Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 39: Wiedersehen macht Feinde ------------------------------------ Wie ein Meer aus Statuen, aschfahl, standen die Zuschauer dieses grausamen Bildes und starrten allesamt nach vorn. Nicht nur die umliegenden Passanten, nein, auch manche der Blauröcke und Kreuzer konnten nicht glauben, was O'Hagans Männer gerade getan hatten. Die Flammen streckten sich in den Himmel, züngelten, zischten und irgendwo darunter waren deutlich Monas Schreie. Das Flehen und Brüllen der Ächatin klang so schmerzerfüllt und panisch, dass es wirkte, als käme es nicht von dieser Welt. Es war nicht menschlich, und keine der Hexenverbrennungen, die ich erlebt hatte, kamen dem gleich. Vielleicht wegen der fremden Sprache, die ich nicht verstand oder aber, weil es sie war, Mona, der ich beim Sterben lauschte. Slade umfasste meinen Arm fester um mich mitzuziehen, doch ich riss mich los und einige Sekunden sahen wir uns an. Er schien es nicht fassen zu können, dass ich stehen blieb. Ich wiederum weigerte mich, warum auch immer. Wir waren machtlos. Weder konnten wir so viele Soldaten niederschlagen, noch mitten im Gefecht die Tür aufreißen. Dass ich obendrein nicht O’Hagan in die Arme laufen wollte, war wohl offensichtlich. Ich fürchtete diesen Mann, nun noch mehr als zuvor. Dennoch, obwohl es völlig sinnlos war, zischte ich: „Wir können sie nicht zurück lassen, sie ist eine von uns!“ „Und was schlagt Ihr vor?!“, Slade bewegte seine Hand so aggressiv, dass einer der Schaulustigen sie zu spüren bekam und sich mürrisch zu uns drehte, allerdings mussten wir ihn so unglaublich finster angestarrt haben, dass er fast sofort wieder weg sah. „Seid vernünftig, Falcon! Sie ist tot! Und wenn wir bleiben, sind wir es auch!“, wieder packte er mich, doch ich fuhr zurück. „Und da wundert Ihr Euch, dass man Euch Verräter schimpft?!“ Wieder starrten wir uns an. Die ersten Männer mit Eimern kamen, um das Feuer zu löschen, aber man hielt sie zurück und Proteste wurden laut. Keiner, so erklärte man, durfte Hand am Feuer Gottes legen. Dass dieses allmählich auch auf das Nachbargebäude überging, interessierte die Vertreter des Allmächtigen scheinbar nicht. „Also schön, Annoncer, dann bleibe ich.“, der Dieb unmittelbar vor mich flüsterte so leise, dass ich ihn vor lauter Beschwerden und Verwünschungen kaum verstand. „Aber ich werde denen nicht helfen, meinen Strick zu seifen, damit ihrs wisst! Sagt, was Euch vorschwebt oder bleibt allein hier!“ Aber was hatte ich ihm schon zu sagen? Eine Idee hatte ich nicht, auch keinen grandiosen Plan. Genau genommen hatte ich nicht mal den Hauch einer Ahnung, was wir tun sollten. Stattdessen starrte ich wieder zum lodernden Haus. Monas Schreie waren verklungen, man hörte nur noch Klopfen. Der Qualm und der Gestank nach Feuer und brennendem Holz brannten in meiner Nase. Ich kannte beides nur zu gut. Wahrscheinlich hatte Slade Recht, wir kamen zu spät. Doch damals hatte ich nicht den Mut, mir das einzugestehen. Stattdessen beobachtete ich, wie ein Weib völlig aufgelöst zum Wirtshaus rannte, dabei schreiend „Mein Junge...! Oh Gott, mein Junge ist noch im Haus...!