Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 23: Rätseleien um Nevar ------------------------------- Ich starrte Francesco schweigend an und ließ das Gehörte auf mich wirken, bemüht, es für mich zu sortieren. Das asaharische Reich war also von der Inquisition überrannt worden, ein anderes Land wollte ihnen helfen, verriet sie aber, wurde dadurch kurzzeitig König, dann wurde das Land zurückerobert, es gab einen Kreuzzug und letzten Endes fielen beide Länder und es wurde ein neues von der Inquisition gegründet: Jeroba. Es könnte stimmen, dass Nevar aus diesem Gebiet stammte, denn seine Sprache war sehr fremd. Francesco behauptete, er wäre aus dem Land Sorelit, aber das würde bedeuten, er stammte aus jenem Reich, das durch die Inquisition gefallen war. Warum also sollte er nun denen, die Schuld daran waren, dass seine Heimat zerstört wurden, helfen und der Deo Volente dienen? Zudem waren die Kreuzzüge bereits mehrere Jahrzehnte her. Ich zog die Stirn kraus und schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann doch gar nicht sein. Nevar ist zu jung für einen Vertriebenen aus Sorelit, vielleicht um die dreißig Jahre, jünger noch. Wie soll das gehen? Sorelit gibt es nicht mehr, wenn ich es richtig verstanden habe.“, ich öffnete das Fenster ein Stück und lugte hinaus auf die dunklen Straßen. Die Laternen warfen ihr Licht sanft auf das trockene Pflaster und es war fast totenstill. „Da habt Ihr Recht.“, pflichtete Francesco mir bei. „Er müsste, wenn er wirklich aus dem unterworfenen Land stammt, etwa achtzig oder neunzig Jahre alt sein. Aber Ihr vergesst etwas: Die Inquisition hatte selbstverständlich hart zu kämpfen, mit jenen, die sich Gottes Willen widersetzen wollten. Aber es kann unmöglich sein Wille sein, jeden hinzurichten, nicht wahr? Es wurde abgemacht, dass jeder, der zum Kreuz greift und damit in den Krieg zieht, besondere Privilegien genießt.“ Interessiert sah ich ihn wieder an. „Wie meint Ihr das? Ich dachte immer, die Kreuzritter waren durch und durch ausgebildete Soldaten der heiligen Länder.“ „Das ist falsch.“, Francesco räusperte sich kurz, ehe er erklärte: „Das Land wurde zwar besetzt, aber auch wenn es nun einen christlichen König gab, so wurden nicht alle vollends unterworfen. Die Menschen versuchten die Inquisition zu vertreiben, indem sie versuchten, deren Soldaten auszuhungern. Sie vernichteten das Essen in ihren Dörfern, so dass es für sie selbst kaum noch reichte oder brannten Ställe ab, in denen die Soldaten Obdach fanden. Ihr müsst wissen, die Inquisition hat alles für sich beansprucht, um ihre Armee versorgen zu können. Es gab immer Menschen, die dagegen aufbegehrten und versuchten, Unruhen zu stiften. Die Bewohner waren die Leibeigenen des Königs. Knechte, Diener, Bauern und man versuchte den Willen der Bevölkerung zu brechen, damit dies endlich aufhörte. Es gab von dort an feste Regeln, um die Heiden in ihrer Gottlosigkeit zu bremsen und auch andere Dinge, die diese natürlich störten. Teilweise durften sie keinen Alkohol mehr herstellen, es gab Steuerabgaben in enormen Größen wie Fenstersteuern für jedes Fenster im Hause, Beträge die gezahlt werden mussten für Vieh oder Land. Sie mussten ihren schändlichen Glauben ablegen und bekamen die Kirchenpflicht auferlegt. Aufgrund des Nahrungsmangels durfte jede Bauernfamilie nur noch zwei Kinder haben, jedes weitere wurde hingerichtet und man versuchte, die heiligen Gesetze zu verstärken.“ „Das ist schrecklich.“, sagte ich leise. „Und das im Namen Gottes? Das ist doch lächerlich.“ „Darüber darf ich nicht urteilen.“, der Gottesdiener sah mich entschuldigend an, ehe er fortfuhr: „Die Menschen waren Heiden, sie mussten zur Disziplin aufgerufen werden. Furcht ist der erste Weg zur Gläubigkeit, ist es nicht so? Und es ging ja weiter: Die Inquisition hat dem Volk nicht aus Spaß ein solches Leid gebracht, es war eine Art Buße für ihr bisheriges Leben. Das war zu der Zeit, als Gonzo Veranches Donnaserro, der Sohn des Kaisers von Sorelit, sich mit den Nachbarländern verbündete um mit ihnen die Ländereien zurückzuerobern.“ „Wartet.“, bat ich freundlich. „Ich verstehe nicht, was das alles mit Nevar zu tun hat. Ihr verwirrt mich, Francesco.“ „Hört zu.“, mein Gegenüber lächelte mir aufmunternd entgegen und legte seine Hand auf die meine. „Ihr werdet alles verstehen.