Mnemonic Abyss von Mismar (She is calling my Name) ================================================================================ Kapitel 5: Someone who cares ---------------------------- Der Geist von Makoto nahm das zurückgelassene Handy an sich, schritt damit zu Mai herüber. „Wo sind die anderen beiden?“ Sie nahm es recht zögernd an, schaute ihm nur misstrauisch entgegen. Das scheue Mädchen hatte nicht vor, ihre Freundinnen zu verraten. Skeptisch suchte sie die Gegend ab, da sie es brennend interessierte, wo die braunhaarige Studentin verschwunden war. „War das… war das deine feste Freundin?“ Diese Vertrautheit war so ungewöhnlich, aber Mai sprach gerne in der Abwesenheit der anderen. „Ich dachte immer…“ Makoto hob eine Braue, sie würde ihm sicherlich etwas sagen, wovon er selbst nichts wusste. „Was dachtest du?“ Hektisch schaute sie sich um, überprüfte, ob niemand das Gespräch belauschte. „Naja… in der Oberstufe gab es eine Schülerin, die behauptet hat, mit dir zusammen zu sein.“ Seufzend massierte er seine Stirn. Diese Kopfschmerzen wollten einfach kein Ende nehmen. War das überhaupt wichtig? Er war mit vierunddreißig gestorben, in seinem Leben hatte es viele Frauen gegeben – und sie waren eines Tages aus Beziehungsgründen alle gegangen. Mai wollte das Handy gerade in die Rocktasche verstauen, als sie die Stimmen ihrer beiden Mitstreiterinnen in der Ferne hörte. Erschrocken ließ sie es auf den Boden fallen und eilte von dannen. Makoto hob ihr mobiles Telefon ein weiteres Mal auf, entweder er würde es ihr zurückgeben oder er benutzte es, um Rin zu sich zu holen. Eines konnte er sich allerdings nicht verkneifen: Einen Blick in den Flur zu werfen, wo Kum und Mika ihrer kleinen Freundin eine Standpauke hielten. Die dominante Stimme der athletischen Frau bellte laut: „Verdammt, wo treibst du dich ständig rum? Hast du dein Handy gefunden?“ Eingeschüchtert wie sie war, schüttelte Mai den Kopf. Sie hätte auch sagen können, dass sie es in Makotos Gegenwart fallen gelassen hatte. „Wir haben wen zum Spielen gefunden.“ Grinsend schaute Kum in die Richtung von Makoto. Der Verleger verdrehte die Augen. Wieso musste auch er immer das Pech haben? Dann wurde ihm aber klar, dass sie ihn doch nicht gesehen hatten. „Ja, du weißt doch. Dieses Miststück, was auf deinem Tisch gemalt hat. Dieses Mal schnappen wir sie!“ Mika dirigierte die Mädchenbande wie ein Mannschaftskapitän in die Gegenrichtung, dort, wo die beiden hergekommen waren. „Hier muss jemand gefangen gehalten werden… oder…“ Ihm wurde bewusst, was er zu tun hatte. Erstmal musste er sich davon selbst überzeugen. Rin war auf der anderen Seite aufgewacht, genau an der Stelle, wo sie auch verschwunden war. Verwirrt sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie wollte einfach von hier verschwinden, kein weiteres Mal über das Mädchen in Rot zu stolpern. Makoto sagte, er würde sie beschützen. Doch sicherlich konnte auch kein Geist immer und überall über einen wachen. Die Taschenlampe brauchte sie nicht mehr, denn Sonnenstrahlen brachen in die dreckigen, brüchigen Fensterscheiben ein. War sie etwa so lange auf der anderen Seite gewesen oder hatte sie eine Zeitlang ohnmächtig gelegen? Es nützte nichts, sich darüber Gedanken zu machen; sie würde ohnehin keine Antwort bekommen und außerdem war sie beschäftigt: Sie musste das Haus von Chiyo Kishibe suchen. Die Adresse hatte sie mit der richtigen Hilfe schnell gefunden. Zum Glück fuhr ein Bus in diese Richtung, in den sie bereits eingestiegen war. Oftmals guckte sie panisch umher, hoffte, kein Mädchen im roten Kleid zu sehen. Manchmal stockte ihr sogar der Atem, wenn sich eine menschliche Frau rot angekleidet hatte. Im Westen würde es solche Probleme nicht geben, weil die Vielzahl der unterschiedlichen Haarfarben weitaus größer war als hier. Als sie an der Haltestelle angekommen war, musste sie noch ein kleines Stückchen laufen. Rin hatte das Gefühl, sich immer langsamer fortzubewegen, bis sie sogar an einem Punkt stehen blieb. