Clover von -Moonshine- (Three leaves are lucky enough) ================================================================================ - 1 - ----- Hannah lehnte an einem Baum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und blinzelte in die Sonne. Vor ihr lag das imposante Gebäude aus roten Backsteinen, in dem sich im Moment Dutzende von Schülern aufhielten. Ihre alte Highschool und die jetzige Schule ihrer Nichte Lucy und ihres Neffen Luke. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Schwester ihre Kinder ebenfalls in diese Schule schicken würde, hatten sie sie doch immer als "abgewrackt" und "Saftladen" bezeichnet. Aber nun, sieben Jahre später, war sie kurz versucht, ihre Meinung vielleicht doch noch zu ändern. Links und rechts ragten zwei Türmchen in die Höhe, der Haupteingang war überdacht und gesäumt von zwei ebenfalls roten Säulen. Mit dem großen Schulhof, bestehen aus Blumenbeeten, Bänken und der riesigen, grünen Wiese machte das alles einen idyllischen Eindruck, doch Hannah wusste, dass sich in diesen roten Backsteinwänden Dramen, Ungerechtigkeiten, persönliche Horrorszenarien und die ganz großen Liebesromanzen abspielten. Für die einen mehr hiervon, für die anderen mehr davon. Nein, zurück in die Schule wollte sie auf keinen Fall mehr. Erwachsen und unabhängig zu sein, das hatte schon etwas für sich, fand sie. Sie gähnte. Hätte sie sich nicht an die peniblen Anweisungen ihrer Schwester gehalten, die dazu geführt hatten, dass sie eine ganze Viertelstunde früher auf dem Schulgelände angekommen war, hätte sie nun nicht so lange in der brütenden Hitze warten müssen. Nur im Auto sitzen zu bleiben wäre schlimmer gewesen. Aber anders kannte sie es von Tess nicht, die immer darauf bedacht war, niemals zu spät zu kommen, alles richtig zu machen und immer tipp topp vorbereitet zu sein. Ihre Schwester, die Perfektionistin, ganz im Gegensatz zu Hannah selbst. Manchmal ging ihr das ziemlich auf den Senkel, aber mit der Zeit hatte sie gelernt, ihr einfach nachzugeben. So gab es weniger Streit und es war eine gute Möglichkeit, Tess bei Laune zu halten. Hannah grummelte. Wann würden die vermaledeiten Lehrer die Kinder endlich aus ihren Gefängnissen entlassen? Es war Freitag Nachmittag, die Sonne schien erbarmungslos auf die trockene Erde herab und sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer im Umkreis von fünfzig, ach Quatsch, hundert Meilen tatsächlich Lust hatte, lieber in einem stickigen, alten Schulgebäude zu versauern, als an die frische Luft zu gehen und den sonnigen Tag zu genießen. Die Tür des Haupteinganges öffnete sich und Hannah atmete schon erleichtert auf, doch es war nur ein einzelner junger Mann, wahrscheinlich ein Lehrer, der sich durch den kleinen Spalt hindurchzwängte, unter dem einen Arm seine Tasche, mit der anderen Hand, in der er ein Buch hielt, die Tür aufhaltend. Hannah erinnerte sich noch sehr gut daran, wie schwer das massive Ding aufzukriegen war. Ganz offensichtlich hatte in den sieben Jahren niemand daran gedacht, ein paar Neuerungen einzuführen, die alles ein bisschen einfacher und moderner machten. Der junge Mann blieb kurz stehen, warf einen Blick zum wolkenlosen, blauen Himmel und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Allzu glücklich sah er nicht gerade aus, fand Hannah, doch das war ja auch kein Wunder. In seinem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt, Hemd und Krawatte war ihm sicherlich viel zu heiß. Amüsiert betrachtete sie ihn, als er näher kam, doch dann blinzelte sie. "Nathan?" Der Angesprochene hob den Blick und blieb wie vom Donner gerührt stehen, starrte sie an. "Hannah?" In seinem Ausdruck spiegelten sich Überraschung - und fast schon so etwas wie Entsetzen wider. Sie lächelte ihn an. "Ja. Ich wusste gar nicht, dass du hier unterrichtest. Warte. Du unterrichtest doch, oder? Hast du nicht Literatur studiert oder so?" Er nickte und fühlte sich ganz und gar unwohl. "Ja, ich... Ich bin hier Lehrer. Seit zwei Jahren. Und du...?" Hannah winkte ab. "Ich hol nur Lucy und Luke ab. Heute ist Babysittingtag. Eigentlich das ganze Wochenende. Tess und Rob machen einen Wochenendtrip irgendwo in die Pampa", plauderte sie frei heraus. Sie kannte Nathan schon ihr Leben lang, doch sie waren nie wirklich Freunde gewesen. Aber wer könnte ihnen das bei einem Altersunterschied von über vier Jahren verübeln? Er hatte ihr Nachhilfe gegeben, damals, vor über sieben Jahren, als sie kurz davor stand, ihren Abschluss wegen amerikanischer Geschichte in den Sand zu setzen. "Ach, so ist das", sagte er nur, sah sich ein wenig hilflos um und probierte es dann mit einem unsicheren Lächeln. Hannah war nur allzu bereit, seine Schweigsamkeit zu kompensieren. "Tess hat mir gar nicht gesagt, dass du hier arbeitest. Hast du auch Lucy oder Luke im Unterricht?", wollte sie neugierig wissen. "Dann könntest du mir von ihren Schandtaten berichten und ich hätte über das Wochenende Erpressungsmaterial." Nathan lächelte irritiert. "Ich hatte noch keinen von beiden in meinen Kursen." "Hm. Dann muss ich mir was Anderes einfallen lassen", sagte Hannah mit einem Stirnrunzeln und deutete dann auf sein Buch. "Was liest du da?" Sie legte den Kopf schief und versuchte, den Titel zu entziffern. "Oh, das?" Nathan hielt es hoch. "Das ist nur unsere nächste Lektüre. Für den Literaturkurs." "Der große Gatsby? Ist das nicht ein wenig zu melodramatisch?" Nathan schüttelte vehement den Kopf. "Ganz und gar nicht. Es enthält eine Menge Kritik an der Gesellschaft, dazu die obligatorische Tragik von Liebe, Verrat und Verlust, wie sie Teenager heutzutage lieben. In diesem Buch begegnet man vielen Menschen, die es nicht schaffen, aufrichtig zueinander zu sein und ehrliche Liebe zu empfinden, abgesehen von Gastby, dem alles andere völlig egal scheint, aber-" "Und da sieht man wieder einmal, wozu Liebe einen führt. Er wird doch erschossen, oder?" Nathan hüstelte. "Ja, das ist richtig. Er hat sich aufgeopfert für... für Daisy", schloss er lahm. Er hatte Hannah keinen Vortrag halten wollen, aber anscheinend hatte er es noch nicht geschafft, sich für heute aus dem Klassenzimmer zu verabschieden. "Ich glaube", überlegte Hannah, "ich finde Happy-Ends besser. Doch, klare Sache. Gilt das etwa nicht für deine Teenager?" Nathan schaute sie einen Augenblick lang schweigend an, doch dann trat ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht, so etwas wie eine plötzliche, beunruhigende Erkenntnis. "Doch... vielleicht... darüber habe ich noch nicht nachgedacht." "Solltest du mal, Herr Lehrer. Vielleicht was mit ein wenig schmutzigem Sex, dann hättest du die Aufmerksamkeit gewiss." Sie lachte über seinen schockierten Blick und bemerkte mit Entzücken, wie seine Ohren und Wangen sich leicht rötlich verfärbten. "Nur Spaß. Ich weiß, ihr müsst euch an gewisse Vorgaben halten, nicht?" "Ja, das stimmt, es ist-" Er wurde von der Schulglocke unterbrochen und nur Sekunden später wurde die Eingangstür weit aufgerissen und ein Meer an Kindern und Jugendlichen bahnte sich den Weg in die Freiheit. "Endlich", kommentierte Hannah, während sie an Nathan vorbeispähte und versuchte, in der Menge ihren Neffen und ihre Nichte ausfindig zu machen. Die Teenielawine rollte auf beide zu, doch kaum einen Meter vor ihnen teilte sich der Menschenstrom wie eine Flussgabelung, und lief rechts und links von ihnen weiter. Fasziniert betrachtete Hannah das Geschehen, bis jemand sie von hinten durch einen Hechtsprung attackierte. Hannah lachte, drehte sich zu Luke um und grinste ihren elfjährigen Neffen an. "Na, Lucky, alles klar bei dir?" Er strahlte. "Ja! Ich hab heute keine Hausaufgaben auf und Mom und Dad sind das ganze Wochenende über nicht da. Kriegen wir heute zum Abendessen Eis? Biiiittte!" Wie aus dem Nichts tauchte Lucy neben ihnen auf. "Oh ja, Tante Hannah. Ich weiß auch schon, wo wir das beste Eis der Stadt kriegen. Hey, Mr. C.", begrüßte sie Nathan in ein und demselben Atemzug, ohne ihn richtig wahrzunehmen. "Tz", machte Hannah gespielt entrüstet. "Eis zum Abendessen. Niemals! So etwas würde eure Mutter nie erlauben." Sie zwinkerte den beiden zu. "Cool!", rief Luke, schubste seine Schwester zur Seite und rannte los. "Wer erster beim Auto ist darf vorne sitzen!" "Das ist unfair!", kreischte Lucy aufgedreht und nahm dennoch die sofortige Verfolgung auf. "Ich bin älter! Na warte!" Als die Luft rein war, wandte sich Hannah wieder an Nathan. "Wo hast du geparkt?" "Da hinten." Er hob die Hand und deutete auf ein paar wenige Parklücken unter einer Ansammlung von Ahornbäumen, Hannah's Blick jedoch blieb an seinem langen Ärmel hängen. "Ist dir nicht heiß?", wollte sie erstaunt wissen und betrachtete die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn, die unter dem wirren, schokoladenbraunen Haar hervorlugten. "Um ehrlich zu sein, doch, ja. Aber da drin gibt es eine Klimaanlage und bis jetzt hatte ich noch nicht die Zeit-" Er unterbrach sich räuspernd. "Ist ja auch egal. Wo parkst du? Ich könnte dich zu deinem Wagen begleiten..." Nathan hielt inne und blickte Hannah mit zurückhaltender Erwartung an. "Genau neben dir anscheinend", lachte sie und strich sich eine blonde Strähne ihres Haares zurück. "Wenn du willst", begann sie, als beide den Weg zu ihren Autos antraten, "kannst du ja auch mitkommen, heute Abend. Es sei denn, Eis gehört nicht zu deinen Grundnahrungsmitteln." Sie freute sich, als sie ihm damit ein ehrliches Lächeln entlocken konnte. "Ich möchte euren Familienabend nicht stören", winkte er höflich ab, aber Hannah hatte nicht vor, ihn so einfach von der Leine zu lassen. "Du störst doch nicht. Wir haben uns... wann das letzte Mal gesehen? Jedenfalls seit einer Ewigkeit nicht mehr. Die Kinder seh ich dauernd. Ich will alles wissen, was hier los gewesen ist, solange ich weg war. Tess ist so spießig, die würde niemals irgendwelchen Klatsch und Tratsch erzählen." Nathan kramte geschäftig in seiner Tasche nach seinem Autoschlüssel, bevor er antwortete. "Also... wenn du das wirklich willst." Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern. "Sieben Jahre." Hannah sah ihn irritiert an. "Ich meine, wir haben uns sieben Jahre nicht gesehen", erklärte er hastig. "Das letzte Mal kurz vor deiner Abschlussprüfung, da warst du siebzehn, und wir haben Geschichte gepaukt, bis-" Nathan brach seine Ausführungen ab und verfluchte sich, dass er nicht sein Gehirn benutzte, bevor er etwas so Uninteressantes und Irrelevantes sagte. Als würde es sie interessieren, wann und wo genau er was zu ihr oder sie zu ihm gesagt hatte. Halt einfach die Klappe, rief er sich grimmig in Erinnerung. Hannah lächelte über seinen Gesichtsausdruck. "Stimmt. Geschichte. Total ätzend. Damals war ich ganz schön in dich verknallt, weißt du?" Das traf ihn wie eine unvorbereiteter Schlag in den Magen und fassungslos starrte er sie an. "Wie... bitte?" Sie nickte. "Ja, echt. Du warst so klug und so... ich weiß auch nicht. Älter, reifer. Viel cooler als die Jungs in meinem Alter. Das dachte ich damals zumindest", erklärte sie ihm vergnügt. "Ich war nach unserer letzten Nachhilfestunde ganze sechs Tage lang am Boden zerstört." Nathan wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm schwirrte der Kopf. Zu viele Informationen, zu viel Sonne. Hatte sie das eben tatsächlich zu ihm gesagt? Oder hatten die UV-Strahlen bereits seine Gehirnzellen weggebrannt und er halluzinierte? "Das, äh... tut mir leid", sagte er verwirrt und schüttelte den Kopf, um ein bisschen Klarheit zu bekommen. Vergeblich. Hannah zückte nun ebenfalls ihren Autoschlüssel und grinste ihn an. "Das ist schon okay, Nathan. Als Wiedergutmachung könntest du heute Abend Eis mit uns essen gehen?" Benommen nickte er und antwortete das einzige, das ihm gerade einfiel: "Okay..." "Na super. Dann bis nachher. Hier ist meine Nummer." Hannah zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. Er nahm sie wortlos entgegen und zwang sich dann, sich von ihrem Anblick loszureißen, während sie die Kinder ins Auto scheuchte. Puh. Ihm war viel zu warm. Er musste dringend diesen Pullover loswerden, und auch die Krawatte, die ihm schon die ganze Zeit die Luft abzuschnüren schien. Zumindest seitdem er Hannah wiederbegegnet war. - 2 - ----- "Was?", kreischte Lucy entsetzt. "Du hast ein Date mit unserem Lehrer?!" Hannah steckte ihr Portemonnaie in ihre Handtasche und verdrehte die Augen. "Erstens hab ich kein Date mit ihm. