Jumays Kinder von -Izumi- (Part 1: Kinder der Erde - Land des Anfangs) ================================================================================ Kapitel 28: Kälte ----------------- Mahrran war zu langsam gewesen. Die Männer taten sich schwer damit, Speere wie die der Menschen zu bauen – Shiran wäre wirklich nützlich gewesen – und auch als die ersten es schließlich schafften, etwas herzustellen, was dem der Menschen zumindest nahe kam, hatte keiner auch nur den Hauch einer Ahnung davon, wie man damit umzugehen hatte. „Und du bist sicher, es gibt keine andere Möglichkeit?“, hatte Mahrran seine Frau murrend gefragt und die hatte nur mit den Schultern gezuckt, was den Mann nicht unbedingt ermutigt hatte. Zunächst zum Kapitulieren brachte ihn letztendlich jedoch ein Ereignis, das derart abstrus, ungewohnt und fremdartig war, dass er darüber nicht einmal sauer sein konnte – das musste schließlich einfach Wille der Götter sein; hoch über den Bergen begann es zu schneien. Und jeder noch so schlechte Magier wurde von den Stimmen gewarnt, die Pässe zu betreten – seine eigenen Untertanen wollte das Dorfoberhaupt letztendlich natürlich nicht in den Tod schicken. Und so war er wohl oder übel zu einer Pause gezwungen. Letztere war auch dringend nötig, es gab einige andere Dinge, um die sich gekümmert werden wollte. So stand Mahrran eines Morgens umgeben von einigen Dorfbewohnern der Unterschicht irritiert an der Küste. Eisiger Regen schlug ihnen vom Meer her ins Gesicht, gelegentlich peitschte sie auch noch der winterliche Wind mit kalten Böen. Der Wassermagier fror im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen kaum; er trug seinen guten Mantel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Nicht, dass er letzteren so gern gemocht gehabt hätte, dass er es mochte, alte Kleidung von ihm anzulegen, aber dieses besondere Exemplar hielt nicht nur wunderbar warm, sondern war auch eine Art Statussymbol, durch das er gleich viel größer und mächtiger wirkte, als er eigentlich war. Nun stand er also da, an den nicht vorhandenen Toren des Armenviertels des Dorfes und von allen Seiten erwartete man ein Urteil seinerseits. Er jedoch ließ sich Zeit und fragte seine Götter in aller Ruhe, was das da war. Seinem einen, schlecht funktionierenden Auge traute er nicht... bei dem zugezogenen Himmel und der schlechten Witterung erkannte er nur Silhouetten. Es war nicht unwahrscheinlich, dass er irgendwann einmal komplett erblinden würde... erstaunlicherweise fand Mahrran den Gedanken daran nicht wirklich besorgniserregend. Er hörte perfekt, er fühlte perfekt... er war nie auf das Sehen angewiesen gewesen. Nun war er es jedoch noch zumindest etwas und das, was er da zu erkennen glaubte, konnte er sich irgendwie nicht so ganz erklären. Es stimmt. Es ist so, wie du denkst. Das waren nun aber wirklich sehr hilfreiche Worte gewesen. Er seufzte. „Sprecht. Wie ist das geschehen?“ Die einfachen Untertanen sahen sich zunächst untereinander an, dann erbarmte sich ein Mann zu sprechen. Er war groß und von guter Statur. Sicherlich konnte er mit seinem Speer umgehen, überlegte sich das Dorfoberhaupt nebenbei. „Heute Nacht war es, ganz plötzlich. Wir wurden wach, weil unsere Schlaflager auf einmal nass waren. Ich wollte aufstehen, unser Dach hat oft Löcher, das lässt sich reparieren... nun, ich stand auf und stand darauf knietief im Meer, ja.“ „Was da jetzt genau war, weiß hier niemand.“, mischte sich auch eine kleine, überraschenderweise etwas pummelige Frau ein. Warum lebte die in diesem Viertel? „Jedenfalls ist der gute Strand weg und unsere Häuser sind es gleich mit. Oder zumindest nicht mehr bewohnbar... oh...“ Die Gruppe drehte sich geschlossen wieder dem Ort zu, wo sich zuvor der erwähnte Strand befunden hatte, als eine Hütte knarrend in sich zusammenbrach. „Das... war meine...“, stellte die Frau dann stammelnd fest und hielt sich ihre Hand darauf erschrocken vor den Mund. Mahrran hob eine Braue. Was bezweckten seine Götter nun damit? Warum schwächten sie das Dorf nun auch noch zusätzlich? Während er nachdachte, wurde die Meute unruhig. Der Mann von zu Beginn unterbrach seine Gedanken schließlich. „Wo sollen wir jetzt hin? Irgendwo müssen wir auch schlafen und essen.“ Das war wahr. Und das war eine Katastrophe. Wohin mit diesen ganzen Leuten? Er konnte sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, egal wie dumm und unbegabt sie waren, sie gehörten doch zu seinem Volk! Er ließ seinen trüben Blick noch einmal nachdenklich über die verwirrte Gruppe schweifen. Und er musste schnell handeln, bei dieser Witterung konnten sie nicht lange draußen bleiben. Er entschloss sich dazu, das Beste, was ihm spontan gerade einfiel, einfach in die Wege zu leiten. „Nehmt alle Sachen, die ihr noch retten könnt und geht dann zu den anderen! Zu irgendwem! Sie müssen euch aufnehmen, erwähnt meinen Namen. Ich überlege, wie es weiter geht...“, er schielte zu der pummeligen Frau, die noch immer ihrer zusammengebrochenen Hütte nachtrauerte. „Du kannst mit mir kommen.