Clover von -Moonshine- (Three leaves are lucky enough) ================================================================================ - 4 - ----- "Mein Monsterroboter macht dich fertig!", brüllte Luke und hämmerte wild auf seinen Play Station-Controller ein, während sein Gesicht einer wutverzerrten Maske glich. Hannah hätte Angst bekommen vor diesem wilden Zwölfjährigen, wenn sie diese Art der Ausraster nicht bereits kannte. "Monsterroboter vs. Alienzombies" war Luke's momentanes Lieblingsspiel, dessen einziges Ziel es war, durch eine düstere Science-Fiction-Welt zu laufen und die feindlichen Monster durch allerhand Waffen zu erlegen. Luke war ganz vernarrt danach, durfte es aber zu Hause nicht spielen, da seine Mutter streng dagegen war. Er hatte Hannah vor einiger Zeit überreden können, ihm das Spiel zu kaufen und kam da nur dran, wenn sie auf ihn und seine Schwester aufpasste. Oder eben, wie heute, zu einer besonderen Gelegenheit. Es war ein Mittwoch, der vierte Juli, um genau zu sein. Und wie jedes Jahr an diesem Tag machte Hannah's Familie dieses riesige Barbecue mit allen Freunden, Nachbarn und Bekannten. Das war schon so gewesen, seit sie denken konnte, und es war immer ein großes Ereignis, auf das sie sich das ganze Jahr über freute. Zum Abschluss, sozusagen als Krönung des ganzen Tages, schaute man sich gemeinsam das bunte Feuerwerk am sommerlichen Nachthimmel an. Dieses Mal hatte Hannah allerdings keine besonders große Lust, mit all den alten und jungen Menschen aus ihrer Vergangenheit Smalltalk zu führen. Vielmehr war sie in Gedanken mit Nathan beschäftigt, der sich seit dem Samstag, an dem sie - wie sie entschieden hatte - ziemlich aufdringlich geworden war, nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Aber warum sollte er auch? Möglicherweise hatte er kein Interesse an ihr. Niemand garantierte ihr, dass ihre Zuneigung für ihn auf Gegenseitigkeit beruhte. Eigentlich wollte sie heute nur ihre Ruhe haben. Aber niemals hätte man ihr verziehen, wenn sie sich die große Sause entgehen lassen hätte, also hockte sie hier, im - dank Klimaanlagen - kühlen Wohnzimmer ihrer Eltern, wo Luke ausnahmsweise seinem Actionspiel frönen konnte, ging dem großen Mob aus dem Weg und lenkte sich von Nathan ab, indem sie Monster und Aliens, Zombies und Roboter erledigte. Mit ganz vielen fantasievollen außerirdischen Waffen, aus denen grelle, gelbe Blitze oder rote Wellen schossen. Monoton, aber wirksam, befand Hannah, als sie Luke's intergalaktischen Monsterroboter vom Planeten XTA-19527495 mit einem einzigen Knopfdruck platt machte und er laut aufheulte. "Maaaan! Nicht schon wieder! Das ist unfair! Du hast bestimmt heimlich zu Hause geübt!" Hannah grinste halbherzig. "Ich muss gar nicht heimlich üben, weil ich keine Angst haben muss, erwischt zu werden." Luke streckte ihr beleidigt die Zunge heraus und drehte sich zu Kevin, seinem Kumpel, um, der mit großen Augen auf den Bildschirm starrte und nur darauf wartete, auch mal an die Reihe zu kommen. "Rache!", verlangte Luke herrisch und drückte auf ein paar Tasten des Controllers. Kevin ließ enttäuscht den Kopf hängen. Hannah seufzte laut auf und schwang die Beine über die Armlehne des Sessels, in dem sie saß, um es sich bequemer zu machen. Gerade wollte sie zu einem ihrer vernichtenden Schläge ausholen, die Luke regelmäßig so aus der Fassung brachten, als sie ein Räuspern hörte und sich irritiert nach der bekannten Stimme umdrehte. Sie vergaß, ihren Schutzschild zu aktivieren und ihr Alien wurde gnadenlos geröstet. "HA!", schrie