“, doch natürlich hielt man sie zurück. Alles, was O'Hagan für ihr Jammern übrig hatte, waren ein kühler Blick und der Befehl, sie festzunehmen. Wir konnten sehen, wie ihre Welt zusammenbrach, einfach so, in wenigen Augenblicken. Sie sackte zu Boden, wimmerte und wand sich so voller Verzweiflung, als wäre sie selbst es, die in dem Gemäuer Qualen erlitt. Das sollte Gerechtigkeit sein? Das sollte Gottes Wille sein? Es war ein abstraktes Schauspiel, ein Sinnbild der Grausamkeit und das Schlimmste daran war, dass es niemanden wirklich zu interessieren schien. Irgendwann ließen die Soldaten das Weib einfach liegen und die Umstehenden nahmen sich ihrer an. Man umarmte sie, versuchte sie zu beruhigen, aber kein Wort dieser Welt könnte ihren Schmerz wohl lindern. Und dann geschah es. Mein Körper ruckte, ich ging einfach los ohne nachzudenken und wies Slade an, mir zu folgen. Dieser zögerte. Man sah, dass er damit gerechnet hatte, dass wir gehen würden. Stattdessen steuerte ich die weinende Mutter an. Er haderte mit sich selbst, sah erst zu mir, dann zurück. Mit einem gefluchten „Dieser vermaledeite Annoncer...!“, folgte er mir dann aber dennoch. Ich konnte nicht so tun, als ginge mich all das nichts an. Ich war nicht, wie all diese Menschen. Ich war keiner von ihnen, ein Außenstehender, der zusah und bedauerte. Ich war ein Samariter. Vielleicht war es besser, Robin und die anderen zu warnen, ja. Aber ich war nicht den Samaritern beigetreten, um weiterhin nur stumm zuzusehen. Selbst wenn es Folter und Tod bedeutete, wenn ich nun eingriff: Ich konnte sagen, ich habe etwas getan! Und war es nicht das, was ich immer gewollt hatte? Etwas tun? Etwas unternehmen, etwas verändern? Ich erreichte die kauernde Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter und versicherte: „Wir retten Euren Jungen und wenn nicht, so werden wir ihn zumindest rächen...!“, dann lief ich einfach weiter. Mein Begleiter staunte nicht schlecht über die Worte, die Versprechungen und ich hörte ihn noch lauthals brüllen: „Falcon! Habt Ihr den Verstand verloren?!“ Es war mir gleich. Wir bahnten uns den Weg frei zu einem der zwei Nachbargebäude, jedoch nicht jenes direkt am brennenden Haus sondern dieses, das auf der anderen Seite einer engen Gasse lag. ohne auf die anderen zu achten, rüttelte ich an der Tür der Wohnung, die im Erdgeschoss lag. Sie war verschlossen, es gab kein Hineinkommen. Die Soldaten beobachteten uns misstrauisch und auch einige andere reckten die Halse. Auf Slades gereizte Frage, was ich bitte vorhätte, gab ich zu: „Das weiß ich noch nicht.“, und mit eine genervten „Was frage ich auch?“, trat er die Tür einfach auf. Es handelte sich um das Haus einer recht ansehnlichen Familie. Direkt vor uns zeigte sich eine Treppe, überall waren Vorhänge oder Bilder. Es gab einen kleines Tisch mit Blumen darauf und sogar einen bunten Teppich. Noch war das Feuer auf der anderen Seite der Gasse, aber sobald der Wind drehte, würde auch all das hier den Flammen zum Opfer fallen. Bereits jetzt war überall Qualm und es roch bedrohlich nach Hitze und Tod. Ohne weitere Fragen zu stellen begleitete Slade mich nach oben, die Umhänge vor Mund und Nase gezogen und mit verkniffenen Augen. Es knisterte neben uns, hinter der Wand, aber dennoch deutlich. Die altbekannte Ruhe hatte sich über mich gelegt und während ich mich fragte, was Nevar an meine Stelle tun würde, erreichten wir das Obergeschoss. Ob er mich auslachen würde? Wahrscheinlich. Einst hatte er mir einen Vortrag darüber gehalten, dass uns nur Menschen etwas bedeuteten, die wir kannten. Weder kannte ich diese Frau, noch ihren Sohn – aber Mona, sie kannte ich. Hielt ich mich für einen besseren Menschen, wenn ich wenigstens den Jungen des Weibsbildes retten könnte? Vielleicht, aber