Jumays Kinder von -Izumi- (Part 1: Kinder der Erde - Land des Anfangs) ================================================================================ Kapitel 38: Windgeister ----------------------- Es war kalt. Es war eiskalt, kälter als es jeder Winter im Land am Meer jemals sein konnte. Und dunkler. Es war pechschwarz. Mahrran hasste die Schwärze; nicht die Dunkelheit an sich, sondern die innere Finsternis. Dass die Welt um ihn herum finster bis nicht erkennbar war, war er gewohnt; bereits schlechte Lichtverhältnisse an sehr bewölkten Tagen reichten aus, um ihn beinahe gänzlich blind zu machen – damit hatte er jedoch kein Problem, denn es war immer so gewesen, es war richtig so. Aber er war Lichtmagier, er brauchte zumindest eine innere Helligkeit... Wärme. Das hier war genau das Gegenteil von dem, was er sich wünschte, was er so dringend benötigte. Das war sein schleichender Tod. Er wusste nicht, wo er sich befand, ob er lag oder stand, ob er wach war oder schlief, allein oder mit Gesellschaft. Er versuchte sich zu erinnern... an etwas anderes als an das Licht, das ihm Leben gab. An irgendetwas aus dem Leben. Gesichter flackerten in der Schwärze auf, deutlicher als wenn er sie durch seine echten Augen – sein echtes Auge – angesehen hatte. Er versuchte sie zuzuordnen... da war Kili. Eine junge Frau aus dem Stamm der Menschen; stolz, schön und schwanger von ihm. Und dennoch hinterging sie ihn... wünschte sich vermutlich seinen Tod. Oder? Bei dem Gedanken an Tod erkannte er ein weiteres Gesicht, mit dem er noch nicht viel zu tun gehabt hatte. Moconi, Kilis Bruder. Ja, sie liebte ihn mehr als ihren eigenen Mann... Menschen waren doch allesamt verachtenswert. Ob er wohl bereits tot war? Moconis Speer hatte es wohl entschieden. Er erinnerte sich an dieses Ding, diese so perfekte Waffe, die sein Volk niemals auch nur annähernd erreichen würde. Aber er wusste nicht, was sie getan hatte... ob sie etwas getan hatte. Verdammt, er musste hier heraus! Er musste heraus finden, was mit ihm war, wo er war – was er war. Als Götterkind würde seine Seele nach seinem Tod nicht in die nächste Welt fahren – sie würde zu ihren göttlichen Eltern zurückkehren. Aber hier waren keine anderen Götter... Irgendwo weit entfernt erklang eine Stimme. Nur kurz und er verstand sie nicht, aber nach einer Weile des Nachdenkens vermochte er sie zuzuordnen. Dieser hohe, etwas unangenehme Klang... das war seine kleine Zwillingsschwester Nadeshda. Er hatte sie immer geliebt, aber sich nur schlecht mit ihr verstanden. Aber jetzt gab sie ihm Gewissheit... wenn er sie hören konnte, lebte er. Und er war zuhause. Das war eine gute Sache... ihm war nicht mehr so kalt. Nadeshda seufzte kaum hörbar, als sie sich vom Lager ihres Bruders erhob. Niemals hatte sie vorgehabt, sich jemals wieder dort nieder zu lassen... aber da hatte sie auch nicht daran gedacht, dass Mahrran jemals so krank werden könnte. Sie hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, es war ein seltsamer Husten gewesen. Das hatte er nun davon. Gedanklich verfluchte sie die Tatsache, dass ihr im Lenken des Schicksals im Bezug auf Krankheiten teilweise ziemlich die Hände gebunden waren – und was dieses „teilweise“ nicht abdeckte, wurde von ihr selbst kaputt gemacht. Die Schicksalslenkung war keine rein geistige Angelegenheit; auch wenn der mentale Teil überwog, war die physische Verfassung des Anwenders von großer Bedeutung. Je größer der Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge war, desto größer war auch der Schaden, den das Götterkind nahm. Umgekehrt konnte ein körperlich geschwächtes Götterkind auch keine all zu großen Eingriffe vornehmen – und sie war schwanger. Sehr schwanger mittlerweile im übrigen, langsam wurde es nervig. Abermals verfluchte sie Shiran. Wenn der gewusst hätte, wie sie jetzt herum rennen musste... und es würde sicherlich noch fast einen Mond dauern, bis dieses verdammte Kind sich endlich aus ihr heraus bequemte, dieses elendige. Wenn das doch bloß ihr einziges Problem gewesen wäre... Mahrran lag noch immer flach atmend und zitternd in seinem Lager, weit entfernt von jedem Bewusstsein. Sie wachte bereits eine ganze Weile über ihn, nun brauchte sie selbst ein wenig Ruhe. „Mach gefälligst, dass du bald wieder gesund wirst, Mahrran. Sonst werden uns die Menschen überrennen, ehe wir selbiges bei ihnen tun können. Oder dieser seltsame Dorfdepp mit dem wahnsinnig wissenden Blick reißt die Macht an sich – nicht weil er es will, sondern weil er es kann. Verhindere das bloß. Ich... hab dich ziemlich...“ Sie stockte. Sie konnte das nicht. „Na ja, du weißt schon. Ich mag dich.