Luke triumphierend und seine zur Faust geballte Hand schoss in die Luft. "Nathan!", japste Hannah dazwischen. Verlegen rieb er sich den Nacken und zwang sich, den Blick von ihren Beinen abzuwenden. Hannah trug eine olivgrüne Shorts - keine von diesen ganz kurzen, hotpantsähnlichen Dingern, aber sie war ein wenig hochgerutscht, und ihre Beine sahen wirklich einladend aus - befand er zumindest. Er schaute zum Fernseher hinüber und bemerkte dann den Joystick in ihren Händen. "Du spielst Play Station?", hakte er mäßig überrascht nach. Er klang vielmehr etwas ungläubig. "Play Station Zwei", korrigierte sie ihn, noch immer ziemlich erstaunt über sein Auftauchen. Dann schwang sie sich in eine aufrechte Sitzposition und Nathan konnte es wieder wagen, sie anzusehen, ohne übermäßig unkeusche Gedanken an den Tag zu legen. "Oh", sagte er, und etwas Anderes fiel ihm auch gar nicht ein. "Möchtest du eine Runde mitspielen?" "Äh, nein... danke. Ich steh nicht so auf Ballerspielchen... glaube ich." "Halloho!", schaltete sich Luke unzufrieden ein. "Das ist 'Monsterroboter vs. Alienzombies'!" Hannah lachte. "Du verpasst was. Ich bin ziemlich gut." "Ja, weil du zu Hause heimlichst übst", murmelte Luke grimmig in seinen imaginären Bart hinein. Der Zwölfjährige ertrug die Schmach nicht, von seiner 'alten' Tante besiegt zu werden. Hannah fuhr mit ihrer Hand durch die Haare ihres Neffen und brachte sie durcheinander. "Er ist nur sauer, dass er ständig verliert", erklärte sie Nathan und wandte sich dann wieder Luke zu. "Spiel doch 'ne Runde mit Kevin, okay?" Sie erhob sich und lächelte Nathan an. Im ersten Augenblick war sie überrascht gewesen - wahrscheinlich hatte ihr Gesichtsausdruck an seinen erinnert, als sie ihm nach so langer Zeit an der Schule wiederbegegnet war -, aber jetzt war sie froh, dass ehr da war. Das machte die ganze Sache viel, viel einfacher... "Ich wusste gar nicht, dass du auch eingeladen bist", plauderte sie, während sie ihm bedeutete, ihr über die Terrasse nach draußen zu folgen, wo es leckeres Essen gab. Salat und Burger und viele andere Leckereien luden zum Festschmaus ein, serviert auf einem alten, verwitterten Holztisch, der sonst in der Garage stand und wunderbar zu einem Grillabend passte. Rustikal und gemütlich. Etwas abseits hantierte Hannah's Vater mit dem Hackfleisch auf dem Grill - eine Aufgabe, die er sich nie nehmen ließ. Der Garten war geschmückt mit Lichterketten und Gartenfackeln, die aber allesamt erst bei Anbruch der Dunkelheit zum Einsatz kommen würde. Auf Bänken und Stühlen saßen Leute herum. Hier fand sich ein Grüppchen der älteren Generation, die, froh, dass sie sitzen konnten, in eine Diskussion über die 'guten, alten Zeiten' und die 'heutige Jugend' verwickelt waren, dort spielten ein paar Kinder Fangen, im Sandkasten saßen zwei Kleinkinder, die, anstatt Sandkuchen zu backen, mit großen Augen die Welt um sie herum bestaunten, und Hannah's Mutter eilte von einem zum anderen, um möglichst überall zur selben Zeit zu sein. "Aber mittlerweile kommt ja die halbe Stadt. Früher bist du immer mit deinen Eltern gekommen, das weiß ich noch." Sie schaute sich neugierig um. "Sind die auch hier?" Nathan schüttelte den Kopf. "Nein. Sie sind verreist." "Also bist du allein?", fragte sie weiter, nahm sich zwei Pappteller vom Stapel und reichte ihm eins. Er nahm ihn dankbar entgegen. "Ja. Ich wollte nur mal sehen... ob du auch da bist." Hannah hielt in der Bewegung inne und schaute ihn prüfend an; überrascht, dass er das so geradeheraus und direkt gesagt hatte. Das