“ Beinahe hätte er sich dazu erbarmt, der nun Obdachlosen, die er freundlicherweise bei sich aufgenommen hatte, beim Tragen zu helfen. Sie hatte überraschenderweise relativ viel aus ihrer Ruine retten können und stapfte nun triefnass und schwer beladen hinter ihm her. Wirklich, er hätte ihr gern geholfen, aber er war nun einmal Mahrran, ein Götterkind, ein Tankana – so zeigte er sich zumindest kooperativ, indem er ihr nicht zu schnell vorauseilte, auch wenn die schlechte Witterung langsam auch an seinem Wohlbefinden zehrte. „Vielen Dank!“, stammelte sein Gast hinter ihm völlig außer Puste, „Es... tut mir... leid, dass ich so... langsam bin... du meine Güte... dieser Weg ist steil!“ Er hielt an und als er sich zu ihr umdrehte, bedauerte er es abermals, dass sein Stand ihm keine Hilfe anzubieten erlaubte. „Das ist selbstverständlich. Und bitte, keine Hast.“ Außerdem hatten sie es ohnehin bald geschafft. Er würde ihr die Kammer geben, die konnte sie sich selbst so einrichten, wie sie es wollte – oder es ihr möglich war. Vielleicht konnte sie als Dienerin für seine Kili fungieren oder so, irgendwie war sie doch wahrlich sympathisch. Nadeshda bemerkte sie erst, als sie längst angekommen waren und die Frau ermüdet auf dem Boden bei ihren Mitbringseln saß und sich zunächst ausruhen wollte, ehe sie irgendetwas anderes tat. Trotzdem bemühte sie sich, für ihre Herrin auf die Beine zu kommen, um sich direkt darauf wieder vor ihr zu verneigen. Die Kleinere hob verblüfft beide Brauen – natürlich wusste sie, was im Dorf geschehen war, aber... „Dich hat mein Bruder ausgewählt?“ Ihr Gegenüber kicherte und kratzte sich am Kopf, an dem triefnasse, pechschwarze Haarsträhnen klebten. „Nun ja – ja, meine Herrin, ich schätze schon. Ich werde keine Last sein, sicher nicht, ich werde mich als sehr nützlich erweisen!“ Das glaubte Nadeshda sogar, sie war gesund und stark; zumindest, falls sie es schaffte, sich nun nicht zu erkälten. Sie musterte sie eingehend, dann wandte sie sich glucksend ab. „Alles klar.“, kam dann und der Gast legte seinen Kopf schief. „Herrin?“, wagte sie, die andere noch einmal aufzuhalten, worauf diese auch inne hielt, „Seid Ihr... schwanger?“ Die Antwort war ein einfacher, leicht verlegener Blick und eine Hand, die sich auf den gerundeten Bauch legte – und sie ließ Irritation zurück. Der Winter zeigte sich hartnäckig. Manch einer fragte sich, ob sie wohl zu langsam gewesen waren, ob es im Land hinter den Bergen wohl wärmer war oder ob das raue Klima wohl eine Strafe der Götter war. Die Himmelskinder wussten es nicht. Alles, was sie mitbekamen, war, dass das Meer langsam wieder dahin zurückging, wo es auch hingehörte, und zurück blieb der zerstörte Strand. Letzteres war zwar ein Desaster für die ursprünglichen Bewohner dieses Ortes, doch die Zwillinge hießen es gut – das Volk war äußerst zornig und unruhig gewesen, so lange es in seinen Augen irgendwelche minderwertigen Blutsbrüder und -schwestern hatte bei sich wohnen lassen müssen. Um die zusätzliche Belastung wieder los zu werden, arbeiteten schließlich alle gemeinsam am Wiederaufbau des Viertels – letztendlich war es schöner als zuvor und die meisten waren der Meinung, es sei eine Schande, die guten neuen Häuser demnächst einfach zu verlassen. Essen gab es trotzdem kaum. Kilis Dienerin blieb auf Mahrrans ausdrückliche Erlaubnis hin, denn seine Gattin mochte sie und die einfache Dorffrau war alleinstehend und hatte niemanden gehabt, für den es sich gelohnt hätte, zurückzukehren. Die große Seuche hatte ihre komplette Familie vor vielen Jahren dahingerafft, teilte sie den Tankanas irgendwann beiläufig mit, während sie sich um das Küchenfeuer kümmerte. Und während alle darauf warteten, dass die Zeit, in der sie gezwungen waren, einfach alles auszusitzen, endlich vorbei ging, bemerkte Nadeshda immer öfter verstohlene, nahezu neidische Blicke seitens ihrer menschlichen Schwägerin. Zunächst ignorierte sie sie gekonnt, fühlte sich davon irgendwann dann jedoch zu sehr belästigt und hielt es nicht wirklich für angebracht, ihr Temperament einer so niederen Kreatur gegenüber künstlich im Zaum zu halten. Sie hätte natürlich zuerst nach ihrem Problem fragen und ihr dann gegebenenfalls ins Gesicht schlagen können, aber sie war eine Tankana und tat es darauf in umgekehrter Reihenfolge. Es war, als Kili eines morgens die Küche betrat, in der Nadeshda auf der Holzbank saß und einen Tee trank, den die Dorffrau zubereitet hatte. Letztere mochte ihre menschliche Herrin im übrigen sehr gern; als sie und all ihre Klamotten nach ihrer Ankunft vollkommen durchnässt gewesen waren, hatte sie von ihr ein trockenes, warmes Kleid bekommen. Das war zwar etwas eng gewesen, aber hatte sie wunderbar vor einer schlimmen Erkältung geschützt. Jedenfalls war die Menschenfrau wohl gekommen, weil sie ebenfalls Tee gewollt hatte und anstatt eines höflichen „Bana che“, wie es sich für sie gehört hätte – und was sie zu Beginn ihres Aufenthaltes hier auch noch immer brav gesagt hatte – kam bloß wieder einer ihrer dämlichen, missbilligenden Blicke; sie hatte sich ihre Ohrfeige verdient. Und aus irgendwelchen Gründen war es ein gutes Gefühl, fand Nadeshda, dass sie einer so viel größeren und stattlicheren Frau mit körperlicher Kraft hatte weh tun können. Immerhin so sehr, dass sie nach einem geschockten Zusammenzucken zunächst einmal nur groß starren konnte. „Wofür war die denn?