“ Dann ging sie. Chigaru dachte nicht daran, die Herrschaft über das Dorf an sich zu reißen, einfach, weil er es konnte. Er wusste nicht einmal, ob er es konnte und er verschwendete auch keine Gedanken daran, denn der Punkt war, er wollte gar keine Macht. Und keine Verantwortung – wo hatte er sich da bloß herein geritten? Er hatte ein schlechtes Gefühl. Warum hatte er auch auf den alten Mann gehört? Ach ja, er war eine Bereicherung für die Gruppe gewesen, oder wie auch immer er das damals formuliert gehabt hatte. Und jetzt war er darin verwickelt, weil er einmal zu viel gesprochen hatte. Dabei war er doch bloß gefolgt um aus dem verdammten Dorf weg zu kommen. Chigaru lebte schon lange nicht mehr zuhause. Er war erst dreizehn gewesen, da hatte er die Hütte seiner Mutter verlassen und hatte sich freiwillig ins Armenviertel zurückgezogen – einen anderen Ort hatte es für einen so jungen Mann nicht gegeben. Seiner angeblichen Klugheit hatte er zu verdanken, dass er von dort schnell wieder weg gekonnt hatte und nun in seinem eigenen kleinen, aber nicht hässlichen Heim lebte. Er mochte es, dort zu sein, aber ab und an war es selbst ihm dort etwas zu einsam und er trat tatsächlich den relativ kurzen Weg zum Haus seiner Familie an. Immerhin gehörte er irgendwie dazu... irgendwie. Jeder freute sich über ihn. Jeder mochte ihn. Seine Mutter, sein Stiefvater, seine ganzen jüngeren Halbgeschwister. Und wie jedes Mal, wenn er die vertraute, hölzerne Tür öffnete und ihm von überall begeisterte Reaktionen entgegenschlugen, fühlte er sich verdammt schäbig. Genau so, wie wenn er irgendwelchen seiner kleinen Halbgeschwister die eigene Haustür vor der Nase zuschlug, wenn sie da standen und ihn besuchen wollten. Der Punkt war nicht, dass er sie nicht mochte. Irgendwie mochte er sie schon. Aber wirklich alles in ihm sträubte sich gegen den Kontakt mit den Plagen oder deren Vater – der ihn seit jeher wie sein eigenes Kind behandelt hatte und den er eigentlich auch irgendwo gern hatte. So ließ er ein Aufeinandertreffen nur dann zu, wenn er es wirklich gebrauchen konnte – seltsamerweise hatte er danach immer einen ziemlich klaren Kopf und war währenddessen von so ziemlich allen Problemen der Welt abgelenkt. Trotzdem kostete es ihn Überwindung – als er erst einmal in seinem Elternhaus war, ging es dann aber wie immer quasi von selbst. Irgendwer zog ihn zum Tisch, irgendjemand saß dann auf seinem Schoß, dann quetschte sich noch jemand, der schon viel zu groß war, dazu, dass seine Beine taub wurden, seine älteste jüngere Schwester, ihrerseits schon einundzwanzig, fing an zu heulen, weil sie keinen Platz mehr bei ihm hatte und sich ungeliebt fühlte und während seine Mutter sich darum bemühte, umgeben von den Plagen irgendetwas Essbares für ihren Sohn zu fabrizieren, erzählte ihr Mann ihm fröhlich allerlei sinnloses, was weder interessant, noch nachvollziehbar war. Und er nickte und lächelte gezwungen, zwischendurch versuchend, seiner Schwester zu erklären, dass er sie sehr liebte und dann, dass er sie trotzdem nicht heiraten würde. Sie verstand das jedoch nicht und weinte einfach weiter. Das war das Problem. Alle seine reichlich vorhandenen Geschwister waren reihum etwas seltsamen Gemütes. Es war schwer zu beschreiben – sie waren nicht das, was man gemeinhin als geistig krank bezeichnet hätte, aber sehr weit davon entfernt waren sie auch nicht. Ihr Intellekt beschränkte sich auf das Allernötigste, hatte er häufig das Gefühl. Sie konnten nichts dafür, versuchte er sich dann einzureden und dennoch waren sie ihm zuwider, denn er war nicht so wie sie und obwohl er damit als Außenseiter da stand, fühlte er sich richtig so, wie er war. Das taten die anderen auch... vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, genau so zu sein wie die anderen. Im Großen und Ganzen dankte er den Göttern jedoch für den Intellekt, den sie ihm geschenkt hatten, und nahm ihnen das Fehlen von selbigem bei seinen Geschwistern relativ übel. „Hier, etwas anständiges zu essen für dich.“ Seine Mutter riss ihn aus seinen Gedanken, als sie ihm einen Teller mit gebratenem Fisch vorsetzte. Er mochte ihre Kochkünste und nickte ihr dankbar zu. „Könnt ihr beiden bitte hinunter? Ich kann so nicht essen.“ Sein Bruder und seine Schwester, die noch immer auf seinem Schoß saßen, warfen zunächst sich gegenseitig, dann ihm einen irritierten Blick. Das war nun aber wirklich deutlich gewesen – ach Himmel, sie konnten nichts dafür. „Ich bin hungrig, bitte steht auf.“ Sein kleiner Bruder stierte ihn wehleidig an. „Bist du jetzt böse auf mich?“ „Nein, er ist böse auf mich, euch hat er wenigstens ein bisschen lieb!“, mischte sich seine älteste jüngere Schwester unglücklich ein und putzte sich deprimiert die Nase. Chigaru seufzte. Nichts überstürzen. „Kinder, lasst ihn doch mal essen!