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und wollen uns nur unterhalten. Und zweitens ist er gar nicht euer Lehrer. Das hat er mir vorhin erzählt." "Trotzdem ist er ein Lehrer an unserer Schule", beharrte Lucy trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust, starrte Hannah provokant an. "Und das ist total peinlich, da mit ihm aufzutauchen. Willst du meinen guten Ruf ruinieren?" Hannah hätte gerne aufgelacht, doch sie gab sich Mühe, ihr Grinsen zu unterdrücken. Ob die Kleine wirklich wusste, wovon sie da redete? "Ja", sagte sie stattdessen ungerührt und beobachtete, wie Lucy beleidigt davon stürmte. Das ist doch kein Date, sagte sie sich kopfschüttelnd. Sie war bloß neugierig... Als es klingelte, warf Hannah unbewusst einen kurzen Blick in den Spiegel, doch sie war nicht schnell genug, denn Luke brauste schon zur Tür und riss sie auf. "Hey Mr. C.!" begrüßte er Nathan aufgeregt. Im Gegensatz zu seiner Schwester fürchtete er ganz offensichtlich nicht um seinen "guten Ruf". "Im Nachbardorf ist ein Jahrmarkt. Kommen Sie mit? Bitte, bitte! Tante Hannah hat gesagt, wenn Sie nicht wollen, gehen wir nur Eis essen. Bitte. Sie wollen doch, oder?" Mit großen Hundeaugen sah er zu ihm auf, und Nathan, völlig überrumpelt und verwirrt, starrte den Jungen bloß an und rang sich dann zu einem hilflosen Nicken durch. Luke jubelte und verschwand wieder. "Zieh dir 'ne ordentliche Hose an, Luke!", rief Hanna ihm hinterher. "Eine ohne Löcher!" Dann wandte sie sich an Nathan, der noch immer wie bestellt und nicht abgeholt im Türrahmen stand. "Hallo, Nathan." Sie lächelte. "Komm doch rein. Und danke." Er trat hinein, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und blieb stehen. "Wofür?" "Dass du nicht nein gesagt hast. Wir haben dich ja praktisch überfallen." "Hm. Das ist schon in Ordnung." Er schaute sich interessiert um. "Schön hast du's hier. Gemütlich." Hannah lachte. "Das ist Tess' Haus. Ein richtiges Familiennest, was?" Fröhlich deutete sie auf die vielen Porträts und Bilder, die die Familie oder vereinzelte Familienmitglieder zeigten, allen voran die Kinder: Die Kinder als Babies, die Kinder im Kindergartenalter, im Vorschulalter, im Grundschulalter, und so weiter, und so fort. Am Kühlschrank hingen Bilder, die die Kinder in der Schule oder in ihrer Freizeit gemalt hatten - es waren vorrangig ältere, da Luke und Lucy nun, da sie schon in der Junior High waren, nicht mehr so am Malen interessiert waren wie früher. "Ja. Aber es ist trotzdem sehr nett." Hannah legte den Kopf schief und sah Nathan an. Sein Haar schien nicht mehr so wirr und er trug eine Jeans und ein T-Shirt - viel legerer und lockerer als sein Aufzug am Nachmittag, als sie ihn vor der Schule getroffen hatte. Ein reiner Glückstreffer. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm durch die Haare zu fahren und es wieder unordentlich zu machen, aber über diesen Gedanken lächelte sie nur. "Wo wohnst du?", wollte sie neugierig wissen. "In der Stadt?" Unter ihrem prüfenden, interessierten Blick wurde er fast schon ein wenig nervös. "Nein. Ein bisschen außerhalb. Ich hab das Haus meiner Großeltern geerbt und... ja. Da wohne ich jetzt. Die Spring Road, wenn dir das etwas sagt", fügte er noch schnell hinzu. Hannah nickte. "Ja, klar. Die kenn ich. Das ist ja am anderen Ende der Welt." Nathan musste lächeln. "So ganz weit nun auch wieder nicht." Beide drehten sich um, als sie ein Geräusch an der Treppe hörten. Lucy stand auf der untersten Stufe und beäugte Nathan argwöhnisch. "Haben Sie eigentlich eine Freundin, Mr. C.?", fragte sie lauernd. Hannah warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu. Seltsam. Genau das Gleiche hatte sie sich auch schon gefragt. Aber wenn Lucy diese Frage für sie klärte, war das absolut in Ordnung für sie. "Ähm... nein", antwortete Nathan verwirrt und warf Hannah einen fragenden Blick zu. Diese zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern, obwohl sie gebannt auf die Antwort gewartet hatte. "Ach so." Lucy ließ sichtlich enttäuscht die Schultern sinken und bückte sich anschließend hinunter, um ihre Schuhe anzuziehen. "Du hast aber nicht vor, mir die ganze Zeit hinterher zu spionieren, oder, Tante Hannah? Da kommen auch ein paar Freunde von mir, und-" "Bloß keine Panik", unterbrach Hannah sie. "Ich bin die coole Tante, schon vergessen?" Lucy warf einen skeptischen Blick zu Nathan hinüber, als ob sie damit sagen wollte 'So cool, dass du meinen Lehrer mitschleppst?!' und murmelte schließlich ein unverbindliches "Mhm". Sie war sichtlich unzufrieden mit der Situation, aber Hannah wusste, sobald sie erst einmal da waren, war alles vergeben und vergessen. Und sie könnte ein bisschen Zeit mit Nathan verbringen und ihn über alles ausquetschen, was sie schon immer wissen wollte. Nicht, dass sie es nicht schon damals versucht hätte - sie war ja nicht auf den Mund gefallen - aber er war immer so kühl und professionell gewesen und redete so selten über sich selbst und sein Privatleben, dass sie bald frustriert feststellen musste, dass sie sich an ihm lediglich die Zähne ausbiss, ohne viel schlauer zu werden. Jetzt allerdings waren die Karten neu gemischt, und darauf freute sie sich schon. Es war schon fast dunkel, als sie auf dem Jahrmarkt ankamen, und alles leuchtete und blinkte in lustigen Farben und Formen. Überall waren Menschen; sie standen herum, liefen hin und her, warteten in Schlangen, unterhielten sich oder aßen. Wie es nicht anders zu erwarten war, waren überall Essstände aufgebaut. Es gab Pommes Frites, Hamburger, Hot Dogs, Chili con Carne, Pizza und anderes, beliebtes Fast-Food. Die Süßigkeitenstände, mit Zuckerwatte, Popcorn und anderen Leckereien, verbreiteten ihre süßen Düfte auf dem ganzen Platz und ließen vor allem Kindern das Wasser im Munde zusammenlaufen. "Boah, guck mal!", rief Luke alle fünf Sekunden begeistert, als wäre er noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen, und zeigte in irgendeine x-beliebige Richtung - überall gab es etwas zu sehen. "Ein Riesenrad!", schwärmte Lucy. "Gehen wir drauf? Da kann man sich einen guten Überblick verschaffen. Es ist fast wie fliegen." Hannah steckte sich nervös eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Du und Luke, ihr könnt zusammen drauf gehen. Aber macht keinen Unsinn, klar?" "Du musst unbedingt auch drauf", bestand Lucy und schaute ihre Tante vorwurfsvoll an. "Du verpasst ja sonst den ganzen Spaß." "Ja, komm schon, Tante Hannah. Von oben sehen alle aus wie Ameisen", pflichtete Luke seiner Schwester bei, was nur etwa alle tausend Jahre in der Geschichte der Menschheit passierte. "Das müssen wir sehen." "Nein, wirklich-" "Du wirst doch nicht etwa alt?", stichelte Lucy. "Alt und eine Spaßbremse." Hannah funkelte ihre kleine Nichte vernichtend an. Das wäre ja noch schöner, wenn sie sich von einem Kind provozieren lassen würde. Auf eine so primitive und einfache Art und Weise. "Mögen Sie Riesenräder, Mr. C.?", fragte Lucy dann engelsgleich. Hannah grollte. Sie wusste, wo das hinführen sollte. Nathan, wie immer etwas verwirrt von der fruchtlosen Unterhaltung, nickte irritiert. "Ja, ich denke schon." "Können Sie Tante Hannah nicht überreden? Sie wollen doch auch drauf, oder?" Hannah seufzte auf, bevor Nathan irgendetwas zu ihr sagen konnte. Diese Blagen hatten wirklich alle Register gezogen. "Ist gut. Nur eine Runde", brummte sie erbost. "Du musst keine Angst haben", versicherte Luke ihr ernst. "Da kann nichts passieren." "Ich habe keine Angst", knurrte sie. "Hannah." Das war Nathan. Besorgt sah er sie an. "Du musst nicht, wenn du nicht willst." Sie hätte fast laut aufgelacht. Das klang ja fast so, wie vor dem ersten Mal. 'Du musst das nicht tun, wenn du es nicht wirklich willst.' Belustig sah sie ihn an. Und fragte sich gleichzeitig, warum sie diesen Gedanken in Zusammenhang mit ihm hatte. "Schon gut. Bringen wir es hinter uns." Hm. Und auch das klang wie vor dem ersten Mal. Zumindest vor ihrem. "Aber kein Rumgeschaukle!" "Hört auf, rumzuschaukeln!" Panisch krallte Hannah sich an der Sitzkante fest und traute sich kaum, einen Blick über Bord zu werfen. Sie saßen in einer Riesenradkabine mit vier Plätzen, jeweils zwei lagen sich gegenüber und in der Mitte befand sich ein kleines tischähnliches Gebilde, an dem man sich ebenfalls festhalten konnte. Aber dafür hätte sie die Sitzfläche loslassen müssen. Lucy und Luke hatten beide die Köpfe über die Brüstung gesteckt, lachten, und hielten die Kabine gut in Schwung. Hannah starb fast vor Angst. Mit ihrer Höhenangst hatte sie schon immer zu kämpfen gehabt, aber in einer offenen Riesenradkabine zu sitzen, die Tiefe so präsent und nah vor Augen zu haben, das war für sie die Hölle schlechthin. Wieso hatte sie sich nur breitschlagen lassen? Es war zum Verzweifeln. "Schau mal runter, Tante Hannah. Alles ist so schön bunt", schwärmte Lucy. "Oh, ich glaube, da ist Bobby." Sie streckte einen Arm raus und zeigte nach unten in die Menge. "Hm, oder doch nicht. Oder warte, doch!" Hannah musste sich stark darauf konzentrieren, nicht einfach in Panik auszubrechen. Ein Blick nach unten ließ ihren Kopf schwirren und sie musste sich zwingen, gleichmäßig zu atmen, sonst hätte sie womöglich hyperventiliert. So hoch oben konnte die Luft unmöglich noch gut genug sein, als dass sie ihren gesunden Geisteszustand behalten hätte. Allen anderen hingegen ging es ziemlich gut, stellte sie von Neid erfüllt fest. Als eine Windböe aufkam und die Kabine noch mehr zum Schaukeln brachte, schloss sie die Augen. Dann spürte sie zu ihrer großen Überraschung zaghaft eine warme Hand an ihrer eigenen. Und eine leise Stimme ganz nah neben ihr, die die beiden plappernden Kinder kurz ausblendete. "Schon gut, Hannah. Luke hat recht. Es kann nichts passieren. Die Sicherungstechniker sind vor allem bei den Riesenrädern besonders genau, und bevor sie in Betriebnahme genommen werden, wird alles auf Funktionalität und Sicherheit geprüft. Das Gütesiegel des NRTLs ist da sehr gründlich und genau. Schau einfach nicht runter." Sie öffnete die Augen und starrte auf Nathan’s Hand, die auf ihrer lag. Es war eine schöne, große Hand. Eine sichere Hand. Sein Gerede beruhigte sie zwar nicht unbedingt - Angst ließ sich nun mal nicht rational wegdiskutieren -, aber er bewirkte immerhin, dass sie sich nicht mehr allzu sehr auf die Höhe konzentrierte, sondern vielmehr auf ihn. "Und auch", redete er weiter, "wenn es einen Stromausfall gibt und wir ganz oben stehen bleiben, dann-" "WAS?!", fuhr sie dazwischen. "So etwas kann passieren?!" Sie musste sich korrigieren. Die Hölle war es nicht, in einem Riesenrad festzusitzen. Die Hölle war es, in einem unbeweglichen Riesenrad mit offenen Kabinen bei Stromausfall festzusitzen! "Oh, äh... das hätte ich nicht sagen sollen", entschuldigte Nathan sich hastig. "Das war dumm. Ich hab dir Angst gemacht, bitte entschuldige." Sie schloss