“, kam es dann irgendwann zitternd in ihrer eigenen Sprache und sie fasste sich an die schmerzende Stelle, während die Kleinere längst die Arme vor der Brust verschränkt hatte, sie eines tödlichen Blickes bedenkend. „Für deine Gedanken, die ich gar nicht kennen möchte!“, antwortete sie und gab sich keine große Mühe, auf Fehler in ihren Worten zu achten, „Was hast du mit einem Mal für ein Problem mit mir, huh? Große Verbündete!“ Zu ihrer Überraschung schien sie nicht erbost zu sein, sondern eher traurig, denn Tränen sammelten sich mit einem Mal in ihren Augen und ließen sie bedrohlich glänzend. Und sie wusste auf Anhieb, was die Ältere gemeint hatte. „Ich beneide dich so! Ich beneide dich so sehr!“, jammerte sie bebend, „Denn... dein Bauch ist schon so groß und meiner ist noch so... klein.“ Sie sah deprimiert an ihrer noch immer eher schlanken Statur herab und Nadeshda starrte sie einen Moment mit offenem Mund an. Moment, das war alles? Sie fasste sich grinsend an die Stirn. „Mein Baby ist älter als deines, Menschenfrau, und in mir ist weniger Platz als in dir, deshalb zeigt es sich schneller! Und ich dachte, du planst eine Intrige gegen mich...“ Dass dieses primitive Ding dazu in der Lage war, hatte es ja bereits bewiesen... Kili schüttelte sich kurz. „Ja... aber... ach! Weißt du, ich sorge mich immerzu! Meine Mutter war so schlecht im Kinder bekommen, vielleicht bin ich es auch! Vielleicht wächst es gar nicht mehr! Ich möchte doch, dass Mahrran stolz auf mich ist...“ Sie wischte sich über die Augen und ihr Gegenüber legte den Kopf schief. „Wenn du ihn und seine Männer in den Tod schickst, wird er das auch nicht unbedingt sein...“ Die Größere erwiderte darauf nichts. Ja, das wusste sie doch, aber es gab doch auch noch ihren Stamm, irgendwo, weit entfernt. Aber egal wie unerreichbar er war, sie blieb Saltecs Tochter, Moconis Schwester und Tecos Cousine – sie konnte nicht einfach zusehen, wie alle, die ihr in ihrem bisherigen Leben wichtig waren, dem Tode ausgeliefert wurden! Andererseits gab Mahrran ihr mehr Wärme und Anerkennung, als sie sie im Stamm jemals erfahren hatte... sie war verwirrt. Nadeshda bereitete ihr unterdessen einen Tee. „Mahrran muss verrückt geworden sein! Er ist es ganz sicher! Dieses Menschenweib ist schuld, ach!“ Iavenya sah nicht auf, verdrehte bloß kurz wohlwollend die Augen, während sie ihr jüngeres Stiefkind fütterte. Die Kleinen fühlten sich nicht wohl; im Haus war es den ganzen Tag finster, weil alle Fensterklappen geschlossen waren, nur zwei Öllampen erhellten die Räumlichkeiten spärlich und dennoch war alles düster. Außerdem langweilten sich die Kinder den ganzen Tag im Haus... aber da waren sie wohl nicht die einzigen im Dorf. Ein altbekanntes Problem, das wohl jeder in seiner Kindheit hatte. Und auch teilweise danach, es gab wohl niemanden, der den Winter mochte. Erst recht keinen, der derart ungewöhnlich streng war wie der in diesem Jahr. Die Frau fragte sich, ob es wohl ein Zeichen war... „Sicherlich, Irlak.“, gab sie ihrem Mann, den sie sich einfach so genommen hatte, halbherzig recht. Er saß am Tisch und bastelte an dem seltsamen Ding herum, das sich wohl Speer nannte und Mahrrans Überzeugung nach das einzige wirksame Mittel gegen die Menschen war. Iavenya gab ihrem Gatten im Stillen tatsächlich recht... die Menschenfrau hatte da doch sicherlich etwas eingefädelt und ihr Mann war blind vor Liebe einfach darauf hereingefallen. Nun gut, blind war er auch ohne Liebe schon immer gewesen. Wie Nadeshda wohl auf seine Dummheit reagieren mochte? „Na, ich meine das erst, hast du das Ding mal gehoben?! Ich bin froh, wenn ich das überhaupt ein paar Schritte weit werfen kann, und dann soll ich auch noch zielen? Und stark genug sein, dass sich diese blöde Spitze in das Fleisch der Primitiven bohrt?! Ich glaube, Mahrran hat sich den Kopf gestoßen, aber heftig.“ Sein älteres Kind gluckste, es fand es wohl lustig, wie sein Vater sich an dieser Sache ereiferte. Iavenya schüttelte des Themas längst überdrüssig nur noch den Kopf. Es war eine gute Sache, davon durfte sie sich nicht ablenken lassen. Sie war stark... sie musste stark sein. Sie hatte sich den Mann, der sie am meisten gehasst hatte, einfach zu eigen gemacht. Er war ihr – nicht umgekehrt. Sie schmunzelte etwas, ihm weiterhin den Rücken kehrend, als sie daran dachte, wie sie sich das Lager teilten, wie er sie an sich drückte und festhielt und ihr in jenen stockfinsteren, unbeobachteten Momenten zuflüsterte, dass sie ihm wichtig geworden war. Sie mochte es, wenn er ihr das sagte. Ja, es war eine gute Idee gewesen, eine gute Wahl, der störrische Kerl aus dem Ekarett-Clan. Nicht nur, weil sie so ihre ganz eigene Macht hatte ausprobieren können, als sie ihn zu ihrem Eigentum gemacht hatte, oh nein; Irlak hatte zwei Gesichter. Er war gut zu seinen Kindern, vertrug Spaß und konnte zärtlich und, das war ihr vor allen Dingen wichtig, anhänglich sein. Andererseits war er leicht zu reizen, aggressiv und blutrünstig. Das konnte sich noch als sehr nützlich für sie erweisen. Doch alles zu seiner Zeit. Nun war Winter. Nun saßen sie fest und mussten warten. Aber sie würde den Erd- und den Wassermond sicherlich