Augenblicke von Ryoko-chan ================================================================================ Kapitel 3: Waisenkind --------------------- Das kleine Mädchen mit den schulterlangen, braunen Haaren erwachte. Gerade noch hatte sie von dem großen Schneemann im Garten geträumt. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Waren da nicht Stimmen gewesen, die aus dem Flur kamen? Waren ihre Eltern schon zurück? Sie schlug die Bettdecke zur Seite und schlich zur Tür. Ganz leise drückte sie die Klinke hinunter, öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Tatsächlich. Sie konnte Stimmen ausmachen. Doch es waren nicht die Eltern der kleinen Akemi. Es waren fremde Stimmen zu hören. Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun. Waren Einbrecher im Haus? Wenn ihre Eltern abends noch spät wegfuhren, hatte immer eine Nachbarin auf sie aufgepasst. Sollte es denn an diesem Abend anders gewesen sein? Die Neugier der Kleinen war größer als die Angst. Also tappte das Mädchen in den Flur, vorbei an dem Zimmer der kleinen Schwester und ging vorsichtig die Treppen runter. Unten, vor der Haustür, standen zwei Männer. Beide trugen eine Polizeiuniform. Die Nachbarin war auch da, unterhielt sich leise mit den Polizisten. Akemi wunderte sich, warum die Polizei da war. Also doch Einbrecher? Sie hockte sich auf eine Stufe und lauschte. Plötzlich wurde einer der Männer auf Akemi aufmerksam, deutete mit einem kurzen Nicken auf sie. Die Nachbarin drehte sich herum und begann zu weinen, als sie das kleine Mädchen in ihrem Nachthemd auf der Treppe sah. Nun verstand Akemi nichts mehr. Was war nur los? Hatten die Einbrecher die nette Dame von nebenan so sehr erschreckt!? Sie lief auf die Nachbarin zu. „Warum weinst du, Tante?“ Sie griff nach deren Hand, streichelte darüber und lächelte. Schluchzend wischte sich die Nachbarin übers Gesicht, wandte sich verzweifelt zu den Polizisten um. „Aber sie sind doch noch so klein… Akemi ist erst sieben und die kleine Shiho gerade ein Jahr alt. Was soll denn jetzt nur aus ihnen werden? Wer soll ihnen das erklären?“ Akemi blickte in die Gesichter der Polizisten. Beide starrten angestrengt auf ihre Schuhe. Diesen Blick kannte Akemi! So schaute man nur, wenn man etwas angestellt hatte! „Ist es möglich, dass sie die Kinder für diese Nacht noch zu sich nehmen? Wir informieren umgehend das Jugendamt und morgen früh werden die Kinder abgeholt. Nur heute Nacht…“ Die Nachbarin nickte. Natürlich! Ich kann die armen Kinder doch nicht allein lassen. Wer rechnet auch mit so einer schrecklichen Nachricht…!?“ Akemi runzelte die Stirn. Was ging hier nur vor sich? Die Nachbarin beglitt die zwei Polizisten vor die Tür, sprach noch wenige Minuten mit ihnen, bevor sie wieder zurück kam. „Wo sind denn Mama und Papa?“, fragte das Mädchen direkt. Die Frau zögerte. Wie sollte sie dem Mädchen erklären, dass ihre Eltern tot waren? Das sie nicht zurückkommen würden, nie wieder. Konnte eine Siebenjährige so etwas Komplexes überhaupt verstehen? Sie blickte in die klugen Augen einer kleinen Waise und wusste keine Antwort auf deren Frage. Sie nahm Akemi bei der Hand und setzte sich mit ihr in die Küche. „Ist Mama und Papa etwas passiert?“ Der besorgte Ausdruck kam ganz plötzlich in ihr Gesicht, als wäre ihr diese Möglichkeit eben erst eingefallen. Ängstlich wartete sie auf eine Antwort der Nachbarin. Diese strich sich nervös die Haare hinters Ohr. War es wirklich ihre Pflicht, das Kind darüber aufzuklären? Sollte sie dies nicht besser dem Jugendamt überlassen? Andererseits kannte sie das kleine Mädchen sehr gut. Würde sie der Frage ausweichen, würde Akemi ihr keine Ruhe lassen. Die Frau schluckte, nahm die Hand der Kleinen. „Also gut, Akemi. Auf dem Weg nach Hause… hatten deine Eltern einen Unfall. Mit dem Auto!“ Die Augen des Mädchen weiteten sich. „Sie waren sehr schwer verletzt. Jemand hat einen Krankenwagen gerufen, aber… da war es schon zu spät. Sie haben es nicht geschafft…“ Das fassungslose Gesicht des Mädchens brachte die Frau erneut zum Weinen. „Was meinst du damit, sie haben es nicht geschafft? Was meinst du? Sind sie TOT?“, schrie sie. Eine Etage höher war die Kleine Shiho durch das Geschrei aufgewacht und begann zu weinen. Akemis Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen, doch sie schüttelte heftig den Kopf. „Das stimmt nicht. Das ist nicht wahr…“ Die Frau nahm das Mädchen in die Arme, strich ihr weinend über die langen Haare. „Es tut mir so Leid, Akemi.“, antwortete sie schluchzend. Die Nachbarin drückte sie fest an sich, brauchte selbst Trost. Das Mädchen stattdessen wurde plötzlich ganz ruhig. Ihre Mama und ihr Papa waren tot. Sie wusste nicht, wohin Tote gingen und warum man einfach starb. Sie wusste, dass sie nun allein war. Und in ihrem Kopf schwirrte nur eine Frage: Wenn man so allein ist, was passiert dann? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)