“, dann ließ er mich los und lehnte sich etwas zurück, um es sich bequemer zu machen. „Die Inquisitorischen Truppen waren nicht stark genug und wie Ihr wisst, sandte man einen Boten, um den Papst um Unterstützung zu bitten. Nachdem die Heiden dann in Demut und Armut lebten, so, wie die heilige Schrift es vorgibt, bekamen sie vom heiligen Papst das Angebot, zum Kreuz zu greifen und für Gott in den Krieg zu ziehen, um auch die restlichen Teile des Landes einzunehmen. Dafür, dass sie in Gottes Namen kämpften, durften sie nach dem Krieg ein eigenständiges Leben außerhalb der Leibeigenschaft führen. Nicht nur das, sie wurden von den Steuern befreit, bekamen mehr Rechte wie zum Beispiel das beliebige Ausweiten von Familien – sofern die heilige Ehe vollzogen worden ist – oder das Land für eine gewisse Zeit verlassen. Sie durften größere Anzahl an Vieh besitzen, Alkohol herstellen, vieles mehr. Aus diesem Grund schlossen sich viele Soreliten und Menschen aus dem asaharischem Reich der Inquisition an und kämpften gegen ihre eigene Armee.“ „Also fielen die Soreliten durch...Soreliten?“, fragte ich verwirrt und schloss das Fenster wieder, da der kalte Abendwind Francesco und mir Gänsehaut bereitete. Der Gottesdiener nickte. „Richtig. Etwa siebzig Prozent der katholischen Armee bestand aus bekehrten Heiden. Das war gut, denn die Christen dürfen an Feier- und Sonntagen nicht kämpfen, was ihnen früher oder später zum Verhängnis geworden wäre. Soreliten und andere Heiden hingegen konnten die Befehle weiterhin ausführen. Aber nicht nur einfache Bürger nahmen an dem Kreuzzug teil. Auch Soldaten und leider auch Diebe oder Mörder. Jeder, der dem Krieg beiwohnte, bekam nach diesem Absolution versprochen. Das bedeutet, etliche Verbrecher nahmen daran Teil, um ihre Schuld zu begleichen, denn das Kreuzzugsgelübde versprach ihnen ein neues Leben. Ihnen wurden ihre Verbrechen vergeben, außerdem konnten sie diese unter Gottes Hand weiter führen, sprich mit viel mehr Rechten. Es kam zum förmlichen Abschlachten, Vergewaltigungen. Und das schlimmste war, es war ihnen erlaubt, so lange sie all diese Verbrechen nur an Heiden verübten. Es gab etliche, die nur am Kreuzzug teilnahmen, um zu morden und zu stehlen. Es wurde niemand dafür bestraft, bis auf einige zum Schluss. Als Alexander Sorades dann den Krieg beendete und das Land Jeroba gegründet wurde, bestrafte er jeden Mann, der ein solches Verbrechen binnen der letzten drei Kriegstage verbrochen hatte.“ „Wieso drei Tage?“, hakte ich nach. „Weil es ihnen erlaubt war während der Kriegszeit, konnte man sie schlecht dafür bestrafen. Allerdings nach dem Krieg war es ihnen untersagt. Die Friedensbotschaft brauchte drei Tage, um bekannt zu werden und Alexander Sorades konnte nicht wissen, wo sie bekannt war und wo nicht, also wurde jeder hingerichtet, der binnen dieser drei Tage ein solches Verbrechen verübt hatte.“ Ungläubig zog ich meine Augenbrauen hoch, mir fehlten die Worte. Nach einigem Schweigen gelang es mir, meine wirren Gedanken zu beruhigen und ich stellte bitter fest: „Das ist doch absoluter Schwachsinn. Es gehören alle bestraft.“ „Das ist Ansichtssache.“, Francesco wog den Kopf. „Ich teile Eure Meinung in dieser Hinsicht: Frauen sind Frauen, ganz gleich, ob Heiden oder nicht. Sie zu schänden ist gottlos und es ist ebenso gottlos zu behaupten, es wäre Gottes Wille. Aber die meisten sehen das nun einmal anders.“, er sah vor sich und schien nachzudenken, dann erklärte er: „Nun, die Überlebenden mussten der Inquisition weiterhin dienen. Zwar hatten sie nun das Recht auf ein Leben außerhalb der Knechtschaft, allerdings galt es als Hochverrat, dieses ohne Gottes Lehren zu führen. Aus diesem Grund blieben viele bei ihrem Inquisitionsdienst, denn Jeroba sollte ein heiliges Land werden. Man riss sämtliche, heidnischen Gebäude ab und führte etliche Exekutionen durch, um den Menschen klar zu machen, dass unser Herr der einzig wahre ist. Ich denke, viele der Heiden hassen unseren Glauben und auch uns als Menschen, müssen sich dem jedoch weiterhin unterordnen. Und ich glaube, Nevars Familie war am Kreuzzug beteiligt und er dient der Inquisition nun deswegen.“ Nickend sah ich vor mich auf meine Hände und musterte meine wunden, aufgescheuerten Handgelenke. Sie waren mittlerweile verschorft und an den Rändern leicht rosa, da die Narben zu heilen begannen. Wahrscheinlich waren diese Verletzungen nichts im Vergleich zu dem, was die Soreliten oder das asaharische Reich hatten erleiden müssen. „Das ist gut möglich.“, gab ich nach einiger Zeit zu. „Vielleicht hasst er die katholische Kirche deswegen so sehr, aber ich habe das Gefühl, in unserer Vermutung sind noch viele und sehr große Lücken. Irgendetwas passt nicht zusammen, auch wenn ich noch nicht weiß, was.“, dann erhob ich meinen Blick wieder und sah Francesco ernst an. „Und Ihr sagt, der Papst stand hinter diesem Gemetzel? Die ganze Zeit?