Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 19: Anders, als geplant ------------------------------- Die nachfolgenden Tage verliefen fast alle gleich. Ich stand auf, ging zur Arbeit und trat den Heimweg an. Drei Tage lang befolgte ich diesen Plan, um mich bei Meister Pepe zu entschuldigen und meine Stelle bei ihm zu sichern. Ich wollte meine Arbeit nicht verlieren, auch wenn sie noch so ketzerisch war und Domenico nicht gefiel. Was brachte mir ein neues Leben, wenn ich es auf der Straße leben musste? Ich wollte Kopist im Schreibwarenladen bleiben und daran konnte weder Domenico, noch sonst wer etwas ändern. An Edgar und Gilian verschwendete ich kaum einen Gedanken oder zumindest, versuchte ich es. Immer wieder spukten sie mir im Kopf herum, genauso wie Slade und neuerdings auch wieder Mary-Ann. Vielleicht hatte ich zu viel über mein Leben nachgedacht? Vieles kam wieder in mir hoch: Meine Zeit im Tollhaus, die Todesfälle auf der Caroline und auch meine Feuerprobe. Ich begann, mich von Kerzen und Kaminfeuern fern zu halten, was völlig absurd war. So viele Monate nach dem Passierten eine Angst vor Feuer zu entwickeln war gänzliche Dummheit, doch was sollte ich dagegen tun? Meine Arbeiten bei Meister Pepe besserten sich, stellten aber weder ihn, noch mich zufrieden und jeden Abend, wenn ich im Bett lag, verfluchte ich mich. Wenn ich zurückkehrte und die Tür öffnete, fürchtete ich, Nevar würde vor mir stehen und ich würde nicht wissen, was ich ihm sagen sollte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich mich momentan nicht dazu in der Lage fühlte, mich mit all diesen Dingen zu befassen? Dann, am vierten Tag, kam Morgan zurück. Er war ein schrecklicher Anblick, wie er dort plötzlich in der Schenke saß, Johnny und Knollnase neben ihm. Sein Bart war ungepflegt, sein krauses Haar wirr und seine Augen glasig vom Alkohol. Ich ging schweigend auf mein Zimmer, ohne ihn zu grüßen und er ignorierte mich ebenso, aber das beunruhigte mich umso mehr. Meine Tür schloss ich doppelt ab und ich stellte einen Stuhl davor, ehe ich zu Bett ging, unter meinem Kopfkissen lagerte ich ein Messer. Was war mit ihm passiert? Ich erinnerte mich daran, dass die Blauröcke ihn mitgenommen hatten, mehr wusste ich allerdings nicht. Bei seiner Rückkehr hatte ich erwartet, er würde sich auf mich und Amy stürzen, um uns zu Tode zu prügeln, stattdessen saß er da wie ein Häufchen Elend. Wenn ich mich nicht geirrt hatte, trug er noch immer die Kleidung, die er am Tag seiner Festnahme getragen hatte. Hatte er etwa bis jetzt in einem Gefängnis gesessen? Dann folgten weitere Tage voller Eintönigkeit. Meister Pepe hat einen besonders großen Auftrag angenommen, weswegen ich teilweise bis in die späte Nacht im Skriptorium sitzen musste. Selbst wenn ich spionieren wollte, so kam ich nun nicht mehr dazu. Es stellte sich als so viel Arbeit heraus, dass er eine Verstärkung einstellte: Brad Addison. Brad war ein recht ruhiger, ungemein großer und unbeschreiblich dünner Kerl. Er hatte etwas von einem riesigen, weißen Strohhalm mit Sommersprossen und rötlich schimmerndem Haar, langen Armen und Beinen. Wenn er eintrat, stieß er sich jeden Tag den Kopf am Türrahmen und wenn er ging, ebenso. Wir sprachen nicht viel, da der Meister es nicht guthieß, während der Arbeit zu reden, aber wir gewöhnten uns an, bis zum Platz des alten Henrys gemeinsam zu gehen. Dann