war das wirklich so schlecht, wie Nevar es immer darstellte? Von oben war das Feuer deutlich sichtbarer. Wir konnten durch die Fenster auf das Haus blicken, dass nur gut zwei Meter von uns entfernt stand. Zwar war die Gasse eng, aber noch weit genug, um die Flamen fern zu halten, vorerst. Wir erblickten die geschlossenen Fenster und den Anfang des Daches, so wie das zuckende Feuer, dass nach allem griff, was sich in der Nähe befand. Slade hustete etwas und spuckte aus, ehe er den Oberkörper hinaus steckte und nach rechts sah. „Wir können da entlang.“ „Ihr begleitet mich?“, ich ließ den Umhang sinken und spürte beim Einatmen die Asche in der Luft. Slade schien meine Frage zu ignorieren. Er drehte nur den Kopf und versuchte, mehr zu erkennen. „Weit ist das Feuer nicht, aber wir haben nicht viel Zeit, also eilt Euch. “, und noch ehe ich widersprechen konnte, war er draußen und kletterte nach oben. Ich blieb einige Sekunden stehen und für einen Augenblick war mir, als wäre Nevar gerade vorausgegangen und hinter mir randalierten die Rotrocke im schwarzen Kater. Damals hatte ich es nur mit Mühe und Not aus dem Fenster geschafft und das Klettern auf das Dach war ein förmliches Fiasko gewesen. Bogenschützen, bröckelnde Wände und fliegende Steine. „Diesmal nicht.“, flüsterte ich zu mir selbst, wie um mich zu beruhigen. Langsam setzte ich einen Fuß auf das Fenstersims, atmete tief ein und schloss kurz die Augen. „Diesmal werde ich nicht versagen...!“ Es war schwer, sich das Geschosssims entlang zu schieben, während es hinter einem knisterte. Fast ununterbrochen fürchtete man, dass es doch eine Flamme schaffte, nach einem zu greifen. Wir zogen uns am Fensterrahmen hoch und dann gegenseitig auf die Dachschräge. Nun, noch eine Etage höher, wirkte alles umso bedrohlicher. Der Wind wehte den Qualm zu uns und die dicken, schwarzen Säulen ragten hoch in den Himmel. Es rieselte und regnete Asche und Steine, die teuren Tonziegel zerplatzten durch die Hitze und die erste Außenwand begann immer mehr abzusinken. Wenn man die Augen fest zusammenkniff und zwischen die Flammen starrte, meinte man, bereits die Dachbalken zu erkennen. Da waren wir nun, ein Stockwerk höher und doch keinen Schritt weiter. Ich konnte nicht anders, als aufzuzittern und mich am Schornstein hinter mir zu halten. In den letzten Monaten war ich oft mit Slade auf den Dächern gewesen, aber nie so verschwitzt und mit dieser Aussicht. „Und jetzt?“, wollte dieser wissen, noch immer den Stoff schützend vor dem Gesicht. „Wir müssen rüber.“, ich zwang mich, aufrecht zu stehen und schwankend starrte ich auf das Dach der anderen Seite. „Springen?“ „Ich hoffe, Ihr macht Witze?“, aber auch der Straßendieb stand langsam auf, hielt sich ebenfalls am Schornstein und wippte kurz bedrohlich nach hinten. Die Ziegelsteine unter uns gaben nach und rutschten unter unseren Füßen haltlos Richtung Abgrund. Als wäre das nicht genug stolperte ich leicht und eine der Tonplatten ratterte lautstark zum Rand. Laut klirrend knallte sie auf den Boden, irgendwo weit unter uns. „Heiliger Jesus.“, hauchte ich erschrocken und schloss kurz die Augen. Alles schien zu schwanken, die Höhe machte mir zu schaffen. Es fühlte sich kurzzeitig so an, als wäre ich wieder auf See. „Ich springe nur, wenn Ihr es zuerst tut.“, hörte ich Slades Stimme neben mir sagen, begleitet von einem leichten Husten. Dann spürte ich, wie er langsam wieder näher kam und sich an mit festhielt. „Ich kenne euch Annoncer! Große Klappen und wenn ich drüben bin, seid Ihr weg!