“ Der braunhaarige Mann vor mir nickte ernst und antwortete leise: „Natürlich, die ganze Zeit. Es steht mir eigentlich nicht zu, so zu sprechen, aber es ist so lange her. Ich denke, es kümmert niemanden mehr. In Sorelit und im asaharischen Reich lebten viele Menschen, zu viele. Es gab wenig Essen und noch weniger Platz. Die Menschen begannen sich zu verbreiten und mit ihnen ihr blasphemischer Glaube. Der Papst musste dagegen vorgehen, um das ungebildete Volk zu schützen. Außerdem, wenn Ihr mich fragt.“, er schwieg kurz. Ich ließ Francesco und sah ihn aufmerksam an, wartend, dass er fort fuhr. Man sah, dass er mit sich rang, denn das folgende ging ihm nur schwer über die Lippen und seine Stimme wurde wieder unheimlich leise. „Nun ja, das Kreuzfahrerheer hat nicht nur sämtliche Truppen gestoppt, so wie den Handel eingeschränkt und damit den Feind geschwächt, müsst Ihr wissen. Nicht nur das asaharische Reich und Sorelit nahmen Schaden, sondern auch umliegende Länder, mit denen sie Handel betrieben. Das Land Otori, kennt Ihr es?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Es ist eines unserer Partnerländer und wird wie unser Land, St. Katherine, von der Inquisition bewacht. Damals war das noch nicht so. Früher war Otori größtenteils zwar ein christliches Land gewesen, allerdings missbilligte man das Vorgehen der Inquisition so wie die Scheiterhaufen. Otori hatte einen Handelspakt mit Sorelit, aber dadurch dass aufgrund des Kreuzfahrerheeres keine Schiffe mehr durch die Bucht nach Chichao kamen, konnte Otori keine Einnahmen mehr machen. Das Land verschuldete sich und unterschrieb irgendwann einen Pakt mit St. Katherine und Esas. Seitdem sind die drei Länder in einem geschlossenen Dreier-Bündnis und stehen unter der Heiligen Inquisition.“ „Ich verstehe, also wieder ein Vorteil für den Papst.“, merkte ich an, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Das Papsttum gewinnt dadurch enorm an wirtschaftlicher, so wie religiöser Macht.“ Der Gottesdiener nickte abermals. „Richtig.“, dann stand er auf und ging zu einer der Kerzen an der Wand hinüber. Ich sah zu, wie Francesco sie etwas gerade schob, denn sie war nicht richtig an den Halter gesteckt worden und nun tropfte das Wachs auf den Boden. Während er herum hantierte, erklärte er: „Das hat sich die letzten gut fünfzig Jahre so gehalten. Immer wieder stößt die Inquisition an einigen Orten vor und wird an anderen zurückgedrängt, aber eigentlich ist alles beim Alten geblieben.“ „Aber wieso lernen wir davon nichts?“, fragte ich verwirrt. Francesco warf mir einen verständnislosen Blick zu. „Wir?“ „Die Mönche. Ich war einst Mönch, aber davon gehört habe ich nie etwas. Ich weiß, dass wir von weltlichen Dingen die Finger lassen wollen, aber das wären doch sicherlich Gründe zum Feiern gewesen. Und was ist mit Nevar? Ich verstehe nicht, wieso er nach so vielen Jahren weiterhin der Inquisition dienen sollte. Etwas stimmt daran doch nicht.“ Francesco drehte sich verwundert zu mir zurück. „Ihr wart Mönch?“, doch dann schüttelte er den Kopf, wie, als müsste er seine Neugierde von sich scheuchen. „Das ist einfach zu erklären: Absolution.“, er kam zurück zu mir, nun, wo die Kerze ihre Arbeit wieder anständig machte und ließ sich zurück auf seinen Hocker sinken. „Die meisten der äußeren Bruderschaft gehören der Deo Volente aus Absolutionsgründen an. Wie damals im Kreuzzug unterstützen sie die Inquisition, damit ihnen ihre Sünden vergeben werden. Ich denke, das Gleiche gilt für Nevar. Vielleicht hat er einst einen Fehler gemacht, den er nun bereinigen muss oder vielleicht sogar seine Familie in der Vergangenheit.“ Das leuchtete ein. Ich erinnerte mich an jenes, was Nevar mir erklärt hatte. Er hatte gesagt: „Ich nehme Aufträge der Inquisition an und erhalte dafür Geld, so wie das Recht auf ein eigenes Leben.“ So wie das Recht auf eigenes Leben. Wahrscheinlich hatte Francesco Recht, nur was war Nevars Verbrechen gewesen? Hatte er jemanden umgebracht? Schlimmeres? Wenn er ein Lebensrecht brauchte, dann war er gewiss zum Tode verurteilt worden, doch worauf stand eigentlich der Tod? Desto mehr ich nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es von Stadt und Land abhängig war. In Annonce starb man für fünf gestohlene Heller, in Brehms kam man in den Diebesturm, bis man alles abgezahlt hatte. Wo war Nevar angeklagt worden und warum? Auf jeden Fall lebte er ein zweites Leben, so wie ich. Er war ein Gesuchter, ein Verbrecher und das, obwohl er es nie vorgehabt hatte. Vielleicht war auch alles ein Unfall gewesen, ein Missverständnis, man hatte ihn reingelegt oder er hatte aus Notwehr gehandelt. Menschen wie Ihr und ich, Verbrecher, die niemals Verbrecher sein wollten, Gesuchte, Abtrünnige. Auch sie gehören der Deo Volente an, denn sie erhalten die Chance auf ein neues Leben. Also ging es ihm wie mir? Wahrscheinlich lebte er ein ähnliches Leben, nur bereits viel länger. Dadurch, dass er bereits seit fünf Jahren an