wieder die Augen und senkte den Kopf. Gott. Der Typ war unglaublich. Unglaublich süß. Wie konnte sie sich dabei überhaupt noch auf Höhe und Riesenräder und den ganzen blöden Kram konzentrieren?! Sie musste sich strengstens zur Ordnung rufen, denn sie verspürte das unbändige Verlangen, ihm einfach um den Hals zu fallen. Schon allein, weil er solche Sachen sagte. Er hielt ihre Hand unter dem Tisch fest, verborgen vor allen Blicken, was fast schon etwas Verbotenes hatte, bis sie wieder unten angekommen waren, und verlor kein Wort mehr darüber. Obwohl sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, war Hannah's Magen fröhlich dabei, sich um seine eigene Achse zu drehen und auch ihr Herz schlug schneller, machte zusammen mit ihrem Verdauungsorgan ein paar Purzelbäume und hinterließ ein zutiefst verstörendes Gefühl, das sie nicht zu deuten wusste. "Schau mal." Lucy zeigte auf eine Gruppe Jugendlicher in etwa ihrem Alter. "Das sind ein paar Leute aus der Schule. Ich geh mal zu denen rüber." "Ooh", machte Luke provokant und lächelte garstig, wie nur ein kleiner Bruder es konnte. "Ist da auch dein geliebter Patrick dabei?" Lucy wurde rot und funkelte Luke wütend an, doch bevor sie ihm etwas nicht besonders Nettes an den Kopf werfen konnte, mischte Hannah sich ein. "Aber kein Rumgeknutsche", verlangte sie streng, alles daran setzend, nicht in Lachen auszubrechen. "Tante Hannah!", quietschte das Mädchen aufgebracht und entsetzt. "Iiih!", brüllte Luke verzückt. "Halt die Klappe, Lucky", ermahnte Hannah ihn, winkte der zornigen Lucy mit der Hand, als Zeichen dafür, dass sie entlassen war, und zwinkerte Luke dann verschwörerisch zu. "Geh und spionier deiner Schwester ein wenig nach." So hatte sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und war beide Kids losgeworden. "Lucky?", hakte Nathan nach, als Luke sich begeistert davonmachte, um Detektiv zu spielen, und ihn und Hannah alleine ließ. Hannah nickte. "Ja. Ich finde, er sieht aus, wie ein Kobold, der am Ende des Regenbogens mit dem Goldtopf auf dich wartet. Also Lucky." Nathan musste widerwillig schmunzeln. Hannah war - in seinen Augen - eine selbstbewusste und temperamentvolle Frau - und trotzdem redete sie über solche kitschigen Sachen wie Regenbögen und Kobolde, als ob sie tatsächlich daran glaubte. Er fand es faszinierend, diese kleinen Eigenheiten an ihr zu entdecken. Die kleinen Risse in der Fassade. Ihre Höhenangst, ihre - wenn er denn mit seiner Vermutung richtig lag - fast schon romantische Ader. Was würde er im Laufe der Zeit noch alles entdecken können? "Du bist also Lehrer geworden", setzte Hannah das Gespräch vom Nachmittag fort, während sie langsam über den Jahrmarkt schlenderten. "Das passt du dir. Ich weiß noch, wie du damals warst." Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. "Ach ja?" "Natürlich. Immer sehr ordentlich und sorgfältig und alles musste zu 100 Prozent stimmen." Sie lachte bei der Erinnerung daran, wie ernst Nathan ihre Nachhilfestunden genommen hatte. Ganz im Gegensatz zu ihr. Für sie waren sie nur eine Möglichkeit gewesen, ihn 60 Minuten lang anzuschmachten. Und das hatte sie voll und ganz ausgenutzt und genossen. Er lächelte entschuldigend. "Du warst furchtbar genervt, oder?" "Oh ja." Sie grinste. Aber nicht von deinem Anblick, fügte sie in Gedanken hinzu. "Trotzdem. Du warst gut. Du hast mich immerhin durch die Prüfung geboxt. Sonst hätte ich nie von Zuhause weggehen können. Und das war damals dringend nötig." "Hm", machte Nathan leise, da er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Sie nach den Gründen zu fragen erschien ihm zu privat und er wollte nicht aufdringlich oder indiskret sein. Aber das war auch nicht nötig, denn Hannah lieferte sie ihm schon von selbst. "Ich musste einfach mal raus. Einen anderen Teil der Welt sehen, als immer dieses Vorstadtloch hier. Ich war schwer gelangweilt." Überrascht wandte er sich an sie. "Und jetzt bist du trotzdem wieder da?" Sie lachte fröhlich. "Ja, meine ganze Familie wohnt hier. Ich hatte irgendwie... Heimweh." Nathan hätte gerne gefragt, wie lange sie bleiben würde, aber er wagte es nicht. Die Antwort hätte er vielleicht gar nicht hören wollen. Es passte zu Hannah's Art, nicht an einem einzigen Ort gefangen sein zu wollen. "Was hast du gemacht?", wollte er stattdessen wissen. "Nach der Schule?" "Oh, ich hab Graphikdesign studiert und hab mir dann Berufserfahrung angeeignet. Mittlerweile kann ich von zu Hause aus arbeiten, dank dem großen weltweiten Netzwerk, auch bekannt als WWW oder das Internet. Super, was die ganze Technik heutzutage alles möglich macht, oder? Aber eigentlich wollte ich ja Kunstgeschichte studieren." Nathan horchte auf. Schon wieder so ein kleiner Teil von ihr, den er aufgedeckt hatte. "Warum hast du es nicht getan?" "Ich wusste damals einfach nicht, was ich später damit anfangen sollte. Also hab ich mich für etwas Handfesteres mit mehr Zukunft entschieden. Dafür beleg ich aber jetzt die Kurse in Kunstgeschichte an der Abendschule. Heute hab ich geschwänzt." Sie grinste ihm verschwörerisch zu. "Aber verpetzen Sie mich nicht, Herr Lehrer." Er lächelte irritiert. Dass sie ihn so nannte, machte ihn nervös. Er wusste, dass sie nur Spaß machte, aber trotzdem wollte er nicht als eine Autoritätsperson von ihr gesehen werden. Das hatte er schon einmal gehabt... "Und weißt du jetzt, was du damit anfangen willst?" "Nein. Ich weiß es noch immer nicht. Aber es macht mir viel Spaß." Nathan lächelte die Wiese unter seinen Füßen an. "Ich wünschte, alle meine Schüler hätten diese Einstellung." Hannah klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Ich bin sicher, du machst das toll. Was denkst du, sollen wir wieder fahren? Es ist schon nach neun Uhr. Tess würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was ich mit ihren - ihrer Meinung nach - wohlerzogenen Gören anstelle." Er zuckte mit den Schultern und achtete darauf, nicht zufällig ihre Hand zu berühren. "Ganz, wie du willst, Hannah." Sie verspürte wieder so ein Flattern im Bauch, als er ihren Namen aussprach, und musste sich daran hindern, laut aufzuseufzen. "Danke noch mal, dass du mitgekommen bist, das war sehr nett von dir. So hatte ich ein bisschen Gesellschaft." Hannah und Nathan standen vor Tess' Haustür, die Kinder waren schon drin und sollten sich bettfertig machen - Hannah wusste, dass sie alles andere taten, nur nicht das, worum sie sie gebeten hatte. Sie würde sich noch mindestens eine halbe Stunde lang ihr Maulen und ihr Gezanke anhören müssen. "Das hab ich gern gemacht", erwiderte Nathan, wohlerzogen, wie er war. Es verschlimmerte die tobende Unruhe in ihrem Inneren. Sie beugte sich ein wenig zu ihm herunter, da sie auf einer Treppenstufe stand. "Ich würde dich ja gerne noch auf einen Kaffee reinbitten, aber ich fürchte, dann wäre ich kein gutes Vorbild für die Kinder." Vielsagend grinste sie ihn an. Nathan schluckte und seine Kehle wurde ganz trocken. "Ich hatte nicht die Absicht... Ich würde niemals denken, dass...", stammelte er verlegen. "Ich weiß, Nathan", unterbrach Hannah ihn amüsiert, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange und verweilte mit ihrem Mund etwas länger an seinem Ohr. "Aber vielleicht hatte ich ja die Absicht?", wisperte sie ihm leise zu. Nathan wagte es nicht einmal, zu atmen. Er hätte niemals gedacht, dass Hannah so über ihn dachte. Eigentlich... konnte er im Moment gar nicht denken. "Gute Nacht, Nathan", wünschte sie ihm, belustigt über seinen verdatterten Gesichtsausdruck. Er sah aus, als hätte er gerade eine Horde Elefanten durch seinen Vorgarten vorbeitrampeln sehen. Dann ging sie ins Haus und schloss leise die Tür hinter sich. Verwirrt blieb Nathan noch eine Weile vor dem Haus stehen, denn erst nach einigen Sekunden gehorchten alle seine Gliedmaßen wieder, um dem Befehl zum Rückzug, den der noch intakte, weder halluzinierende, noch UV-Strahlen-verseuchte Teil seines Gehirns aussendete, Folge zu leisten. "Gute Nacht, Hannah", murmelte er noch der geschlossenen Tür zu. _____ NRTL = amerikanisches Äquivalent zum TÜV-Gütesiegel. - 3 - ----- Hannah steckte sich ein auf der Gabel aufgespießtes Kuchenstück in den Mund. Bei "Billy's" gab es den besten Kuchen der Welt, und Hannah und ihre Freundinnen versammelten sich oft in der kleinen Bar, um ihre Alkohol- und Zuckerreserven wieder aufzustocken. Sicherlich war es nicht üblich, Kuchen zu Cocktails zu essen, und das an einem Sonntag Abend, wo doch am nächsten Tag alle zur Arbeit mussten, aber es war ein Nottreffen anberaumt worden und außerdem musste Hannah sich dringend von dem Teenagerhormonlastigen Wochenende erholen. Ihre Schwester Tess und deren Ehemann waren wieder zurück und Hannah hatte den beiden dankbar und erledigt ihre Kinder übergeben und war sogleich geflüchtet. Was sie jetzt brauchte, war nur ein bisschen Entspannung und eine erwachsene Konversation. Oder so was in der Art. Maggie und Rose, ihre beiden Freundinnen, saßen ihr gegenüber, jede jeweils mit einem Kuchen und einem Cocktail bewaffnet. Sie brannten geradezu darauf, die Geschichte von Nathan zu hören, und Hannah war nur allzu bereit, die Geschehnisse der letzten drei Tage zu schildern, alles in seine Einzelteile zu zerlegen und zu analysieren, so, wie es sich gehörte. Sie merkte allerdings selbst, dass sie sich, anstatt alles der Reihe nach zu erzählen, dauernd in Schwärmereien und Kleinigkeiten verlor. Falls Maggie und Rose ihr allerdings nicht mehr folgen konnten, ließen sie sich das nicht anmerken. "Und als ich das Thema Sex angesprochen habe", kicherte sie gerade, als Maggie einen großen Schluck von ihrem blauen Cocktail nahm, "ist er richtig verlegen geworden. Mit roten Ohren und so." Rose machte großen Augen und ließ ihre Kuchengabel sinken. Sie hatte einen leckeren Himbeer-Käsekuchen bestellt, den Hannah ihr am liebsten sofort abgeluchst hätte. "Du hast schon beim ersten Treffen mit ihm über Sex gesprochen?!", wollte sie ungläubig wissen. Rose war schon immer etwas zart besaitet gewesen. Sensibel und vorsichtig. Ganz im Gegensatz zu Maggie. Deshalb liebte Hannah ihre Freundinnen so. Sie waren so unterschiedlich und doch gehörten sie alle zusammen. "Nein, nein", widersprach sie, "Das war nur eine Anmerkung zu seiner Unterrichtslektüre." Rose schüttelte verwirrt den Kopf – sie hatte Mühe, diesen beiden Themen im Kopf zu vereinen. Aber Maggie grinste breit. "Wow, du gehst ja ran. Dir ist schon klar, was du ihm damit vermittelst, oder?" Hannah schnaubte, fassungslos über diese dreiste Unterstellungen ihrer Freundin. "Hör auf, Maggie. Nathan ist nicht so einer." "Aber du anscheinend schon. Beim ersten Treffen eine Anmerkung über Sex fallen zu lassen, ist... na ja. Du weißt schon. Es weckt gewisse Hoffnungen und eigentlich ist klar, worauf das hinauslaufen soll. Gewagt." Hannah runzelte die Stirn. "Quatsch...", murmelte sie zögernd, doch es klang nicht besonders überzeugend, selbst in ihren Ohren. Das hatte sie nicht gemeint, als sie diesen kurzen, humorvollen Verbesserungsvorschlag gemacht hatte. Sie hatte nur etwas Witziges sagen wollen. Oder? Steckte dahinter doch viel mehr, so wie Maggie vermutete? "Vielleicht", kam Rose zu Hilfe, "hast du es ja darauf abgesehen, ohne es selbst zu wissen? Ich meine, da denkt doch jede mal dran, wenn sie einen gutaussehenden Kerl trifft..." "Nein." Hannah schüttelte den Kopf, jetzt viel entschiedener. "Bestimmt nicht... Glaube ich." Sie hielt inne und überlegte kurz. Sie war schon damals total in Nathan verknallt gewesen. Hatte da nicht etwas in ihr Klick gemacht, als sie ihm am Freitag wiederbegegnet war? Wollte sie ihn nicht immer noch? "Oh nein... was