hatte sie nicht erwartet. "Oh. Wow. Das ist... nett." Sofort hob er abwehrend die Hände in die Luft, während er in der einen noch den Teller hielt. "Tut mir leid. Das war aufdringlich, fürchte ich." Sie riss überrascht die Augen auf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nathan war ein lustiger Zeitgenosse. Sie hatte ihm indirekt verraten, dass sie mit ihm in die Kiste hüpfen wollte, und er hielt sich für aufdringlich! "Das war doch nicht aufdringlich. Es war süß." "Oh", machte Nathan wieder, kniff dann die Augen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken, und blickte Hannah dann an. "Also, wenn ich das richtig verstehe, äh, wäre es auch okay für dich, wenn ich dich zum Essen einlade? Natürlich nur, wenn du willst", fügte er hastig hinzu. "Das soll nicht heißen, dass ich... irgendetwas vorhabe. Oder auf dein Angebot zurückkommen möchte." Seine Ohrspitzen wurden rot. "Das natürlich kein Angebot war, in dem Sinne, ich weiß schon... äh. Ich möchte einfach nur mit dir... essen...", schloss er dann lahm und sah zutiefst gequält aus. Hätte er doch bloß die Klappe gehalten und sich auf kurze Sätze und möglichst knappe Antworten beschränkt! Das musste er sich unbedingt merken. Hannah, die sich schwer zurückhalten musste, um nicht laut loszuprusten oder ihn auf der Stelle abzuknutschen, grinste. "Schon okay. Ich würde auch gerne mit dir..." Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und zwinkerte ihm kess zu, "essen. Vielen Dank für die Einladung." "Nichts zu danken", stammelte Nathan irritiert, als sich plötzlich eine großgewachsene Frau vor ihm aufbaute und ihn skeptisch betrachtete. Und zwar von oben bis unten. Mit ihren wild aussehenden roten Haaren und dem respektvollen Auftreten wäre sie im Mittelalter bestimmt auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, ging es Nathan unbehaglich durch den Kopf. Auf die eine oder andere Art waren ihm Frauen einfach nicht geheuer. Er verstand sie nicht. Ihre Blicke, ihre Andeutungen, ihre... ach. Einfach alles. Das hatte er noch nie. Und genau deshalb, sagte er sich, hast du auch immer solche Probleme mit ihnen. Denn dass er sich auch hin und wieder in so ein mysteriöses Exemplar verliebte, dagegen konnte er nichts machen. Ob er nun wollte oder nicht. "Hey Maggie", grüßte Hannah die Frau, die anscheinend eine Freundin von ihr war. Maggie, Maggie... klingelte da nicht etwas? Er war sich sicher, sie bereits getroffen zu haben. Wahrscheinlich war sie schon früher mit Hannah befreundet gewesen. Er hatte eine Menge Bekannte von Hannah getroffen, als sie noch zur Schule gegangen war. Unter anderem auch auf Veranstaltungen wie dieser hier. "Das ist Nathan", stellte sie ihn vor. "Und meine Freundin Maggie." "Ah, das ist also Nathan", grinste Maggie. "Hannah hat schon-" Hannah warf ihr einen tadelnden Blick zu. "...mal was von dir erzählt", konnte sie sich gerade noch retten. "Glaube ich zumindest." Nathan lächelte. "Hallo." "Wo ist Rose?", warf Hannah hastig ein, da Maggie nicht unbedingt dafür bekannt war, diskret und schweigsam zu sein und keine Anspielungen fallen zu lassen. "Ich glaub, die bringt ihr Auto in die Werkstatt, da ist irgendwas kaputtgegangen. Vielleicht kommt sie später noch. Tja, ich stürz mich mal auf's Buffet. Ich liebe die Küche deiner Mutter!" Nathan und Hannah sahen der jungen Frau hinterher, als sie sich einen Pappteller schnappte und sich über das Essen hermachte. "Maggie hatte früher mal schwarze Haare, aber sie färbt sie sich neuerdings immer rot", erklärte sie ihm. "Ich