einer Mission gearbeitet hatte, konnte ich davon ausgehen, dass er ebenso lange der Deo Volente diente. Die Tatsache, dass er seine Identität noch immer geheim hielt, könnte bedeuten, er war noch immer in Gefahr. Was auch immer er getan hatte, ein einfacher Mord war es sicherlich nicht gewesen. Mir kam der Gedanke, dass er ein unheimlich schrecklicher Mensch sein könnte. Vielleicht hatte er etliche getötet oder es zumindest auf bestialische Art und Weise getan. Es musste etwas sein, das ihn noch bis heute verfolgte. Irgendetwas Unvorstellbares. Warum sonst sollte er noch immer verdeckt leben müssen? Francesco schenkte mir noch einmal ein Lächeln, wünschte mir eine angenehme Nachtruhe und nahm das Besteck mit hinaus. Die Deo Volente war mir noch immer nicht geheuer und das nach fast zwei Monaten. Nevar ließ noch lange auf sich warten und die abgemachte Woche dehnte sich zu einer weiteren aus. Ich ertrug es kaum noch, im Zimmer zu sitzen und immer häufiger öffnete ich das Fenster auch tagsüber. Ich wollte raus, ich wollte laufen. Francesco versuchte mich aufzumuntern, indem er mir Bücher vorbei brachte und Schreibutensilien, doch ich nahm es nur dankend zur Kenntnis. Jeder Buchstabe erinnerte mich an meine Arbeit im Skriptorium und auch an die Tatsache, dass ich diese nun verloren hatte. Ob ich eine neue Arbeit finden konnte, sollte ich freikommen? Wohl eher nicht. Um nicht verrückt zu werden, konzentrierte ich mich darauf, dass Nevar einen ganzen Monat in diesem Zimmer verbracht hatte. Ich versuchte mein kindliches Inneres anzuspornen und den Drang in mir zu erwecken, zu zeigen, dass ich besser war. Ohne Frage könnte ich es sogar länger aushalten, als er, wenn ich wollte. Das einzige Problem, das meine Motivation unterband, war: Ich wollte gar nicht in diesem Zimmer sein. Wie sehr ich mir meine Dietriche wünschte, um heimliche Nachtausflüge zu machen. Ein paar Mal versuchte ich, das Gitter vor dem Fenster aus der Wand zu lösen oder die Tür irgendwie zu öffnen, vergeblich. Es gab kein Entkommen, ich war gefangen und wahrscheinlich sollte ich auch noch dankbar dafür sein. Es fiel mir schwer, dieses Gefühl zu empfinden. Zu sehr beschäftigte mich die Frage, was nun aus mir werden würde. Hatte Domenico mich aufgegeben? Hatte er deswegen gewollt, dass die Folter fortgeführt wurde? Vielleicht war seine Hoffnung gewesen, dass ich an den Verletzungen starb, dann wäre er mich los gewesen. Aber wieso sollte er mich loswerden wollen? Mir kam nach einigen Stunden die Idee, dass ich die Folter als Lektion auffassen sollen könnte. Vielleicht wollte Domenico damit seine Autorität untermauern, seine Macht über mein Leben zeigen. Wenn ja, dann hatte Nevar diese Autorität schlichtweg untergraben und dies würde sehr schlechte Folgen nach sich ziehen. Mit Sicherheit wusste Domenico bereits, dass sein Diener sich eingemischt hatte und war nun wütend. Dann, als die Woche endlich vorüber war, kam Nevar. Francesco saß gerade bei mir und erklärte, dass er nicht sein ganzes Leben in der Deo Volente verbringen musste. Er war nun seit fünf Jahren in dieser und würde noch fünf weitere dort verbringen müssen. Danach hatte er das Recht, einige Zeit sein Leben zu leben, um anschließend wieder in das Gildenhaus zurückzukehren. Es war später Abend, als die Tür aufging und Nevar mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze eintrat. Ich sprang förmlich auf, das Gespräch mit Francesco war vergessen und auch dieser erhob sich, um eine leichte Verbeugung zu machen. Der Attentäter beachtete den Gottesdiener nicht sonderlich, sondern schlug nur seine Kapuze zurück. Unter seinen Augen waren tiefe Ränder und ich erkannte, dass er einen weiten Weg hinter sich hatte. Müdigkeit und Erschöpfung machten auch auf seinem Gesicht breit, während er näher tat. Ich ergriff als erstes das Wort: „Nevar, Ihr seid zurück!“ „Ich muss mit Euch sprechen, Falcon.“, Francesco fasste diese Äußerung als Aufforderung auf und wollte das Zimmer verlassen, doch Nevar hielt ihn zurück und wies den Gottesdiener an: „Geh zu Domenico. Sag ihm, dass Falcon bei mir ist und wir ihn morgen früh aufsuchen werden.“ Der Angesprochene sah ihn unsicher an und flüsterte: „Er wird außer sich sein, Meister Nevar. Er lässt Falcon und Euch nun bereits seit zwei Wochen suchen. Ich bin nicht sicher, ob ich das kann.“ „Sei unbesorgt.“, er legte Francesco eine Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Lass ihn wüten, wenn er das möchte. Seine Wut gilt mir, nicht deiner Person. Ich danke dir, Francesco.“, und mit diesen Worten ließ er ihn wieder los. Francesco sah alles andere, als begeistert aus, hörte jedoch und verließ schweigend den Raum. Nachdem die Tür geschlossen war, wandte Nevar sich wieder mir zu. „Ich muss mit Euch sprechen.