ist, wenn du Recht hast? Nathan ist nicht so jemand... Das kann ich nicht tun." Es war ganz und gar unvorstellbar. Ein Techtelmechtel mit Nathan? Der immer alles so gewissenhaft und ernst nahm? Niemals! Aber warum hatte sie dann zu ihm gesagt, was sie zu ihm gesagt hatte? Bisher hatte sie sich eingeredet, dass sie es nicht ernst gemeint hatte. Sie hatte ihn nur aus dem Konzept bringen können, und das war ihr auch gelungen. Ihn ein bisschen verwirren. Aber was wäre gewesen, wenn er wirklich noch mit reingekommen wäre? Sie hätte doch nicht... Vielleicht hätte sie ja doch. Diese Erkenntnis raubte ihr fast den Atem. "Vielleicht magst du ihn ja?", warf Rose ein. Hannah's Stimme überschlug sich, so eifrig redete sie. "Sicher mag ich ihn. Ich mochte ihn schon damals. Und er ist noch immer total süß. Als wir auf dem Riesenrad waren-" "Du warst auf einem Riesenrad?!", unterbrach Maggie sie entsetzt. "Ja." Hannah wollte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Die Aufregung ihrer Freundin ging völlig an ihr vorbei. Sie war schon wieder bei Nathan, genauer gesagt seiner Hand auf ihrer. Alles andere war unwichtig. "Die Kinder, du weißt schon-" "Warte." Rose hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. "Mit 'wir' - meinst du da Nathan und dich, oder dich und die Kinder?" Hannah blinzelte irritiert. "Uns. Alle zusammen. Jedenfalls, hört doch einfach mal zu. Wir waren also auf dem Riesenrad und ich hab total Panikanfälle bekommen - also richtig peinlich. Und Nathan hat seine Hand auf meine gelegt und fing an, irgendwelchen süßen Schwachsinn über Sicherheitstechnik und so zu erzählen." Verzückt grinste sie. Maggie und Rose starrten befremdet zurück. "Und dann", fuhr sie weiter fort, "sagte er etwas von Stromausfall, was mich richtig erschreckt hat, und als er das merkte, meinte er doch tatsächlich..." Sie räusperte sich, um ihren nächsten Worten mehr Ausdruck zu verleihen. "'Ich hab dir Angst gemacht, entschuldige bitte.'" Begeistert sah sie ihre Freundinnen an und wartete auf eine Reaktion. Rose und Maggie jedoch tauschten lediglich vielsagende Blicke mit hochgezogenen Augenbrauen zwischen einander aus. Hannah war verwirrt. "Was?" "Dich hat's ja echt erwischt, oder?", wagte Rose sich langsam vor. Hannah schüttelte verdrießlich den Kopf. "Nein. Hört ihr mir gar nicht zu?!" Ihre Freundinnen schauten sie gespannt an, ohne etwas zu sagen. "Ich meine", holte sie tief Luft, "wann hat ein Typ das schon mal zu euch gesagt? Es hat mich nicht erwischt. Das würde ja bedeuten, ich bin in den sieben Jahren nicht über ihn hinweggekommen. Aber ich hatte wirklich vergessen, wie süß er ist. Nachdem ich ihn auf die Wange geküsst habe, war er so durch den Wind, dass er über den Blumenkübel an der Treppe von Tess' Haus gestolpert ist." Sie kicherte bei der Erinnerung daran, wie sie Nathan noch durch das Fenster beobachtet hatte. Warum sie das getan hatte, wusste sie auch nicht, aber man hatte ihm deutlich ansehen können, wir verwirrt er gewesen war. Er war sich mit der Hand durch die Haare gefahren, hatte sich umgeguckt, als würde er nach einer versteckten Kamera suchen, sich umgedreht - und wäre prompt über den Blumentopf gefallen, wenn er nicht noch rechtzeitig das Gleichgewicht wiedergefunden hätte. Hannah hatte sich ein Lachen verkneifen müssen. Und dann war da noch etwas anderes gewesen... Eine Art zartes Ziehen in ihrem Brustkorb. "Oh man." Das war Maggie. Sie verzog das Gesicht zu einer fast schon schmerzhaften Grimasse. "Dich hat es total erwischt." "Eindeutig", pflichtete Rose ihr bei. "Ist er überhaupt Single?" Hannah wollte gerade widersprechen, aber Rose's Frage lenkte sie ab. "Ja, er hat keine Freundin, hat er gesagt." Rose riss die Augen auf. "Du hast ihn tatsächlich gefragt?!" "Nein, Lucy hat ihn gefragt." Maggie, die nicht so leicht zu erschüttern war, lachte laut auf. "Was, du hast deine Nichte vorgeschickt? Hannah, du bist echt härter, als ich dachte." Irgendwie entwickelte sich das Gespräch in die falsche Richtung, merkte Hannah. "Nein", widersprach sie verdrießlich. "Hab ich nicht. Sie hat ihn ganz von sich aus gefragt. Warum, weiß ich auch nicht. Ich glaube, sie wollte ihm ein schlechtes Gewissen einreden, dass er den Abend mit uns verbringt und nicht mit seiner Freundin, aber das hat wohl nicht ganz so funktioniert, wie sie sich das gedacht hatte." Maggie grinste verschlagen. "Kam dir ganz gelegen, hm?" "Oh", machte Hannah, als würde ihr gerade ein Licht aufgehen. "Ich, äh... oh. Vielleicht. Ich weiß nicht... Er ist so..." "Süß", beendeten Maggie und Rose ihren Satz unisono. "Mhm", stimmte Hannah entrückt zu. "Und anständig. Und ernst. Und irgendwie ein bisschen... zerstreut. Und klug! Klug ist er natürlich auch. Ständig hält er irgendwelche Vorträge. Oh Gott!" "Was?", hakte Maggie gespannt nach. "Ich glaube..." Hannah schluckte und schaute ihre Freundinnen verzweifelt an. "Mich hat's... erwischt?!" Rose, die romantische Geschichten liebte, grinste. "Und nun?" "Weiß ich nicht", jammerte Hannah verzweifelt. "Ich weiß ja nicht mal, was er darüber denkt..." "Frag ihn", schlug Maggie vor. "Bei dir hört sich das immer so einfach an", schnaubte Rose verächtlich. "Sie kann doch nicht mit der Tür ins Haus fallen-" "Und was schlägst du vor, Miss Einfühlsam?" "Hört auf, zu streiten, ihr zwei", mischte sich Hannah ein, noch völlig überrumpelt von ihrer Erkenntnis. Aus Frust und Verwunderung schaufelte sie sich den Rest ihres Schokoladenkuchens rein. "Ruf ihn an!", verlangte Maggie resolut. "Lass dich anrufen", hielt Rose dagegen. "Hallo!", fuhr Maggie Rose an. "Wir leben im 21. Jahrhundert! Heutzutage dürfen auch Frauen zum Telefonhörer greifen." "Trotzdem", widersprach Rose ruhig, "sind männliche Gehirne nur wenig veränderte Kopien der primitiven Urhirne aus der Steinzeit. Eine zu forsche Frau kann einschüchternd wirken." Maggie verdrehte die Augen. "Ihr seid keine große Hilfe, wisst ihr das?", erwiderte Hannah trocken. Diese Unterhaltung hatte sie schon an die gefühlte tausend Mal gehört. Rose und Maggie hatten so gegensätzliche Ansichten, in allen Bereichen ihres Lebens, dass sie den ganzen lieben langen Tag nur darüber streiten könnten. "Hör zu." Rose ergriff das Wort, ehe Maggie ihr zuvorkommen konnte. "Er ist mit dir weggegangen, obwohl er gar nicht musste. Er hat deine Hand gehalten, war freundlich zu dir und hat sich von dir küssen und anscheinend auch anmachen lassen, ohne sich direkt wie ein Tier über dich herzumachen und die Situation auszunutzen und ohne dich zum Teufel zu jagen. Das ist doch gar nicht so schlecht. Versuch es. Mehr als scheitern kannst du nicht, oder? Und so, wie du ihn beschreibst, ist er fair genug und wird dir schon sagen, woran du bist, oder?" Hannah nickte nachdenklich, verzog aber besorgt ihre Mundwinkel. "Nicht schlecht", murmelte Maggie, fast schon ein wenig beeindruckt. "Du bist hoffnungslos romantisch, Rose." "Und du bist ein menschenfeindlicher Kaktus, Maggie", konterte Rose, immer noch leicht eingeschnappt. Aber Maggie lachte nur. "Schön. Hätten wir das auch geklärt. Hannah, du bist so still?" "Ich denke nur nach... Ich glaube, ich gehe nach Hause und überschlafe die ganze Geschichte. Das Wochenende war wirklich anstrengend und irgendwie... ach, ich weiß auch nicht." Niedergeschlagen ließ sie den Kopf sinken. "Ich fass es nicht, dass er mir nach sieben Jahren wiederbegegnet und mir schon wieder nicht aus dem Kopf geht!", brauste sie dann plötzlich auf. "Das ist doch... ein Teufelskreis! Das ist krank." "Tja. Er hat dich für alle anderen Männer verdorben", schwärmte Rose. "Das ist echt süß." Befremdet schaute Maggie sie von der Seite an. "Das ist nicht süß, das ist furchtbar. Stell dir vor, er will sie nicht, und sie wird nie wieder in der Lage sein, sich auf jemand anderen einzulassen." Hannah's Kopf schnellte nach oben und sie starrte Maggie entsetzt an. "Maggie!", zischte Rose empört und stieß ihr unsanft einen Ellbogen in die Seite. "Halt die Klappe!" "Ich gehe besser", schaltete sich Hannah irritiert ein. "Ihr macht mich noch viel wahnsinniger." Sie erhob sich und legte einen Geldschein auf den Tisch. "Lass dich nicht von ihr verrückt machen", riet Rose ihr tröstend. "Und meld dich unbedingt, wenn es etwas Neues gibt. Ich will alles wissen!", verlangte Maggie. Rose nickte. "Ich auch." Noch viel verwirrter als vorher machte Hannah sich auf den Heimweg. Sie war zu Fuß gekommen, und ein Spaziergang würde ihr jetzt ganz gut tun, überlegte sie. Frische Luft, Bewegung und ein klarer Kopf. Nur, dass sie befürchtete, zu letzterem nicht unbedingt in der Lage zu sein. - 4 - ----- "Mein Monsterroboter macht dich fertig!", brüllte Luke und hämmerte wild auf seinen Play Station-Controller ein, während sein Gesicht einer wutverzerrten Maske glich. Hannah hätte Angst bekommen vor diesem wilden Zwölfjährigen, wenn sie diese Art der Ausraster nicht bereits kannte. "Monsterroboter vs. Alienzombies" war Luke's momentanes Lieblingsspiel, dessen einziges Ziel es war, durch eine düstere Science-Fiction-Welt zu laufen und die feindlichen Monster durch allerhand Waffen zu erlegen. Luke war ganz vernarrt danach, durfte es aber zu Hause nicht spielen, da seine Mutter streng dagegen war. Er hatte Hannah vor einiger Zeit überreden können, ihm das Spiel zu kaufen und kam da nur dran, wenn sie auf ihn und seine Schwester aufpasste. Oder eben, wie heute, zu einer besonderen Gelegenheit. Es war ein Mittwoch, der vierte Juli, um genau zu sein. Und wie jedes Jahr an diesem Tag machte Hannah's Familie dieses riesige Barbecue mit allen Freunden, Nachbarn und Bekannten. Das war schon so gewesen, seit sie denken konnte, und es war immer ein großes Ereignis, auf das sie sich das ganze Jahr über freute. Zum Abschluss, sozusagen als Krönung des ganzen Tages, schaute man sich gemeinsam das bunte Feuerwerk am sommerlichen Nachthimmel an. Dieses Mal hatte Hannah allerdings keine besonders große Lust, mit all den alten und jungen Menschen aus ihrer Vergangenheit Smalltalk zu führen. Vielmehr war sie in Gedanken mit Nathan beschäftigt, der sich seit dem Samstag, an dem sie - wie sie entschieden hatte - ziemlich aufdringlich geworden war, nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Aber warum sollte er auch? Möglicherweise hatte er kein Interesse an ihr. Niemand garantierte ihr, dass ihre Zuneigung für ihn auf Gegenseitigkeit beruhte. Eigentlich wollte sie heute nur ihre Ruhe haben. Aber niemals hätte man ihr verziehen, wenn sie sich die große Sause entgehen lassen hätte, also hockte sie hier, im - dank Klimaanlagen - kühlen Wohnzimmer ihrer Eltern, wo Luke ausnahmsweise seinem Actionspiel frönen konnte, ging dem großen Mob aus dem Weg und lenkte sich von Nathan ab, indem sie Monster und Aliens, Zombies und Roboter erledigte. Mit ganz vielen fantasievollen außerirdischen Waffen, aus denen grelle, gelbe Blitze oder rote Wellen schossen. Monoton, aber wirksam, befand Hannah, als sie Luke's intergalaktischen Monsterroboter vom Planeten XTA-19527495 mit einem einzigen Knopfdruck platt machte und er laut aufheulte. "Maaaan! Nicht schon wieder! Das ist unfair! Du hast bestimmt heimlich zu Hause geübt!" Hannah grinste halbherzig. "Ich muss gar nicht heimlich üben, weil ich keine Angst haben muss, erwischt zu werden." Luke streckte ihr beleidigt die Zunge heraus und drehte sich zu Kevin, seinem Kumpel, um, der mit großen Augen auf den Bildschirm starrte und nur darauf wartete, auch mal an die Reihe zu kommen. "Rache!", verlangte Luke herrisch und drückte auf ein paar Tasten des Controllers. Kevin ließ enttäuscht den Kopf hängen. Hannah seufzte laut auf und schwang die Beine über die Armlehne