“, lachte der Vater da aus irgendwelchen Gründen furchtbar amüsiert und seine Tochter, die sich noch immer nicht bewegte, schnaubte empört. „Lassen wir doch! Wir hindern ihn doch nicht!“ „Himmel, Vati, lach mich nicht aus, es ist nicht lustig, dass er mich nicht liebt!“ „Jetzt ist er sicher doch böse auf mich!“ „Ich habe meine Hose verloren...“ Der letzte Satz, gesprochen von dem jüngsten kleinen Bruder, seinerseits acht Jahre alt, bewegte seine Geschwister aus unerfindlichen Gründen zum entsetzten Aufspringen. Chigaru unterließ es, dem halbnackten Jungen irgendwelche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und aß hastig, ehe wieder irgendwer auf ihm saß, während die beiden, die gerade erst von ihm abgelassen hatten, dem Jüngsten beim Ausziehen seines Hemdes halfen, damit er nicht „unordentlich“, wie sie es nannten, aussah, und ihr Vater sie dabei auslachte. „Ich habe gehört, du bist jetzt sehr wichtig für das Dorf.“, erwähnte seine Mutter da sehr zu seinem Leidwesen das Thema, vor dem er eigentlich hatte flüchten wollen. Er verdrehte entnervt die Augen. „Ich habe einmal zu oft den Mund aufgemacht. Aber wie hätte ich zulassen können, dass wir in unser Verderben rennen?“ Die Frau schenkte ihm einen mitleidigen Blick. Auch wenn man es ihr nicht anmerkte, sie kannte und verstand ihn sehr gut und er spürte, dass er ihr leid tat, denn sie wusste, dass ihm die ganze Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zukam, mehr als nur unangenehm war. „Du bist so klug, du wirst uns alle retten.“, merkte da sein mittlerer jüngerer Bruder an und lächelte fröhlich. Nanu, seit wann saß der ihm denn gegenüber? Chigaru aß missmutig weiter. „Na, ich bin ja nicht so überzeugt.“ „Doch, doch, sicher! Du machst das schon.“, er kicherte, „Und bei der Gelegenheit suchst du dir endlich eine Frau!“ Im übrigen war dieser Junge der einzige unter den Plagen, mit dem man annähernd normal sprechen konnte. Er schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und ersparte sich einen Kommentar dazu. Er hatte recht. Mit seinen vierundzwanzig Jahren wurde es mittlerweile allerhöchste Zeit für ihn, wenn er noch eine Familie gründen wollte. Letzteres wusste er jedoch nicht, im Moment war er auch ganz glücklich so – und immer, wenn er das Bedürfnis nach Kontakt mit Kindern hatte, konnte er sich seine Überdosis in seinem Elternhaus nehmen, so einfach war das. Aber das würde hier niemand verstehen, also sprach er es auch nicht aus. Dass Alaji wütend war, kam selten vor. Dass sie es auf Nadeshda war, noch seltener. Und dass sie es dann auch noch zu zeigen wagte, war an sich undenkbar – dies war jedoch eine Ausnahme. „Ständig sitzt du mir im Nacken.“, brummte sie sichtbar ergrimmt, während sie neben der etwas peinlich berührten Rayada auf der hölzernen Sitzbank im Kochzimmer saß und zu ihrer kleinen Herrin, die mit leicht gesenktem Haupt in der Tür stand, aufsah, „Ich weiß, dass ich Mahrran gesund machen soll. Für dich und für das Volk. Ich weiß auch, dass ich die einzige bin, die es vielleicht auch kann. Aber bitte akzeptiere, dass ich nicht all meine Kraft darauf verwenden werde!“ Sie gab sich wirklich alle Mühe, aber ihre Ausdauer und ihr Wissen kannten beides ein Ende – besonders ersteres war dank ihrer Schwangerschaft im Augenblick nur in sehr eingeschränktem Maße vorhanden. Das war auch noch so eine Sache... „Weißt du, dass ich mich jederzeit bei deinem Bruder anstecken könnte? Dass das sowohl mich als auch mein Baby schneller töten könnte als Mahrran selbst? Ist dir vermutlich egal.“ Sie schnaubte und wandte ihren eigenen Blick von ihr ab, heimlich etwas verunsichert darüber, ob sie nicht vielleicht zu weit gegangen war mit ihrem letzten Satz. Sie entschloss sich dagegen – so wirkte es schließlich tatsächlich, sogar die dumme Kili ließ man aus Angst um ihr Kind nicht zu ihrem Mann, aber was aus Alajis einziger Erinnerung an den Mann in der Ferne, den sie so liebte, wurde, interessierte niemanden; sie war ja die Heilerin, das war ihre Arbeit, wie sich das auf ihr Privatleben auswirkte, konnte allen anderen ja egal sein. „Das ist mir nicht egal, glaube mir, dein Glück liegt mir am Herzen.“, versuchte Nadeshda sich da handzahm und keineswegs erbost herauszureden. Das war an sich schon ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass sie eigentlich wusste, dass die andere Frau recht hatte. Leise seufzend strich sie über ihren eigenen gerundeten Bauch. „Ich gehe doch auch zu ihm...“ „... du willst dein Kind ja auch nach seiner Geburt töten!