nicht ungenutzt vorbei ziehen lassen... sie hatte ebenfalls mehrere Gesichter. Mehr als zwei. Und spätestens, wenn die Sonne das Land wieder erwärmte und Mahrran seinen höchstwahrscheinlich sehr dummen Plan in die Wege leitete, war Irlak ihr derart verfallen, dass er alles für sie tat. Sie stellte den Teller bei Seite und wischte dem Kind das Gesicht ab. Als sie den Lappen weglegte, begann das Kleine gleich mit einer alten Puppe, die seine richtige Mutter wohl genäht hatte, zu spielen. Iavenya strich sich eine schwarze Strähne hinter ihr linkes Ohr – für die Hausarbeit band sie sich ihr Haar meist zusammen, doch nicht immer wollte ihre Frisur so wie sie. Vielleicht hätte sie ihrem Mann sagen sollen, dass es vollkommen egal war, wie er seinen Speer baute und ob er damit umgehen konnte, weil er ohnehin nicht mitgehen würde beim nächsten Angriff, aber das hätte zu viele Fragen aufgeworfen. Er war ein gesunder, starker, junger Mann, warum hätte er zuhause bleiben sollen? Noch konnte sie es ihm nicht erklären. Weil sie es wollte – aber damit würde er sich bei aller Liebe nicht zufrieden geben. Noch nicht. Auf sie kam eine wahrlich interessante Zeit zu. Aber was sollte sie tun? Sie brauchte diesen Mann noch. Sie war nicht wie Shiran, keine Seherin, sie wusste nicht, ob er wieder zurückkehren würde von dieser Reise, ob er sie überlebte – besonders, weil er mit dem Speer scheinbar abgrundtief ungeschickt war. In der Magie war er ganz passabel, aber da er beide Hände für die viel zu schwere Waffe benötigte... nein. Ein zu hohes Risiko. Ihr Irlak würde schön bei ihr bleiben. „Das interessiert dich alles gar nicht, oder?“, hörte sie ihn da meckern und fuhr darauf zu ihm herum. Oh, nein, das sollte er nicht annehmen. Sie stellte sich lächelnd hinter ihn und umarmte ihn dann, sich sachte gegen ihn drückend. Er seufzte und sie lehnte ihren Kopf an seinen. „Und wie mich das interessiert, ich möchte schließlich nicht, dass dir wegen Mahrrans Dummheit etwas zustößt, wo ich doch so lange um dich habe kämpfen müssen. Aber ich bin deiner schlechten Laune überdrüssig...“ Sie begann, über seine Brust zu streicheln, und er schloss die Augen. „Ich wurde seit meiner Kindheit verachtet. Meine Mutter hat mit jedem Mann dieses Dorfes im Schlaflager gelegen und mein Vater schlug mich, weil ich nicht aussah wie er. Und weil mich alle auslachten, bin ich giftig geworden und ihr nanntet mich Natter. Das war mein Leben und es war nicht schön. Nun, ich war nicht sehr traurig. Es gibt immer schöne Dinge... Ewigkeiten zu jammern und zu klagen nützt nichts, manchmal kann man nichts tun und muss die Situation so hinnehmen, wie sie ist. Dann muss man sich etwas Gutes suchen, etwas, an dem man festhalten kann.“ Sie sah neben sich, wo ihr älteres Stiefkind ihr interessiert gelauscht und vermutlich trotzdem kaum etwas verstanden hatte. „Zum Beispiel deine Kinder.“ Sie bemerkte, wie der Mann vor ihr nach einer Weile langsam nickte. „Jaa.“, kam dann gedehnt, „Aber ich weiß doch sonst nichts. Dieser Winter ist das Grauen, so viel habe ich noch nie in diesem Haus gesessen! Ich will nach draußen, das ist ja fürchterlich! Und anstatt etwas Sinnvolles zu tun, meckere ich den ganzen Tag über Mahrran, die Götter werden mich bestrafen, du wirst es sehen.“ Sie kicherte. „Das werde ich nicht zulassen, Irlak.“ Alaji hatte es satt. Genauso wie allen anderen Dorfbewohnern fiel es ihr schwer, den ganzen Tag lang bloß im Haus die Zeit abzusitzen und auf den Frühling zu hoffen, also war sie nach draußen gegangen, dick eingepackt in allerlei Kleidung und die Hand immerzu an ihrem Hut, damit der störrische Wind ihn nicht einfach davon trug. Wenn es nur die Finsternis zuhause gewesen wäre... finster war es auch draußen. Die ganze Welt lag begraben unter einer tiefen, grollenden, schwarzen Wolkendecke. Aber das war nicht ihr Problem. Sie schüttelte sich vor Kälte und Gram, als sie sich dafür schämte, ihre Mutter als Problem bezeichnet zu haben, während sie durch das stille Dorf hastete. Nur wenige Kalenao waren draußen und auch nur, um absolut nötige Arbeiten zu verrichten. Sie ihrerseits hoffte, bei Nadeshda kurzzeitig Unterschlupf zu finden. Alajis Mutter konnte sehr garstig sein. Sie hatte ein großes Herz und ihre Tochter nachdem die Krankheit ihren Mann und ihren Sohn dahingerafft hatte wunderbar groß gezogen und ihr das nützliche Heilerhandwerk beigebracht, sodass die junge Frau ihr ganzes Leben unabhängig würde leben können – die Krankheit konnte schließlich wieder kommen und Alajis potentiellen Ehemann ebenfalls töten, so hatte die Mutter gern argumentiert. Und sie war stolz gewesen, denn ihr Kind war begabt in dieser Sache und genoss viel Ansehen, weil es schon früh die Tochter des Dorfoberhauptes hatte heilen können. Oder zumindest ihr Leid stark lindern... Sie war es so nicht gewohnt, von ihrer lieben Alaji enttäuscht zu werden. Und als sie es nun gewagt hatte, hatte sie es ihr sehr übel genommen... Sie konnte ihr doch nicht sagen, woher das Kind in ihrem Bauch stammte. Das ging nicht, das hätte alles noch schlimmer gemacht, als es ohnehin bereits war. Das Kind eines Menschen... ein kleiner Halbmensch wuchs da in ihrem noch ziemlich flachen