erzählte er mir meist schüchtern davon, dass er Mönch werden wollte und eigentlich dort Kopist, aber dass seine Mutter verlangt hätte, dass er Geld verdienen ginge. Er hing sehr an seiner Mutter und liebte sie von ganzem Herzen, doch von seinen Erzählungen her wirkte sie eher wie ein blutrünstiger Drachen auf mich. Allem Anschein nach kratzten ihre Äußerungen sein Selbstbewusstsein an und das Schlimmste war: Keiner von den beiden merkte es. Deswegen versteckte er sich gern in Büchern und Geschichten oder klammerte sich an das Christentum. Ich war fasziniert davon, wie viel er wusste und wie sehr er sich damit beschäftigt hatte, aber zugleich mied ich es, mit ihm über die Heilige Schrift zu sprechen. Meine Unsicherheiten kamen mir strafbar vor und meine Überzeugungen blasphemisch. Alles, was ich gelernt hatte, ergab kaum noch Sinn für mich und ich musste mich zurückhalten, keine Diskussionen mit ihm zu beginnen, sondern ihn in seinem Glauben zu bestätigen. Dennoch war Brad kein Fanatiker. Nach gut einer Woche riss ich mich zusammen und beschloss, nachdem ich in der Rum-Marie zu Abend gegessen hatte, ab und an das Gatshaus von Edgar aufzusuchen. Der Genickbruchbalken war alles andere, als ein einladendes Gasthaus. Das erkannte ich schon an dem Namen, doch der Anblick bestätigte es nur umso mehr. Ich konnte nachvollziehen, wieso ein Mann wie Edgar in solch einem Haus wohnte und auch, wieso es Der Genickbruchbalken hieß. Wenn man das Gebäude betrat, führte eine dreistufige Treppe nach unten in das eigentliche Wirtshaus und über diesen Stufen hing ein großer, schwerer und viereckiger Stützbalken. An ihm wiederum hatte man drei Kränze befestigt, die, wie ich vom Wirt erfuhr, Andenken an drei Gäste waren. Jeder der Männer war betrunken die Treppe hinauf getorkelt, ausgerutscht und hatte sich beim Sturz an dem Balken das Genick gebrochen. Da jedoch dieses Holzstück angeblich sehr wichtig wäre und ohne ihn das Haus zusammenbrechen würde, konnte man es halt nicht mehr ändern. Also benannte man das Gasthaus um vom früheren Namen Zum klapprigen Tänzer in das heutige Der Genickbruchbalken, in der Hoffnung, die Trinker würden dadurch gewarnt werden. Leider ging der Plan nicht auf und so kam es, dass sich weitere Kränze sammelten, rechts und links am Türrahmen. Manchmal saß ich am Tresen und betrachtete die insgesamt acht vertrockneten Blumengestecke und dann bekam ich kaum noch etwas von meinem Getränk hinunter, aus Angst, ich wäre das nächste Opfer dieses teuflischen Gebildes. Man könnte meinen, die Gäste blieben aus bei so vielen Todesfällen und gewiss war es teilweise auch so, aber es gab einige Stammgäste, die sich einen Spaß daraus machten. Es entstanden Trinksprüche wie: „Auf dass der Balken zu krumm wird, zum treffen!“ oder „Bis dass wir so stark torkeln, dass wir ausweichen können!“ und man verabschiedete sich an so manchem Abend mit: „Grüß den Alten Brecher von mir, wenn du vorbei kommst.“, denn so hatte man den Balken mittlerweile getauft: Brecher. Ich wollte auf den Namen so wenig geben wie möglich, aber wenn ich ehrlich war, hauchte mir das Holzstück großen Respekt ein. Die Gefahr, das gleiche Schicksal zu finden, wie all die Männer, war einfach zu groß. Das gleiche galt für Edgar. Ich erkannte ihn bereits bei unserer ersten Begegnung. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als mir bewusst wurde, dass ich nicht drum herum kam, ihn zu beschatten. Edgar war ein Mann, mit dem nicht zu spaßen war und in der wenigen Zeit, in ser er sein Bier in der Schenke genoss, lernte ich ihn als Rauhbein und gefährliche Gesellen kennen. Er hatte gute Freunde, feste Freunde - Stammgäste des Lokals und Kunden seiner Angebote. Diesen gab er mitunter das eine oder andere Getränk aus, doch manchmal kam es vor, dass selbst diese ihn zu stören schienen. Dann gab es Streitigkeiten, bei denen eigentlich immer er der Sieger war und das wusste man vorne herein. Aus diesem Grund stellte sich jeder hinter ihn und egal, wer in Ungnade gefallen war, er bekam von jedem einzelnen seiner Freunde einen gebrochenen Knochen. Ich besuchte das Gasthaus gut zehn Mal und ungefähr acht von diesen zehn Malen wurde ich Zeuge einer Schlägerei. Wie sehr ich es hasste, dort zu sitzen und auch, ihm instinktiv auszuweichen. Ich hasste meine Feigheit und übertriebene Vorsicht. Ich wollte Gespräche zwischen ihm und den Gästen belauschen, aber auf keinen Fall durch seine Tritte den Tod finden. Zu groß erschien mir dieser Hüne, zu gewaltig seine Kraft. Leider nützte mir keiner der Gesprächsfetzen etwas, egal wie sehr ich lauschte und egal, wie nah ich mich an seinen Tisch heran setzte. Die meiste Zeit sprach Edgar über seine Frauen, wer gerade nichts einbrachte und wer umso mehr. Wenn er betrunken war, begann er jede einzelne zu verfluchen und ließ sich darüber aus, wie er welche zuerst zur Hölle fahren lassen wollte. Über Luke verlor er kein Wort, über Josephine nur solche, wie über jede andere Frau auch. Ich konnte davon ausgehen, dass er nichts von den Fluchtplänen der beiden wusste oder aber, er wusste, wann er schweigen sollte. Irgendwann baute ich meine Spionage aus. Am liebsten hätte ich mich auf der Tatsache ausgeruht, dass es keinerlei Zusammenhang zu den Samaritern gab, um mich möglichst weiter von Edgar fern zu halten, aber auf lange Zeit war mir das natürlich nicht möglich. Ich begann, ihn während meiner Pausen und auch außerhalb des Genickbruchbalkens zu suchen, um eine Gelegenheit abzupassen, in sein Zimmer zu schleichen. Leider war er stets dort oder aber in der Schenke genau davor. Es gab keine festen Zeiten, wann er kam und ging und ein Einbruch ohne Sicherheit auf Erfolg erschien mir unter diesen Voraussetzungen zu gefährlich. Als letzte Idee blieb mir nur noch, ihn direkt anzusprechen und vielleicht eine Freundschaft zu knüpfen, doch das war für mich fast schlimmer, als bei einem Einbruch erwischt zu werden. Ihn als Freund zu haben bedeutete, neben ihm sitzen zu müssen, Schulter-klopfen zu akzeptieren und über seine schmierigen, meist geschmacklosen Witze lachen zu müssen. Ich würde nicht behaupten, dass Edgar Humor hatte oder zumindest teilte ich diesen in keinster Weise. Eigentlich regten mich seine feindlichen Äußerungen über Gott und die Welt lediglich auf und die Vorstellung, ich müsste ihm zustimmen, lachen und ihn anfeuern zur Ermunterung, weiter zu sprechen, ließ Ekel in mir aufsteigen. So blieb vorerst nur Gilian Daly. Es dauerte nicht lange, das Geschäft von Gilian Daly zu finden und das erste Mal hatte ich direkten Kontakt mit einem Händler der Gilde. Das Goldene Glück lag auf der direkten Handelsstraße und war ein recht großes und ansehnliches Geschäft mit reicher Kundschaft und verziertem Ladenschild. Dennoch war es verrufen und man