des Sessels, in dem sie saß, um es sich bequemer zu machen. Gerade wollte sie zu einem ihrer vernichtenden Schläge ausholen, die Luke regelmäßig so aus der Fassung brachten, als sie ein Räuspern hörte und sich irritiert nach der bekannten Stimme umdrehte. Sie vergaß, ihren Schutzschild zu aktivieren und ihr Alien wurde gnadenlos geröstet. "HA!", schrie Luke triumphierend und seine zur Faust geballte Hand schoss in die Luft. "Nathan!", japste Hannah dazwischen. Verlegen rieb er sich den Nacken und zwang sich, den Blick von ihren Beinen abzuwenden. Hannah trug eine olivgrüne Shorts - keine von diesen ganz kurzen, hotpantsähnlichen Dingern, aber sie war ein wenig hochgerutscht, und ihre Beine sahen wirklich einladend aus - befand er zumindest. Er schaute zum Fernseher hinüber und bemerkte dann den Joystick in ihren Händen. "Du spielst Play Station?", hakte er mäßig überrascht nach. Er klang vielmehr etwas ungläubig. "Play Station Zwei", korrigierte sie ihn, noch immer ziemlich erstaunt über sein Auftauchen. Dann schwang sie sich in eine aufrechte Sitzposition und Nathan konnte es wieder wagen, sie anzusehen, ohne übermäßig unkeusche Gedanken an den Tag zu legen. "Oh", sagte er, und etwas Anderes fiel ihm auch gar nicht ein. "Möchtest du eine Runde mitspielen?" "Äh, nein... danke. Ich steh nicht so auf Ballerspielchen... glaube ich." "Halloho!", schaltete sich Luke unzufrieden ein. "Das ist 'Monsterroboter vs. Alienzombies'!" Hannah lachte. "Du verpasst was. Ich bin ziemlich gut." "Ja, weil du zu Hause heimlichst übst", murmelte Luke grimmig in seinen imaginären Bart hinein. Der Zwölfjährige ertrug die Schmach nicht, von seiner 'alten' Tante besiegt zu werden. Hannah fuhr mit ihrer Hand durch die Haare ihres Neffen und brachte sie durcheinander. "Er ist nur sauer, dass er ständig verliert", erklärte sie Nathan und wandte sich dann wieder Luke zu. "Spiel doch 'ne Runde mit Kevin, okay?" Sie erhob sich und lächelte Nathan an. Im ersten Augenblick war sie überrascht gewesen - wahrscheinlich hatte ihr Gesichtsausdruck an seinen erinnert, als sie ihm nach so langer Zeit an der Schule wiederbegegnet war -, aber jetzt war sie froh, dass ehr da war. Das machte die ganze Sache viel, viel einfacher... "Ich wusste gar nicht, dass du auch eingeladen bist", plauderte sie, während sie ihm bedeutete, ihr über die Terrasse nach draußen zu folgen, wo es leckeres Essen gab. Salat und Burger und viele andere Leckereien luden zum Festschmaus ein, serviert auf einem alten, verwitterten Holztisch, der sonst in der Garage stand und wunderbar zu einem Grillabend passte. Rustikal und gemütlich. Etwas abseits hantierte Hannah's Vater mit dem Hackfleisch auf dem Grill - eine Aufgabe, die er sich nie nehmen ließ. Der Garten war geschmückt mit Lichterketten und Gartenfackeln, die aber allesamt erst bei Anbruch der Dunkelheit zum Einsatz kommen würde. Auf Bänken und Stühlen saßen Leute herum. Hier fand sich ein Grüppchen der älteren Generation, die, froh, dass sie sitzen konnten, in eine Diskussion über die 'guten, alten Zeiten' und die 'heutige Jugend' verwickelt waren, dort spielten ein paar Kinder Fangen, im Sandkasten saßen zwei Kleinkinder, die, anstatt Sandkuchen zu backen, mit großen Augen die Welt um sie herum bestaunten, und Hannah's Mutter eilte von einem zum anderen, um möglichst überall zur selben Zeit zu sein. "Aber mittlerweile kommt ja die halbe Stadt. Früher bist du immer mit deinen Eltern gekommen, das weiß ich noch." Sie schaute sich neugierig um. "Sind die auch hier?" Nathan schüttelte den Kopf. "Nein. Sie sind verreist." "Also bist du allein?", fragte sie weiter, nahm sich zwei Pappteller vom Stapel und reichte ihm eins. Er nahm ihn dankbar entgegen. "Ja. Ich wollte nur mal sehen... ob du auch da bist." Hannah hielt in der Bewegung inne und schaute ihn prüfend an; überrascht, dass er das so geradeheraus und direkt gesagt hatte. Das hatte sie nicht erwartet. "Oh. Wow. Das ist... nett." Sofort hob er abwehrend die Hände in die Luft, während er in der einen noch den Teller hielt. "Tut mir leid. Das war aufdringlich, fürchte ich." Sie riss überrascht die Augen auf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nathan war ein lustiger Zeitgenosse. Sie hatte ihm indirekt verraten, dass sie mit ihm in die Kiste hüpfen wollte, und er hielt sich für aufdringlich! "Das war doch nicht aufdringlich. Es war süß." "Oh", machte Nathan wieder, kniff dann die Augen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken, und blickte Hannah dann an. "Also, wenn ich das richtig verstehe, äh, wäre es auch okay für dich, wenn ich dich zum Essen einlade? Natürlich nur, wenn du willst", fügte er hastig hinzu. "Das soll nicht heißen, dass ich... irgendetwas vorhabe. Oder auf dein Angebot zurückkommen möchte." Seine Ohrspitzen wurden rot. "Das natürlich kein Angebot war, in dem Sinne, ich weiß schon... äh. Ich möchte einfach nur mit dir... essen...", schloss er dann lahm und sah zutiefst gequält aus. Hätte er doch bloß die Klappe gehalten und sich auf kurze Sätze und möglichst knappe Antworten beschränkt! Das musste er sich unbedingt merken. Hannah, die sich schwer zurückhalten musste, um nicht laut loszuprusten oder ihn auf der Stelle abzuknutschen, grinste. "Schon okay. Ich würde auch gerne mit dir..." Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und zwinkerte ihm kess zu, "essen. Vielen Dank für die Einladung." "Nichts zu danken", stammelte Nathan irritiert, als sich plötzlich eine großgewachsene Frau vor ihm aufbaute und ihn skeptisch betrachtete. Und zwar von oben bis unten. Mit ihren wild aussehenden roten Haaren und dem respektvollen Auftreten wäre sie im Mittelalter bestimmt auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, ging es Nathan unbehaglich durch den Kopf. Auf die eine oder andere Art waren ihm Frauen einfach nicht geheuer. Er verstand sie nicht. Ihre Blicke, ihre Andeutungen, ihre... ach. Einfach alles. Das hatte er noch nie. Und genau deshalb, sagte er sich, hast du auch immer solche Probleme mit ihnen. Denn dass er sich auch hin und wieder in so ein mysteriöses Exemplar verliebte, dagegen konnte er nichts machen. Ob er nun wollte oder nicht. "Hey Maggie", grüßte Hannah die Frau, die anscheinend eine Freundin von ihr war. Maggie, Maggie... klingelte da nicht etwas? Er war sich sicher, sie bereits getroffen zu haben. Wahrscheinlich war sie schon früher mit Hannah befreundet gewesen. Er hatte eine Menge Bekannte von Hannah getroffen, als sie noch zur Schule gegangen war. Unter anderem auch auf Veranstaltungen wie dieser hier. "Das ist Nathan", stellte sie ihn vor. "Und meine Freundin Maggie." "Ah, das ist also Nathan", grinste Maggie. "Hannah hat schon-" Hannah warf ihr einen tadelnden Blick zu. "...mal was von dir erzählt", konnte sie sich gerade noch retten. "Glaube ich zumindest." Nathan lächelte. "Hallo." "Wo ist Rose?", warf Hannah hastig ein, da Maggie nicht unbedingt dafür bekannt war, diskret und schweigsam zu sein und keine Anspielungen fallen zu lassen. "Ich glaub, die bringt ihr Auto in die Werkstatt, da ist irgendwas kaputtgegangen. Vielleicht kommt sie später noch. Tja, ich stürz mich mal auf's Buffet. Ich liebe die Küche deiner Mutter!" Nathan und Hannah sahen der jungen Frau hinterher, als sie sich einen Pappteller schnappte und sich über das Essen hermachte. "Maggie hatte früher mal schwarze Haare, aber sie färbt sie sich neuerdings immer rot", erklärte sie ihm. "Ich weiß nicht, vielleicht erinnerst du dich noch an sie? Sie war diese eine seltsame Person, die immer nur schwarz getragen und Weltuntergangsstimmung verbreitet hat. Ab und zu tut sie das auch heute noch", fügte sie trocken hinzu und dachte an Maggie's manchmal richtig nervenden Pessimismus. "Hm", machte Nathan nachdenklich. "Möglich. Aber Rose kenn ich noch." Das konnte Hannah sich schon denken. Rose, die süße, blonde, naive Rosie, welcher Mann konnte die schon vergessen? Sie runzelte die Stirn. Sie war doch nicht eifersüchtig? Auf ihre beste Freundin? Wegen gar nichts? Solche Gedanken mussten schnellstens unterbunden werden. "So." Hannah lächelte ihn an. "Wo waren wir? Ach ja. Du warst gerade dabei, mich zum Essen einzuladen." Nathan schaute unbehaglich drein. "Dazu gibt es eigentlich nichts mehr zu sagen, oder?" "Sicher." Hannah nickte. "Zum Beispiel, wann, wie und wo. Vergiss nicht, dass ich abends immer Schule hab." Er lächelte. "Und ich hab morgens immer Schule." Sie schlenderten ebenfalls zum Buffet und Hannah häufte sich eine großzügige Portion Salat auf den Teller und übergoss ihn dann mit Sauce. "Dann drängt sich doch ein Wochenendtag praktisch auf, findest du nicht?" "Sieht so aus." Er beobachtete skeptisch, wie sie sich Cola in ein Glas einschüttete. Solchen Süßkram mochte er nicht unbedingt. Und ungesund war er zudem auch noch. Deshalb nahm er die Wasserflasche zur Hand, um sie aufzudrehen. "Was, Wasser?", staunte Hannah. "Im Kühlschrank ist Bier, wenn du magst. Wein haben wir auch, glaube ich. Mag ich persönlich lieber als Bier." Nathan zögerte einen Moment. Ein kühles Bier war schon verlockend, aber nun hatte er das Wasser in der Hand, und er würde wahrscheinlich - hoffentlich - noch eine Weile hier bleiben, also hatte er Zeit genug. "Äh. Später vielleicht." "Hm, okay. Lass uns mal zu den Burgern wandern." Am Grill stand Hannah's Vater und wendete das Fleisch. Er hatte eine ziemlich männliche, schwarze Schürze um, auf der der Aufdruck "Barbecue King" prangte und mit rot-gelben Flammen verziert war. Gerade, als sie ihrem Vater winken wollte, wurde sie von der Seite angesprungen. Erschrocken keuchte sie auf, als sie nach unten gedrückt wurde, doch dann fand sie sich von Angesicht zu Angesicht mit Adam wieder, ihrem Highschool-Ex-Freund. Der übrigens niemals hatte Nathan das Wasser reichen können. Das hatte sie nun davon, zu diesem Barbecue zu erscheinen. Ihr war doch von Anfang an klar gewesen, dass sich dort auch sämtliche Idioten ihrer Vergangenheit versammelten. "Hannah, Süße, wo warst du denn so lange?" Er hielt sie auf Armeslänge von sich und schmatze ihr dann einen nassen Kuss auf den Mund. Überrumpelt und entsetzt starrte sie ihn an. "Wir haben dich alle total vermisst! Du musst unbedingt erzählen, was du die ganze Zeit so getrieben hast." Er legte ihr den Arm um die Schultern und ließ Nathan, der still zu ihrer Rechten stand und das ganze Schauspiel ausdruckslos mitverfolgte, komplett links liegen. "Adam, ich... lass mich los", knurrte sie und entledigte sich seines Armes. Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu und hatte das starke Verlangen, sich mit dem Handrücken über den Mund zu wischen. Dass Adam so unverschämt - so aufdringlich - war, machte sie furchtbar wütend. Dass er so nervig war, umso mehr. Früher hatten alle gesagt, sie passten so gut zusammen - war das etwa ein Code dafür, dass sie genauso enervierend war wie ihr damaliger Freund? Er hatte sich kein Stück verändert, bemerkte Hannah. Immer noch diese kurzen, blonden Haare, die blauen Augen und das selbstgefällige Grinsen, das sie früher vermeintlich als "selbstsicher und charmant" bezeichnet hatte. Er sah aus wie einer von diesen Sunnyboys am Strand von Kalifornien, nur das Surfbrett fehlte noch. Und genau das war es, was sie früher so toll an ihm gefunden hatte. Sie konnte nur von Glück sagen, dass auch sie mal erwachsen geworden war - mehr oder weniger - und nicht mehr auf solche Schwachmaten stand. "Wir müssen mal wieder was machen. Uns treffen oder so. Zum Essen vielleicht? Am Wochenende wäre doch gut. Verdammt, du siehst echt gut aus. Die Shorts steht dir." Nathan räusperte sich. "Ich geh mal zu deinem Vater...", teilte er ihr mit und kehrte ihr den Rücken zu, ohne auf eine Antwort zu warten. Adam kam wieder näher, hielt sie an den Schultern fest und betrachtete sie mit einem faszinierten Gesichtsausdruck. "Lass dich mal ansehen. Wow. Ich hätte nie Schluss mit dir machen dürfen." Oh man! Hannah versuchte, sich nach Nathan umzusehen, doch Adam's Griff war wie ein Schraubstock und sie hatte Nathan nicht mehr im Blickfeld. Also wandte sie sich Adam zu, um ihm endlich den Garaus zu machen. "Ich habe mit dir Schluss gemacht", erwiderte sie eisig. "Und wenn du mich nicht sofort los lässt... erzähl ich allen, dass du im entscheidenden Moment versagt hast!" Ihre Worte hatten die erhoffte Wirkung. Er ließ seine Arme sinken und schaute sie verständnislos an. "Aber das hab ich gar nicht", wunderte er sich erstaunt. "Tja, erzählen kann ich es trotzdem." Sie zuckte mit den Schultern, doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, überkam sie doch noch ein Hauch schlechten Gewissens. "Adam, tut mir leid. Das ist gerade ein schlechter Zeitpunkt gewesen, okay?" "Heißt das, du willst nicht mit mir essen gehen?", hakte er nach. "Richtig", bestätigte sie. "Das heißt es." "Hm. Ist Rose auch hier?" Hannah rollte mit den Augen. Männer! "Blödarsch", sagte sie nur zu ihm und drehte sich von ihm weg, um zu ihrem Vater und dem Grillstand zu eilen, doch als sie ihren alten Herrn erblickte, war Nathan schon nicht mehr da. Sie ließ ihren Blick über den ganzen Garten ihrer Eltern schweifen, konnte ihn aber nirgends erblicken. Enttäuscht runzelte sie die Stirn. War er etwa gegangen? Hatte er etwas Falsches aus Adam's Verhalten geschlossen und sich aus dem Staub gemacht? Hieß das, dass seine Einladung ebenfalls nicht mehr gültig war? Ratlos hastete sie an all den Leuten vorbei zur Straße, blieb auf dem Bürgersteig stehen und schaute sich um. Falls Nathan sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, müsste sie ihn doch noch sehen können, oder? Doch sie tat es nicht. Entweder war er schon über alle Berge, oder... vielleicht, so fiel ihr ein, war er auch mit dem Auto gekommen. Dann war er bestimmt schon meilenweit entfernt. Sie seufzte und ließ sich auf die kleine Steinmauer sinken, die den Garten von dem Bürgersteig trennte. Mürrisch betrachtete sie ihre Zehennägel, die vorwitzig aus ihren lila Flip-Flops lugten. Sie hatte sie dieses Mal nur mit Klarlack bearbeitet, ohne sich große Mühe gegeben zu haben. Es war auch egal, sagte sie sich dann. Nathan wäre wohl kaum wegen ihrer perfekten Pediküre geblieben. "He, was sitzt du hier rum wie ein Trauerkloß?" Maggie ließ sich neben Hannah nieder und folgte ihrem Blick. "Was gibt’s da so Interessantes, außer deinen Zehennägeln?" Hannah brummte. "Ach, gar nichts. Nathan hat mich zum Essen eingeladen." "Oh, wow." Maggie stellte ihren vollbeladenen Teller auf ihren Knien ab und kaute bedächtig. "Ich wusste gar nicht, dass das so ein Grund zum Trauern ist. Ich dachte, wir freuen uns darüber." "Wir freuen uns ja auch", jammerte Hannah. "Dann tauchte Adam auf und hat mich abgeknutscht und irgendeinen Schwachsinn erzählt, von wegen wieso hat er nur Schluss gemacht und dass wir mal zusammen essen gehen sollten..." "Welcher Adam?" "Der Highschool-Ex-Adam." "Hm... ooh, der Adam! Ich dachte, du hättest mit ihm Schluss gemacht?" "Hab ich ja auch gesagt", bestätigte Hannah und nickte eifrig. "Warte, und er hat dich abgeknutscht?" "Es war furchtbar", seufzte sie. "Nathan hat das alles mitbekommen. Und dann ist er verschwunden." "Hast du nicht gesagt, er könnte so gut küssen?", warf Maggie ein. "Adam, meine ich." Hannah stöhnte bei der Erinnerung genervt auf. "Das war damals und da hatte ich noch keine Ahnung. Aber das spielt ja auch keine Rolle." Sie versuchte sich zu sammeln. "Jedenfalls ist Nathan weg, nachdem er das mitbekommen hat. Er hat bestimmt gedacht... ach, keine Ahnung." "Hm, aber Hannah-" "Ich sollte das aufklären, oder? Ihm sagen, dass es niemanden sonst gibt und dass Adam ein blöder, nerviger Typ ist", unterbrach Hannah entschieden. "Dass ich viel lieber mit ihm ausgehen würde, statt mit Adam." "Äh, ja, solltest du." Maggie räusperte sich. "Das kannst du auch gleich machen. Nathan ist nämlich noch da." "Wo?" "Na hier. Eben, als ich dich gesucht habe, saß er mit ein paar Typen auf Gartenstühlen herum, da hinten bei der Schaukel." Sie machte eine vage Bewegung mit ihrer Gabel, auf der ein Stük Hühnchen aufgespießt war, in eine Richtung. "Er isst einen Burger", fügte sie unnötigerweise hinzu, um Hannah zu beruhigen. "Oh. Das ist... gut. Erleichternd." "Ja." Maggie grinste süffisant. "Jetzt kannst du zu ihm hingehen und ihm vor versammelter Mannschaft erklären, dass Adam ein Dummbeutel mit einem Goldfischhirn und dass Nathan der einzige für dich ist." Hannah boxte ihre beste Freundin erbost in die Schulter, und musste dann doch grinsen. "Ich hab ihn 'Blödarsch' genannt", gestand sie ihr. "Wen, Nathan?" "Adam." Maggie lachte. "Woher kommt das denn? Aus dem unerschöpflichen Vorrat aus der "Schimpfwörter für pubertierende Kids"-Kiste, die du bei dir zu Hause herumstehen hast?" "Ja. Genau die, in der Lucy und Luke immer so gerne herumwühlen." "Hey." Maggie brach ein Stück vom Schokokuchen ab und reichte ihn Hannah. "Wenn man Adam rückwärts liest, kommt fast 'Made' dabei raus." Hannah verdrehte die Augen. "Aber auch nur fast. Made..." Sie kicherte. "Und weißt du was? Als ich ihm klargemacht habe, dass das nichts wird mit uns und dem Essen, hat er sofort nach Rose gefragt. Ohne nur eine Sekunde zu zögern." "Blödarsch", befand Maggie. "Totale Made. Typisch Mann." "Sag ich doch", nickte Hannah, biss von dem Kuchen ab und kaute hingebungsvoll. Schokolade machte alles gleich viel besser, freundlicher und heller. "Nee, das hab ich gesagt. So. Ich schau mich mal um, ob deine Eltern wenigstens dieses Jahr tolle Typen eingeladen haben." Maggie stand auf und klopfte sich die Schokokrümel von ihrem Rock, dann hob sie zum Abschiedgruß die Hand. "Bis nachher." Hannah winkte ihr hinterher. "Viel Spaß." Erleichtert darüber, dass Nathan anscheinend doch noch nicht das Weite gesucht hatte, aß sie in aller Ruhe den Kuchen zu Ende auf, bevor sie sich auf die Suche nach ihm machte. Sie schlenderte eher ziellos durch den großen Garten ihrer Eltern und schaute sich interessiert nach allen Seiten um, betrachtete die Menschen und ging ihnen vor allem aus dem Weg. Als Kind hatte sie immer mit ihren Freundinnen hier Verstecken gespielt - damals stand noch ein kleines Blockhäuschen für Kinder hier, in dem sie auch manchmal im Sommer, wenn es nachts draußen warm war, übernachten durften. "Kinder-Camping" hatte Tess, die elf Jahre älter war und sich aufgrund dieser Tatsache auch heute noch für furchtbar erwachsen hielt, es genannt, aber es war jedes Mal ein Erlebnis gewesen. Später hatten sie Baseball gespielt, als sie aus dem Kinderhäuschen herausgewachsen waren, und Hannah hatte jedes Mal kläglich versagt, während Rose, die sonst eher ein Sportmuffel gewesen war, jeden Ball gekriegt hatte. Nun war die Einmeterfünfzig hohe Blockhütte weg, stattdessen befand sich ein Baumhaus in der Krone der großen Eiche, das ihr Vater Luke zu seinem fünften Geburtstag gebaut hatte, und in dem Hannah noch im selben Jahr nach ihrem Abschlussball mit einem Typen namens Jimmy aus Frust herumgeknutscht hatte. Sie hörte Gekicher von oben und entdeckte, als sie den Kopf hob, ihre Nichte Lucy mit einer Freundin oben in den grünen Zweigen. Sie steckten die Köpfe heraus, zeigten auf ein paar halbwüchsige Jungs, die betont unauffällig in der Nähe eines Bierkastens herumstanden und immer wieder draufschielten, und lachten. Hannah lächelte. Kind zu sein war schön. So viel Spaß zu haben, so viel Neues zu entdecken. Die ganze Welt bestand aus Abenteuern, und wenn diese sich nur im elterlichen Garten in Form von Baumhäusern, Grillfesten, Jungs und nächtlichen Pyjamapartys mit Freunden abspielten. Sie hielt inne, als sie Nathan erblickte. Er saß neben zwei anderen Typen, die sie nicht kannte, auf einem Stuhl, hatte seinen Fuß auf dem Knie abgelegt, sodass sein Bein mit dem Oberschenkel ein Dreieck bildete, und balancierte eine Flasche Bier auf dem anderen Knie, hielt es aber locker mit der Hand fest. Er sagte etwas, und dann lächelte er - vollkommen entspannt und ruhig. Hannah legte den Kopf schief und betrachtete ihn nachdenklich. In ihrer Nähe wirkte er immer nervös und angespannt, doch das da war er, Nathan, möglicherweise in seiner natürlich Umgebung, frei von jeglicher Nervosität, einfach nur ausgeglichen und nicht unter Druck. So... glücklich. Sie wünschte sich, dass sie dasselbe in ihm auslösen könnte. Diese Entspannung. Diese Sicherheit. Aber sie schien ihn nur zu verunsichern, sodass er rat- und hilflos nach allen Seiten spähte, weil er sich keinen Ausweg wusste. Selten hatte Hannah solche Gedanken gehabt, aber andererseits - was bedeutete es, dass Nathan sich in ihrer Gegenwart so verhielt? Und er hatte sie zum Essen eingeladen. Sie musste herausfinden, ob er sie ebenfalls mochte, denn hier zu stehen und ihn dabei zu beobachten, wie er so ruhig vor sich hinlächelte, machte sie ganz verrückt und ließ ihr Herz anschwellen und schneller schlagen vor Aufregung. Sie wollte das alles für sich. In diesem Moment sah Nathan auf und ihre Blicke begegneten sich. Sein gelöster Gesichtsausdruck verschwand, bemerkte sie stirnrunzelnd, doch er verabschiedete sich anscheinend von seinen Freunden oder Bekannten - vermutete Hannah zumindest -, stand auf und kam auf sie zu. Einen kurzen, peinlichen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, bis Hannah sich ein Herz fasste. "Tut mir leid, das vorhin. Das war ganz und gar unhöflich." "Muss es nicht", versicherte Nathan ihr, als wollte er sagen: Nichts passiert. Hat mich gar nicht gestört. "Ich dachte", gab sie zu, "du wärst gegangen." Nathan zögerte. "Nein... bin ich nicht." "Ja. Sehe ich." Sie schwiegen wieder. Nathan drehte seine Bierflasche unschlüssig in der Hand hin und her und betrachtete angestrengt den Baumstamm schräg links hinter Hannah. Sie seufzte. "Okay. Das... darüber bin ich froh. Ich meine, ich wollte nicht, dass du etwas Falsches denkst. Denn ich will mich nicht um meine Essenseinladung bringen." Fragend schaute sie ihn an und stellte überrascht fest, dass sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. Hannah bemerkte, dass er heute extrem ruhig und wortkarg war. Sonst hatte er immer einen kleinen Vortrag für sie parat, aber an diesem Tag hüllte er sich in Schweigen - und ließ sie die ganze Arbeit machen. Hm. Ein wirklich cleverer Kerl. "Du bist immer noch eingeladen, Hannah." "Oh, gut." Sie war erleichtert. Mehr als das. "Adam ist... ach. Einfach ein Idiot. Wie ich soeben wieder feststellen musste. Ich wusste nicht mal, dass er auch hier auftaucht." "Hm", machte Nathan unbestimmt. "Ich erinnere mich noch an ihn." Hannah machte große Augen. "Tatsächlich?" "Ja", nickte er. "Du warst mal mit ihm zusammen. Und dann hast du Schluss gemacht. Das hast du mir bei der Nachhilfe erzählt, als wir gerade den Interventionismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts besprochen haben." Hannah starrte ihn an. "Interventionismus?", echote sie dumpf. "Ja. Als die USA angefangen haben, sich aktiv in die politischen Belange anderer Staaten einzumischen. Das Ganze wurde durch die Öffnung der Häfen und die damit einhergehende Handelspolitik ausgelöst. Na ja", meinte er zögerlich, als er Hannah's verständnislosen Blick bemerkte und ihm dämmerte, dass er mal wieder uninteressantes Zeug erzählte, "vielleicht hab auch nur ich das besprochen und du hast..." "Ich hab dir