weiß nicht, vielleicht erinnerst du dich noch an sie? Sie war diese eine seltsame Person, die immer nur schwarz getragen und Weltuntergangsstimmung verbreitet hat. Ab und zu tut sie das auch heute noch", fügte sie trocken hinzu und dachte an Maggie's manchmal richtig nervenden Pessimismus. "Hm", machte Nathan nachdenklich. "Möglich. Aber Rose kenn ich noch." Das konnte Hannah sich schon denken. Rose, die süße, blonde, naive Rosie, welcher Mann konnte die schon vergessen? Sie runzelte die Stirn. Sie war doch nicht eifersüchtig? Auf ihre beste Freundin? Wegen gar nichts? Solche Gedanken mussten schnellstens unterbunden werden. "So." Hannah lächelte ihn an. "Wo waren wir? Ach ja. Du warst gerade dabei, mich zum Essen einzuladen." Nathan schaute unbehaglich drein. "Dazu gibt es eigentlich nichts mehr zu sagen, oder?" "Sicher." Hannah nickte. "Zum Beispiel, wann, wie und wo. Vergiss nicht, dass ich abends immer Schule hab." Er lächelte. "Und ich hab morgens immer Schule." Sie schlenderten ebenfalls zum Buffet und Hannah häufte sich eine großzügige Portion Salat auf den Teller und übergoss ihn dann mit Sauce. "Dann drängt sich doch ein Wochenendtag praktisch auf, findest du nicht?" "Sieht so aus." Er beobachtete skeptisch, wie sie sich Cola in ein Glas einschüttete. Solchen Süßkram mochte er nicht unbedingt. Und ungesund war er zudem auch noch. Deshalb nahm er die Wasserflasche zur Hand, um sie aufzudrehen. "Was, Wasser?", staunte Hannah. "Im Kühlschrank ist Bier, wenn du magst. Wein haben wir auch, glaube ich. Mag ich persönlich lieber als Bier." Nathan zögerte einen Moment. Ein kühles Bier war schon verlockend, aber nun hatte er das Wasser in der Hand, und er würde wahrscheinlich - hoffentlich - noch eine Weile hier bleiben, also hatte er Zeit genug. "Äh. Später vielleicht." "Hm, okay. Lass uns mal zu den Burgern wandern." Am Grill stand Hannah's Vater und wendete das Fleisch. Er hatte eine ziemlich männliche, schwarze Schürze um, auf der der Aufdruck "Barbecue King" prangte und mit rot-gelben Flammen verziert war. Gerade, als sie ihrem Vater winken wollte, wurde sie von der Seite angesprungen. Erschrocken keuchte sie auf, als sie nach unten gedrückt wurde, doch dann fand sie sich von Angesicht zu Angesicht mit Adam wieder, ihrem Highschool-Ex-Freund. Der übrigens niemals hatte Nathan das Wasser reichen können. Das hatte sie nun davon, zu diesem Barbecue zu erscheinen. Ihr war doch von Anfang an klar gewesen, dass sich dort auch sämtliche Idioten ihrer Vergangenheit versammelten. "Hannah, Süße, wo warst du denn so lange?" Er hielt sie auf Armeslänge von sich und schmatze ihr dann einen nassen Kuss auf den Mund. Überrumpelt und entsetzt starrte sie ihn an. "Wir haben dich alle total vermisst! Du musst unbedingt erzählen, was du die ganze Zeit so getrieben hast." Er legte ihr den Arm um die Schultern und ließ Nathan, der still zu ihrer Rechten stand und das ganze Schauspiel ausdruckslos mitverfolgte, komplett links liegen. "Adam, ich... lass mich los", knurrte sie und entledigte sich seines Armes. Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu und hatte das starke Verlangen, sich mit dem Handrücken über den Mund zu wischen. Dass Adam so unverschämt - so aufdringlich - war, machte sie furchtbar wütend. Dass er so nervig war, umso mehr. Früher hatten alle gesagt, sie passten so gut zusammen - war das etwa ein Code dafür, dass sie genauso enervierend war wie ihr damaliger Freund? Er hatte sich kein Stück verändert, bemerkte Hannah. Immer noch diese kurzen, blonden Haare, die blauen Augen und das selbstgefällige Grinsen, das sie früher vermeintlich als "selbstsicher und charmant" bezeichnet hatte. Er sah aus wie einer von diesen Sunnyboys am Strand von Kalifornien, nur das Surfbrett fehlte noch. Und genau das war es, was sie früher so toll an ihm gefunden hatte. Sie konnte nur von Glück sagen, dass auch sie mal erwachsen geworden war - mehr oder weniger - und nicht mehr auf solche Schwachmaten stand. "Wir müssen mal wieder was machen. Uns treffen oder so. Zum Essen vielleicht? Am Wochenende wäre doch gut. Verdammt, du siehst echt gut aus. Die Shorts steht dir." Nathan räusperte sich. "Ich geh mal zu deinem Vater...", teilte er ihr mit und kehrte ihr den Rücken zu, ohne auf eine Antwort zu warten. Adam kam wieder näher, hielt sie an den Schultern fest und betrachtete sie mit einem faszinierten Gesichtsausdruck. "Lass dich mal ansehen. Wow. Ich hätte nie Schluss mit dir machen dürfen." Oh man! Hannah versuchte, sich nach Nathan umzusehen, doch Adam's Griff war wie ein Schraubstock und sie hatte Nathan nicht mehr im Blickfeld. Also wandte sie sich Adam zu, um ihm endlich den Garaus zu machen. "Ich habe mit dir Schluss gemacht", erwiderte sie eisig. "Und wenn du mich nicht sofort los lässt... erzähl ich allen, dass du im entscheidenden Moment versagt hast!" Ihre Worte hatten die erhoffte Wirkung. Er ließ seine Arme sinken und schaute sie verständnislos an. "Aber das hab ich gar nicht", wunderte er sich erstaunt. "Tja, erzählen kann ich es trotzdem." Sie zuckte mit den Schultern, doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, überkam sie doch noch ein Hauch schlechten Gewissens. "Adam, tut mir leid. Das ist gerade ein schlechter Zeitpunkt gewesen, okay?" "Heißt das, du willst nicht mit mir essen gehen?", hakte er nach. "Richtig", bestätigte sie. "Das heißt es." "Hm. Ist Rose auch hier?" Hannah rollte mit den Augen. Männer! "Blödarsch", sagte sie nur zu ihm und drehte sich von ihm weg, um zu ihrem Vater und dem Grillstand zu eilen, doch als sie ihren alten Herrn erblickte, war Nathan schon nicht mehr da. Sie ließ ihren Blick über den ganzen Garten ihrer Eltern schweifen, konnte ihn aber nirgends erblicken. Enttäuscht runzelte sie die Stirn. War er etwa gegangen? Hatte er etwas Falsches aus Adam's Verhalten geschlossen und sich aus dem Staub gemacht? Hieß das, dass seine Einladung ebenfalls nicht mehr gültig war? Ratlos hastete sie an all den Leuten vorbei zur Straße, blieb auf dem Bürgersteig stehen und schaute sich um. Falls Nathan sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, müsste sie ihn doch noch sehen können, oder? Doch sie tat es nicht. Entweder war er schon über alle Berge, oder... vielleicht, so fiel ihr ein, war er auch mit dem Auto gekommen. Dann war er bestimmt schon meilenweit entfernt. Sie seufzte und ließ sich auf die kleine Steinmauer sinken, die den Garten von dem Bürgersteig trennte. Mürrisch betrachtete sie ihre Zehennägel, die vorwitzig aus ihren lila Flip-Flops lugten. Sie hatte sie dieses Mal nur mit Klarlack bearbeitet, ohne sich große Mühe gegeben zu haben. Es war auch egal, sagte sie sich dann. Nathan wäre wohl kaum wegen ihrer perfekten Pediküre geblieben. "He, was sitzt du hier rum wie ein Trauerkloß?" Maggie ließ sich neben Hannah nieder und folgte ihrem Blick. "Was gibt’s da so Interessantes, außer deinen Zehennägeln?" Hannah brummte. "Ach, gar nichts. Nathan hat mich zum Essen eingeladen." "Oh, wow." Maggie stellte ihren vollbeladenen Teller auf ihren Knien ab und kaute bedächtig. "Ich wusste gar