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sie wollte nicht das Haus betreten, wo sie ihre erste richtige Bekanntschaft mit ihr gemacht hatte. Schluckend warf sie ihren Kopf in den Nacken, starrte in den wolkenlosen Himmel. Wieso musste alles so schief laufen? Nachdem sie sich vollständig beruhigt hatte, blickte sie geradeaus: Genau auf das vor ihr liegende Gebäude von Chiyo Kishibe. Es war genau die richtige Uhrzeit, um einer älteren Dame einen Besuch abzustatten. Rin klingelte zögernd, hoffte irgendwo, dass ihr niemand die Tür öffnen würde, weil sie dann einen guten Grund gehabt hätte, nachhause zu gehen. Ein schwarzhaariger, junger Mann trat in die Türschwelle, lächelte sie an. Es war dieses gewöhnliche Lächeln, dieser fragende Blick, wenn man sich zum ersten Mal im Leben sah. „Ja, Sie wünschen?“ fragte der Mann, der nur Chiyos Enkel Taskeshi – abgekürzt Take – Kishibe sein konnte. Es sei denn, die alte Frau hatte mehrere Kinder, von denen sie nichts wusste. Eigentlich wusste sie über diese Familie so gut wie gar nichts, nur das, was ihr die Geister zugeflüstert hatten. Rin warf einen knappen Blick über seine Schulter. „Ist… ist Frau Kishibe zu sprechen?“ „Oh ja, sie ist in der Küche. Kommen Sie doch rein.“ Er trat einen Schritt beiseite, um ihr den Eintritt ins Haus zu gewähren. Take war wirklich freundlich, sie wollte diesen Jungen ungern in das Geheimnis einweihen. Aber vielleicht brauchte sie das auch nicht. Es wäre unfreundlich gewesen so zu tun, als kenne man das Haus bereits aus einem Albtraum. Daher ließ sich Rin unwissentlich von Take in die Küche bringen, dort, wo die alte Frau an dem kleinen Tisch einen warmen Tee trank. Verblüfft beäugte sie das fremde Mädchen, grub lange in ihren Erinnerungen rum. „Du wirkst so vertraut…“ In diesem Alter hatte man wirklich ein schlechtes Gedächtnis, obwohl sie sich ein zweites Mal begegnet waren. „Jetzt fällt es mir wieder ein.“ Chiyo strahlte, selbst wenn es eine Zeit gewesen war, die mehr schrecklich als schön war. Scheinbar hatte diese alte Dame eine wundervolle Zeit in der mnemonischen Seite verbracht; kein Wunder, im Gegensatz zu ihr hatte Reiko Chiyo nicht gehasst. „Setz dich doch, mein Liebes.“ sagte sie geflissentlich aber mit heiserer Stimme und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Rin wollte ihr diese Bitte nicht abschlagen. „Wie geht es Ihnen? Haben sie sich erholt?“ Sie wirkte tatsächlich gesund und zufrieden, kaum zu glauben, dass die mnemonische Seite einen positiven Effekt erzielen konnte. Jetzt musste sie nur noch warten, dass Take die Küche verließ. Er würde sie sonst beide für verrückt halten und Rin wusste nicht, ob sie ihm irgendwas von der Begebenheit erzählt hatte. „Du bist eine Freundin von Reiko Asagiri gewesen. Was führt dich hierhin?“ Erleichtert seufzte sie auf. Es war gut, dass sie das Gespräch in die richtige Richtung lenkte, sie hatte absolut keine Ahnung gehabt, wie sie hätte anfangen sollen. „Das stimmt. Damals haben wir uns in einem Chatroom kennengelernt. Leider… habe ich das Treffen verpasst, weil ich an diesem Tag einen Unfall hatte und ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“ „Reiko hat immer sehr gut über dich gesprochen. Schade, was mit ihr passiert ist.“ Obwohl das Mädchen ihr verziehen hatte, trug Rin immer noch dieses schlechte Gewissen mit sich. „Ja, das ist es. Ich bin aber nicht deswegen hier, Frau Kishibe. Darf ich fragen, ob Sie eine schwarzhaarige Frau in einem roten Kleid kennen?“ Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Chiyo den Kopf, versuchte angestrengt sich zu erinnern. „Nein, aber damals hat uns ein schwarzhaariges Mädchen öfters besucht. Sie war eine Nachbarstochter, aber wenn es um junge Mädchen geht, solltest du besser meinen Enkel Take fragen.“ Rin nickte verstehend, vielleicht waren Makoto und sie auf der falschen Spur; aber fragen kostete nichts. „Er ist bestimmt oben, die Treppe befindet sich neben dem Eingang.“ Sie trat aus der Küche, blicke erst nach links, dann nach rechts. Erstmal wollte sie etwas anderes suchen. Fast schleichend ging sie den rechten Gang entlang, erreichte das Flurende, wo ein wunderschöner großer Fächer die Wand schmückte. Wie beim letzten Mal starrte sie ihn lange und ausgiebig an, doch auch wie zuvor nahm sie eine fremde Aura wahr und vereiste in ihrer Position. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)