Deutschland. Nichts geht mehr. von Phillia (Aus glücklichen Familien besteht das Wohl des Staates.) ================================================================================ Alle Katzen grau ---------------- Sie waren mitten auf einer Straße von Nürnberg nach München, als Maximilian plötzlich aufgeschreckt war und sofort danach seinen Blick zu Lukas hatte gleiten lassen. Sein Mund öffnete sich, aber der andere war so auf's Autofahren konzentriert, dass er nicht sofort verstand, was man versuchte, ihm zu sagen. Es war wohl etwas im Sinne von „Haidenai, wir haben einen Handschuh in dieser versifften Raststätte vergessen!“, aber er reagierte nur mit einem Brummen darauf, was ihm sogleich einen erbosten Blick und ein etwas lauteres „Das ist wichtig! Wir können unsere Sache nicht einfach überall liegen lassen, wir haben damit Leute abgemurkst!“ einbrachte. Einen kurzen Moment blickte er zu Baden hinüber, und das war ein Fehler. Es war immer eine schlechte Idee, Max das Gefühl zu geben, auch nur ein wenig gesehen zu werden, wenn er wütend war, denn dann wurde er bestätigt und seine ansonsten harmlosen, üblichen Beleidigungen, die sich für Württemberg inzwischen nur noch anhörten wie ein distanziertes Vogelgezwitscher, wandelten sich in Handgreiflichkeiten um, und das gefiel ihm gar nicht. Baden, müde, ignoriert zu werden, lehnte sich zu ihm hinüber und gab ihm eine kleine Ohrfeige. Mit einem nicht unbedingt freundlichen „Hör mir gefälligst zu!“ untermalte er diese Handlung, und so konnte Lukas sich wirklich nicht auf die Straße konzentrieren. Ohne sich noch weiter davon stören zu lassen, dass Max sich weiterhin vollkommen unverantwortlich zu ihm hinüber lehnte (aber wenigstens war er noch angeschnallt – es musste ein Wunder geschehen, dass sich Baden nicht an die Regeln hielt und sich nicht anschnallte) hielt er auf dem Seitenstreifen der Straße an und ließ die restlichen Autos mit ihren kurz aufblitzenden Scheinwerfern an ihnen vorüberziehen, während er die Tür öffnete und ausstieg. Augenblicklich tat Max es ihm gleich, sodass sie sich gegenüberstanden. Lukas verschränkte die Arme vor der Brust und sah seinen Partner leicht tadelnd an, während dieser ihn schon am Kragen des schönen Anzugs gepackt hatte. „Nie hörst du mir zu, ist dir das aufgefallen?!“ Ein bisschen musste Lukas schmunzeln darüber, was für eine Klischeephrase Max benutzte. Das verbesserte die Situation natürlich nicht unbedingt. „Jetzt lach mich nicht aus!“ Es war erstaunlich, wie schnell dieser Badenser fähig war, von Null auf Hundertachtzig zu kommen, Lukas war immer erstaunt. Er hob eine Augenbraue und legte den Kopf etwas schief. Nur traurig, dass er nie ganz verstand, warum er immer so schnell wütend wurde. Wo war denn das Problem? Er kannte ihn schon seit sie sich zusammen ihre Knie aufgeschürft hatten, aber er hatte nie angefangen, ihn zu verstehen. Also legte er eine Hand an den Unterarm von Max. „Hör auf damit.“ „DU! DU HÖRST AUF, MIR DINGE ZU BEFEHLEN, ALTE LATSCHE!“ Lukas seufzte tief und versuchte weiterhin, Max von sich wegzuziehen. Er war nie auf des anderen Provokationen eingegangen. Es waren schließlich nicht wirklich Provokationen, sondern das war die Art vom Mäxle, ihm zu zeigen, dass er ihn mochte, da war er sich absolut sicher. Max zog seine Hände zu sich, taumelte zurück und zog mit einem Blick, der Schmerzen versprach, eine dünne Pistole aus seiner Anzugtasche. Sie konnten von Glück reden, dass es Winter war und die Dunkelheit schon hereingebrochen war, ansonsten hätten sie wohl etwas befremdete Blicke angezogen, aber das kümmerte beide nicht. Max' Griff zitterte ein wenig und Lukas sah ihn nur mit einem sanften Lächeln an. Es wäre so einfach gewesen, wenn der Schwabe die Fähigkeit besessen hätte, Gedanken lesen zu können. Dann hätte er gewusst, dass Max tatsächlich einfach Aufmerksamkeit wollte. Gut, so simpel war das dann auch nicht wirklich. Er konnte sich noch ganz genau an den Tod seiner Eltern und ihrer Adoptiveltern erinnern. Für ihn war beides Mal eine Welt zusammengebrochen und er hatte sich, nachdem er auch die Adoptiveltern Alemania und Frank verloren hatte, geschworen, dass er nie wieder so abhängig von jemandem sein würde, damit seine Welt nie wieder zerspringen würde. Er