Bauch. Sie legte ihre freie Hand während des Gehens kurz versonnen an der Stelle ab, unter der das kleine Leben nun wuchs. Vermutlich würde man es ihm ansehen, dem Baby. Teco hatte ganz anders ausgesehen als alle Männer im Dorf. Er war groß gewesen, wenn auch nicht so groß, dass kein Magier ihn hätte erreichen können. Aber seine stattliche Figur war einzigartig... einen so gut gebauten Mann gab es unter den Kalenao nicht. Und seine dunkle Haut erst recht nicht. Alaji hatte gelernt, dass sich dunkel meist gegen hell behauptete – wenn diese Annahme wirklich stimmte, dann käme ihr Kind wohl wesentlich mehr nach seinem Vater als nach ihr. Und ihr war das so recht... sie schmunzelte bei dem Gedanken an einen kleinen Teco, den sie aufzog und liebte. Ja... ihr Baby würde sie immer lieben können, anders als seinen Vater. Zumindest konnte sie es dem nicht sagen... Als sie mit ihm zusammen durch die Welt gezogen war, war es ihr nicht wirklich bewusst gewesen. Teco, der seltsame menschliche Jäger, der auch ganz schön garstig hatte sein können – der erst fünfzehn Jahre alt war, was sie kaum hatte glauben können. Sie hatte es gemocht, bei ihm zu liegen, sie hatte seine Stimme gemocht, obwohl sie keines der Worte, die er gesprochen hatte, verstanden hatte und sein hübsches Lächeln hatte sich ihr eingebrannt. Aber erst jetzt, als er so weit entfernt von ihr war, war ihr klar geworden, dass sie ihn liebte... Und sie schämte sich dessen nicht einmal. Sie hatte nicht das Gefühl gehabt, Teco sei dumm oder primitiv, wie er sich in dem wilden Land, das sie durchstreift hatten, hatte behaupten können, hatte sie tief beeindruckt und von einem Intellekt gezeugt, der zwar nicht dem ihren glich, jedoch sicherlich nicht geringer war als jener. Er kam eben aus einem anderen Land, einer anderen Kultur... die Menschen waren nicht weniger wert als die Kalenao. Vielleicht konnte sie Nadeshda irgendwann davon überzeugen... hoffentlich, bevor es zu spät war. Der Aufstieg zum Haus der beiden Dorfoberhäupter ermüdete sie und sie atmete schwer, als sie an der hölzernen Tür abklopfte. Mabalysca öffnete ihr nach einer Weile. „Oh weh, was machst du denn draußen? Komm herein!“ Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Die Jüngere schenkte ihr ein höfliches Lächeln, das sie genau so erwiderte, doch in Gedanken war sie entsetzt von dem Erscheinen der kleinen Tankana. Zierlich war sie immer gewesen, doch jetzt war sie dürr, wirkte eingefallen und krank. Ihre Augen waren trüb, visierten sie jedoch genau, so, als merkten sie nicht selbst, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmen konnte. Das Mädchen war blass und aus irgendwelchen Gründen überkam Alaji das Gefühl, sie warte nur darauf, dass die Götter ihr den Weg in die nächste Welt endlich zeigen konnten. „Ich... wollte zu deiner Schwester. Falls sie nicht beschäftigt ist, meine ich.“ Die Jüngere nickte. „Sie ist in ihrem Zimmer, glaube ich.“, entgegen ihrer geisterhaften Erscheinung kicherte sie kurz, als sie an dem Gast vorbei in Richtung Kochzimmer ging, „Jetzt sind in diesem Haus fünf Frauen und drei erwarten ein Baby. Ich fühle mich ausgegrenzt!“ Ihrer Stimme nach scherzte sie, aber hinter ihren Worten verbarg sich eine bittere Wahrheit, das mussten Alaji nicht einmal ihre Götter mitteilen... Nadeshda war in Trance, als die Heilerin ihren Raum betrat. Sie saß regungslos auf ihrem Lager, die schmalen kleinen Hände auf ihren gerundeten Bauch gelegt und die Augen geschlossen. Es war ungewöhnlich, dass sie diesen Zustand zuhause suchte, normalerweise suchte sie einen anderen Ort auf, zumindest, wenn es um etwas wirklich wichtiges ging. „Keine Sorge, du störst nicht.“, Alaji zuckte unter der hohen, scharfen Stimme, die unvermittelt erklang, zusammen. Die Kleinere öffnete derweil ihre scharfen, orangefarbenen Augen. „Ich übe nur, damit ich es nicht verlerne. Götterkinder sind dafür geschaffen, ihre Macht ohne ihr Wissen einzusetzen, es mit eigenem Willen zu tun bedarf Übung, denn man muss quasi die Kraft der eigenen Geburtsgötter übertreffen. Außerdem habe ich demnächst noch etwas vor... doch nicht zu viel dazu. Die Götter haben mir nichts wichtiges berichtet, warum bist du also hier?“ Ihr Gast seufzte und setzte sich auf den hölzernen Schemel, wie er es bereits oft getan hatte, wenn er hier gewesen war. Ja, das war eine gute Frage. „Zuhause fällt mir die Decke auf den Kopf.“, antwortete sie ehrlich, jedoch etwas peinlich berührt von ihrer Flucht, „Meine Mutter ist sehr garstig, weil ich ihr nichts zu meinem Kind sage. Sie will, dass ich es weg gebe... aber das kommt für mich nicht in Frage. Wenn ich ihr das sage, dann sagt sie, ich soll den Bastard heiraten, der es mir eingepflanzt hat... und wenn ich ihr dann erkläre, dass das nicht geht, schimpft sie, allen Männern, die es nötig haben, ihre Frauen zu hintergehen, sollte man ihr drittes Bein abschlagen – und mich schimpft sie eine Hure, weil ich es so nötig habe und sagt, das hätte ich nun davon. Ach, ich halte das nicht aus...“ Sie entledigte sich seufzend einiger ihrer Kleiderschichten und legte sie zusammengelegt neben sich auf den Boden, denn in Nadeshdas Zimmer war es relativ warm. Die kleine Frau, die ihr aufmerksam gelauscht hatte, legte nun den Kopf schief und wirkte durch diese Geste wie ein kleines Mädchen. „Und wenn du ihr sagst, dass es das Kind eines Jägers ist?