konnte beobachten, dass nur Bürger der unteren Klasse bei ihm kauften - für jene der höheren Klasse gab es extravagante Geschäfte in anderen Vierteln. Ich warf einen Blick hinein und war sofort fasziniert von den etlichen Kräutern, die er anbot. Die meisten hatte ich nie zuvor in meinem Leben gesehen und es glich einem Rausch, wenn man an jedem einzelnen von ihnen roch. Doch sobald ich mich näher mit den kleinen Dosen und Beuteln befasste, fiel mir auf, dass zwischen den Kräutern große Teile aus gemahlenem Unkraut bestanden. Gilian war ein Betrüger und die Menschen tolerierten es, denn seine Waren bekam man billiger, als woanders. Wohnen tat Gilian in einem Haus einige Straßen weiter. Es war ein recht kleines Gebäude in hellem Weiß mit rötlichem Dach und schwarz lackierten Fensterläden. Von außen hatte es eine unheimlich vornehme Wirkung, doch die Blicke, die ich gegen Abend ins Innere warf, überzeugten mich vom Gegenteil: Kahle Wände, kein Teppich, fast leere Räume. Zwar war er in der Händlers-Gilde und zahlte die regelmäßigen Beiträge, jedoch reichte das restliche Geld gerade noch, um davon zu leben. Vielleicht galt für ihn aber auch dasselbe, was für Luke gegolten hatte: Er sammelte das Geld, um Josephine davon frei zu kaufen und mit ihr zu fliehen. Mir kam der Gedanke, dass Edgar vielleicht an diesen Plänen beteiligt sein könnte. Es wäre möglich, dass seine Huren diese Spiele mit all ihren Kunden spielten, damit sie Geld sammelten. Edgar brauchte sie nur töten lassen und schon hatte er etliche Einnahmen. Gilian selbst sah man kaum an, dass er arm lebte und sicherlich Geldsorgen hatte. Er begrüßte jeden Käufer mit einem Lächeln und vor allem den Kundinnen schenkte er besonders viel Aufmerksamkeit. Auch mit mir kam er des Öfteren ins Gespräch, aus natürlicher Freundlichkeit heraus und anders, als Lukes Vater, verstand er etwas von seinem Handwerk. Er schwatzte mir die verschiedensten Dinge auf und erzählte mir Geschichten von ihren Entstehungen, dass ich dachte, mir würde schwindelig werden. Seine Vasen waren keine gewöhnlichen Vasen, nein, sie waren Vasen aus Esas! Seine Löffel waren keine gewöhnlichen Löffel, nein, sie kamen aus Otori! Ich versuchte mit ihm ins Gespräch zu kommen, um heraus zu finden, wie sein Charakter außerhalb seines Händlerlebens war, doch egal was ich ansprach, er leitete über zu einer seiner Waren. Manchmal, wenn mir die Zeit trotz der Arbeit blieb, beschattete ich ihn und versuchte, mir einen Zeitplan zu erstellen. Ich wollte wie bei Luke und seinem Vater wissen, wann er wohin ging, damit ich mir sicher sein konnte, niemand würde mich in seinem Haus überraschen. Zu meiner Erleichterung arbeitete er meistens von früh morgens bis spät in die Nacht und so hatte ich auch nach meiner Arbeit im Skriptorium viel Zeit, ihn zu besuchen. Ich suchte mir einen sehr ruhigen Tag aus und ging bereits voll ausgerüstet in den Schreibladen, um jede Minuten zu sparen. Von dort aus begab ich mich dann auf direktem Wege zu Gilians Haus. Ich passierte sein Geschäft, um sicher zu gehen, dass er wirklich dort war und während ich mich an seiner Tür zu schaffen machte, hüllte vollkommene Dunkelheit die Stadt ein. Die Laterne, die der Lampenanzünder entflammt hatte, löschte ich einfach wieder und so hatte ich keine Blicke im Rücken, bis das Schloss des Einganges leise knackte. Anschließend trat ich ein. Ich hatte kaum einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, als ich spürte, wie die altbekannte Ruhe sich über mich legte wie ein Tuch. Mein Puls schlug langsamer und meine Ohren wurden aufmerksam. Es herrschte Totenstille im gesamten Haus und nicht einmal von den Straßen drangen Laute zu mir herein. Gilians Haus bestand zuallererst aus einem einfachen Flur, von dort führte dann eine Tür in die Küche und eine Treppe in das obere Stockwerk. Oben wollte ich mich als erstes umsehen, für den Fall, dass er früher zurückkehrte, als erwartet. Leise schlich ich nach oben und sah mich dort um. Das obere Stockwerk bestand aus einem weiteren, ebenfalls sehr kleinen Flur und dem darauf folgenden Schlafzimmer. Es war mehr als nur spärlich eingerichtet, denn bis auf ein Bett und einen Nachttisch gab es nichts. Der Raum erinnerte mich an die Mönchskammern des Klosters, besonders durch den heiligen Jesus über der Tür und das kreuzförmige Gitter, das das Fenster in vier Teile unterteilte. Es fiel mir nicht schwer, alles zu durchsuchen und binnen weniger Minuten war ich bereits fertig. In Bettzeug und Matratze fand ich nichts, als Staub und Spuren dessen, was geschah, wenn man weibliche Gesellschaft hatte und im Nachttisch lag lediglich die heilige Schrift, ein Rosenkranz und etwas Kautabak. Es war ein enttäuschendes Ergebnis, mehr als das und ich machte mir sogar die Mühe, den Boden genaustens abzusuchen. Anschließend schlich ich wieder hinunter und nahm mir die Küche vor. Um sie zu betreten, musste man durch eine alte Holztür, die man mit einem Metallhaken öffnen und schließen konnte. Ich vermutete, dass dies früher einmal ein abschließbares Lager war. Auch hier gab es nicht wirklich etwas, was zu untersuchen lohnend gewesen wäre. Weder hatte der Raum einen Ofen, noch große Schränke, die Platz für Verstecke ließen. Es gab nur ein Regal mit einigem Holzbesteck, einen klapprigen Tisch und zwei Stühle. Für ein Gildenmitglied war die Wohnung eine äußerst peinliche Angelegenheit, doch dann kam mir eine Idee. Vielleicht besaß Gilian dieses Haus nur, um es der Gilde vorweisen zu können, denn für eine Mitgliedschaft war ein Haus nötig. In Wahrheit jedoch hatte er alles, was er zum Leben brauchte in den Hinterzimmern seines Lagers. Und während mir diese Erkenntnis kam, sprang mir etwas ins Auge. Eine kleine, grünliche Kiste stand an der der Tür gegenüber liegenden Wand. Ich ging darauf zu, hockte mich vor sie und nahm sie in die Hand. Das Kästchen war nicht sonderlich schwer, aber so groß, dass es meinen ganzen Schoß ausfüllte. Was auch immer in ihm war, es war wertvoll genug, damit man es einschloss. Ich begann, mich vor zu arbeiten, um die Truhe zu öffnen und im gleichen Moment, wie der Deckel aufsprang, fiel die Tür hinter mir zu. Ich fuhr sofort hoch und herum, doch das letzte was ich hörte war, wie jemand ein Vorhängeschloss an den äußeren Metallhaken klemmte. Dann drang Gilians Stimme zu mir herein: „Ha, ich habe dich! Dieb!“ Das Kästchen fiel achtlos zu Boden und ich rannte zur Tür, um sie aufzustoßen, doch natürlich gelang es mir nicht. Ich drückte gegen das Holz, klopfte und im letzten Moment hielt ich mich zurück, zu rufen: „Lasst mich raus!“ Gilian hatte mich nur von hinten gesehen, mit Kapuze und Umhang, ihm nun meine Stimme zu zeigen wäre Dummheit. Ich hörte, wie der Händler lachte. „Oh nein, du bleibst schön da drin! Ich werde dir zeigen, was es heißt, mich, Gilian Daly zu bestehlen!