiner Kampferfahrung besaß.“ Traurig schüttelte Senna den Kopf. „Aber mein Stolz sprach lauter als mein Verstand. Es war erst wenige Stunden her, dass ich gemeinsam mit anderen Novizen ein Dorf besucht hatte. Es war in der vorangegangenen Nacht von den Drachen überfallen worden, es gab keine Überlebenden. Mein ganzer Zorn richtete sich nun gegen Chiron, ich wollte ihn für diese Grausamkeiten büßen lassen. Seine Unschuldsbeteuerungen glaubte ich nicht einen Moment. Für mich war er der Feind. Ich kämpfte verbissen und wollte um jeden Preis siegen, aber er war zu stark. Chiron gewann die Oberhand und dennoch tötete er mich nicht. Ich wurde rasend vor Zorn, da ich überzeugt war, dass er mit mir spielen würde. Schließlich machte ich in meiner Wut einen Fehler. Ich stürzte in den Abgrund und verlor das Bewusstsein. Kurz bevor sich die Welt um mich verdunkelte, schloss ich mit dem Leben ab. Ich war sicher, dass, wenn mich der Sturz nicht tötete, Chiron es tun würde.“ Senna blickte den Jungen eindringlich an. „Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht ich war, als ich erwachte und meine Wunden versorgt waren.“ Leise seufzte sie auf. „Ich hätte dankbar sein müssen. Er hatte mich verschont, obwohl ich alles daran gesetzt hatte ihn zu töten, aber seine Gnade schürte nur meinen Hass. Ich redete mir ein, dass er mich nur am Leben gelassen hatte, weil er in mir keine Bedrohung sah. Ich fühlte mich zutiefst gedemütigt und schwor Rache. Ich würde ihn suchen und ihm demonstrieren, wozu ich in der Lage war.“ Senna machte eine Pause und starrte stumm aus dem Fenster. In Uri kämpften erneut hunderte Fragen um die Oberhand, aber Sennas trauriges Gesicht hinderte ihn daran, eine auszusprechen. Schließlich sprach sie weiter. „Von diesem Tag an lernte und trainierte ich noch verbissener. Immer wieder mahnten mich die Priester zur Ruhe, aber ich ignorierte sie. Ich verließ den eigentlichen Pfad des Mitternachtsordens und strebte die falschen Werte an. Die Priester bildeten mich aus, damit ich den Frieden erhalten konnte, stattdessen wünschte ich mir die offene Konfrontation. Ich sollte Gerechtigkeit walten lassen, doch ich sann auf Rache. Zwei Jahre später bekam ich meine Gelegenheit. „Du hast Chiron gefunden?!“, unterbrach Uri aufgeregt die Geschichte. „Nun, es war mehr ein zufälliges Zusammentreffen.“, meinte Senna lächelnd. „Aber vielleicht war es auch einfach Schicksal, dass ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auf ihn gestoßen bin.“ Verdattert starrte Uri sie an. „Schicksal?“ „Ich musste damals eine wichtige Lektion lernen und ich bin überzeugt, dass ich nur in dieser einen Situation das Verständnis aufbringen konnte, sie zu begreifen.“, erwiderte Senna. „Ein paar Tage vor unserem zweiten Zusammentreffen wurden mehrere Dörfer in unmittelbarer Nähe zerstört. Der Orden beschloss dieses Mal, nicht nur nach Überlebenden zu suchen, sondern auch auszuziehen und die Angreifer zu stellen. Ich weiß noch genau, wie aufgeregt ich war. Wohlmöglich würde ich Chiron endlich wieder gegenüberstehen.“ Nachdenklich kratzte Uri sich am Kopf. „Aber sein Stamm war doch gar nicht verantwortlich für die Überfälle.“ „Ja, das stimmt. Damals wusste ich das aber noch nicht. Und ich wusste auch nicht, dass Chirons Stamm unter der Führung seines Vaters selbst auf die Jagd nach den Abtrünnigen gegangen und dabei ziemlich erfolgreich war. Noch bevor ich mit den anderen Priestern überhaupt den Tempel verlassen hatte, war ein erbitterter Kampf ausgebrochen. Die Kinder der Drachen und die Ausgestoßenen bekämpften sich erbarmungslos. Es gab unzählige Tote auf beiden Seiten und schließlich war gut die Hälfte der Ausgestoßenen gefallen. Die Überlebenden ergriffen panisch die Flucht, doch die Kinder der Drachen jagten sie erbarmungslos. Sie spürten die Ausgestoßenen auf und metzelten sie Mann um Mann nieder. Selbst die Frauen und Kinder wurden nicht verschont.