“ Das würde sie im übrigen nicht zulassen. Sowohl Nadeshda, als auch Rayada, die sich noch immer etwas fehl am Platz fühlte – aber sie hatte doch gerade einen schönen Eintopf auf die Feuerstelle gestellt! – zuckten deutlich unter der erhobenen Stimme der Heilerin zusammen. Ja, verdammt, sie konnte auch sauer sein. Möglicherweise lag ihre Gereiztheit auch nur an ihrem Umstand, aber sie musste sich einmal Luft machen, denn hier ging ihr im Moment so einiges gehörig gegen den Strich. „Aber... du sagtest, das kann auch einen selbst töten!“ Es war nur ein schwacher Versuch, sich abermals aus der Affäre zu ziehen. So war Nadeshda normalerweise nicht, sie war standhaft und ließ sich von niemandem etwas sagen – die Sache mit Mahrran nahm sie mit. Zusätzlich ging es mit dem Dorf steil bergab und sie konnte sich nicht darum kümmern – aus lauter Verzweiflung hatte sie es kurzerhand inoffiziell irgendeinem Dorftrottel überlassen, das musste für jemanden mit einem solchen Stolz, wie sie ihn besaß, nahezu unerträglich sein. Vielleicht war sie zu hart mit ihr... „Aber du hast die Wahl.“ Alaji seufzte innerlich. Sie konnte nichts weiter gegen diese elendige Gereiztheit tun, als einfach ihre Gedanken auszusprechen. Das hier war kein Ort für sie... sie gehörte in Tecos Arme. Zu Beginn hatte sie es so, wie es nun einmal gekommen war, einfach bedingungslos hingenommen; sie war dankbar gewesen, mit ihrem Leben davon gekommen zu sein. Doch in letzter Zeit wurde sie mehr und mehr immer unzufriedener und erwischte sich immer wieder heimlich dabei, Pläne zu schmieden, um wieder zu Teco zu können; leider waren sie meist vollkommen sinnfrei und kindisch, sie war nun einmal keine Strategin. Aber irgendetwas musste sie tun, sie wollte nicht unbedingt so enden wie Mabalysca... „Dann sag mir, was ich tun soll!“ Die Heilerin zuckte zusammen, als die hohe Stimme ihrer Herrin mit einem Mal wieder gewaltig an Schärfe zugelegt hatte, und als sie aufsah stand in ihren Augen eine furchtbare Entschlossenheit. „Du hast recht, du sollst dich nicht für meinen Bruder opfern. Aber ich werde es zur Not tun; ich brauche aber deine Hilfe, ich weiß doch nicht, wie man einen derartig Kranken versorgt.“ Rayada zuckte zusammen, dann griff sie sich entsetzt an die Stirn. „Ach!“, kam dann, „Da hätten wir früher drauf kommen können. Die junge Herrin und ich können das doch auch übernehmen...“ Das klang ja utopisch. Alaji schüttelte nur den Kopf. Nein, genau das war das Problem, entweder, sie würde sich opfern oder Mahrran fand den sicheren Tod. „Wenn ich genau wüsste, wie seine Krankheit verläuft, könnte ich euch natürlich sagen, wie ihr ihn behandeln müsst, aber dazu muss ich ihn doch untersuchen. Und euch das in angemessener Zeit beizubringen halte ich für annähernd unmöglich... tut mir leid.“ Im Moment war es leicht, die Geschehnisse im Dorf zu verfolgen. Mahrran war vollkommen ausgeschaltet und Nadeshda hatte im Moment wahrlich andere Gedanken – das machte das Ganze für den Seher so aber auch etwas uninteressant; wenn sie nichts versuchten, was den Menschen schaden würde, musste er an sich auch nicht wirklich so genau wissen, was sie taten. Dennoch interessierte es ihn. Er seufzte, während er auf einem kleinen Felsen im Grasland hockte und einer Herde Antilopen unweit von sich entfernt zusah. Die hatten keine Probleme... außer menschlichen Speeren, aber das war wohl etwas anderes. Es war ein schöner Tag, die Temperaturen waren für den Wassermond wahrlich angenehm, bloß etwas windig war es. Seufzend band er sein zu seiner Freude etwas gewachsenes Haar mehr oder minder gut zusammen, damit es ihm nicht mehr so störrisch um den Kopf wehte; vielleicht sollte er sich ein paar Ratschläge bei Kajira nehmen, der kannte sich wohl aus. Er lächelte unwillkürlich über die harmlosen Gedanken. Es gab so viel schlimmes, so viel besorgniserregendes... er war ein Seher. Er war damit aufgewachsen und trotzdem erschreckte er sich immer wieder. Auch jetzt erschreckte er sich... über die katastrophale Situation seines Dorfes. Kurzzeitig hatte er sogar darüber nachgedacht, zurückzukehren um irgendetwas sinnvolles zu tun, irgendwie zu helfen – dann waren ihm seine Prinzipien und Pläne wieder eingefallen und er hatte die unüberlegte Idee schnell wieder verworfen. Es war gut wenn sie litten, wenn sie sahen, wie viel Vertrauen die Tankanas verdienten. Die Tankanas, die Himmelskinder, die kurz, nachdem sie ihre göttliche Herkunft bemerkt hatten, ihre eigenen Eltern ermordet hatten. Es war einer der Gründe, für die er sie verabscheute. Sicherlich waren der alte Herr und seine Frau auch nicht wirklich das Musterbeispiel eines guten Herrscherpaares gewesen, aber darum ging es auch gar nicht – sie waren die Eltern von Mahrran und Nadeshda gewesen, sie hatten ihnen das Leben geschenkt. Und ihre eigenen Kinder hatten sie dann getötet. Shiran fand das so abgrundtief widerlich, dass ihm schlecht wurde, wenn er auch nur daran dachte. Er hatte seine Eltern verloren, an