nicht, dass das so ein Grund zum Trauern ist. Ich dachte, wir freuen uns darüber." "Wir freuen uns ja auch", jammerte Hannah. "Dann tauchte Adam auf und hat mich abgeknutscht und irgendeinen Schwachsinn erzählt, von wegen wieso hat er nur Schluss gemacht und dass wir mal zusammen essen gehen sollten..." "Welcher Adam?" "Der Highschool-Ex-Adam." "Hm... ooh, der Adam! Ich dachte, du hättest mit ihm Schluss gemacht?" "Hab ich ja auch gesagt", bestätigte Hannah und nickte eifrig. "Warte, und er hat dich abgeknutscht?" "Es war furchtbar", seufzte sie. "Nathan hat das alles mitbekommen. Und dann ist er verschwunden." "Hast du nicht gesagt, er könnte so gut küssen?", warf Maggie ein. "Adam, meine ich." Hannah stöhnte bei der Erinnerung genervt auf. "Das war damals und da hatte ich noch keine Ahnung. Aber das spielt ja auch keine Rolle." Sie versuchte sich zu sammeln. "Jedenfalls ist Nathan weg, nachdem er das mitbekommen hat. Er hat bestimmt gedacht... ach, keine Ahnung." "Hm, aber Hannah-" "Ich sollte das aufklären, oder? Ihm sagen, dass es niemanden sonst gibt und dass Adam ein blöder, nerviger Typ ist", unterbrach Hannah entschieden. "Dass ich viel lieber mit ihm ausgehen würde, statt mit Adam." "Äh, ja, solltest du." Maggie räusperte sich. "Das kannst du auch gleich machen. Nathan ist nämlich noch da." "Wo?" "Na hier. Eben, als ich dich gesucht habe, saß er mit ein paar Typen auf Gartenstühlen herum, da hinten bei der Schaukel." Sie machte eine vage Bewegung mit ihrer Gabel, auf der ein Stük Hühnchen aufgespießt war, in eine Richtung. "Er isst einen Burger", fügte sie unnötigerweise hinzu, um Hannah zu beruhigen. "Oh. Das ist... gut. Erleichternd." "Ja." Maggie grinste süffisant. "Jetzt kannst du zu ihm hingehen und ihm vor versammelter Mannschaft erklären, dass Adam ein Dummbeutel mit einem Goldfischhirn und dass Nathan der einzige für dich ist." Hannah boxte ihre beste Freundin erbost in die Schulter, und musste dann doch grinsen. "Ich hab ihn 'Blödarsch' genannt", gestand sie ihr. "Wen, Nathan?" "Adam." Maggie lachte. "Woher kommt das denn? Aus dem unerschöpflichen Vorrat aus der "Schimpfwörter für pubertierende Kids"-Kiste, die du bei dir zu Hause herumstehen hast?" "Ja. Genau die, in der Lucy und Luke immer so gerne herumwühlen." "Hey." Maggie brach ein Stück vom Schokokuchen ab und reichte ihn Hannah. "Wenn man Adam rückwärts liest, kommt fast 'Made' dabei raus." Hannah verdrehte die Augen. "Aber auch nur fast. Made..." Sie kicherte. "Und weißt du was? Als ich ihm klargemacht habe, dass das nichts wird mit uns und dem Essen, hat er sofort nach Rose gefragt. Ohne nur eine Sekunde zu zögern." "Blödarsch", befand Maggie. "Totale Made. Typisch Mann." "Sag ich doch", nickte Hannah, biss von dem Kuchen ab und kaute hingebungsvoll. Schokolade machte alles gleich viel besser, freundlicher und heller. "Nee, das hab ich gesagt. So. Ich schau mich mal um, ob deine Eltern wenigstens dieses Jahr tolle Typen eingeladen haben." Maggie stand auf und klopfte sich die Schokokrümel von ihrem Rock, dann hob sie zum Abschiedgruß die Hand. "Bis nachher." Hannah winkte ihr hinterher. "Viel Spaß." Erleichtert darüber, dass Nathan anscheinend doch noch nicht das Weite gesucht hatte, aß sie in aller Ruhe den Kuchen zu Ende auf, bevor sie sich auf die Suche nach ihm machte. Sie schlenderte eher ziellos durch den großen Garten ihrer Eltern und schaute sich interessiert nach allen Seiten um, betrachtete die Menschen und ging ihnen vor allem aus dem Weg. Als Kind hatte sie immer mit ihren Freundinnen