“, wiederholte er. „Allerdings.“, ich ließ mich wieder auf das Bett sinken und deutete auf den Hocker vor mir. „Ich habe viele Fragen an Euch.“ „Das ist gut möglich, allerdings seid Ihr vorerst daran, Fragen zu beantworten.“ Nevar ließ sich sinken und mit kraus gezogener Stirn sah ich ihm entgegen. Es war ein seltsames Gefühl, ihn wieder zu sehen und eine noch seltsamere Situation. Ich wollte mich bei ihm bedanken, allerdings war ich nicht sicher, ob es angebracht war. Sollte ich mich lieber entschuldigen, für die Probleme, die er nun wegen mir hatte? Oder doch eher wütend sein? Denn ohne ihn wäre mir das alles nie passiert. Er öffnete die silberfarbene Schnalle seines Umhanges, indem er die Flügel des Vogels auseinander hakte und warf ihn auf den Tisch, wo er dann als schwarzes Knäuel liegen blieb. Es war lange her gewesen, dass ich ihn in voller Montur gesehen hatte, denn meist lief Nevar herum, wie jeder andere auch. Diesmal war das anders und ich erkannte nach langem wieder die schwarzen Ledermanschetten an seinen Armen, die kleine Tasche an seinem Gürtel mit dem Eisenring daran und die Lederriemen an seinen Oberarmen mit den Messern, von denen eines fehlte. Sie waren genauso dunkel, wie sein Hemd, dessen Schnürung leicht geöffnet war. Dadurch sah ich einen Verband an seiner Schulter, der schon recht alt zu sein schien. Nachdem ich ihn ausgiebig gemustert hatte, erhob ich den Blick und sah Nevar geduldig an. Dieser war damit beschäftigt, das Buch zu betrachten, das Francesco mir mitgebracht hatte. ‚Wir ehren den Vater voller Liebe und Demut.’ Nach einigen Minuten legte er es skeptisch auf den Tisch zurück. Man sah deutlich, wie sehr ihn das Werk ansprach – gar nicht. Nach einem weiteren, abfälligen Blick drehte er sich wieder zu mir. „Nun, ich habe viele Fragen, wie Ihr sicher auch.“ „Allerdings.“, bestätigte ich, schwieg aber, um ihn sprechen zu lassen. Nevar fuhr leicht kühl fort: „Ich hörte von den Unruhen. Johnny, Morgans Handlanger und unser Spion, teilte mir mit, dass Blauröcke Euch auflauern würden. Leider kam ich zu spät und Ihr wurdet bereits festgenommen, kurz darauf fand ich Euch bei den Kreuzern wieder. Ich habe Domenico Bericht erstattet, doch er hielt es für angemessen, Euch den Rücken zuzudrehen. Ihr seid in seine Ungnade gefallen, Falcon und ich hoffe, dessen seid Ihr Euch bewusst. Was mir allerdings nicht bewusst ist, ist: Warum? Was ist passiert?“ „Einiges.“, ich hievte meine Beine auf das Bett und setzte mich in den Schneidersitz. „Dann fangt von vorne an und hört hinten auf. Ich muss alles wissen, wenn ich Euch helfen soll.“ Knapp nickend sah ich auf meine bloßen Füße und die schwarzen Fußsohlen, dann wieder auf meine Handgelenke. Wie oft hatte ich mir meine Antwort die letzten zwei Wochen immer und immer wieder überlegt? Ich dachte kurz nach, ehe ich erklärte: „Ich habe Gilian Daly beschattet und bin in sein Haus eingebrochen, um es mir näher anzusehen. Na ja, er kam früher zurück, als gedacht.“, schwer seufzend ließ ich den Kopf etwas sinken. „Ich war gerade oben und als ich runter kam, war er plötzlich da und schloss mich in der Küche ein. Ich kam nicht raus und da er die Wachen rufen wollte, bin ich ausgebrochen. Nicht schnell genug, wodurch ich mitten in die Blauröcke hinein rannte. Sie erkannten mich und ich weiß nicht wie, aber sie fanden mich dann einige Tage später.“ Nevar nickte. „Hat Gilian Euch gesehen?“ „Erst bei meiner Flucht.“, gab ich leise zu. „Er hat mich erkannt, ich war Kunde in seinem Laden.“ Das Gefühl von Scham machte sich in mir breit und ich fühlte mich, als wäre ich ein kleiner, dummer Junge, der nur Fehler gemacht hätte. Nevar blieb weiterhin kühl. „Laut der Aussage von Gilian, wollte er die Wachen erst am nächsten Tag verständigen, aber Ihr habt versucht, auszubrechen. Wieso habt Ihr nicht gewartet, Falcon und ihn provoziert und niedergeschlagen?“ „Ich weiß nicht. Ich hatte einfach Angst, sie nehmen mich fest.“ „Und wenn schon. Meint Ihr nicht, Domenico hätte hinter Euch gestanden?“, er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tisch und stützte den linken Fuß auf meiner Bettkante ab. „Stattdessen verletzt Ihr bei Eurer Flucht einen Wachmann mit der Tür und haut das ganze Haus in Stücke.“ „Bin ich deswegen in Ungnade gefallen?“, wagte ich mich leise zu fragen, ohne ihn anzusehen. Nevar antwortete nicht gleich. Er schwieg einige Sekunden und ich meinte zu spüren, wie er mich musterte. Abschätzend, nachdenklich, abwiegend. „Ihr habt versagt, deswegen. Aber vor allem: Ihr habt seinen Namen bei der Befragung genannt, was ein schlechtes Licht auf die Deo Volente geworfen hat. Ihr habt behauptet, Ihr wärt sein Spion und hättet den Auftrag gehabt, Gilian zu beobachten.