“ Alaji sah sie darauf einen Moment dümmlich an, dann pfiff sie durch ihre spitzen, im Gegensatz zu denen von Shiran halbwegs gerade gewachsenen Zahnreihen, wie nur wenige es sich bei einer Persönlichkeit wie der ältesten Tochter der Tankanas erlauben durften. „Teco ist ein Mensch. Niemand hier hält viel von Menschen, Mutter würde mich verstoßen.“, sie schüttelte den Kopf, „Du verachtest die Stämme des weiten Landes doch ebenso!“ Die Gastgeberin regte sich nicht mehr, als dass sie ihren Kopf nun zur anderen Seite hin schief legte. „Mag sein.“, entgegnete sie dann, „Die Stämme. Vielleicht auch die Menschen allgemein. Aber Teco ist sicher ein feiner Kerl.“ Sie erhob sich von ihrem Lager und streckte sich, begann darauf in dem von einer guten Öllampe erhellten Raum auf und ab zu gehen. Sie hatte lange gesessen, die Beine musste sie sich nun unbedingt vertreten, sonst bekam sie ihrer Schwangerschaft sei Dank wieder Krämpfe... Sie spürte Alajis höchst irritierten Blick im Rücken. „Teco... ist ein feiner Kerl? Du kennst ihn doch gar nicht.“ Sie klang prüfend. Auch das durften sich nicht viele erlauben, Nadeshda fand es in jener Situation jedoch als sehr berechtigt. Richtig, sie kannte diesen Teco auch nicht. Sie verbarg ihr leichtes Lächeln, indem sie ihrem Gast weiter den Rücken kehrte, als sie zur Antwort ansetzte. „Das ist wohl wahr. Aber wenn er dich glücklich macht, dann wird er wohl ein feiner Kerl sein, nicht? Ich verdamme die Rasse der Menschen nicht komplett. Zwar bringen die Götter durch sie fast nur Tölpel hervor, aber ich bin mir sicher, da wird auch das ein oder andere gescheite Exemplar darunter sein... Teco ist vielleicht ein solches? Ich glaube es zumindest.“ Sie drehte sich zu der Größeren, die noch immer da saß und sie verwundert musterte, um, die Hände in die Hüften stemmend. Sie schien guter Laune. „Wusstest du, dass Kili, das Spielzeug meines Bruders, die Schwester von Moconi ist?“ Moconi? Nein, davon hatte sie nichts gewusst, sie hatte auch keine Ahnung, wer das sein sollte, so schüttelte sie den Kopf und lächelte entschuldigend. Nadeshdas Götter verrieten ihr ihre Unwissenheit. „Moconi ist das Oberhaupt des Menschenstammes, sein Häuptling, so nennt sich das bei ihnen. Dieser Kerl ist sicher nicht gescheit... ich weiß nicht viel über ihn, die Götter zeigen mir leider nicht immer das, was ich mir wünsche, ich bin nun einmal keine Seherin.“ Sie hielt im Sprechen kurz inne und verschränkte die Arme vor der Brust, die Augen minimal verengend, als sie für einen Moment an jemand anderes denken musste. „Jedenfalls, keine Ahnung, wie er aussieht, keine Ahnung, wie er zu seinem Stamm so ist, ob er wohl gut jagen kann oder was für die Menschen sonst noch so von Bedeutung ist, ich weiß es nicht. Aber als ich das so nebenher mitbekam dachte ich mir, kein Wunder, dass diese Kili so ein seltsames Ding ist. Oh, ich sage dir, über Moconi habe ich mich schon geärgert, er ist unglaublich unkooperativ. Garstige Krähe.“ Alaji war sich nicht so ganz sicher, was Nadeshda ihr mit ihrem Vortrag über den Häuptling der Menschen hatte erklären wollen, sie nickte bloß vorsichtig. Die kleine Frau war mächtig... obwohl sie ihr eigentlich vertraute und nicht annahm, sie würde ihr irgendein Leid antun, auch nicht als Strafe. Sie konnte sich bei ihr einiges erlauben, wenn sie nun einmal zu dumm war, um sie zu verstehen...– da gab es doch schlimmeres. „Mach dir keine Gedanken über das, was ich sage.“, bat die Kleinere da ganz von selbst und ließ sich seufzend wieder auf ihrem Schlaflager nieder, „Wenn ich eine Weile in Trance war, will ich einfach reden. Ich muss das dann einfach. Und mit den Leuten hier...“ Sie schwieg eine Weile, sich durch ihr langes, an diesem Tag völlig ungeschmücktes Haar streichend. „Mit Mahrran rede ich beinahe nichts mehr, er ist so ein furchtbarer Tölpel. Auf Kilis Niveau lasse ich mich von selbst nicht herab und unsere Haushälterin verwirren meine Worte nur; dich auch, ich weiß, aber die denkt dann, der Fehler, egal welcher, läge bei ihr und sie müsste ihn unbedingt wieder gerade biegen.“ Sie schmunzelte, ohne wieder aufzusehen. „Vermutlich hätte sie sich nun ihren Mantel übergeworfen und wäre ins Land der Menschen gerannt, um Moconi zu erziehen, da wäre mein Bruder aber sauer geworden. Nun, und Mabalysca hast du vorhin selbst gesehen...“ Alaji nickte beklommen. Ja, das Geistermädchen... „Was ist mit ihr?“, wagte sie zu fragen, „Vielleicht kann ich ihr ja helfen...“ Sie kannte sich mit allerlei Krankheiten aus; musste sie, schließlich war sie ja Heilerin. Zu ihrer Irritation lachte Nadeshda kurz, aber es klang nicht fröhlich, sondern bitter. „Mabalyscas Körper geht kaputt, weil ihre Seele kaputt geht. Um ihren Körper zu heilen, müsste man ihre Seele heilen... und das könnte man nur, wenn man ihr endlich ihren Kajira zurückbringen würde. Und das können wir nicht, beim Besten Willen, wie sollen wir so durch das Gebirge? Wir hätten früher handeln sollen. Jetzt ist es zu spät.“ „Zu spät?“ Der Klang dieser Worte ließ beide kurz erschaudern. „Zu spät.