die See und an die Krankheit, er hatte sie so geliebt, aber man hatte sie ihm genommen. Und diese beiden Götterschanden hatten diese wertvollen Leben einfach so weggeworfen, wie ein wertloses Stück Dreck. Es war nur einer von vielen Gründen für seine Abscheu. Wenn das Dorf jetzt das Leiden lernte, dann würde es ihn als Herrscher erst recht zu schätzen wissen – zumindest, wenn er diesen seltsamen, urplötzlich aus der Versenkung aufgetauchten Kerl ebenso davon zu überzeugen vermochte, denn Chigaru Tamassy hatte das Talent, mit nur wenigen Worten das gesamte Volk hinter sich zu bekommen – ob er wollte, oder nicht. Und obgleich er nicht unbedingt der geborene Anführer war, besaß er einen über alle Maße ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und der würde es ihm verbieten, Shirans Herrschaft zuzulassen, wenn er auch nur einen einzigen Grund fand, ihm zu misstrauen. Der Mann brummte mürrisch, als er weiter darüber nachdachte und sich fragte, warum ihm die Götter eigentlich grundsätzlich seit seiner Geburt immerzu Steine in den Weg legten. Es hätte nicht sein müssen, Tamassy hätte auch den Mund halten können, dieser unverschämte Kerl mit dem noch unverschämter guten Aussehen. Nicht, dass Shiran sich sonderlich für das Äußere anderer Männer interessiert hätte, aber das war nicht nur seit jeher unglaublich auffällig, sondern für ihn auch ziemlich demütigend. Ergrimmt beschloss er, alle, die ihn in seiner Kindheit wegen seiner Hässlichkeit ausgelacht hatten, zum Tode zu verurteilen. Und Tamassy gleich mit, zum einen, weil er dann gar nicht mehr dazu kommen würde, Kritik an ihm zu üben und zum anderen, weil er seine Eitelkeit noch immer verletzte. Ohne jemals etwas getan zu haben, aber wenn er erst einmal der Herr war, konnte er es sich wahrlich leisten, über einen solchen Unsinn zu richten. Oh, er freute sich so auf seinen hart erkämpften Sieg – er würde noch auf sich warten lassen und so beschloss er, diesen einen ruhigen Moment einfach dazu zu nutzen, sich etwas treiben zu lassen. Seine Götter unterrichteten ihn darüber, dass Nadeshda gleich baden würde... na, irgendwie lohnte sich das doch. Sanan war abermals damit beschäftigt, seinen besten Speer zu reparieren. Er wusste nicht, ob es nun an seiner Ungeschicklichkeit in der Herstellung der Waffe oder an seiner Ungeschicklichkeit im Umgang mit der Waffe lag, aber aus irgendwelchen Gründen war sie nun zum zweiten Mal innerhalb eines Gefechts mit den Bestien zerstört worden und so saß er nun genervt vor seiner Hütte und versuchte, den Speer dieses Mal so zu bearbeiten, dass er etwas mehr aushielt als nur eine Schlacht. Schließlich musste er auch noch damit jagen... „Versuche es einfach einmal mit mehr Sehnen.“ Er sah verblüfft auf und in Novayas gleichmütiges Gesicht, der auf seinen Blick nur mit den Schultern zuckte. „Zumindest macht unser Vater das meist so.“ „Und der... ist... jagt gut.“ Semliya, der von seinem Zwilling gestützt wurde, bemühte sich offensichtlich um seinen einst so perfekten, nichtssagenden Ausdruck, doch seine Maske aufzusetzen wollte ihm partout nicht gelingen. Immer wieder huschten seine Augen ziellos umher, ohne, dass er es selbst wollte und seine Miene wirkte mehr apathisch als seriös – er konnte einem Leid tun. „Mehr Sehnen? Na gut, einen Versuch ist es wert – setzt euch.“ Die Brüder kamen seiner Aufforderung wortlos nach und ließen sich dicht nebeneinander an der im Augenblick toten Feuerstelle nieder. Da fiel ihm ein, er brauchte auch dringend neues Brennmaterial... aber zunächst der Speer. Es machte ihn etwas nervös, dass die beiden eisblauen Augenpaare zunächst wortlos jede seiner Bewegungen genau studierten, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Stattdessen begann er ein belangloses Gespräch. „Ist es denn in Ordnung für dich, wenn du so viel durch die Gegend rennst, Semliya?“ Der Angesprochene brauchte einen Moment, um zu reagieren. Als er bemerkte, dass er gemeint war, weitete er zunächst kurzzeitig überfordert die Augen, dann fiel ihm scheinbar ein, was er sagen wollte – wenn auch nicht wirklich konnte – und antwortete. „... muss. Ich... nicht so liegen. Gehen... verstehst... du?“ Er errötete etwas und verlor abermals den Kampf darum, seine gewohnte Fassade aufzubauen, als er deprimiert sein Haupt senkte. Wenn man seinem Gestammel lauschte, hatte man im ersten Augenblick das Gefühl, er sei vollkommen verrückt, aber wenn man sich etwas auf den Inhalt davon einließ oder seine Bemühungen, sich wieder seinem Zwilling anzugleichen, dann wurde man das Gefühl nicht los, dass er in seinem Kopf längst nicht mehr so vernebelt war, wie die meisten wohl noch annahmen. Etwas in ihm war kaputt gegangen und das verhinderte nun, dass sein Körper ihm so gehorchte, wie sein Geist es von ihm verlangte... das musste ihn ziemlich mitnehmen. Sanan sah ihn ernst an – beinahe bedauernd, doch er konnte es sich gerade so noch verkneifen; er wollte ihn nicht noch zusätzlich entehren. „Hör mal, es tut mir wirklich... grauenhaft leid, dass ich dir nicht habe helfen können.