“ „Als ob Ihr mich so kennen gelernt hättet!“, verteidigte ich mich und versuchte, ihn los zu werden. „Feige, das seid ihr, mehr nicht!“ „Nun zappelt nicht so! Soll ich stürzen, verdammt?!“ „Dann lasst mich los! Himmel, was tun wir hier überhaupt?! Wir müssen verrückt sein!“ „Wir?!“, allmählich wurde Slades Stimme förmlich hysterisch. Er klammerte sich an den Schornstein und hustete abermals, etwas stärker. Die Rauchsäulen wehten zu uns herüber, als wollte das Haus uns vertreiben. Für einen Moment waren wir blind. „Wohl eher Ihr! Annoncer!“ Er spuckte aus und als würde ich auf ein Zischen der heißen Ziegel warten, starrte ich auf den weißen Schleim. Es zischte nicht einmal ansatzweise. Stattdessen lief er einige Millimeter nach unten und hing dann tropfenförmig am Ziegelwerk. Als ich wieder aufsah, lachte ich lauthals: „Also schön?! Dann bin ich verrückt!“, und kaum war das ausgesprochen, wurde mein Lachen lauter. „Ja, ich bin verrückt, völlig wahnsinnig! Aber ich sag Euch was: Das Tollhaus ist nichts Neues für mich, also, Gott verdammt noch mal, dann kann ich auch da rüber springen und verkohlen! Selig sind die geistig Armen! Der Herr steht hinter mir!“, ich hatte selbst nicht daran geglaubt, dass ich den Sprung schaffen würde. Der Trick war wohl einfach gewesen, dass ich nicht nachdachte, sondern einfach handelte. Mein Körper ging einfach in die Hocke, holte einen Schritt aus und mit einem lauten „Amen!“, machte er wie von selbst einen Sprung. Für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen, nur, um danach noch schneller zu laufen und mich laut krachend gegen die Ziegel zu werfen. Sie versagten ihren Dienst, ich rutschte, schlitterte am Bauch hinunter und drehte mich unbeholfen auf den Rücken. Mit mehr Glück als Verstand schaffte ich den Halt und spürte schmerzhaft mein blutiges Kreuz. Dennoch, ich lachte. Ich lachte, bis mir der Brustkorb schmerzte und ich vor lauter Ruß kaum Luft bekam. Was genau ich so lustig fand, konnte ich nicht sagen. Entweder die Tatsache, dass es wieder die Blasphemie war, die mich weiter gebracht hatte oder aber dieses absurde Bild. Ich konnte hören, wie der Dieb auf der anderen Seite irgendetwas fluchte und schrie, ehe auch er zu mir sprang, nach langem Zögern. Völlig außer Atem zogen wir uns gegenseitig auf die Beine. Es amüsierte mich und das wiederum machte mir Angst. Irgendwo da unten waren O’Hagan und seine Männer, jagten gottesfürchtigen Menschen mit diesem Exempel eine Höllenfurcht ein und schimpften sich Vertreter des Herrn. Und währenddessen? Taumelten selbsternannte Gläubige, die sich wie die Ketzer einst Samariter nannten, über die Dächer und spielten Gnade des Allmächtigen. Es war schwer ins Hausinnere zu kommen, vor allem, da die Gedanken in meinem Kopf mehr als nur rasten. Als wären die Panik meines Sprung, die Angst und die Unsicherheit tief in meinen Kopf gesickert und würden nun irgendwo in meinem Hirn zum Ausbruch kommen. Nach außen hin war ich ruhig und sah mich um, während Slade auf und ab lief, auf der Suche nach einer Dachluke. Im Innern allerdings durchströmten mich etliche Eindrücke. Der Gestank von Verkohltem holte Erinnerungen zurück, die ich längst vergessen hatte. Ich meinte für einen Augenblick Pater Johannes viel zu lange Rede zu hören und mein Hemd klebte an meinem Körper, als wäre es in Wachs getränkt. Wann immer eine Flamme aufbegehrte, zuckte