hier Verstecken gespielt - damals stand noch ein kleines Blockhäuschen für Kinder hier, in dem sie auch manchmal im Sommer, wenn es nachts draußen warm war, übernachten durften. "Kinder-Camping" hatte Tess, die elf Jahre älter war und sich aufgrund dieser Tatsache auch heute noch für furchtbar erwachsen hielt, es genannt, aber es war jedes Mal ein Erlebnis gewesen. Später hatten sie Baseball gespielt, als sie aus dem Kinderhäuschen herausgewachsen waren, und Hannah hatte jedes Mal kläglich versagt, während Rose, die sonst eher ein Sportmuffel gewesen war, jeden Ball gekriegt hatte. Nun war die Einmeterfünfzig hohe Blockhütte weg, stattdessen befand sich ein Baumhaus in der Krone der großen Eiche, das ihr Vater Luke zu seinem fünften Geburtstag gebaut hatte, und in dem Hannah noch im selben Jahr nach ihrem Abschlussball mit einem Typen namens Jimmy aus Frust herumgeknutscht hatte. Sie hörte Gekicher von oben und entdeckte, als sie den Kopf hob, ihre Nichte Lucy mit einer Freundin oben in den grünen Zweigen. Sie steckten die Köpfe heraus, zeigten auf ein paar halbwüchsige Jungs, die betont unauffällig in der Nähe eines Bierkastens herumstanden und immer wieder draufschielten, und lachten. Hannah lächelte. Kind zu sein war schön. So viel Spaß zu haben, so viel Neues zu entdecken. Die ganze Welt bestand aus Abenteuern, und wenn diese sich nur im elterlichen Garten in Form von Baumhäusern, Grillfesten, Jungs und nächtlichen Pyjamapartys mit Freunden abspielten. Sie hielt inne, als sie Nathan erblickte. Er saß neben zwei anderen Typen, die sie nicht kannte, auf einem Stuhl, hatte seinen Fuß auf dem Knie abgelegt, sodass sein Bein mit dem Oberschenkel ein Dreieck bildete, und balancierte eine Flasche Bier auf dem anderen Knie, hielt es aber locker mit der Hand fest. Er sagte etwas, und dann lächelte er - vollkommen entspannt und ruhig. Hannah legte den Kopf schief und betrachtete ihn nachdenklich. In ihrer Nähe wirkte er immer nervös und angespannt, doch das da war er, Nathan, möglicherweise in seiner natürlich Umgebung, frei von jeglicher Nervosität, einfach nur ausgeglichen und nicht unter Druck. So... glücklich. Sie wünschte sich, dass sie dasselbe in ihm auslösen könnte. Diese Entspannung. Diese Sicherheit. Aber sie schien ihn nur zu verunsichern, sodass er rat- und hilflos nach allen Seiten spähte, weil er sich keinen Ausweg wusste. Selten hatte Hannah solche Gedanken gehabt, aber andererseits - was bedeutete es, dass Nathan sich in ihrer Gegenwart so verhielt? Und er hatte sie zum Essen eingeladen. Sie musste herausfinden, ob er sie ebenfalls mochte, denn hier zu stehen und ihn dabei zu beobachten, wie er so ruhig vor sich hinlächelte, machte sie ganz verrückt und ließ ihr Herz anschwellen und schneller schlagen vor Aufregung. Sie wollte das alles für sich. In diesem Moment sah Nathan auf und ihre Blicke begegneten sich. Sein gelöster Gesichtsausdruck verschwand, bemerkte sie stirnrunzelnd, doch er verabschiedete sich anscheinend von seinen Freunden oder Bekannten - vermutete Hannah zumindest -, stand auf und kam auf sie zu. Einen kurzen, peinlichen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, bis Hannah sich ein Herz fasste. "Tut mir leid, das vorhin. Das war ganz und gar unhöflich." "Muss es nicht", versicherte Nathan ihr, als wollte er sagen: Nichts passiert. Hat mich gar nicht gestört. "Ich dachte", gab sie zu, "du wärst gegangen." Nathan zögerte. "Nein... bin ich nicht." "Ja. Sehe ich." Sie schwiegen wieder. Nathan drehte seine Bierflasche unschlüssig in