“ Und wollen, addierte er in Gedanken, denn als ihn das Gefühl überkommen hatte, die ohnehin brenzlige Lage vollkommen aus der Kontrolle zu verlieren, war er aus Selbstschutz einfach gerannt. Er war eben noch nicht sonderlich geübt in der Erdmagie... „... aber wie du es versucht hast, war beeindruckend.“, unterbrach Novaya seine Gedanken da mit einem winzigen Hauch ehrlicher Bewunderung in seiner Stimme – einer Bewunderung, die er bis dahin bei den Zwillingen höchstens – und das auch nur sehr, sehr selten – vernommen hatte, wenn sie von Dherac gesprochen hatten. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ob er über das Wissen der Brüder entsetzt sein sollte, so schwieg er zunächst. „Du bist... Bestie. Eine Gute.“, ergänzte Semliya dann auch nach bestem Können und lächelte leicht. Sanan wandte sein Gesicht unglücklich ab. „Ich bin keine Bestie. Ich bin ein Mensch. Vergesst, was ihr gesehen habt.“ Er bemerkte, wie Novaya bloß unbeeindruckt eine Braue hob. Dann lächelte er überraschend ebenfalls. „Nein, eine Bestie bist du vielleicht nicht. Aber auch kein Mensch. Wir ahnten, wie du darüber denkst, es ist ja auch nicht weiter verwunderlich... alles, was wir dir sagen wollten...“ Er schielte kurz auffordernd zu Semliya, der dieses Mal erstaunlich schnell verstand und es sogar annähernd schaffte, sich dem Ausdruck seines Zwillings anzugleichen. „... wir... sind stolz. Auf dich... Bruder.“ „Das ist doch nicht dein Ernst! Ist das dein Ernst? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Da es am Nachmittag im Land am Meer zu regnen begonnen hatte, hatten sich einige der wichtigsten Krieger an diesem Tag in einem seit einiger Zeit leer stehenden, zumindest halbwegs trockenen Gebäude versammelt. Die Meute starrte überrascht auf Irlak, der auf Chigarus an sich nachvollziehbare und nicht weiter verwunderliche Erläuterung der weiteren Vorgehensweise vollkommen die Fassung zu verlieren schien. Der unfreiwillige Anführer quittierte dies zunächst bloß mit einer gehobenen Braue und hielt es für ratsamer, den Mann aus dem Ekarett-Clan, aus dem in jenem Moment einige Mitglieder hier versammelt waren, erst einmal zu Ende anzuhören. Vielleicht hatte er ja einen wahrhaftigen Grund für seine Empörung, auch wenn er es bezweifelte. „Wie lange sollen wir denn noch warten? Bis wir uns nur noch von Wurzeln und Dreck ernähren können hier, oder wie? Nein, ich... ich gehe in das neue Land, zur Not alleine, genau.“ Nicht, dass er es nicht geahnt gehabt hätte. Chigaru seufzte kaum hörbar. „Wurzeln sind eine sinnvolle Nahrungsergänzung und können je nach Zubereitung sehr gut schmecken.“, erklärte er gleichmütig und meinte damit eigentlich, dass sie an sich nur etwas sparsam sein mussten, dann würde ihnen das Essen bis zu dem Tag, an dem es endlich soweit war, schon nicht ausgehen. Das verstand jedoch leider niemand. Irlak eingeschlossen, der darauf nur empört die Hände zu Fäusten ballte. „Ich will aber keine Wurzeln fressen! Ich will Fleisch! Und hör gefälligst auf zu seufzen, wenn ich etwas sage – ich sehe das ganz genau, oh ja!“ Rato schüttelte seufzend den Kopf. Sein Lieblingsbruder hatte schon immer ein ausgeprägtes Problem damit gehabt, wenn er sich nicht ernst genug genommen gefühlt hatte. Und Respekt hatte er vor Chigaru ohnehin nicht – war ihm auch recht so, warum übernahm der jetzt eigentlich die Führung? Am Ende war er es gewesen, der Nadeshda geschwängert hatte, um die Macht an sich zu reißen... Er ahnte nicht, dass sich weit entfernt jemand anderes gerade extrem über seine Mutmaßung ärgerte und er infolge dessen ganz weit oben auf der gedanklichen Todesliste jener Person landete. „Aber jetzt allein in das fremde Land zu gehen wäre töricht, Irlak. Warte, bis alle wieder soweit sind.“, riet Chigaru ihm unterdessen ruhig und ein anderer Mann zischte erbost. „Ja, alle, einschließlich der Menschen. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, in dem hatten sich diese Maden zahlenmäßig verdoppelt – ich glaube, die Götter haben zu mir gesprochen.“ Ein anderer Krieger lachte darauf bloß hohl. „Verdoppelt? Na, wie machen die das denn? Laichen die wie die Fische, dass da auf einen Schlag gleich so viele mehr da sind...?“ Einige andere, aus unerfindlichen Gründen scheinbar gut gelaunt, stimmten lachend mit ein. „Na, guck dir diese Kerle mal an, die schaffen sicher eine Menge!“ „Aber ob die Frauen da auch mitmachen?!