“ „Aber dem war doch so.“, unsicher erhob ich den Blick. Nevar nickte ruhig, dennoch war es nicht wirklich tröstend. „Ja, aber niemand weiß, dass die Deo Volente so handelt. Ich habe Euch immer und immer wieder gesagt, dass Ihr Domenicos Namen nicht nennen dürft. Ihr hättet Euch daran halten sollen, Falcon. Niemand weiß, dass sie Spione hat oder gar Attentäter. Stewart ist eine Ausnahme, er und ich haben bereits einige Begegnungen hinter uns, aber im Großen und Ganzen weiß es niemand. Natürlich macht es Sinn, dass Spione, die Ketzer aufdecken sollen, in einem solchem Skriptorium arbeiten oder in solchen Gruppen agieren. Aber wenn es offiziell keine Spione gibt, würde das bedeuten, dass die Deo Volente Ketzer beinhaltet.“ „Aber was hätte ich sonst sagen sollen? Dass ich nichts weiß? Er hätte mir nicht geglaubt!“, flüsterte ich, in meinem Innern zog sich alles zusammen. „Ja. Allerdings wissen nun viele der Soldaten, dass ein Mann der Deo Volente im Skriptorium vom alten Pepe arbeitet. Viele spotten, dass die Schriftstücke der Deo Volente dort gemacht worden sind. Nicht nur das, ein Dieb und Randalierer gehört der Gilde an. Falcon, Ihr hättet warten müssen, bis die Gelegenheit zu fliehen kommt. Und wenn Ihr festgenommen worden wärt, dann hätte man Euch in den Diebesturm gesperrt und später dem Richter vorgeführt. Dass Kreuzer sich Eurer annahmen lag nur daran, dass Ihr so ein riesiges Chaos angerichtet habt.“, ich ließ abermals den Kopf sinken. Es war fast, als wären wir wieder in der kleinen Hütte, außerhalb von Brehms und würden eine Diskussion über Gott und Glauben führen. Dieses Mal schien Nevar den Streit zu gewinnen, der eigentlich kein Streit war, denn ich gab frühzeitig auf und seufzte leise. Nevar fuhr kühl fort: „Männer wie Ihr und ich, müssen für etwas kämpfen, für das wir nicht kämpfen wollen. Wir müssen bereit sein, für die Deo Volente zu sterben – wenn wir überleben, gewinnen wir enorm viel. Aber wenn wir dazu nicht bereit sind und es nicht einsehen, uns für sie zu opfern, dann geraten wir in Panik und wollen mit allen Mitteln fliehen. Wir handeln so, wie Ihr gehandelt habt und das ist falsch. Falcon.“, ich zuckte leicht zusammen und sah ihn wieder an, einfach aus meinen Gedanken gerissen, da er meinen Namen sagte. „Ich kann verstehen, dass Ihr für diese Gilde nicht bereit seid, Unannehmlichkeiten einzustecken, aber wenn ihr Euch dagegen wehren wollt, wird alles nur schlimmer. Merkt Ihr? Ihr wurdet gefoltert, weil Ihr nicht bereit wart, eine Nacht in der Küche zu verbringen. Hättet Ihr gewartet, bis er schläft, vielleicht wärt Ihr problemlos entkommen. Stattdessen stellte Gilian den Tisch vor Eure Tür und holte die Soldaten. Ihr müsst mit Kopf vorgehen, nicht mit Gefühl. Instinkte sind-...“ „...- für Reaktionen in Notlagen und sollten dennoch stets vom Hirn geleitet werden.“, beendete ich seinen Satz, den er während meiner Zeit bei ihm so oft gesagt hatte. Nevar schwieg einige Zeit lang und sah mir ruhig entgegen, dann nickte er langsam. „Und das Hirn hat bei Euch kläglich versagt. Ihr seid in Panik geraten, wie ein wildes Tier in einer Bärenfalle.“, abermals seufzend sah ich zum Fenster. Mir war nicht danach, mich zu entschuldigen und ich mochte es nicht, belehrt zu werden, doch ich wusste, dass er Recht hatte. Draußen war alles schwarz, denn jemand hatte die Laternen gelöscht und kühle Abendluft drang ins Zimmer. Nevar nahm keine Rücksicht auf meine Gefühle, die er mit großer Sicherheit bemerkt hatte. Er erklärte: „Das Wachhaus hatte die Aufgabe, Euch festzunehmen. Man brachte Euch mit dem Mord von Luke Caviness in Verbindung und befragte so den Bäcker gegenüber, Franky. Ihr kennt ihn, nehme ich an, denn er erzählte von einem jungen Kerl, der in einer Buchbinderei arbeiten würde und der ihn ausgefragt hätte. Also ging man dorthin, aber siehe da, niemand mit passender Beschreibung arbeitet dort. Allerdings kommt regelmäßig ein Mann aus dem Skriptorium vom alten Pepe vorbei, um Bücher binden zu lassen im Auftrag seines Meisters und die Beschreibung passt natürlich haargenau auf Euch.“, ich wollte das nicht hören. Ich war stolz gewesen auf die vergangenen Dinge, die ich vollbracht hatte und Nevar begann nun, alles zu zerstören. Mein Stolz sackte tief in den Keller und ich fühlte mich mit jedem seiner Worte dümmer, als ohnehin schon. Wahrscheinlich will er mich damit strafen, scherzte ich in Gedanken. Wenn ja, funktionierte es. „Daraufhin ging man am Schreibladen vorbei und erkundigte sich bei einem der Mitarbeiter, Brad Addison, wo denn der andere Kerl aus Annonce wohnt. Natürlich wusste Brad es.