Deutschland. Nichts geht mehr. von Phillia (Aus glücklichen Familien besteht das Wohl des Staates.) ================================================================================ Kleine Kreise im Meer --------------------- Mecklenburg-Vorpommern indes war nicht, wie es zu erwarten gewesen, in seine Heimat geradelt, sondern war nach Norden gefahren, direkt in die Richtung von Kiel. Er musste zwar mehrmals nach dem Weg fragen, aber irgendwie schaffte er es dennoch, in der Hafenstadt anzukommen. Er war die rechte Hand von Schleswig-Holstein und er wusste, dass der Junge ihm uneingeschränkt vertraute. Fritz konnte nicht gut Organisieren, aber er war ein geborener Spion – niemand beachtete ihn. Auch jetzt, als er auf der Landstraße Rad fuhr, nur noch wenige Kilometer entfernt von der Stadt, fuhren die Autos an ihm vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Er wusste nicht, wie wertvoll er den Schwertfischen schon gewesen war, es interessierte ihn auch nicht wirklich. Hauptsache, er bekam immer genug Essen und man kümmerte sich um ihn und man gab ihm ein Rad und er konnte frei herumfahren, so viel er wollte. Dann war er ja schon glücklich. Nun... das hatte ihn bis vor wenigen Monaten schon glücklich gemacht. Da hatte Schleswig-Holstein ihn gebeten, sich doch bitte mehr um den Zweig der Prostitution zu kümmern. Das war immer Mecklenburg-Vorpommerns Aufgabe gewesen, aber er hatte sich nie viel darum geschert – es war viel angenehmer gewesen, in der Sonne am Strand der Ostsee zu liegen, statt sich um so etwas Kompliziertes zu kümmern, mit Abrechnungen und so weiter. Und dann hatte man ihn nach Hamburg geschickt, und da war diese Frau mit den roten Haaren gewesen, und sie hatte mit ihm geredet, aber am ersten Tag hatte er kein einziges Wort verstanden, was sie geredet hatte, von der großen weiten Welt und von all ihren Mädchen, die sie beschützen musste und die sie in gute Hände geben musste. Und er hatte das Gefühl gehabt, dass es gut gewesen war, nichts zu sagen. Er hatte das Gefühl gehabt, dass ihr das Vertrauen gegeben hatte darin, dass er sich um ihre Mädchen würde kümmern können. Zwei Wochen später hatte sie ihn dann besucht, an der Ostsee, in einem roten Badeanzug, und sie war der einzige farbige Fleck gewesen an dem Strand, der eine Melange dargestellt hatte aus beigen und hautfarbenen Tönen. Nicht nur ihre Haare und ihr Badeanzug waren rot gewesen, auch ihre Gesichtsfarbe, als sie sich fast schüchtern neben ihn gesetzt hatte und er bemerkt hatte, dass sie ein Holzbein trug. Er hatte sie gefragt, warum, aber sie hatte erst viele Wochen später geantwortet, auf einem weiten Feld, mit einem Picknickkorb unter dem Arm, hinter ihm auf einem Fahrrad, als sie unter einer großen Eiche angekommen waren und die weißrote Picknickdecke ausgebreitet hatten und im Schatten des Baumes saßen. Sie hatte ihm von allem erzählt, von ihrer Mutter, die selbst ihren Körper verkauft hatte, von ihren kleinen Brüdern aus Bremen, die sie vor ihren gewalttätigen, drogensüchtigen Eltern hatte beschützen müssen, davon, dass einer der Freier ihrer Mutter sie mit zwölf Jahren vergewaltigt hatte, wie sie ihn getötet hatte und wie sie währenddessen ihr Bein verloren hatte. Wie sie danach aus Bremerhaven geflüchtet war, zurück in ihre Heimatstadt, und es schaffte, bis an die Spitze zu kommen, um so viele Mädchen wie möglich beschützen zu können, beschützen, indem sie ihnen sichere Lebensumstände bot. Und Fritz hatte still zugehört, der Mann, der immer von allen ignoriert wurde, mit dem niemals jemand sprach außer Schleswig-Holstein, der von seinen Eltern wie ein Welpe am Anfang der Ferien irgendwann an einem See ausgesetzt worden war mit der Begründung, er sei zurückgeblieben und nicht würdig, den edlen Nachnamen ihres Geschlechts zu tragen. Und dann hatte Fritz, der ewig ignoriert worden war, Jette geküsst, und für einen Moment war ihrer beider Leben bergauf gegangen. Das erste Mal hatten sie beide einen Menschen gefunden, der richtig war, nicht mehr und nicht weniger. Deswegen war er traurig gewesen, als Thüringen Hamburg so beleidigt hatte. Denn das hatte er zweifellos. Fritz verstand nicht viel von der Welt da draußen, die war ihm zu kompliziert, aber er verstand es, wenn jemand sauer wurde. Thüringen sollte so etwas nicht sagen, nicht zu seiner Jette! Und das war auch der Grund, warum er nun über die unebene