der Hand hin und her und betrachtete angestrengt den Baumstamm schräg links hinter Hannah. Sie seufzte. "Okay. Das... darüber bin ich froh. Ich meine, ich wollte nicht, dass du etwas Falsches denkst. Denn ich will mich nicht um meine Essenseinladung bringen." Fragend schaute sie ihn an und stellte überrascht fest, dass sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. Hannah bemerkte, dass er heute extrem ruhig und wortkarg war. Sonst hatte er immer einen kleinen Vortrag für sie parat, aber an diesem Tag hüllte er sich in Schweigen - und ließ sie die ganze Arbeit machen. Hm. Ein wirklich cleverer Kerl. "Du bist immer noch eingeladen, Hannah." "Oh, gut." Sie war erleichtert. Mehr als das. "Adam ist... ach. Einfach ein Idiot. Wie ich soeben wieder feststellen musste. Ich wusste nicht mal, dass er auch hier auftaucht." "Hm", machte Nathan unbestimmt. "Ich erinnere mich noch an ihn." Hannah machte große Augen. "Tatsächlich?" "Ja", nickte er. "Du warst mal mit ihm zusammen. Und dann hast du Schluss gemacht. Das hast du mir bei der Nachhilfe erzählt, als wir gerade den Interventionismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts besprochen haben." Hannah starrte ihn an. "Interventionismus?", echote sie dumpf. "Ja. Als die USA angefangen haben, sich aktiv in die politischen Belange anderer Staaten einzumischen. Das Ganze wurde durch die Öffnung der Häfen und die damit einhergehende Handelspolitik ausgelöst. Na ja", meinte er zögerlich, als er Hannah's verständnislosen Blick bemerkte und ihm dämmerte, dass er mal wieder uninteressantes Zeug erzählte, "vielleicht hab auch nur ich das besprochen und du hast..." "Ich hab dir gerne zugehört", fiel Hannah ihm grinsend ins Wort, "nur hab ich nicht so sehr darauf geachtet, was du gesagt hast." "Äh", kommentierte Nathan leicht verlegen, "der Interventionismus war eigentlich auch gar nicht so wichtig... für die Abschlussprüfung, meine ich. Ansonsten natürlich schon, immerhin war das der Anfang der internationalen Handelspolitik, aber..." Er schluckte. "Was ich sagen will, ist, dass das... komplett unwichtig ist." Frustriert seufzte er auf und hätte gerne über sich selbst die Augen gerollt. Er wusste, dass er ein halbwegs durchschnittlich intelligenter Mensch war, aber in Hannah's Gegenwart benahm er sich wie ein Idiot. Vielleicht war er auch in Wirklichkeit einer und hatte es bis jetzt nur nicht gemerkt. "Ich denke, ich gehe besser nach Hause", sagte er gequält. "Es wird langsam kühl und ich muss morgen... zur Schule." Außerdem war es höchste Zeit, dass er sich verkrümelte, bevor er weiteren Schwachsinn von sich gab und Hannah komplett vergraulte. "Schade. Bist du denn zu Fuß hier?", fragte sie. Er nickte und sie sah endlich die perfekte Gelegenheit, mal mit ihm alleine zu sein. Und die perfekte Gelegenheit, hier endlich wegzukommen. "Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite? Die Play Station ist schon besetzt und Maggie ist auf Männerfang, also... bin ich hier nur noch von Schwachsinnigen umgeben, wenn du gehst." Nathan fühlte sich geschmeichelt, das konnte man ihm ansehen. "Nein. Ich meine, ich hab nichts dagegen. Nur... lass ich dich nachher ungern im Dunkeln den ganzen Weg allein zurückgehen." Hannah lächelte. "Du könntest mich ja wieder zurückbegleiten?", schlug sie ihm nicht ohne Hintergedanken vor. "Oh. Hm. Ja. Das kann ich tun." Er zögerte einen Moment und sah sie unsicher an, dann riss er sich zusammen. "Ich meine, natürlich begleite ich dich." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)