“, wiederholte die Kleinere darauf abermals, „Ich weiß nicht, ob sie es schafft, bis die Sonne das Land wieder erwärmt. Meine Schwester stirbt jeden Tag ein bisschen mehr und ich kann nichts dagegen tun, weil ich sie nicht ernst genug genommen habe. Alaji...?“ Die Heilerin hob ihr Haupt betroffen von der bitteren Wahrheit, die den Mund des Dorfoberhauptes zuvor verlassen hatte. Sie hatte recht, in Wirklichkeit war es vollkommen offensichtlich... Nadeshda wandte ihren Blick ab, als sie weiter sprach. „Mabalysca hat mir vorgeworfen, ich verstünde sie nicht, weil ich keine... Liebe kenne. Das mag sein, ich finde Liebe ist etwas Schlechtes, wenn es doch möglich ist, sich zu Tode zu lieben, oder nicht? Nun, ich bin zwar ein Götterkind, doch ich weiß nicht was zu tun ist. Dein Teco, dieser feine Kerl, der ist auch weit weg. Versprich mir, Alaji, dass du dich nicht auch zu Tode liebst an ihm.“ Verblüfft von ihrer Forderung konnte ihr Gast zunächst nur nicken. Sie wusste nicht, wie sie das verstehen sollte... war es Sorge? Sollte es sie ehren, oder gar rühren? Irgendwie tat es das. Sie wurde abermals überrascht, als sich die Kleinere mit einem Mal wieder erhob und nach ihrem warmen Mantel griff, der unbemerkt wegen der Decken die ganze Zeit neben ihr gelegen hatte. „Ich muss noch einmal fort, dauert ein wenig.“, wechselte sie das Thema plötzlich komplett, „Du hast scheinbar ohnehin die Hälfte deiner Kleidung mitgebracht, das ist gut. Deine Mutter tut dir nicht gut, du wirst hier bleiben – das ist ein Befehl. Wenn du hungrig bist, such die Haushälterin, sie macht dir gern etwas, das eifrige Ding. Und bring sie nicht dazu, Moconi Manieren beibringen zu wollen...“ Sie gluckste kurz, dann eilte sie aus der Tür. Alaji sah ihr verwundert nach. „Danke für den Befehl, Herrin...“ Nadeshda fühlte sich in ihrem Haus mehr und mehr unwohl. Die Tankana-Familie war seit jeher kalt und gefühlsarm gewesen, zumindest war man so immer miteinander umgegangen, weil es sich eben so schickte. Dennoch hatte sie sich wohl gefühlt – sie hatte es schließlich nicht anders gekannt und war von der Art der einfachen Dorfbewohner eher etwas befremdet gewesen. Je niedriger der Stand, desto herzlicher waren die Leute, hatte sie gelernt. Aber das, was in diesen Tagen war, war anders. Ihr eigener Zwillingsbruder, der ihr so lange einfach hörig gewesen war, stellte sich gegen sie, ohne, dass sie sich wirklich erklären konnte, warum so plötzlich. Zunächst hatte sie Shiran die Schuld gegeben, aber scheinbar hatte er sogar den Intriganten irgendwie an der Nase herum geführt; Fakt war, er war weg und ebenso war es ein Fakt, dass der Seher wohl ziemlich sauer gewesen sein musste, als er die Lüge – welche auch immer es gewesen sein mochte – bemerkt hatte, schließlich hatte er mit seiner letzten Handlung, das Dorf betreffend, Mahrrans schöne Mission versaut, was letzterem wohl gründlich recht geschehen war. Die familiäre Situation gebessert hatte das alles natürlich nicht. Dann gab es noch Kili. Sie war nur ein Mensch, ein niederes Wesen... hatte Nadeshda eine Weile gedacht. So nieder war sie offenbar aber gar nicht, sie war mindestens so intrigant wie Shiran. Nadeshda wusste nicht, ob sie sie dafür schätzen sollte, dass sie ihrem scheinbar geistig verwirrten Mann eins auswischen wollte, oder ob sie sie verachten sollte, dass sie Mahrrans Liebe derart ausnutzte. Mabalysca war ein geistiges und körperliches Wrack und sie bedauerte es zutiefst, ihren leisen Worten nicht gelauscht zu haben, als sie noch die Möglichkeit gehabt hatte, ihr zu helfen. Jetzt war es vorbei... und der Anblick der einstigen Familienhoffnung war so grauenhaft, dass er selbst ihrer erkalteten Seele weh tat. Und die Haushälterin? Die war so derart einfach, dass es an sich unter Nadeshdas Würde gewesen wäre, überhaupt mit ihr zu sprechen, aber da sie die einzige Person im Haushalt war, die weder intrigant noch geistesgestört war und auch nicht gerade an Liebe starb, war sie die einzige Alternative, wenn es sie einmal überkam und sie ein paar nichtige Worte sprechen wollte. Wie erbärmlich. Es wurde Zeit, ihre Ehre wieder herzustellen. Viel zu lange hatte sie Shiran und Mahrran beim Herumpfuschen zugesehen, hatte sich in ihrer Autorität untergraben lassen, ja sogar zugelassen, dass ihre ungewollte, aufgezwungene Schwangerschaft sie kurzzeitig aus der Bahn warf – das war nun vorbei. Sie keuchte vor Erschöpfung, als sie den schmalen Trampelpfad bis zu einer weiteren Erhöhung gefolgt war, welche noch wesentlich höher als der Ort, an dem ihr Haus stand oder die Ebene, auf der sich die Quellen befanden, lag. Es hatte wieder angefangen zu regnen und der Himmel grollte aus unerfindlichen Gründen über ihr. Zu ihren kleinen Füßen lag das Dorf. Sie überblickte es eine Weile stumm, wie es da lag, still und karg und durchnässt. Kaum einer war draußen, das Meer im Hintergrund war wild und die Wellen schlugen bis an die ersten Häuser des Armenviertels, denen das jedoch nichts ausmachte, da die äußersten Hütten traditionell auf Holzpfeilern, die mittels Erdmagie tief in den Sand gerammt worden waren, standen. Dieses Dorf war nichts, worauf die Tankana-Familie stolz sein konnte. Ihr