“, ich wurde hellhörig und sah ihn an. Brad hatte mich verraten? Aber wieso hatte er mir nichts gesagt? „Also ging man in die Rum-Marie und lauerte Euch auf. Johnny teilte mir glücklicherweise mit, dass dem so war, aber viel zu spät und mittlerweile wussten auch die Kreuzer von Euch. Domenico schickte Stewart und gab ihm den Befehl, dafür sorgen, dass man Euch nicht mit uns in Verbindung bringt. Domenico plante, dass Ihr Eure Taten gesteht und die Deo Volente verneint, so, wie Stewart es Euch ausreden wollte. Und hätte ich die Folter nicht unterbrochen, hättet Ihr das getan.“, seine Stimme wurde leiser, eindringlicher. „Ihr hättet behauptet, nie von der Deo Volente gehört zu haben, wenn er das will und dann wärt Ihr hingerichtet worden, wie ein lausiger Straßendieb, Falcon. Ich bitte Euch eindringlich nächstes Mal nachzudenken, ehe Ihr handelt.“, in meinem Kopf begann alles, sich zu drehen und etwas benommen schloss ich das quadratische Fenster wieder. Laut Nevar hätte ich mich nur festnehmen lassen müssen und die Kreuzer hätten nie mit mir zu tun gehabt. Aber woher sollte ich das denn wissen? Man hatte mich in dieser Hinsicht nicht aufgeklärt. Gut, ich könnte es selbst vermuten, aber wer würde schon wirklich darauf vertrauen? Leichte Wut kam in mir hoch. Nevar hatte damit wohl bereits gerechnet, denn er fügte etwas sanfter hinzu: „Ich kann es verstehen, Falcon.“ „Was könnt Ihr verstehen?“, mit einem Anflug von Zorn sah ich ihn an. „Dass Ihr nicht bereit seid, Euer Leben für die Deo Volente zu riskieren, aber Ihr müsst es so sehen: Wenn Ihr es riskiert, könnt Ihr mehr, viel mehr gewinnen.“ „Jeder hätte so gehandelt.“, knurrte ich nur, seinen letzten Satz ignorierend. „Wenn man eingesperrt wird, bricht man aus, das ist nur natürlich. Ich konnte ja nicht wissen, dass Ihr Einfluss auf die Blauröcke habt!“ „Falcon, beruhigt Euch.“, Nevar sah mich ernst an und beugte sich etwas zu mir vor. „Ich verstehe Euch wirklich. Aber Domenico nicht und ich bezweifle, dass wir das ändern können.“, doch ich beruhigte mich nicht. Es regte mich auf, dass dieser Mann scheinbar davon ausging, dass ich einfach abwarten und hoffen würde, man holt mich schon aus dem Schmalassel heraus. Und wütender machte es mich, dass Domenico es scheinbar auch noch für angebracht hielt, einen Menschen wegen solch einfacher Fehler foltern und hinrichten zu lassen. Mir wurde nur umso bewusster, wie unwichtig ich war und welche niedere Rolle ich in seinem dreckigen Spiel einnahm. Zornig senkte ich den Blick, starrte auf meine geschundenen Handgelenke und verfluchte ihn in Gedanken. Nevar nutzte mein Schweigen, um mir seine weiteren Pläne zu erklären. Seine Stimme wurde sanft, dennoch schwang ungemeiner Ernst in seinen Worten mit: „Regt Euch nicht auf, hört mir zu. Ich habe mich Domenicos ausdrücklichem Befehl widersetzt. Ich war bei ihm, habe um Erlaubnis gefragt die Folter beenden zu dürfen und meine Bitte wurde abgelehnt. Das bedeutet, wir haben nun beide große Probleme, Falcon, Ihr jedoch weitaus mehr als ich. Ich diene der Deo Volente seit Jahren. Vielleicht wird er mich bestrafen wollen, aber zumindest ist mein Leben nicht in Gefahr. Aber für Euch gilt das nicht. Ihr seid ersetzbar, vorerst.“ Ersetzbar? Das klang wirklich wunderbar. „Was habt Ihr also vor?“, flüsterte ich zerknirscht. Nevar schien relativ ungerührt zu sein. „Wir müssen etwas finden, das Euch wertvoll macht. Habt ihr etwas bei Gilian herausfinden zu können?“, schweigend schüttelte ich den Kopf. Das hatte Nevar scheinbar befürchtet, denn er seufzte etwas übertrieben und lehnte sich zurück an den Tisch. „Dann müssen wir Euch anders wichtig erscheinen lassen. Es kann sein, dass Domenico Euch für alles die Schuld gibt und Euch los zu werden wäre dort das einzig richtige. Fakt ist immerhin: Die Wachen kennen Euch, die Kreuzer ebenso und Ihr habt keine Arbeit mehr, also muss die Deo Volente erneut für Euch sorgen. Wir müssen Domenico davon überzeugen, dass Ihr Nutzen für ihn habt.“ „Und wie?“, ich schüttelte den Kopf. „Scheinbar sind meine ‚Fähigkeiten’ miserabel.“ „Vielleicht, ja, aber das ändert sich mit der Zeit. Und wenn Ihr ruhiger werdet seid Ihr durchaus zu etwas zu gebrauchen, Falcon. Nun, jeder Mann, der auch nur annähernd loyal ist, ist etwas wert und das weiß auch Domenico. Wir müssen ihn nur davon überzeugen, dass Ihr loyal seid. Macht Euch beliebt, untermalt Eure Unterwürfigkeit, was weiß ich. Seid demütig.“ „Soll das ein Witz sein?“ „Nein.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihm entgegen, aber Nevar schien es tatsächlich ernst zu meinen. Ich setzte mich auf und stellte die Füße zurück auf den Boden. „Aber das kann ich nicht! Ich kann alles, aber nicht demütig sein. Nevar, ich kann diesen Mann nicht ausstehen. Er hat zugelassen, dass ich gefoltert werde, wie stellt Ihr Euch das vor?! Er wollte mich tot sehen!