gerne zugehört", fiel Hannah ihm grinsend ins Wort, "nur hab ich nicht so sehr darauf geachtet, was du gesagt hast." "Äh", kommentierte Nathan leicht verlegen, "der Interventionismus war eigentlich auch gar nicht so wichtig... für die Abschlussprüfung, meine ich. Ansonsten natürlich schon, immerhin war das der Anfang der internationalen Handelspolitik, aber..." Er schluckte. "Was ich sagen will, ist, dass das... komplett unwichtig ist." Frustriert seufzte er auf und hätte gerne über sich selbst die Augen gerollt. Er wusste, dass er ein halbwegs durchschnittlich intelligenter Mensch war, aber in Hannah's Gegenwart benahm er sich wie ein Idiot. Vielleicht war er auch in Wirklichkeit einer und hatte es bis jetzt nur nicht gemerkt. "Ich denke, ich gehe besser nach Hause", sagte er gequält. "Es wird langsam kühl und ich muss morgen... zur Schule." Außerdem war es höchste Zeit, dass er sich verkrümelte, bevor er weiteren Schwachsinn von sich gab und Hannah komplett vergraulte. "Schade. Bist du denn zu Fuß hier?", fragte sie. Er nickte und sie sah endlich die perfekte Gelegenheit, mal mit ihm alleine zu sein. Und die perfekte Gelegenheit, hier endlich wegzukommen. "Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite? Die Play Station ist schon besetzt und Maggie ist auf Männerfang, also... bin ich hier nur noch von Schwachsinnigen umgeben, wenn du gehst." Nathan fühlte sich geschmeichelt, das konnte man ihm ansehen. "Nein. Ich meine, ich hab nichts dagegen. Nur... lass ich dich nachher ungern im Dunkeln den ganzen Weg allein zurückgehen." Hannah lächelte. "Du könntest mich ja wieder zurückbegleiten?", schlug sie ihm nicht ohne Hintergedanken vor. "Oh. Hm. Ja. Das kann ich tun." Er zögerte einen Moment und sah sie unsicher an, dann riss er sich zusammen. "Ich meine, natürlich begleite ich dich." - 5 - ----- Ein bisschen nervös war sie schon, als sie an dem etwas abseits gelegenen Haus in der Spring Road ankamen. Würde Nathan sie hereinbitten? Würde er sie wegschicken? Es war ein altes, etwas verfallenes Gebäude, geschützt durch ein hüfthohes graues Steinmäuerchen. Durch das verrostete, ehemals schwarze Eisengatter betraten sie den Garten und Hannah staunte. Eine alte Trauerweide wuchs dort und ließ ihre Zweige und ihre grünen Blätter tief herunterhängen, spendete eine ganze Menge Schatten. Der Stamm war gewunden und schief und sie wünschte sich fast schon wieder, ein Kind zu sein, nur um darauf klettern zu können. Es war fast wie eine Einladung dazu. Unter der Weide stand ein Blumenkübel, jedoch wuchsen dort keine Blumen, sondern er war von Gras und Unkraut überwuchert. Überhaupt sah der ganze Garten verwildert aus, aber irgendwie... gefiel es ihr hier außerordentlich gut. Es hatte so etwas Wild-Romantisches an sich, fand Hannah. An der Hauswand rankten sich hohe Efeupflanzen empor und alle Fenster waren dunkel. Sie hörte Nathan hinter sich mit den Schlüsseln klirren und ihr Herz schlug höher, in Erwartung an das Kommende. Während sie sich umsah und Nathan die Haustür aufschloss, warf sie ihm einen faszinierten Blick zu. "Das ist ein echt tolles Haus. Und ein toller Garten. Ein bisschen ungepflegt." "Ja, ich..." Nathan war verwirrt. "Ich hatte bis jetzt noch keine Zeit, mir deswegen etwas einfallen zu lassen..." Sie war doch nicht mitgekommen, um mit ihm über seinen Garten zu reden, oder? Fast war ihm das ganze etwas peinlich. Warum hatte er die Sache nur so lange schleifen lassen? Er hätte einen Gärtner engagieren können, schon vor langer Zeit, aber Pflanzen waren nicht unbedingt sein Spezialgebiet. Nicht, dass er nicht viel über sie wusste - Landschaftsgestaltung interessierte ihn einfach nicht und er war nicht der Typ dafür, an Wochenenden knietief im Schlamm und in der Erde zu hocken und Blumen- und Gemüsebeete anzulegen. "Oh nein. Ich finde ihn wunderbar. Es ist fast ein bisschen so wie in diesem Film. 'Der geheime Garten'. Den hab ich geliebt, als ich noch ein Kind war." "Ich habe nur das Buch gelesen. Ein paar Mal auch mit einigen Kursen." Hannah legte den Kopf schief und ihre Mundwinkel zuckten leicht. Sie würde ihn am liebsten jetzt mit Haut und Haaren auffressen. "Das hätte ich mir denken können. Zeigst du mir den Rest des Hauses?" "Oh, ja, entschuldige bitte. Möchtest du vielleicht etwas trinken? Oder essen? Ich hab leider nichts da, aber ich könnte ja etwas kochen, oder bestellen, das heißt... wenn du überhaupt vor hast, so lange zu bleiben... das soll nicht heißen..." Halt die Klappe, rief er sich zur Ordnung, und wandte den Blick schnell von Hannah ab. Er trat auch in so ziemlich jedes Fettnäpfchen, das sich ihm in den Weg stellte. Und das nur, weil alles an ihr ihn irgendwie... irritierte. Sie war so offen. Sie sagte geradeheraus, was sie dachte. Sie lächelte immer so, als wüsste sie mehr, als sie zugeben wollte. Als könnte sie ihn durchschauen. Und sie war unvorhersagbar. Allein die Tatsache, dass sie jetzt hier war, bewies das. Er wusste einfach nicht, wie er die Situation für sich greifbar machen konnte. "Ich brauche nichts, danke." Er führte sie in das Wohnzimmer und ließ sie vorher noch einen Blick in die Küche werfen. Das Zimmer war klein, aber gemütlich. Es beinhaltete ein ziemlich langes Bücherregal, das eine ganze Wand für sich alleine einnahm, eine Couch - ein Zweisitzer -, einen Sessel, einen Couchtisch - darauf eine Leselampe, mehrere lose Blätter Papier, Hefter, Stifte und ein Buch, das Nathan wohl gerade gelesen haben musste, bevor er aus dem Haus gegangen war, denn war noch aufgeschlagen, und an der gegenüberliegenden Wand den Fernseher, daneben eine große Topfpflanze. Irgendein Baum, der allerdings besser gepflegt zu sein schien als der Garten. "Setz dich doch ruhig." Nathan wies zögernd auf die Couch. "Möchtest du vielleicht einen Kaffee?" Hannah schüttelte vehement den Kopf, blieb aber stehen. "Bloß nicht. Ich mag keinen Kaffee." Nathan blinzelte. "Nein?" Seltsam. Er hatte sie anders eingeschätzt. Jemand, der so quirlig und lebendig war, wie Hannah, musste sich doch praktisch nur von Kaffee ernähren, oder?! Hannah grinste angesichts seiner erstaunten Miene. "Nein. Hast du schon mal jemanden geküsst, der vorher Kaffee getrunken hat? Furchtbar." Sie verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. "Bäh." Nathan stand ein bisschen verloren im Türrahmen herum und kratzte sich unangenehm berührt am Nacken. Er sah müde aus, befand Hannah. Vielleicht hätte sie doch besser zu Hause bleiben sollen, anstatt seine Nerven unnötig zu strapazieren. Ein bekanntes Geräusch - ein stetes Plätschern, ließ sie einen Blick aus dem Fenster werfen. "Oh, es regnet. Ich liebe Regen", seufzte sie behaglich. "Wirklich?" "Ja." Sie drehte sich zu Nathan um. "Wieso überrascht dich das so?" "Es ist nur... ich hätte eher gedacht, du bist ein Sonnenschein. Also, ein Sonnenschein-Typ, meine ich." Hannah lächelte. Das hatte fast wie ein Kompliment geklungen. Irgendwie unbeholfen zwar, aber trotzdem. "Nein. Ich liebe Gewitter. Vor allem abends, da ist es immer so schön gemütlich. Vorausgesetzt, ich bin nicht mittendrin. Und ich wette, du magst sie auch." Neugierig blickte sie ihn an. Nathan warf einen verstohlenen Blick auf sein Buch auf dem Tisch und nickte. "Das könnte in etwa hinkommen, ja." Hannah schaute noch einmal nachdenklich aus dem Fenster. Das Wasser floss in Schlieren an der Scheibe herab, irgendwo in der Ferne donnerte es. "Hast du vielleicht einen Regenschirm, den du mir ausleihen könntest?" "Wozu?" Nathan blinzelte, doch als er ihrem Blick folgte, verstand er. "Du willst bei diesem Wetter doch nicht raus? Du kannst solange bleiben, wie du willst. Oder, äh, wenn du nicht willst, dann fahre ich dich." Hannah lächelte und verdrängte den Gedanken, dass sie ganz schön berechnend war. Hatte sie doch darauf spekuliert, dass er ihr so ein Angebot machen würde. Der Regen kam ihr gelegen und verschaffte ihr mehr Zeit. Aber mehr Zeit wozu?, fragte sie sich. Sie könnte ihm auch hier und jetzt einfach um den Hals fallen und ihn küssen und schauen, was passieren würde. Nur, gestand sie sich selbst ein, wäre das für ihn sicherlich nicht das angenehmste. Außerdem liebte sie dieses kleine Spielchen - das Hin und Her, die Blicke, die kleinen Anzüglichkeiten, die Unsicherheiten. Sie deutete auf die beschriebenen Blätter Papier. "Was ist das?" "Oh. Das sind die unangekündigten Tests von Freitag. Ich wollte sie eigentlich über das Wochenende korrigieren, aber dann, äh... ist mir etwas dazwischengekommen." Er holte aus seiner Brusttasche eine Brille heraus und setzte sie sich auf, fischte sich eines des Blätter und überflog es aufmerksam. "Dieser hier scheint ganz gut zu sein." Hannah hatte das Gefühl, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, so eine starke Anziehungskraft übte die Brille auf sie aus. Sie konnte nicht umhin, zu bemerken, dass die rotbraune Fassung wunderbar zu seinen braunen Haaren passte. Darin sah Nathan noch attraktiver, noch ernster und noch lehrerhafter aus. Oh Gott. Sie wollte sich sofort auf ihn stürzen. Sie schloss kurz die Augen und zwang sich, regelmäßig ein- und auszuatmen. Furchtbar, dieses Verlangen nach ihm. Furchtbar. Wie konnte es in nur drei Tagen so weit gekommen sein? Oder, korrigierte sie sich, in den letzten sieben Jahren? Oder... War sie nicht schon immer ein bisschen in ihn verschossen gewesen? Damals, mit zwölf schon, als ihre Hormone gerade erst angefangen haben, sie durcheinander zu bringen? Hatte sie ihm damals nicht voller Stolz von ihrem ersten BH erzählt, in der lächerlichen, jugendlichen Hoffnung, sie würde dadurch attraktiver für ihn werden? Oh Gott. Sie unterdrückte ein Kichern, als sie daran zurückdachte und wandte sich schnell ab, um sich durch irgendetwas anderes abzulenken. Der Blumentopf auf dem Fensterbrett kam ihr ganz gelegen und sie runzelte verwirrt die Stirn. "Klee?" Nathan legte das Blatt wieder zurück und schaute auf. "Hm? Oh ja. Klee ist... ich mag ihn." Hannah schüttelte den Kopf. "Obwohl es Unkraut ist? Und es ist noch nicht mal vierblättriger Klee. Der bringt doch Glück." Durch seine Brillengläser schaute er Hannah aufmerksam an, bevor er antwortete, sodass ihr ganz mulmig zu Mute wurde. "Das ist nur ein Volksglaube und weit verbreitet, unter anderem auch durch das Christentum. Vierblättriger Klee entsteht nur durch eine Mutation und ist somit eigentlich eine Anomalie, deshalb ist er auch so selten. Und an einem Gendefekt ist gar nichts glücklich, warum sollte es auch?" Hannah warf ihm einen belustigten Blick zu. "Das ist aber nicht sehr romantisch, Herr Lehrer." "So hab ich das nicht gemeint." Nathan sah ein bisschen aus wie ein gehetztes Tier. "Ich meinte nur... es ist nichts weiter als eine Genmutation... vierblättriger Klee ist um keinen Deut besser als der ganz normale", schloss er lahm. Sie wandte sich wieder dem Klee zu. Die Blätter hatten die Form von kleinen Herzen. Eine Stille legte sich zwischen sie, und Hannah bemerkte, dass Nathan das unangenehm zu sein schien. "Danke", sagte sie deshalb. "Ich meine, auf dem Riesenrad. Dass du... na ja, du weißt es ja selbst. Als ich mich so peinlich aufgeführt habe." "Das war doch nicht peinlich. Jeder hat irgendwelche Ängste." Hannah studierte sein Gesicht genauestens. Hatte er sie auch? "Mhm. Ja, vielleicht", murmelte sie nachdenklich. "Jedenfalls... ohne dich wäre ich vermutlich vor Panik aus der Kabine gesprungen." Sie grinste schief. "Ist schon okay. Gern geschehen. Es war... schön. Also nicht, dass du solche Angst hattest. Eher den... ganzen Abend mit dir. Mit euch, meine ich", korrigierte er sich dann schnell. Nathan bewegte sich nicht vom Fleck, als Hannah