“ Seine Stimme war gedämpft durch das dicke Holz, trotzdem übte sie ungemeinen Druck auf mich aus. Ich begann mich hektisch im Raum umzusehen und stürzte vor zum kleinen, quadratischen Fenster. Mit einem Ruck war es offen und ich konnte auf die Straße sehen, aber auch hier gab es ein kreuzförmiges Gitter, um Einbrechern wie mir den Zugang zu versperren – oder eben den Fluchtweg. Fluchend schloss ich es und die kalte Frühlingsluft versetzte mir eine unheimliche Gänsehaut. Gilian sprach währenddessen die ganze Zeit weiter auf mich ein: „Du wirst da bis morgen früh drin bleiben, du dreckiger Dieb, verlass dich drauf und dann hole ich die Wachen! Aufknüpfen werden sie dich, mit einem Strick, an den Baum! Das hast du verdient, räudiger Hund! Niemand bestiehlt mich!“ Fast voller Hass sah ich zur Kiste, in der nichts anderes lag, als eine Pfeife, ein Beutelchen Tabak und dazu ein paar Zündholzer. Zwar sah alles sehr wertvoll aus, aber nicht wertvoll genug, mein Leben zu geben. Ich begann im Zimmer auf und ab und zu laufen und Angst stieg in mir hoch. Was, wenn die Wachen mich wirklich hier herausholten und fest nahmen? Was würde Domenico sagen? Was würde Nevar denken? Und was sollte ich tun, würde ich dadurch alles verlieren? Ich hasste mich für meinen dummen Fehler. Mit Sicherheit war Gilian ins Haus gekommen, während ich oben gewesen war und hatte sich kurzerhand hinter der Holztreppe versteckt. Ich hätte aufmerksamer nachsehen müssen, stattdessen war ich einfach in die Küche gegangen, von mir selbst überzeugt. Und nun saß ich in einem kahlen und sehr kalten Raum! Am liebsten wollte ich mit ihm sprechen, ihn davon überzeugen, dass ich nichts Böses getan hatte. Aber erstens fiel mir keine Ausrede ein, wieso ein fremder Mann sein Schloss knackte und alles durchsuchte und zweitens könnte ich mich damit verraten. Ich war als Käufer in seinem Laden gewesen, vielleicht erinnerte er sich an mich. Die Steinplatten am Boden waren fest und ließen sich weder verschieben, noch anheben und somit erlosch auch jede meiner Hoffnungen auf eine Falltür zum Keller, wie es sie in den meisten alten Küchen gab. Ich suchte die Wände ab, die Decke, und irgendwann stand ich wieder an der Tür. Verzweifelt legte ich das Ohr an das Holz und hörte, wie Gilian die Treppe hinauf ging, leise mit sich selbst redend, dann war er verschwunden. Ich rüttelte am hölzernen Griff, um das Schloss zu lösen oder den Metallriegel aus der Wand zu bekommen, aber beides war zu fest, zudem schien irgendetwas davor zu stehen. Ein erneuter Fluch, anschließend legte ich die Stirn an das Holz. Es war vorbei. Nachdem Gilian auf seinem Zimmer verschwunden war, sank ich zu Boden, lehnte den Rücken an die Tür und starrte die Küche an, als wäre sie bereits meine Gefängniszelle. Vielleicht wurde ich ja nach Annonce gebracht und dort angeklagt, überlegte ich etwas sarkastisch. Dann erkannte der Richter mich vielleicht sogar wieder und ich bekam einen gnädigen und schnellen Tod. Die Bodenfliesen waren kalt und sandig und ich spürte den kühlen Stein durch meine Hose hindurch in den Beinen, gleich einem leicht beißenden Schmerz. Ich musste mich beherrschen, nicht wieder aufzustehen und nach einigen Minuten bereute ich es, denn meine Blase begann aufgrund der Kälte zu drücken. Wütend und gereizt ließ ich meine Blicke kreisen: Ein