Clan war groß... laut ihrer Eltern gab es überall auf der Welt Kalenao, die ihm angehörten und überall übernahmen sie führende Positionen. Nadeshda hatte keine Ahnung von der Welt, sie kannte bloß das Land am Meer, die Berge und das Land dahinter und es würde auch alles sein, was sie in ihrem Leben zu sehen bekommen würde. Das Volk, das zu ihren Füßen lebte, war ihr Volk. Es war nicht intelligent und auch nicht stark, vielleicht verdiente es das Überleben nicht einmal. Letztendlich war das aber egal, denn sie war dafür verantwortlich und sie wollte nicht, dass die kommenden Generationen dachten, sie hätte nicht alles für die Rettung dieser Kalenao getan. Wenn es etwas gab, worin die mit Mahrran noch völlig übereinstimmte, dann war es, dass sie keinerlei Kompromisse bezüglich ihrer Dominanz eingehen durften. Sie waren mehr als die Menschen, wahrscheinlich immer noch nicht gut, aber besser als diese Primitivlinge es jemals sein würden. Und wenn das Land hinter den Bergen die komplette restliche Welt umfasst und Platz für so viele Stämme, wie es Sterne am Himmel gab geboten hätte, niemals würde sie zulassen, dass ihr Volk es sich mit einem Menschen teilen musste. Der Schlangenstamm war nur der Anfang, irgendwann würden auch die folgen, die den Kojoten ihr Totem nannten und auch die, die niemand kannte und die Vögel anbeteten würden dran glauben müssen. Es tat ihr leid für Teco, der sicherlich ein feiner Kerl war. Aber was nützte Alaji Teco, wenn er so weit von ihr entfernt war? Vielleicht hätte er mit ihr kommen sollen. Vielleicht war es sein Fehler. Es tat ihr auch leid für Kajira, aber bis er hätte zurückkehren können – falls er das überhaupt jemals zu tun gedachte – würde Mabalysca längst den Göttern übergeben worden sein. Und tatsächlich tat es ihr auch etwas leid für Shiran. Er war ein Intrigant, ein Lügner und irgendwie ein Wahnsinniger, aber sein ungebrochener Wille, für irgendetwas zu kämpfen, was die kleine Frau vermutlich niemals verstehen würde, hatte ihm bei ihr einen stillen Respekt verschafft. Er hatte sicher seine Gründe gehabt, den Kalenao den Rücken zu kehren... dennoch durfte sie ihm keine Chance lassen. Sie legte ihre Handflächen vor ihrer Brust gegeneinander, dann schloss sie die Augen. „Götter des Wassers, meine Eltern!“, rief sie die an, deren Hilfe sie immer bedingungslos bekam, „Schließt dem Seher die Augen!“ Und sie spürte ein angenehmes, bekanntes Kribbeln, das ihr sagte, das die Magie wirkte. Es würde Shiran irritieren – mit Sicherheit hatte er sie die ganze Zeit aus der Entfernung beobachtet, das war nun nicht mehr möglich. Nun kam der etwas schwierigere Teil, der Teil, in dem sie Moconi eine Lektion erteilen würde, die er in seinem bald endenden Leben nicht vergessen würde – sie tat es auf ihre Weise und bei allen Göttern, sie hatte ihn gewarnt. Zerit hatte es deutlicher gemacht, als sie es eigentlich vorgehabt hatte... Sie ließ sich in eine leichte Trance sinken, was ihr überaus leicht fiel, weil sie es kurz zuvor schon getan hatte. Anders als Mahrran konnte sie die Übung von der Realität deutlich trennen; ihr Bruder wäre nun schon nicht mehr zur Magie fähig gewesen. Und deshalb war sie auch besser als er. Und würde Erfolg haben. Vor ihren inneren Augen tanzten blaue Lichter vor einer tödlichen Schwärze. Die kalten Regentropfen auf Gesicht und Händen, die sie letztendlich nicht durch Stoff hatte schützen können, spürte sie nicht mehr. Sie lächelte, als sie die Arme gen Himmel hob. „Dieser Winter ist ein besonderer Winter.“, sprach sie andächtig und die blauen Lichter begannen, sich schneller zu bewegen, „Dieser Winter ist Nadeshdas Winter. Die Kälte dieses Winters soll die Menschen des Schlangenstammes erfrieren und die Finsternis soll sie blind machen.“ Die Lichter wurden weiß, tanzten wie die Schneeflocken auf den Berggipfeln um die kleine Frau, die die Arme wieder ein wenig sinken ließ, sie jedoch seitlich mit gespreizten Fingern weiterhin von ihrem Körper entfernt hielt. „Ich rufe die Himmelsgötter an, die mir die Finsternis in mein Blut gegeben haben – aus Liebe macht Hass, aus Hoffnung macht Verzweiflung, aus Glück macht Elend! Und wenn der Wahnsinn naht, erfriert die Herzen und die Seelen dieser niederen Kreaturen, denn sie sind des Lebens auf meiner Welt nicht würdig!“ Die Lichter tanzten, bis sie verschwammen und unkenntlich wurden, und die Finsternis zerbrach mit einem Mal und hinterließ in ihr ein entgegen ihres Fluchs heißes Gefühl des Triumphs, das ihr den Verstand einen Moment lang gänzlich raubte, als sie ganz allein im bitterkalten Regen lauthals zu lachen begann. „Ihr werdet leiden!“, schrie sie mit ihrer grellen Stimme gegen den Wind, „Ihr werdet euch winden wie die Würmer, die ihr eigentlich auch seid, ihr widerlichen...! Und es wird deine Schuld sein, Moconi, deine Schuld und ich schwöre dir, in deiner letzten Sekunde werde ich bei dir sein und ich werde dich auslachen, so wie ich dich jetzt auslache!“ Und sie fiel auf die Knie vor Erschöpfung und sah von ihrer Hysterie gepackt wieder bunte Lichter tanzen. ------------------------- Oh ja, jetzt wird es frostig angehaucht. Hosted by Animexx e.V. 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