lächelnd einen Schritt auf ihn zutrat, aber er schaute sie weiterhin aufmerksam an. "Ich hoffe, du hast dich nicht mit uns gelangweilt?", versuchte sie das Gespräch weiter in Gang zu halten, blieb unmittelbar vor ihm stehen und schaute ihn mit - wie sie hoffte - aufreizendem Blick an. "Nein. Natürlich nicht." Nathan schluckte einen großen Kloß in seinem Hals herunter, aber es klappte nicht. Als Hannah ihre Hand auf seinen Arm legte, durchzuckten in tausend Nadelstiche. Er räusperte sich und sein Kopf fühlte sich an, als wäre er dabei, den Verstand zu verlieren. Tu was, sagte er sich. Er starrte auf Hannah’s hübsche Lippen, die zu einem Lächeln verzogen waren. "Also, ehrlich gesagt... Ich fürchte, ich muss... Hättest du etwas dagegen, wenn ich...?" "Und ich fürchte", unterbrach sie ihn leise, "ich bin noch immer in dich verknallt." Hannah stellte sich auf ihre Zehenspitzen, hielt sich an seinem Arm fest und Nathan beugte automatisch den Kopf zu ihr herunter. Sie küssten sich, und es fühlte sich gut an. Verdammt gut! Als sie sich voneinander lösten, seufzte sie auf. "Oh. Ich habe schon damals gewusst, dass es absolut perfekt sein muss, dich zu küssen..." "Tut mir leid", unterbrach er sie und sie bemerkte mit Entzücken, dass seine Ohrspitzen sich verdunkelt hatten. Auch sie atmete schneller. Ihr Puls war bestimmt auf das Dreifache angestiegen, aber sie fühlte sich wie im Taumel. "Ich konnte nicht, äh, widerstehen." "Dabei ist Geduld doch eine Tugend", neckte Hannah ihn, obwohl sie doch diejenige gewesen war, die ihn geküsst hatte. Er sah sie wieder ernst an. "Genau genommen ist sie das nicht. Geduld gehört nicht zu den sieben Tugenden, von denen drei christlichen Tugenden und vier die Kardinalstugenden sind, die ihren Ursprung in der griechischen Philosophie haben. Man könnte wohl die Mäßigung als so etwas wie Geduld auslegen, wenn man gut dafür argumentiert, allerdings ist ursprünglich etwas ganz Anderes damit gemeint. Übrigens wird Geduld auch nicht in den Ritter- oder den bürgerlichen Tugenden erwähnt. Ähm. Aber das tut ja auch nichts zur Sache." Hannah grinste. Sogar seine Vorträge fand sie anziehend. War sie noch normal? "Du redest, wenn du nervös bist", stellte sie fest und zog ihn lachend mit sich auf die Couch, wo sie sich niederließen. Entspannt schmiegte sie ihren Kopf in seine Halsbeuge. "Red weiter." "Damals...", begann Nathan nach einer Weile, in der sie einfach nur da saßen und dem Geräusch des plätschernden Regens zuhörten, beide versunken in Gedanken über das, was gerade zwischen ihnen passierte, "du warst so hübsch. Ich meine", berichtigte er sich hastig und Hannah kicherte, "das bist du immer noch. Wirklich. Du... hast mich jedes Mal ganz schön durcheinander gebracht. Und... das tust du jetzt immer noch..." Augenblicklich richtete sich Hannah auf. "Wie bitte? Willst du damit sagen, ich hätte dich schon damals haben können?" "Ähm. Nein. Vielleicht. Unter anderen Umständen, möglicherweise, ja." Sie blinzelte irritiert. "Was für Umstände?" "Der Altersunterschied. Ich war dein Nachhilfelehrer." Hannah verdrehte die Augen. "Nathan, wir waren siebzehn und einundzwanzig. Nicht elf und dreißig. Und du warst nur mein Nachhilfelehrer. Meine Mutter vergöttert dich. Du solltest sie mal hören." "Trotzdem", beharrte er störrisch. "Es wäre nicht richtig gewesen." Hannah wollte widersprechen, aber dann dachte sie, dass Nathan wohl nicht Nathan gewesen wäre, wenn er nicht seine festen Prinzipien und irgendwelche - wie auch immer gearteten - Bedenken gehabt hätte. Und möglicherweise hätte es auch gar nicht funktioniert... Sie war nach ihrem Schulabschluss gegangen. Und so hatte sie sich und ihm eine Menge Kummer erspart. Glaubte sie zumindest. Jetzt war sie erwachsener, reifer... nur in seiner Nähe spielten ihre Hormone verrückt, wie eh und je. "Okay", lenkte sie ein, weil es behaglich und kuschelig war und sie langsam müde wurde, "es wäre nicht richtig gewesen." "Bist du sicher, dass du keinen Hunger hast? Ich könnte etwas für dich kochen. Das macht wirklich keine Umstände." Wenn Hannah etwas wusste, dann war es, dass Männer nie freiwillig kochten. Es sei denn, sie wollten eine Frau beeindrucken. "Etwas kochen?", hakte sie amüsiert nach. "Willst du mich etwa verführen, Nathan?" Es sollte nur ein Scherz sein, aber Nathan überraschte sie, indem er wirklich darauf einging. "Willst du denn verführt werden?", fragte er leise, mit einem nachsichtigen Lächeln und strich ihr mit der Hand, die um ihre Schulter lag, das Haar zurück. Hannah schloss die Augen und atmete durch. Alles in ihr kribbelte, fühlte sich an, als würde sie gleich zerschmelzen. Sie schien wie Wachs in seinen Händen. "Hör bitte auf, so etwas zu sagen", bat sie ihn mit gesenkter Stimme. "Ich muss dich sonst... Warte. Ich muss das noch mal machen. Sonst glaub ich es nicht..." Sie hob den Kopf und presste ihre Lippen wieder auf seine. Etwas überrascht erwiderte Nathan ihren Kuss, doch als sie anfing, sein Hemd aufzuknöpfen, hielt er ihre Hände fest und schaute sie ernst an. "Du musst das nicht tun, Hannah." "Hm?" Irritiert blinzelte sie. "Aber ich..." "Durch die moderne Literatur und die Medien fühlen sich viele Frauen heutzutage verpflichtet, erst eine Beziehung auf der körperlichen Ebene anzufangen, in der Hoffnung, dass... na ja, mehr daraus wird. Aber ich lauf dir nicht weg. Versprochen." Er küsste sie noch einmal kurz, und sie ließ es geschehen, erstaunt darüber, dass er so etwas tatsächlich ernst meinte. Es war irgendwie süß. Konservativ und anständig und total süß. Was soll's, sagte sie sich, während sie sich an ihn schmiegte. Sie konnte ihre Strategie ja immer noch auf später verschieben und in der Zwischenzeit würde sie sich überlegen, wie sie ihn doch vom Gegenteil überzeugen konnte. Sie hatte die ganze Nacht Zeit dazu... Epilog: - Epilog - ------------------ Als Hannah in einem fremden Schlafzimmer erwachte, musste sie einen Augenblick lang überlegen und den Schlaf aus ihrem Bewusstsein verdrängen. Sie befand sich auf einem Doppelbett, in einem Zimmer aus gedeckten Farben und geradlinigen Formen. Die Regale waren voller Bücher und die Weidenzweige, die vor dem Fenster hingen, ließen kaum Sonnenstrahlen hinein. Hannah schlug irritiert die Decke zurück. Sie musste irgendwann im Laufe des Abends eingeschlafen sein, erinnerte sie sich, und, Mist, das hatte ihre Pläne ganz durcheinandergeworfen. Sie musste lächeln, als sie bemerkte, dass sie ihre Kleidung - abgesehen von den Schuhen - noch anhatte. So ziemlich jeder hätte die Situation wohl ausgenutzt und ihr zum Schlafen die Kleider ausgezogen und dabei den ein oder anderen Blick riskiert, aber Nathan war es noch nicht einmal in den Sinn gekommen, neben ihr zu schlafen - wie sie aus der ordentlich gemachten zweiten Hälfte seines Bettes schließen konnte. Die Frage war nur - wo war er? Und was hatte er die ganze Nacht gemacht? Sie schlich sich aus dem Zimmer, denn im Haus war es verdächtig still. So ruhig, wie es sonst nur an einem frühen Morgen ist, wenn alle noch schlafen. Am Fußende der Treppe angekommen, steuerte sie direkt das Wohnzimmer an und blieb mitten in der Tür stehen. Nathan saß halb liegend auf seiner Couch, sein Kopf war zur Seite gekippt und lehnte an der Rückenstütze, sein Kater - den sie gestern Abend auch noch hatte kennen lernen dürfen - hatte es sich auf seiner Brust gemütlich gemacht und sich dort eingerollt. Neben ihm lag ein aufgeklapptes Buch. Es war ein Anblick für die Götter und Hannah wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt eine Kamera zur Hand zu haben. Sie näherte sich, der Kater wurde wach, fixierte sie mit Argusaugen, entschied sich nach einem eindringlichen Blickduell wohl dafür, dass sie kein feindlicher Eindringling war, sondern harmlos, und verschwand dann auf Samtpfoten aus dem Zimmer, ohne ein Geräusch zu machen. Hannah bewunderte ihn dafür. Sie setzte sich auf die Kante des Sofas, beugte sich zu Nathan herüber und küsste ihn vorsichtig auf die Wange. Wie sie es sich erhofft hatte, erwachte er, und, anders als sie, brauchte er nicht einen Moment, um zu begreifen, was los war, sondern lächelte sie verschlafen an. "Du hättest doch auch im Bett schlafen können", sagte sie fast ein bisschen vorwurfsvoll. "Ich wäre schon nicht über dich hergefallen." Nathan blinzelte die Müdigkeit weg und setzte sich aufrecht hin. "Aber möglicherweise wäre ich dann über dich hergefallen...", gestand er zögernd. Hannah lachte, nahm sein Buch und klappte es zu, um es dann auf den Couchtisch zu legen. "Du bist echt süß, Nathan. Ich hätte nichts dagegen gehabt. War bestimmt unbequem hier." "Es war es wert, so geweckt zu werden." Hannah ließ sich kurz durch den Kopf gehen, ob Nathan es wohl begrüßen würde oder nicht, wenn sie sich hier und jetzt auf ihn stürzte, und kam dann zu dem Schluss, dass es ihr vollkommen egal war, doch plötzlich fuhr er erschrocken hoch und schien hellwach zu sein. "Wie spät ist es?!" Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. "Kurz nach sieben, wieso?" "Ich komme zu spät zur Schule!" Hannah musste ein Grinsen unterdrücken und beobachtete interessiert, wie er nervös im Zimmer umherwanderte, Sachen zusammensuchte und in seine Tasche hineinstopfte, die er augenscheinlich für die Arbeit brauchte. Im Türrahmen blieb er auf einmal stehen und wandte sich zu ihr um. "Du kannst natürlich so lange bleiben, wie du willst. Fühl dich wie zu Hause." Er stürmte hinaus und kam genau zwei Sekunden später wieder hinein. "Ich sollte mir die Zähne putzen und etwas Anderes anziehen", verkündete er verlegen mit einem Blick auf seine zerknitterte Kleidung. "Und dich kämmen", schlug Hannah amüsiert vor und betrachtete sein zerzaustes, braunes Haar. "Obwohl dieser Look auch etwas hat, wirklich." "Ja, du hast Recht." Nathan wirkte zerstreut und wusste gar nicht, wo er zuerst anfangen sollte. Wahrscheinlich, dachte Hannah sich, passierte ihm so etwas zum ersten Mal. Zu spät zur Arbeit zu kommen stand bei ihm sicherlich unter Todesstrafe. "Ich ruf an und sag, dass ich erst zur zweiten Stunde komme. Verdammt." Sie hob eine Augenbraue, denn sie hatte ihn noch nie fluchen gehört. Und damit meinte sie - noch nie. Nicht einmal damals. Kein einziges Mal. "Ich mach dir einen Kaffee." Seine Reaktion war heftiger, als beabsichtigt. "Nein!" "Nein?" Sie runzelte die Stirn und musterte ihn. "Ich dachte..." "Kein Kaffee", fiel er ihr ins Wort und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie hatte seinen Morgen ganz schön durcheinandergebracht, das hatte sie schon gemerkt, aber weshalb seine Ohren bei der Erwähnung von Kaffee erröteten, das konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären. Doch dann fiel der Groschen und Hannah erinnerte sich an das Gespräch vom Vorabend. Sie hatte ihm erzählt, dass sie es furchtbar fand, einen Kaffeetrinker zu küssen. Kopfschüttelnd und fast ein bisschen fassungslos, aber gleichzeitig ziemlich gerührt sah sie ihn lange an. "Geh dich besser umziehen, sonst falle ich gleich noch wirklich über dich her, Nathan Cartwright, und dann kannst du dir sicher sein, dass du heute keinen einzigen Fuß mehr in die Schule setzen wirst." Als sie von oben das Wasser der Dusche laufen hörte und nach ein paar Frühstückssachen in der Küche suchte, konnte sie sich ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Als würde irgendetwas auf dieser Welt sie je davon abhalten können, Nathan zu küssen! _______ Danke für's Lesen, für die Kommentare und die Favs und wem es gefallen hat: Mit Waterfall geht's weiter: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/258791/ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)