“ Senna stockte, als sie Uris schockiertes Gesicht sah. „Es mag dir unbeschreiblich grausam vorkommen, aber du darfst niemals vergessen welche Gräueltaten die Ausgestoßenen verübten“, erklärte sie, „Und du weißt doch selbst, dass die Angriffe bis heute nicht aufgehört haben, obwohl nur eine Handvoll Männer überlebt haben. - Aber kommen wir zurück zu Chiron.“ „Als die Drachenkrieger loszogen, ließen sie ihre Frauen, Kinder und Verwundeten zurück. Nur eine kleine Gruppe von jungen Kämpfern sorgte für ihren Schutz. Keiner von ihnen rechnete mit einem auf der Lauer liegenden Trupp Mitternachtspriester. Wäre es zum Kampf gekommen, die Konsequenzen wären erschütternd gewesen. Doch zum Glück für alle Beteiligten stand wieder einmal mein Stolz im Weg.“ Senna lachte leise auf. „Ich wurde als Späher den anderen Priestern vorausgeschickt. Tagelang durchstreifte ich die Wälder und - dann fand ich sie.“ Lautlos robbte die junge Novizin über den Waldboden. Die trockenen Äste erschwerten ihr Vorankommen, aber die fröhlichen Kinderstimmen, die von der Lichtung zu ihr drangen, trieben sie an. Vorsichtig hob Senna den Kopf über das Unterholz und sie versuchte sich einen Eindruck von dem Lager der Drachen zu machen. Das unbeschwerte Treiben des Stammes ließ den Zorn in ihr hochkochen. Diese Monster spielten Spiele und amüsierten sich, ungeachtet der vielen Leben, die sie vor Kurzem genommen hatten. Wütend schlug Senna ihre Faust auf den Boden. Dieser täuschend friedliche Eindruck war ein Sakrileg für das Leid aller unschuldigen Bauern und Dorfbewohner, die den Kindern der Drachen zum Opfer gefallen waren. Novizin rang um ihre Fassung. Der Aufruhr in ihr ließ sie fast ihre Kuse packen und mit Gebrüll in das feindliche Lager stürmen. Sie wollte die Köpfe dieser Mörder rollen sehen. Plötzlich stutzte Senna und sah sich suchend um. Die Lichtung war voller Frauen und Kindern, aber es waren kaum Männer zu sehen. Die wenigen Krieger, die sie ausmachen konnte, waren verletzt, sehr alt oder beinahe noch Kinder. Verwirrt rutschte sie in ihrer Deckung ein Stück zurück. Wo waren die Krieger des Stammes? Führten sie wohlmöglich bereits einen neuen Angriff aus? Senna stützte sich auf Hände und Knie. Sie wollte schnellst möglich zurück zu den Priestern, um Bericht zu erstatten, doch unerwartet erregte einer der verletzten Krieger ihre Aufmerksamkeit. Der junge Mann hatte ihr den Rücken zugedreht und unterhielt sich mit einer der Frauen. Neugierig lehnte sie sich vor und beobachtete seine Bewegungen. Frustriert knurrte Senna auf. Über diese Entfernung konnte sie nichts Genaues ausmachen. Sie sah sich hastig um und kroch dann rückwärts vom Lager weg. Als sie genügend Abstand zwischen sich und die Drachen gebracht hatte, erhob sie sich und begann das Lager in weitem Bogen zu umkreisen. Als sie sich auf der richtigen Höhe wähnte, ließ sie sich wieder runter auf die Knie sinken und schlich sich erneut an. Noch bevor sich das Lager wieder in Sichtweite befand, begann das schlechte Gewissen an Senna zu nagen. Ihr Auftrag war erfüllt und sie müsste eigentlich so schnell wie möglich ihre Entdeckung mitteilen, aber die Aufregung war stärker. Sie hatte das Gesicht des Kriegers nicht sehen können, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihren Todfeind gefunden hatte. Endlich würde sie ihre Rache bekommen. Behutsam hob die Novizin den Kopf über das Unterholz und zuckte sofort wieder zurück. Eines der Kinder hatte direkt in ihre Richtung gesehen. Erschrocken lauschte Senna auf die Stimmen und hoffte inständig, dass sie unentdeckt geblieben war. Nur wenige Sekunden später verriet der aufkommende Tumult, dass das Glück sie verlassen hatte. Ohne weiter auf Sichtschutz zu achten, sprang Senna auf und entfernte sich, so schnell sie konnte, vom Lager. Knackende Äste kündigten ihren Verfolger an, aber die Novizin konzentrierte sich nur auf den unsicheren Waldboden, ein Sturz könnte ihren Tod bedeuten. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Beine schmerzten bereits, aber Senna riss sich zusammen und erhöhte ihr ohnehin schon halsbrecherisches Tempo noch einmal. Haken schlagend jagte sie durch den Wald, sprang über umgestürzte Bäume und nutzte jede Gelegenheit, den Sichtkontakt zu ihrem Verfolger zu unterbrechen. Plötzlich erhob sich vor ihr eine Felswand und die Novizin kam entsetzt zum Stehen. Die Felsen boten nicht genug Halt, um sie zu erklettern, und die Wand war zu weitläufig, um sie zu umlaufen. Senna saß in der Falle. Tapfer packte sie ihre Kuse und drehte sich wieder um. Wenn sie hier schon sterben musste, dann würde der Preis für ihre Angreifer hoch sein. Ihr Gesicht war angespannt, als sie die Bäume musterte und eine schattenhafte Bewegung einen ihrer Verfolger ankündigte. Die Sekunden zogen sich endlos, bis ihr Gegner endlich ins Licht trat. Erschüttert beobachtete sie die strauchelnde Person, die unsicher auf sie zukam, und dabei immer wieder Steine und andere Hindernisse streifte. Ein blutiger Verband verdeckte das rechte Auge und ließ eine scheußliche Wunde vermuten. Senna senkte ihren Blick starrte unschlüssig auf ihre Kuse. Seit zwei Jahren wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine Gelegenheit, Chiron zu besiegen. Und jetzt, wo sie wieder vor ihm stand, bot er ihr einen Anblick, der ihr weder einen gefährlichen Kampf noch befriedigende Rache versprach. Stumm beobachtete sie, wie der Drache sich vor ihr aufstellte und seine Glefe wie einen Krückstock benutzte. Abwägend ließ Senna ihren Blick über Chiron gleiten. Er war seit ihrer letzten Begegnung gewachsen und überragte sie nun erschreckend, sein schlanker Körper wirkte kraftvoll und sein Blick war trotz der Verletzung stolz und ungebrochen. Chiron stand nur eine Armlänge von ihr entfernt, sie musste lediglich ausholen und zuschlagen. Sein unsicherer Gang zeigte deutlich, dass er sich noch nicht an den Verlust des Auges und damit den des räumlichen Sehvermögens gewöhnt hatte. Einfacher und schneller würde Senna ihre Rache nicht bekommen können, und trotzdem zögerte sie. Als ihr Blick an dem blutigen Verband hängen blieb, malte sie sich in den grausamsten Szenarien aus, wie ihm diese Verletzung beigebracht worden war. Und obwohl sie eine gewisse Genugtuung als Preis für sein schändliches Handeln nicht leugnen konnte, hinderte sie ihr eigenes Ehrgefühl daran, einen unterlegenen Gegner einfach niederzustrecken. Langsam ließ sie ihre Klinge sinken und ohne es bewusst wahrzunehmen, begann sie zu sprechen. „Senna.“ Chirons Blick blieb durchdringend, aber ein fragender Ausdruck legte sich über seine Züge. Senna schluckte, ehe sie leise fortfuhr. „Das ist mein Name. Du hattest mir deinen gesagt. - Damals.“ Der Drache zeigte keinerlei Reaktion, aber Senna war sich sicher, dass er sie wiedererkannt hatte. Ratlos versuchte die Novizin, ihr weiteres Vorgehen zu planen. Sie musste irgendwie an Chiron vorbei und das möglichst, ohne ihn in diesem Zustand zu töten. Ihre Rache würde warten müssen. Noch während Senna grübelte, ging Chiron plötzlich in Angriffsposition und streckte ihr seine Glefe entgegen. Sein Gesicht verfinsterte sich und er lachte höhnisch auf. „Mitleid, Priesterin? Welch’ ungewohnte Gefühlsregung und eine ziemlich dumme noch dazu.