ich zurück und starrte sie an, wie ein Schlangenbändiger. In meinem Kopf arbeitete es. Ich meinte, verbranntes Fleisch zu riechen und für den Bruchteil einer Sekunde befand ich mich wieder in der Folterkammer. Gequält hielt ich mir die Schläfe und schüttelte den Kopf. Trotzdem hörte ich Domenico lachen und wie der Zuchtmeister mich anschrie. Ich spürte Mary-Anns weiche Haut und sah ihre wunderbaren Augen, roch Blacks Rumfahne und spürte seinen freundschaftlichen Schlag auf meiner Schulter. Das Feuer holte alles wieder zurück, als wären die Erinnerungen nie weg gewesen, als hätte ich diese Gefühle niemals verdrängt. Es wäre ein Wunder, wenn Slade nicht bemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte. Wir schlüpften gemeinsam ins Hausinnere, kämpfen uns durch den Rauch und versuchten verzweifelt Luft zu holen. Überall war es dunkel und verqualmt. Es fiel uns schwer, uns zu orientieren, aber nachdem wir das erste Zimmer durchkämmt und den Hausflur erreicht hatten, fiel es uns deutlich leichter. Während Slade sich darum kümmerte, die Türen zu öffnen, ob mit Tritten, Schlägen oder Rütteln, durchsuchte ich die offenen Räume nach weiteren Bewohnern. Jedes der Gästezimmer schien leer. Benutzte Betten, offene Schränke, verwüstete Zimmer und anderes zeugten von Durchsuchungen durch die Katholiken. Es gab keine Ecke, die sie nicht mehrmals umgedreht hatten und keinen Gegenstand, der noch am Stück vorzufinden war. Überall lagen Splitter, sowohl aus Glas, als auch aus Holz und zwischendrin gab es Stoffe oder Gehölz, das munter vor sich hin brannte. „Ist noch jemand hier?!“, hörte ich Slade und mich rufen, als wäre ich nur ein Zuschauer des Geschehens. „Hallo?!“, aber keiner antwortete. Auf halbem Wege, wir hatten gerade die Treppe ins untere Stockwerk erreicht, wollte der Dieb umdrehen. Ich wurde zurückgehalten, da er mich am Arm packte und mich anschrie: „Es wird zu gefährlich, Falcon! Wenn wir nicht raus gehen, kommen wir um!“ „Und Mona?!“, eine Antwort bekam ich nicht. Stattdessen knallte es lautstark und binnen weniger Sekunden stürzte etwas weiter ein Stück Dach zu uns hinunter. Funken und Flammen, mehr gab es nicht. „Wir können sie nicht zurück lassen!“ „Seid realistisch: Sie ist tot, Falcon! Tot!“, dieses Mal war ich derjenige, der schwieg. Seine Worte waren für mich bedeutungslos, fremd. Sie war nicht tot, das konnte nicht stimmen. Sie war nicht Mary-Ann. Erneut zog Slade mich am Arm, deutlich bestimmender und verlangte: „Wir haben alles versucht! Kommt mit mir oder ich lasse Euch zurück!“ Das Knistern hinter uns wurde lauter und als wir die Treppe hinunter sahen, erkannten wir, dass die Flammen sich durch ihr Holz kämpften. Es fiel mir schwer zu atmen. Unser Pech war, dass an den Wänden Stofffetzen hingen. Die einst schöne Dekoration war das ideale Futter für das Feuer. Ich wollte wissen: „Das würdet Ihr tun?!“, wir starrten uns an. Seine Augen waren unsicher, aber dennoch irgendwie entschlossen. Sein Blick schien mir zu sagen: Ihr seid ein erwachsener Mann und ich bin Euch zu nichts verpflichtet! Doch ehe ich ihn verurteilen konnte, hörten wir ein Wimmern. Es war nur sehr leise und es hätte auch reine Einbildung sein können, doch dass er und ich fast zeitgleich den Kopf drehten, machte es unglaublich real. „Das Kind!