“, doch keines meiner Worte änderte etwas an seinem Gesichtsausdruck. Ich starrte in seine Augen in der Hoffnung auf eine Reaktion, aber es folgte keine. Wenn er hoffte, durch Anstarren zu gewinnen, dann tat er gut daran, denn irgendwann ließ ich den Kopf gequält sinken und schloss die Augen. „Das darf doch alles nicht wahr sein. Ich dachte, Ihr stündet hinter mir und nun das!“ Der Mann vor mir stand auf und griff seinen Umhang. Ich konnte hören, wie der Stoff leise raschelte, hinsehen tat ich aber nicht. „Das tue ich. Und am besten ist es vorerst, ihn irgendwie wieder auf Eure Seite zu bekommen. Wenn er das Gefühl hat, Ihr macht nur aus Zwang bei dieser Sache mit, seid Ihr schnell ein Klotz am Bein. Tut wenigstens so, als wärt Ihr kein Ketzer.“ „Ich bin kein Ketzer.“, protestierte ich fast instinktiv. Mein Gegenüber grinste amüsiert und zog sich an. „Das denkt Domenico zumindest, ja. Und so sollte es bleiben. Unsere letzte Chance ist, dass Ihr so tut, als wärt Ihr voll und ganz davon überzeugt, dass all diese Häretiker ausgemerzt werden müssen. Ihr werdet sehen, elf Monate gehen schnell vorbei und ehe Ihr Euch verseht, steht Ihr als freier Mann auf der Straße.“, ich antwortete nicht. Er meinte es also wirklich ernst, seine Strategie beruhte lediglich auf Schmeicheleien gegenüber Domenico? Schweigend beobachtete ich, wie Nevar seinen Umhang etwas gerade zupfte und die Vogelflügel ineinander hakte. Ehe ich mich versah, war sein Körper vollkommen eingehüllt und nur noch Waden und Füße waren zu sehen. „Wir werden morgen mit ihm sprechen und sehen, ob es etwas bringt. Genießt die Nacht, es könnte Eure Letzte sein.“, damit drehte er ab und wollte gehen. „Wartet.“, forderte ich schnell. Sofort blieb er stehen und drehte sich zurück, die Kapuze in den Händen, um sie sich über den Kopf zu ziehen. „Ich möchte Euch etwas fragen. Zwei Dinge, um genau zu sein.“ „Dafür werdet Ihr noch genug Zeit haben.“, er griff das Buch vom Tisch und warf es neben mir auf das Bett. „Hier, beschäftigt Euch mit diesem Schund, dann hören die Fragen auf, in Eurem Kopf zu kreisen. Bis morgen früh.“ Die miese Laune in mir wuchs und als die Tür zu fiel und ich hörte, wie der Schlüssel herum gedreht wurde, ließ ich mich auf die Matratze fallen und zog die Beine aufs Bett. Es war doch nicht zu fassen, er behandelte mich wie ein Kind! Ununterbrochen hielt er mich hin, machte aus allem ein Geheimnis und obendrein mich von sich abhängig. Wahrscheinlich hatte er Recht mit dem, was er sagte: Ich war nicht bereit, alles für die Deo Volente zu geben, aber war das verwunderlich? Wenn man mir nicht einmal die einfachsten Sachen erklärte und stets so um Distanz bemüht war? Ich würde alles tun, aber gewiss nicht ewig als Domenicos Lakai leben. Vielleicht machte es Nevar nichts aus, so zu leben und er konnte die Vorteile schweigend genießen, aber ich nicht. Ich hatte das Kloster nicht verlassen, um ein demütiges Leben außerhalb dessen zu führen, sondern, um frei zu sein. War das zu viel verlangt? Die Decke über mir war weißgrau und zeigte mir einige Risse und Flecken, als ich hinauf starrte und überlegte, was ich tun sollte. Zwei Wochen hatte ich auf Nevar gewartet, nur um zu erfahren, dass er genauso ratlos war, wie ich. Er verlangte, dass ich krieche, demütig bin, winsele, um Verzeihung bitte. War das rechtens? Durfte Domenico so etwas verlangen? Vielleicht stimmte es, dass ich Fehler gemacht hatte. Und ja, vielleicht war ich ungeduldig und unsicher gewesen, aber nicht aus Angst vor den Wachen, sondern aus Unsicherheit gegenüber der Deo Volente. Ich wollte nicht festgenommen werden, aus Angst, mir würden schreckliche Dinge passieren und die Gilde würde mich im Stich lassen – Und hatte ich damit nicht Recht gehabt? Domenico hatte mir gesagt, er würde hinter mir stehen, mit ihm die Deo Volente und als letztes sogar der heilige Vater und nun hatte er vor, mich zu bestrafen, weil ich darauf nicht vertraut hatte. Aber war dies nicht ein Zeichen dafür, dass ich dem nicht vertrauen konnte? Was, wenn Domenico nur noch wütender werden würde, stünde ich vor ihm und er würde mich nicht nur foltern lassen, nein, er würde mir meine Existenz rauben? Er bräuchte nur schnipsen und ich war nichts weiter als Sullivan. Sullivan O'Neil, der Pirat, der Ketzer. Der Frauenmörder. Nach einigen Minuten vergrub ich mein Gesicht im Kissen, um meine Gedanken zum Schweigen zu bringen, aber es brachte nichts. Umso länger man nichts zu tun hat, desto mehr denkt man nach. Ich werde nicht demütig sein, nicht ganz und gar und ich werde kein Wurm sein, niemals! Das sagte ich mir immer und immer wieder. Ich werde frei sein! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)