“ „Die Frauen sind da sicher größer als unser Herr, also bestimmt...!“ Chigaru seufzte abermals, während der erste Mann, der von seinem Traum gesprochen hatte, bloß empört die Arme vor der Brust verschränkte. „Der Schlangenstamm ist nicht allein in diesem Land. In der näheren Umgebung findet sich auch noch der Kojotenstamm – und unter den Menschen ist es üblich, sich in Notsituationen zu helfen.“ Darauf herrschte zunächst einmal entsetztes Schweigen. Der Traumdeuter nickte zufrieden, wenn auch etwas beunruhigt von der annähernden Bestätigung seiner Gedanken. Rato fasste sich verunsichert an den Kopf. „Heißt das... wir müssen zwei dieser Stämme vernichten? Ach... kommt, wir suchen uns jetzt einfach ein eigenes Land, ich habe keine Lust mehr.“ Einer seiner Brüder boxte ihn auf die Schulter und schnaubte. „Du Feigling.“ Ein Raunen ging durch die Reihen. Chigaru brummte nur. Sollte er es positiv sehen, wenn sie die nächste Schlacht gewannen, dann hatten sie auch auf einen Schlag beide Stämme aus dem Weg. Die Betonung lag allerdings auf dem wenn. Er war weder Götterkind, noch Seher, das war sehr schlecht, vor allen Dingen, wo ihn das Gefühl nicht losließ, dass die bald hochschwangere Nadeshda ernsthaft mit dem Gedanken spielte, nicht nur durch ihn zu regieren, sondern die gesamten Regierungsgeschäfte kurzzeitig auf ihn abzuschieben. Nicht, dass das verwunderlich gewesen wäre, ihr Umstand und die Tatsache, dass ihr Zwillingsbruder gerade im Sterben lag ließen nicht unbedingt einen besonders klaren Verstand zu, zumindest wenn man eine solch impulsive Persönlichkeit war wie die kleine Herrin. „... aber ein eigenes Land wäre doch nicht schlecht. Ich sage, wir setzen uns in unsere Boote und fahren einfach drauf los, vielleicht entdecken wir ja etwas.“ „Genau, und dieses Land nennen wir dann Land, das wir mit dem Boot entdeckt haben-Land!“ „Spinnst du? Mit unseren kleinen Booten auf die Hochsee, dann können wir uns ja gleich von den Klippen stürzen. Ich sage, wir bereiten uns gut vor und dieses Mal vernichten wir die Primitiven – ihr Land wird das beste sein.“ „... und wir nennen es Land, das wir den Menschen abgenommen haben-Land!“ Chigaru räusperte sich. „Ist es nicht noch etwas früh, sich über die Namen unserer Länder Gedanken zu machen? Und überhaupt, dieses Land hier hat doch auch keinen...“ Der Kerl mit den guten Vorschlägen starrte ihn entsetzt an. „Das hier ist das Land zwischen Bergen und Meer-Land, du Tölpel.“ Ach so, das erschloss sich ihm dann sogar. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass die Kalenao jetzt nicht unbedingt so kreativ waren in manchen Bereichen, aber da das erstens nichts zur Sache tat und das zweitens ohnehin jeder falsch verstanden hätte, sparte er es sich. „Jedenfalls, um noch einmal zum Thema zurückzukehren, wir werden jetzt eine Weile warten. Geschlossen alle von uns müssen stark und gesund sein, denn das, was wir vorhaben, haben wir uns selbst unnötig erschwert.“ Irlak brummte. „Ich habe nichts falsches getan.“ Es hatte schon seinen Grund, dass er sich angesprochen fühlte. Chigaru schenkte ihm bloß einen kurzen Blick. „Menschen sind keine Nahrung.“ „Ja, Steine auch nicht.“ Nadeshda hatte nicht unbedingt ein besonders gutes Gefühl, als sie daran dachte, dass es nun dieser komische Kerl aus dem Dorf war, dem sie blindlings diese Verantwortung übertragen hatte. Die Götter bestätigten sie in ihrem Handeln und dennoch war es irgendwie falsch... zumindest versuchte ihr eigener, machthungriger Geist ihr das einzureden. Sie wollte die einzige Herrscherin sein... aber das war im Augenblick unvernünftig, das wusste sie und dem beugte sie sich auch. Und dennoch war es grauenhaft für sie... sie hatte ihre Stellung nach dem Tod ihrer Eltern so genossen. Versonnen streichelte sie – wenn auch ungewollt – über ihren runden Bauch, während sie auf ihrem Lager saß und durch die geöffnete Fensterklappe dem Prasseln des Regens lauschte. Ihre Kindheit war grauenhaft für sie gewesen. In ihrem Inneren hatte es immer gleich ausgesehen. Immer schon hatte sie Macht gewollt, einen hohen Rang und an sich war sie dazu auch in die perfekte Familie geboren worden – es hieß, die Tankanas regierten überall auf der Welt. Aber sie war nicht so gewesen, wie es sich für ihren riesigen Clan gewöhnlich gehörte. Sie war so klein gewesen, so schwach, nicht einmal ihre eigenen Beine hatten sie getragen. Sie war absolut unselbstständig und abhängig von allen anderen gewesen... sie hatte es so gehasst. Aber noch viel mehr als ihre eigene Schwäche hatte sie die Reaktionen ihrer Eltern darauf verabscheut. Die normalen Kalenao aus dem Dorf hatten ihr dank ihres Familiennamens natürlich trotzdem größten Respekt gezollt, wenn sie ihr denn einmal begegnet waren – aber das war nicht