Straße fuhr und ein paar Mal kleine Vögel am Straßenrand aus dem Weg klingelte, bis er in der Stadt angekommen war und so zielstrebig, wie es ihm möglich war, in die Stadtmitte fuhr. Wenn er einfach in Ruhe mit dem Boss darüber reden würde, dann würden sie eine Möglichkeit finden, dass Thüringen nie wieder solche Dinge sagen würde. Er lehnte sein Fahrrad an eine Hauswand, vergaß, es abzuschließen, und ging langsam die Treppen hoch zu dem Appartement über der Nordsee. Er klopfte. Niemand öffnete. Dann bemerkte Fritz, dass an der Tür ein Zettel hing. „Bin bei Gladius. Mach ne kleine Tour. :-)“ Fritz legte den Kopf schief und machte sich auf den Weg zum Hafen. Er bemerkte nicht, dass sein Fahrrad nicht mehr da war. Als er angekommen war, sah er schon Schleswig-Holsteins Jacht von Weitem und betrat sie wenige Momente, bevor der Chef mit ein paar Matrosen sie fertig zum Auslaufen machte. Fröhlich wurde Fritz begrüßt, und als sie nach einer halben Stunde auf hoher See waren, hatten die beiden Gelegenheit, miteinander zu reden. Otto lehnte an der Reling mit einem Glas Bier in der Hand und Mecklenburg-Vorpommern stand vor ihm, während er redete. Fritz fiel mit der Tür ins Haus, aber er sprach träge. Schleswig-Holstein war das schon lange gewöhnt und wartete geduldig ab, bis der ältere Mann geendet hatte. „Es ist so... ich war heute bei Hamburg... und da war auch Thüringen...“ Er runzelte die Stirn. „... und... der hat... böse Dinge gesagt... können wir ihn nicht... ich will, dass er aufhört, das zu sagen... wir sollten mit ihm sprechen.“ beendete er seine Frage. Schleswig-Holstein trommelte mit den Fingern an das Material hinter sich, dann schüttelte er den Kopf. „Tut mir Leid, Mecklenburg-Vorpommern, ich habe derzeit wirklich größere Probleme...“ „... Oh...“ sagte Fritz. Er ließ den Kopf sinken. Wie schade. Er hätte sich doch so gefreut, etwas für Hamburg tun zu können. Sie hatte ihm schließlich schon so sehr geholfen und er hatte nichts für sie getan. „Das ist... das ist sehr schade...“ Schleswig-Holstein runzelte die Stirn. Es war kein schöner Tag gewesen. Er hatte seinem besten Mann, Brandenburg, einen Wunsch abgeschlagen, weil er in seinem Stolz verletzt gewesen war. Das war nicht gut gewesen. Die Geschäfte gingen in einer Spirale gen Erdmittelpunkt. Und jetzt wollte Mecklenburg-Vorpommern einen hochrangigen Dominus Tecum liquidieren lassen, wenn er ihn richtig verstanden hatte? Was war denn in ihn gefahren? Und was sollte diese Sache mit Hamburg, war sie ihm so wichtig geworden, dass er alles für sie aufgeben wollte, was sie gemeinsam erarbeitet hatten?! Oder überinterpretierte Schleswig-Holstein die ganze Angelegenheit? Egal. Er wunk ab. Hinter ihm im Meer schwamm ein kleiner Schwarm Kabeljau im Meer. Die beiden standen reglos da, dann trat Mecklenburg-Vorpommern einen Schritt vor. Das war Schleswig-Holstein nicht von ihm gewohnt, und er sah ihn misstrauisch an. Fritz kam Otto noch einen Schritt näher. „Bitte...“ murmelte er leise. Sein Blick war so dösbaddelig, dass man den starken Drang verspürte, ihn auf den Kopf zu tätscheln. Aber Otto verspürte nur den Drang, zu fliehen – er wollte keine Probleme haben mit Mecklenburg-Vorpommern. Der Kapitän des Schiffes war noch ein junger, kaum ausgebildeter Mann, und genau in diesem Moment, wie es das Schicksal will, musste er das Schiff drehen. Otto, der damit nicht gerechnet hatte, verlor den Halt an der glitschigen Reling, taumelte etwas und fiel dann den langen Weg nach unten in das Wasser der Ostsee. Mecklenburg-Vorpommern reagierte erst nicht, dann ging er langsam ein paar Schritte vorwärts und blickte nach unten, wo der junge Mann gerade trieb. „Kann mich jemand rausholen?“ schrie er nach oben. Fritz handelte nicht schnell, aber er wusste, was er tat, als er einen Rettungsring packte und ihn nach unten warf. Leider traf er Schleswig-Holstein an einer sehr ungünstigen Stelle. Der Junge verlor kurzzeitig seinen Orientierungssinn und sein Bewusstsein. Zu lang, um in einem Meer zu überleben. Als eines der Crewmitglieder ihn wieder aus dem Wasser fischen konnte, war er ertrunken. Er war tot. Schleswig-Holstein war tot und Mecklenburg-Vorpommern war Schuld daran. Die Jacht kehrte in den Hafen zurück, und das einzige, woran Fritz denken konnte, war, dass er jetzt bestimmt mit Thüringen reden konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)