“ Unvermittelt griff er an. Erschrocken sprang Senna zurück und parierte im letzen Augenblick den Angriff. Sein Anblick hatte sie wirklich nicht so ein aggressives Verhalten vermuten lassen, aber was konnte sie von einem Drachen schon erwarten? Diese Monster lebten für den Kampf und das Morden. Die letzen Überbleibsel ihres Mitgefühls fielen wie Herbstlaub von ihr ab und sie ging ihrerseits in Kampfstellung. Wenn dieser Narr glaubte, sie in diesem Zustand herausfordern zu können, dann würde er auch mit den Konsequenzen leben – oder sterben - müssen. Elegant sprang Senna in die Luft, schlug einen Salto und landete rechts neben Chiron auf den Füßen. Sein eingeschränktes Sichtfeld behinderte ihn und gab Senna somit leichtes Spiel. Flink schritt sie hinter ihn und versetze ihm einen Tritt, der ihn von den Füßen riss. Der hilflose Anblick, den Chiron nun bot, versetze der Novizin einen Stich, aber als der Drache sich vor Wut fauchend und mit einem rot glühenden Auge wieder auf die Füße rappelte, machte sie sich für den nächsten Angriff bereit. Problemlos wehrte sie jeden der ungelenkten Schläge ab, aber die Wucht der Angriffe ließ ihre Knochen vibrieren und Schmerz breitete sich in ihren Armen aus. Blitzschnell tauchte sie unter dem nächsten Schlag durch und befand sich erneut hinter Chiron. Dieser hatte ihr Manöver jedoch vorausgeahnt und zwang sie durch einen tief geführten Bogenhieb zurückzuspringen. “Glaubst du wirklich, ich mache den gleichen Fehler zweimal?“, knurrte er sie verächtlich an. „Nein, das tue ich nicht.“, entgegnete sie und tänzelte verschmitzt näher. Sie täuschte mit der linken Hand einen schweren Hieb gegen seinen Oberkörper an und zwang ihn damit, seine rechte Seite zu entblößen. Überraschend wechselte sie mitten in der Bewegung die Hand und nutze den Schwung, um sich in einer anderthalbfachen Drehung Rücken an Rücken mit Chiron zu bringen. Ohne zu zögern lehnte sie sich nach vorne und trat mit aller Kraft nach hinten aus. Sie konnte spüren, wie seine Knie unter der Wucht ihres Tritts nachgaben und er wegknickte. Sie nahm das Geräusch seines Körpers kaum wahr, als dieser erst gegen die Felswand prallte und anschließend zu Boden sank; zu sehr beschäftigte sie der verblüffte Ausdruck auf seinem Gesicht, als er ihren Angriff als Finte erkannte. Senna konzentrierte sich auf ihre Atmung und zwang sich, tief und langsam zu atmen. Als ihr rasendes Herz sich beruhigt hatte, drehte sie sich langsam zu ihrem Gegner um. Chiron lag unnatürlich verkrümmt vor den Felsen. Er musste mit dem Kopf aufgeschlagen sein und seine Wunde hatte sich erneut geöffnet, denn der Verband vermochte nicht länger das ausströmende Blut zurückzuhalten. Unruhig starrte sie auf seinen Brustkorb und nur ein leichtes Heben und Senken verriet ihr, dass der Drache noch am Leben war. Ohne nachzudenken packte sie Chiron an den Füßen und zerrte ihn ein Stück von der Felswand weg. Sie zupfte büschelweise Gras aus dem Boden und polsterte seinen Kopf damit, anschließend suchte sie in ihrer Tasche nach einem Verband. Mit zitternden Händen griff sie nach den blutigen Bandagen, die Chirons rechtes Auge verhüllten. Vorsichtig wickelte sie Lage um Lage ab, vermied aber jeden unnötigen Blickkontakt mit der Wunde. Kaum, dass die letzte Bandage abgewickelt war, strömte das Blut über ihre Hände und Kleider. Instinktiv griff sie nach ihrer Wasserflasche und begann die Wunde vorsichtig zu säubern. Es dauerte Minuten, bis die Blutung soweit zurückging, dass die Wundränder sichtbar wurden. Trotz der schauderhaften Verletzung starrte Senna die Wunde verblüfft an. Ein tiefer Schnitt zog sich von der Stirn bis zur Wange und zerstörte das Auge. Die Verletzung stammte jedoch von einem Schwert, nicht, wie sie erwartet hatte, von den groben Werkzeugen eines Bauern. Grübelnd fragte sich Senna, wer Chiron diese Wunde beigebracht haben könnte, und begann dann, die Wunde frisch zu verbinden. Als