häufig vorgekommen, ihre Eltern hatten sie versteckt. Mit Gram erinnerte sie sich an das reservierte Paar zurück. Sie waren immerzu höflich zu ihr und Mahrran gewesen, solange sie ihnen nicht extrem widersprochen hatten, aber das war an sich nicht oft vorgekommen. Aber ihre Blicke hatten mehr gesagt als es tausende Worte je gekonnt hätten. Diese Enttäuschung... und die Scham. Sie erschauderte und verengte ihre Augen verbittert zu schmalen Schlitzen. Sie hatten doch nichts dafür gekonnt. Und trotzdem hatte sowohl sie selbst als auch Mahrran in ihrer Kindheit alles erdenkliche versucht, um ihren Eltern zu gefallen, obwohl es ihnen an sich klar gewesen war, dass es keinen Sinn gehabt hatte. Mabalysca war ja da gewesen, alles andere hatte man da ignorieren können, so lange es nur irgendwie in die perfekte Welt gepasst hatte. Und das war so einfach für sie gewesen. Einfach das kleine, krüppelige, behinderte Mädchen in ein hübsches Kleid stecken und irgendwohin setzen – es nahm ja nicht viel Platz weg. Bleib einfach da sitzen, sei still, rühre dich nicht vom Fleck. Und das hatte sie dann getan, ihr war ja nichts anderes übrig geblieben. Oftmals hatte man sie fast den ganzen Tag einfach so da sitzen gelassen, ohne sie weiter zu beachten, außer, wenn sie Hunger bekommen hatte oder sich einmal hatte erleichtern müssen, dann hatte man sich ihr gezwungenermaßen kurz lieblos gewidmet. Sie hätte so gerne einfach einmal gespielt. Manchmal war Mahrran gekommen. Manchmal hatte er sie einfach auf die Arme genommen. Er war selbst nie sonderlich groß oder kräftig gewesen und hatte sie immer nur wenige Schritte weit tragen können, aber sie hatte ihn dafür so geliebt. Aber es war nicht oft geschehen, denn wenn er dabei erwischt worden war, hatte er sich eine gefangen. Deine Schwester ist zerbrechlich, du tust ihr weh! Er hatte ihr kein einziges Mal auch nur ein kleines Bisschen weh getan. Aber sich darüber zu ärgern hatte für sie bereits damals keinen Sinn gemacht, Mahrran selbst war es nie besser gegangen als ihr. Zwar hatte er sich bewegen können – aber auch nur im Haus. Und wenn Gäste empfangen wurden, dann hatte er niemals zum schön aussehen da gesessen, denn die hatten ihn furchtbar hässlich gefunden. Nicht, weil er ein hässliches Gesicht gehabt hätte, aber sein Auge war für sie absolut widerlich gewesen. Ihre Mutter hatte es nicht ansehen können, sie hatte ihm immerzu das halbe Gesicht verbunden, damit ihr der ach so schlimme Anblick auch ja erspart blieb. Mahrrans krankem Auge hatte das gar nicht gefallen, es hatte getränt und sich dann unter den ständig feuchten Tüchern entzündet, sodass der kleine Junge quasi immerzu schlimme Schmerzen gehabt hatte. Aber wie es dem untauglichen, fast blinden Erben gegangen war, hatte auch niemanden interessiert. Sie hatten ja ihre Mabalysca gehabt. Umso überraschender war dann gewesen, als sie eines Tages doch noch von ihren ältesten Kindern verlangt hatten, für die Tankanas der nächsten Generation zu sorgen – miteinander. Sie selbst hielten die Gefahr des Machtverlustes durch fremdes Blut für zu gewaltig, sodass sie es einmal mehr darauf ankommen lassen wollten. Und wie es den Kindern dabei gegangen war, hatte sie nicht interessiert... Die Frau erhob sich zitternd, trat an die Fensteröffnung und schloss die Klappe etwas sehr schwungvoll. Sie wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen... sie hätte nicht darüber nachdenken sollen. Empört über sich selbst wischte sie sich über ihre etwas nassen Augen und schnaubte. Sie hasste sie so, sie war so froh, dass sie elendig verreckt waren. Sie hatte es genossen, die beiden in ihren letzten Stunden leiden zu sehen, ja, sie hatte vor ihnen gestanden und hatte gelacht, zum ersten Mal in ihrem Leben aus ganzem Herzen glücklich. Und Mahrran war es auch gewesen... Mahrran, den sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr hatte ansehen können vor Scham und Unbehagen, denn ihre Eltern hatten es ja erfolgreich geschafft, ihre Beziehung zueinander nachhaltig zu zerstören. Nein. Diese miesen Götterschanden hatten nichts zerstört, sie ließ es nicht mehr zu. Bitter das geschlossene Fenster anlächelnd schwor sie sich, entgegen ihrer tiefen inneren Abneigung dagegen, Mahrran, wenn er wieder gesund wurde, einmal ganz innig zu umarmen. Ja, wenn er wieder gesund wurde, würde alles wieder gut werden, sie würde ihre Macht zurückerlangen und gemeinsam würden sie das neue Land erobern. Und dabei würden sie besser sein, als es ihre Eltern jemals gewesen waren. Sie dankte den Göttern dafür, dass ihre Eltern damals so überraschend verstorben waren. ---------------------- Ein Herz für die Namensvorschläge für das neue Land. ♥ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)