hatte auch alle Seile zu Württemberg gekappt und hatte eine Zeit lang auf der Straße gelebt, bis er von Francis Bonnefois aufgegabelt worden war und sich buchstäblich durch das Leben geschlagen hatte. Erst, als Francis, der, wie Max und die damals noch viel kleinere Nicole, die auch Teil der Gruppe gewesen war, erfahren hatten, für eine organisierte kriminelle Vereinigung Waffen geschmuggelt hatte – von niemand Geringerem als dem auszubildenden Polizisten Lukas – hatte er wieder Kontakt aufnehmen müssen zu seinem früheren Leben, und er hatte gemerkt, dass Lukas für ihn nicht mehr nur der Adoptivbruder war, der er immer gewesen war. Aber Lukas schien nie bemerkt zu haben, dass Max plötzlich so viel mehr für ihn empfunden hatte, und außerdem hatte er den großartigen, wunderschönen Francis in die ewige Versenkung gescheucht, sodass Max eigentlich nichts anderes übrig geblieben war, als ihn zu hassen, wie er sich selbst sagte. Und auch heute noch ließ ihn jedes Zeichen, dass er nicht für voll genommen wurde von diesem Partner, von dem er inzwischen abhängiger war als von irgendjemandem jemals zuvor, in Sekundenschnelle ausrasten und zog seine Laune wie ein Magnet magisch hinunter. Das einzige, was er unterbewusst immer gewollt hatte, war, genauso geliebt zu werden, wie er es selbst tat, aber Max wusste, dass er sich das abschminken konnte, und so wich er auf die einzige andere Art aus, starke Gefühle zu zeigen, denn eine Zurückweisung würde er nicht ertragen können. „Als ob.“ holte ihn eine Stimme mit schwäbischem Einschlag in die Realität zurück. Natürlich würde er niemals schießen, und Württemberg wusste das genauso gut wie Baden. Er hatte ihm schon so oft gedroht, ihn umzubringen, aber das war von Anfang an lächerlich gewesen. Sie würden niemals ohne einander leben können, nicht, nachdem sie so lange aufeinander vertraut hatten. Da war es gefährlicher, wenn Baden sich die Waffe selbst an den Kopf hielt, wie er es schon genau drei Mal zuvor getan hatte. Er würde, mit vor Wut hochrotem Gesicht und Verzweiflung in den Augen den Lauf an seine Schläfen halten, und er würde ihn anschreien und ihm vorwerfen, dass sein ganzes Leben in Scherben lag, weil er an ihn gekettet war, und dass er jetzt ein und für alle Mal mit dieser Gefangenschaft abschließen würde. Dann bestand die einzige Möglichkeit, in aufzuhalten, darin, ihn in die Arme zu nehmen und ihm beruhigend den Rücken zu tätscheln, und dann war er normalerweise immer ruhig und ließ sich auch ganz friedlich umarmen. Württemberg hätte sich wahrlich keinen seltsameren und gleichzeitig liebenswerteren Partner aussuchen können, wie ihm schon oft aufgefallen war. Und tatsächlich ließ Max die Waffe sinken und steckte sie wieder umsichtig ein. Seine Atmung beruhigte sich wieder, nachdem sie eben fast hysterisch geworden war. Er sah Lukas nicht an, aber der andere war, nachdem er einen Schritt auf ihn zugemacht hatte, nah genug, um zu sehen, dass sein Gesicht feuerrot war. Vermutlich aus Wut. Er nahm die handschuhlose Hand von Max in seine eigene Hand und hob sein Kinn an, damit sie sich in die Augen sehen konnten. Als er sprach, war seine Stimme ruhig. „Wir fahren jetzt zurück, suchen deinen Handschuh und dann töten wir Bayern, und dann werden wir alles haben, was wir uns immer gewünscht haben. Und wir werden nicht mehr töten müssen, und dann werden wir auch keine Blutflecken mehr auf der Kleidung haben, die ewig nicht rausgehen.“ Er nahm das vollkommen ernst. Blutflecken waren wirklich nur schwer aus Kleidung wieder herauszukriegen, das war immer sehr schrecklich. Noch immer versuchte Max, seinem Blick auszuweichen, aber er hob die freie Hand und strich Lukas über die Wange, und als er bei seinen Mundwinkeln angekommen war, konnte er erahnen, dass sie sich zu einem Lächeln nach oben gezogen hatten. Mit einem lauten „Pah!“ versuchte er, wieder auf Distanz zu gehen, aber Lukas behielt ihn für einen kurzen Augenblick bei sich und ließ einen schmetterlingsartigen, leichten Kuss auf Max' Mund tänzeln. Das war schließlich normal. Max gehörte zu seiner Familie, nein, Max war seine Familie. Sie beide hatten niemanden sonst. Aber warum zitterte Baden dann so unter dieser harmlosen Berührung? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)