Deutschland. Nichts geht mehr. von Phillia (Aus glücklichen Familien besteht das Wohl des Staates.) ================================================================================ Zwischen zwei Welten -------------------- Etwa zwei Stunden waren vergangen, ehe Hamburg in den großen schwarzen Wagen, begleitet von ihren beiden Bodyguards auf Motorrädern stieg und sich ebenso wie Thüringen vor ihr auf den Weg nach Bremen machte. Zu ihrem Glück hatte sich der Stau, der Thüringen um den Verstand gebracht hatte, aber nahezu aufgelöst, und so kam sie nach eineinhalb Stunden in Bremen an. Es war sehr windig, und ihre Haare flatterten, während Möwen schrill und unangenehm laut kreischten. Sie musste mit den Bremer Brüdern reden, über … über Thüringen. Sie würde sich auf gar keinen Fall in die Geschäfte der beiden einmischen – schließlich waren sie, genauso wie Jette, die unangefochtenen Könige Deutschlands in ihrer Branche – aber sie musste wissen, was Thüringen in einem seiner legendären Wutanfälle zu den Brüdern gesagt hatte. Damals, als sie alle noch Kinder gewesen waren, hatte Hamburg lang in Bremerhaven gewohnt, wo die Brüder aufgewachsen waren, und ihre Mutter hatte sie abends oftmals den Eltern von Bremen und Bremerhaven übergeben, wenn sie mal wieder arbeiten hatte gehen müssen. Hein hatte sie niemals wirklich kennen gelernt – als er geboren worden war, war Jette alt genug gewesen, auf sich selbst aufzupassen – aber Roland sah sie auch heute noch als ihren Bruder an. Obwohl sie in verschiedenen Städten und auf verschiedenen Ebenen tätig waren, versuchte sie, den Kontakt aufrecht zu erhalten, auch wenn es schmerzte, an ihre Kindheit erinnert zu werden. Vor dem Geschäftshaus der Brüder fiel ihr Blick auf eine seltsam wirkende Frau. Ein wenig fasziniert betrachtete sie sie. Lange, weder helle noch dunkle Haare fielen lockig über ihre Schultern, während sie an die Betonwand angelehnt saß. Sie wirkte unscharf, verschwommen. Als sich die Blicke der beiden trafen, meinte Hamburg, ein Glimmen in den Augen der anderen Frau zu sehen, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Mit einem Winken blieben die beiden Herren, die sie ständig begleiteten, vor der Tür stehen, während Hamburg sich niederkniete zu der fremden Frau, die nicht einmal blinzelte. Sie trug warme Kleidung – verständlich, denn die Kälte zerrte an jedem der Anwesenden – und war über und über behängt mit Naturschmuck – getrocknete Blumen, Insekten in Bernstein eingeschlossen und ähnliches. Die beiden blickten sich an, ehe die Fremde mit dem Kopf schüttelte. „Wenn du ihm jetzt nicht folgst, dann stirbt er einsam und vergessen.“ Hamburg verzog den Mund und lächelte nervös. Sie wusste genau, von wem die Fremde sprach, und tief in ihrem Inneren konnte sie spüren, dass sie Recht hatte und dass sie bei ihm sein sollte. „Entschuldigen Sie. Das macht keinen Sinn, von wem sollten Sie denn sprechen? Tsk.“ Hamburg schüttelte den Kopf und warf der Frau einen weiteren tiefen Blick zu. „Sie sind hübsch. Möchten Sie nicht bei mir arbeiten? Das wäre doch besser, als bei dieser Kälte hier draußen zu erfrieren.“ Tatsächlich meinte Jette es nur gut, aber vehement schüttelte die Fremde den Kopf. „Ich verkaufe nicht meinen Körper. Ich verkaufe nur meine Seele...“ Sie blickte geistesabwesend auf den Boden. Beide verharrten noch eine Weile, dann stand Hamburg auf und sah aus dem Augenwinkel, dass Bremen und sein kleiner Bruder aus dem Gebäude rannten. Bremen trug ein breites Grinsen und stoppte ein paar Zentimeter vor Hamburg. Sie lächelte ihn etwas gezwungen an. „Roland. Es ist schön, dich zu sehen.“ Ihre Gedanken rasten. Noch einmal blickte sie zur Seite, aber die seltsame Frau war verschwunden. Aber sie war keine Einbildung gewesen. Oder? Nein. An der Stelle, an der sie gesessen hatte, lag eine einzelne, verwelkende Blüte. Hamburg fühlte, wie ihr Herz heftig gegen ihre Brust schlug. „Was gibt’s denn, Jette, was machst du hier?“ fragte Roland in seiner typisch fröhlichen Art und riss sie aus ihrer kurzzeitigen Apathie, und als sie ihn ansah, wusste sie, dass es andere Prioritäten gab. „Ich- Entschuldigt mich. Ich muss wieder weg. Es geht mir nicht gut. Könnte ich euch um einen Gefallen bitten?“ Bremen nickte sofort. „Würdet ihr für ein paar Tage auf meine Geschäfte aufpassen? Es dauert wohl etwas länger.“ Bremen nickte erneut. Hamburg sah ihn dankbar an. „Ole!!“ rief sie einen ihrer Leibwächter und nach einer kurzen Umarmung, in die sie die beiden Jungs zog, die beide kleiner als sie selbst waren, ließ sie sich von ihm zurück zum Auto geleiten. Bremen winkte ihr freudig hinterher und Bremerhaven stand etwas betreten neben ihm. Als sich die schwarze Karosse entfernt hatte, hörte Bremen abrupt auf, zu winken, und sah seinen Bruder an. Dieser erwiderte den Blick, und als er sprach, war seine Stimme leise und unsicher. „War das wirklich richtig, Bruder? Diese... diese Helgoland ist mir nicht ganz geheuer...“ Bremen schüttelte den Kopf. Er war vollkommen davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. „Ich weiß auch nicht, welche Ziele sie verfolgt, aber es hat funktioniert, oder? Außerdem war es dein Plan.“ Hein sah ihn mit einem leicht verzweifelten Ausdruck an. „Ja, aber...“ Bremen winkte ab. „Nichts Aber. Ich will nicht, dass sie noch länger diesen Geschäften nachgeht. Jette soll endlich ein bisschen Frieden finden, und wenn sie ständig an diese sogenannte 'Mutter' erinnert wird... ist besser so. Für alle. Das weißt du auch.“ Bremerhaven antwortete nichts, sondern fragte nur leise, ob sie wieder hineingehen könnten. Sie hatten jetzt schließlich einen gesamten neuen Zweig, um den sie sich kümmern mussten, und den Hamburg nicht wieder sehen würde. Am Hafen der Stadt saß Helgoland auf einem Steg und blickte den Fluss hinab, der sich vor ihr erstreckte. Sie sah die Bilder klar und deutlich vor ihren Augen, sie wusste, was geschehen würde, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte das nicht gern getan, bei jedem anderen Menschen hätte sie das Schicksal in Ruhe gelassen, aber nicht bei dieser Frau, die ihr gesamtes Leben zerstört hatte und nicht einmal etwas davon ahnte. Nicht bei dieser Frau, die ihr ihre gesamte Familie genommen hatte, die ihr alles genommen hatte. Mit der nächsten Brise war Anna verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)