“ Wir kämpften uns fast gleichzeitig vorwärts zu einem der Zimmer, aus dem wir nun deutlich lautes Schreien und Weinen hören konnten. Ein herunter gekrachter Holzbalken versperrte uns den Weg, doch gemeinsam stießen wir ihn weg und traten die Tür auf. Ein Junge um die Acht Jahre saß zusammengekauert in der hintersten Zimmerecke, hielt sich das Gesicht zu und schrie mit voller Kraft. Immer wieder holte er weinend Luft, stieß alles hinaus, was er konnte und das so laut, dass ich meine eigene Stimme nicht mehr hörte. Ohne zu zögern nahm Slade das Kind auf den Arm und ich verstand. „Ich bringe ihn raus!“, erneut sah er mich an. Dann legte er mir die Hand auf den Arm und murmelte ein „Viel Glück, Falcon.“ Ich erkannte, dass, wenn ich ihn bitten würde, würde er bleiben. Ich könnte ihn überzeugen und ihm ein schlechtes Gewissen machen. Doch wollte ich das? Dies hier war allein meine Angelegenheit, also ließ ich ihn gehen. Slade verschwand, ohne noch einmal zurückzusehen und binnen weniger Sekunden bereute ich für einen kurzen Augenblick meine Denkweise. Ich war allein. Er ließ mich zurück, einfach so. Die Hoffnung, dass wir in der letzten Zeit eine Art Brüder geworden waren, schwand einfach so dahin. Trotzdem empfand ich keine Wut. Ich dachte nicht daran, ihm zu folgen, auf keinen Fall. Ich hatte bei Mary-Ann versagt – bei Mona würde ich siegen! Als ich umdrehte und die Treppe hinunter ging, erfasste mich eine Art von Energie und Entschlossenheit, die mich fast ängstigte. Wann immer es aufflackerte, hielt ich mir den Umhang vor das Gesicht, zurückweichen tat ich jedoch nicht. Ich gönnte es weder Slade, noch O’Hagan, das ich jetzt verlieren würde. Man kann sagen, es ging mir weniger um Mona, als um meine Ehre und meinen Stolz. Ich wollte nicht versagen und umkehren. Aber ich wollte auch nicht hier bleiben und sterben. Vielleicht war sie tot, ja, aber wenigstens konnten wir ihren Leichnam angemessen beerdigen. Im Erdgeschoss war es wesentlich schlimmer, als weiter oben. Das Feuer wütete, angefacht durch die Fackeln. Durch die verriegelten Fenster und Türen kam kein Sauerstoff hinein, sie begehrten auf, nach oben, durch die Decke und die Treppenaufgänge. Alles war schwarz und zugleich hell, die Hitze trieb mir den Schweiß aus den Poren und der Ruß ließ mich kaum atmen. Mehrmals musste ich inne halten, geblendet, verschwitzt und verdreckt. Ich fürchtete, vor lauter Husten nicht atmen zu können. Bis ich Mona fand schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Die Luft war so wenig vorhanden, dass es mir schwindelte und kaum erblickte ich sie, sackte ich zu Boden und jappste nach Luft. Es war, als würde meine Lunge keinen Sauerstoff kriegen, egal, wie tief ich die Luft einzog. Alles, was ich erreichte, waren noch mehr Ruß und Qualm, was den Hustenreiz nur umso mehr verstärkte. Die Ächatin lag regungslos mitten auf dem Fußboden, zwischen Trümmern und kokelnden Papierfetzen. Selbst jetzt fand ich sie wunderschön und anmutig. Sie hatte leichte Verbrennungen und verzweifelt rüttelte ich an ihr. Immer wieder hörte ich, wie ich ihren Namen rief, aber vergebens. Nach etlichen Versuchen legte ich mein Ohr auf ihren Brustkorb, doch einen Puls konnte ich nicht mehr hören – ich war zu spät. Wäre ich rechtzeitig gekommen, wenn ich draußen nicht gezögert hätte? Wenn ich gesprungen wäre, ohne inne zu halten? Hatte ich wieder versagt, nur, weil ich feige gewesen war? So wie damals? Ich wollte ihren schlanken Körper anheben, aber er rutschte mir einfach aus den Händen und wie eine übergroße Puppe lag sie in meinen Armen. „Mona!“, flehte ich verzweifelt. „Bitte wach auf! Wir müssen hier raus!