sie die letzte Lage gebunden hatte, steckte sie das Ende des Verbands vorsichtig fest und erhob sich. Sie betrachtete den noch immer regungslosen Chiron, dann zuckte sie plötzlich zusammen. Sie hatte gewiss nicht die Absicht gehabt, ihm zu helfen und doch hatte sie es getan. Seine Verletzung machte ihn derzeit unterlegen und anstatt seine vorübergehende Schwäche auszunutzen, ließ sie Milde walten. Nicht aus Mitleid, sondern aus dem Wissen heraus, dass er unter anderen Umständen zu mehr fähig wäre. Sie verschonte ihn aus Respekt. Verblüfft hob Senna den Kopf. Zum ersten Mal kam ihr nun in den Sinn dass Chiron ihr damals wohlmöglich aus ähnlichen Gründen geholfen hatte. Vielleicht war es nie seine Absicht gewesen, sie zu verhöhnen. Vielleicht hatte er erkannt, dass ihr Kampfgeist ebenso groß war wie seiner und es ihr lediglich noch an Erfahrung gefehlt hatte. Erneut ließ sie ihren Blick über Chiron schweifen und grinste dann kopfschüttelnd. Es war dumm von ihr, anzunehmen, dass dieser Drache über ein ähnliches Ehrgefühl verfügte wie sie. Sie sollte ihre eigene Motivation nicht auf ihn übertragen. Wortlos schwor sie sich, dass dieser Kampf nicht der letzte zwischen ihnen gewesen sein würde, dann hob sie ihre Sachen auf und flüchtete in den Wald. Nur einen Moment später öffnete Chiron sein unversehrtes Auge und tastete stöhnend nach dem Verband. „Senna.“, murmelte er und wurde wieder bewusstlos. Freudig hob Senna den Kopf und sah zur Tür. Uri folgte ihrem Blick und sah Chiron, der mit breitem Grinsen am Türrahmen lehnte. „Entschuldigt bitte, dass ich so spät komme, aber es gab viel zu tun.“, lässig stieß er sich von der Tür ab und setzte sich an den Tisch. „Wie ich sehe, kommt ihr aber auch ohne mich voran.“ Chiron und Senna blickten sich einen Moment tief in die Augen, dann mussten beide lachen. Uri zappelte vor Ungeduld, er wollte viele Fragen stellen und wartete ungeduldig darauf, dass die Eheleute ihre Begrüßung beendet hatten. „Na los, stell deine Fragen.“, forderte Chiron den Jungen schließlich auf. Sofort holte Uri tief Luft und setzte zu seiner ersten Frage an, doch dann stockte er. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen wollte. Die ganze Geschichte verwirrte ihn mehr und mehr. Chiron und Senna waren das harmonischste Paar, das er kannte, doch je mehr er hörte, desto weniger verstand er, wie sie zusammengekommen waren. Sie hatten sich erbittert bekämpft, jeder angetrieben von einer anderen Motivation, und wenn in dieser Zeit doch einmal ein Funken Mitgefühl und Verständnis für den anderen aufgekommen war, dann nur, um kurz darauf wieder zu erlöschen. Wie sich unter diesen Umständen Feindseligkeit zu Zuneigung wandeln konnte war ihm ein Rätsel. Hoffnungslos verwirrt schüttelte Uri den Kopf, dann bemerkte er die auf ihm ruhenden, auffordernden Blicke seiner Freunde. Leise seufzte der Junge auf. „Ich möchte nur verstehen, wie ihr zusammengekommen seid, und bisher begreife ich ja nicht mal, wieso ihr überhaupt noch lebt.“ Amüsiert lachte Chiron auf. „Nun, die Geschichte ist noch nicht vorbei, du musst schon alles hören, um das zu verstehen. Aber keine Sorge, wir werden dir nichts vorenthalten.“ Plötzlich stand der Mann auf und klatschte in die Hände. „Doch zunächst – Abendessen.“ Sofort ließ Uri die Schultern hängen und murmelte leise vor sich hin. „Ich kann doch jetzt nicht schon wieder ins Waisenhaus zurückgehen.“ „Na, da mach dir mal keine Sorgen“, erwiderte Chiron, während er die Teller aus dem Schrank nahm. „Ich bin vorhin am Waisenhaus vorbeigegangen und hab den Nonnen gesagt, dass du heute hier bleibst.“ Er zwinkerte dem Jungen verschmitzt zu. „Wir wollen ja schließlich nicht, dass du vor Ungeduld platzt.“ ~ TBC ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)