“, nichts geschah. Sie konnte mich nicht mehr hören. Ich hatte versagt, genauso wie damals, verloren, einfach so. Wieder hatte O’Hagan mir etwas genommen, was ich lieben gelernt hatte – meine Heimat, mein neues Leben, meine Freunde. Alles, was ich mir in den letzten Monaten mühevoll aufgebaut hatte war im Begriff, einfach so kaputt zu gehen. Brehms’ Häuser brannten, die Menschen fürchteten um ihr Leben und die Samariter ergriffen die Flucht oder starben. O’Hagan. Der Gedanke an diesen Mann ließ so viel Wut in mir aufkeimen, dass ich es zumindest schaffte, Mona ein wenig nach oben zu ziehen. Ich könnte sie liegen lassen und fliehen. Ich könnte sie zurücklassen. Vielleicht würde ich dann überleben? Aber ich wollte es nicht. Ich gönnte es O’Hagan nicht, ihre Leiche unter dem Schutt dieser Häuser zu begraben. Mit Mühe und Not zerrte ich sie an den Handgelenken bis zum Treppenansatz, dann die ersten drei Stufen hinauf. Dort brach ich auf die Knie und hustete so stark, dass ich würgen musste und mir Tränen in die Augen schossen. Ich konnte nicht aufgeben, es ging einfach nicht. Lieber würde ich sterben. Hier, in diesem Haus, mit ihr zusammen. Vielleicht war es auch besser? Dann würde O’Hagan mich nicht kriegen, niemals! Erneut zerrte ich an ihr, schaffte sogar eine weitere Stufe, doch kaum ließ ich los, sackte sie einfach zurück. Es war sinnlos. Ich schaffte es nicht hinaus, nicht mit ihr, aber war es gerecht? Sie wäre die zweite Frau, die ich einfach allein mit ihrem Tode zurückließ. Und alles war die Schuld dieses verdammten Mannes...! In meinem Hinterkopf staute sich so unglaublich viel Hass an, dass ich nicht wusste, wohin damit und wütend schlug ich gegen das Geländer. Er war schuld! Er war schuld, an allem! Nicht Black, nicht Blackburn, er, er allein! Er hatte beschlossen, dass Mary-Ann sterben musste! Er hatte beschlossen, dass man Black hängte und er hatte dafür gesorgt, dass ich als Pirat, nein, als Mörder angeklagt und gesucht wurde! O’Hagan hatte mein Leben ruiniert, immer und immer wieder. So sehr, dass ich mich der Inquisition verpflichtet hatte – und selbst jetzt, danach, machte er mir noch alles kaputt! Würde ich hier sterben, hätte er gewonnen. Würde ich hier sterben, hatte er gesiegt. Ich hatte nicht so lange immer und immer wieder aufs Neue überlebt, damit er jetzt doch noch als Sieger dastand! Ich hatte mich gerade auf die Beine gekämpft, hustend und röchelnd, da registrierte ich eine Bewegung unmittelbar neben mir. Man packte mich, zerrte mich hoch und ich sah noch, wie der riesige Ächate Serdon nach Mona griff. Jemand zog mich mit sich, mehr grob als vorsichtig und ohne mich zu wehren ging ich einfach mit. Alles ging unheimlich schnell. Auf dem Dach angekommen, verstand ich, dass nicht nur Slade zurückgekehrt war, sondern auch Robin, Serdon und die anderen. „Er kriegt mich nicht...!“, flüsterte ich wie im Wahn. „Er besiegt mich nicht...!“ Ich lebte. Jemand hatte ein Holzbrett auf die andere Dachseite geschoben und so verließen wir das brennende Haus. Alles wirkte unheimlich chaotisch. Dass auch das zweite Haus Feuer gefangen hatte, bekam ich kaum mit. Genauso wenig, dass alle ungemein hektisch waren. Während sie Mona trugen, schluchzte irgendwo der kleine Junge und kaum erreichten wir den Ausgang, stürmte die Menschenmasse zu uns, um zu wissen, wie es uns ging. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Hätte Slade mich nicht gestützt, wäre ich wohl vornüber und einfach zwischen die Leute gestürzt. Die Mutter packte ihr Kind, presste es hysterisch an sich und bedankte sich weinend, immer und immer wieder. Währenddessen hockte Robin bei Mona und brüllte verzweifelt, dass sie ihr Luft zum Atmen lassen sollten. Die Soldaten wurden aufmerksam, fingen an sich uns zu nähern und ein mir fremder Mann, wahrscheinlich ein Samariter, trieb uns an, das Weite zu suchen. Panik. Die Rot- und Blauröcke hatten Mühe, sich durch die Masse zu kämpfen, sonst wären wir wohl leichte Beute gewesen. Man hievte Mona wieder hoch, Slade zog mich am Arm, ich schwankte und alles schien sich zu drehen. Es tat gut, wieder zu atmen, allerdings brachte mein Durst mich fast um und meine Augen brannten. Mir war heiß und kalt gleichzeitig und meine verschwitzte Haut starrte vor Dreck. Aber ich lebte. Dieser Gedanke wiederholte sich wieder und wieder in meinem Kopf: Ich lebte, O’Hagan hatte verloren. Da die Soldaten nicht rechtzeitig zu uns kamen, pfiff ihr Herr sie zurück und so konnten wir ungehindert fliehen. Wir hatten gewonnen, so schien es. Vielleicht war unsere Schreibstube in Rauch aufgegangen, unsere Bücher waren weg und vielleicht hatten die Samariter noch viele andere Verlust erleiden müssen – aber ich lebte. Als wäre das alles nur, weil O’Hagan speziell nach mir suchte, erfüllte mich Schadenfreude. Mir war es gleich, dass sein Hass eigentlich allen Ketzern dieser Welt galt – für mich hasste er allein mich. Slade zog mich immer weiter, aber ich hielt einfach an und sah zurück. Der Vertreter Gottes saß auf seinem Pferd, starrte desinteressiert zu uns hinüber und für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Er war eiskalt wie immer und wirkte auf seinem Tier wie aus Blei gegossen oder kühler, gefühlloser Stein. Meinen Blick nur streifend drehte er den Kopf wieder weg – doch dann verstand er und augenblicklich ruckte sein Kopf zurück. Wir starrten uns an, jeder direkt in die Augen des anderen. Seiner Kälte wich Erkenntnis. Erst weiteten sich seine Augen, dann wurden sie zu hasserfüllten Schlitzen. „Ich lebe!“, brüllte ich ihn krächzend an, aber wahrscheinlich verstand er mich nicht einmal vor lauter Lärm. „Hört Ihr?! Ihr kriegt mich nicht! Und Ihr werdet büßen! Gott wird Euch strafen, O’Hagan, er wird Euch strafen!“, Slade verstand die Welt nicht mehr. Er schrie mich an, panisch und erschrocken, dass ich den Verstand nun wohl endgültig verloren hätte und wohl verrückt wäre. Noch während er mich mit Gewalt weiter zog und noch während ich mir lachend und zugleich hasserfüllt die Seele aus dem Leib schrie, hob O’Hagan den Arm und keifte, dass sie mich fest nehmen sollten. Er verteilte Schläge und Tritte und verlangte mit aller Macht, die seine Stimme hergab, dass sie mich kriegen sollten. Ich durfte nicht entkommen, auf keinen Fall. Auf keinen Fall! „Ich lebe! Ihr werdet niemals siegen, O’Hagan, niemals!“ „Fangt ihn! BRINGT MIR DIESEN BASTARD!“ „ICH LEBE!“ Sullivan O'Neil Band 2 - Ende _________________________________ 06. April 2012 :) Ich danke Euch dafür, dass Ihr das Buch bis hier her gelesen habt. Ich freue mich wirklich unwahrscheinlich! Weiter geht es dann bald in Band 3 ;-D Bitte lasst mir doch einen Kommi da, damit ich weiß, dass es wirklich Leser gibt, die sich mit meinem Werk befassen. Außerdem würde ich unheimlich gerne wissen, wie ihr Sullivans Geschichte findet ♥ Liebe Grüße, eure Joé ;-D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)