Regal mit Tellern und Krügen, ein alter Tisch, zwei Stühle und die verfluchte Kiste. Mehr gab es nicht, das war doch nicht möglich! Wenn es wenigstens eine Metallkelle geben würde, mit der ich das Fenstergitter aufstemmen könnte, aber wozu? Gilian hatte keinen Ofen, in dem er kochen könnte und essen tat er sicherlich in einem Gasthaus. Ich hatte verloren. Ich hatte verloren und nun war es vorbei. Man würde mich abführen und mein Zimmer durchsuchen und somit auf meine Unterlagen stoßen. Mit Sicherheit würde man Domenico ansprechen, schließlich hatte er für mich gebürgt und wieso sollte ein Mann wie er einen Nichtsnutz wie mich schützen? Er würde ihnen sagen, dass ich Sullivan O'Neil war, der Frauenmörder aus Annonce und sicherlich würde es für mich nicht einmal mehr eine Verhandlung geben. Sie würden mich zu Tode prügeln oder aufknüpfen, so, wie es Gilian gesagt hatte. Nach gut einer viertel Stunde fuhr ich hoch. Ich hielt die Gedankengänge nicht mehr aus, die Vorstellungen so zu enden wie all die anderen Verbrecher. Ich wollte nicht sterben und ich wollte auch nicht in einen Turm eingesperrt werden und dort betteln. Ich rüttelte wieder an der Tür, drückte mich gegen sie und versuchte dann mit dem Messer den Metallhaken, der das Schloss hielt, aus der Wand zu kratzen. Es war mühsam, denn meine Hand passte nicht durch den Spalt und ich musste sie flach zwischen Tür und Wand legen, in der Hoffnung, meine Waffe nicht fallen zu lassen. Stück für Stück gelang es mir, etwas von dem Mauerwerk ab zu kratzen und feiner Sand rieselte zu Boden. Dann schrie ich auf. Gilian war die Treppe herunter geschlichen und hatte mit voller Wucht gegen die Tür geschlagen. Mein Messer fiel zu Boden und schmerzerfüllt umklammerte ich meine drei mittleren Finger. „Nichts da! Du bleibst da drin, habe ich gesagt!“, fuhr er mich durch die Tür an und mit einem weiteren Tritt gegen die Tür untermalte er seine Aussage noch einmal. Ich unterdrückte ein Wimmern und starrte auf meine linke Hand. Die Knickstellen meines Zeige-, Mittel- und Ringfingers begannen leicht blau zu werden und mir schossen Tränen in die Augen, als ich sie zu biegen versuchte. Zumindest kein Bruch, tröstete ich mich, hielt den Schmerz aber kaum aus. Ich legte den Kopf in den Nacken und biss die Zähne zusammen, um es irgendwie zu ertragen, dann hockte ich mich hin und legte sie auf den eiskalten Steinboden. Gilian knurrte dicht an der Tür: „Ich habe jetzt keine Zeit dafür, verdammt noch mal! Vielleicht sollte ich dich für immer da drin lassen! Verhungern wirst du!“, dann hörte ich, wie er wieder hoch ging, wesentlich schneller als zuvor. Mit jeder Sekunde, in der meine Fingergelenke an Schmerz zunahmen, wuchs mein Hass auf Gilian und ich verfluchte ihn. Der Händler kam wieder hinunter geeilt, dann hörte ich mit an, wie er hinaus ging und die Haustür ins Schloss fiel. Ohne nachzudenken eilte ich zum Fenster, um zu lauschen. Gilian ging, wohin wusste ich nicht, aber ich konnte es mir denken. Er bekam es nun doch mit der Angst zu tun und er wollte die Wachen bereits jetzt holen, statt am nächsten Morgen. Wütend ging ich zurück zur Tür, um meinen Fluchtversuch weiterzuführen, doch meine Hand schmerzte zu sehr und mit der rechten schaffte ich es nicht, den Riegel zu erreichen. Wie ich diesen Mann hasste! Auch ich trat gegen die Tür, immer und immer wieder, nahm Anlauf und warf mich gegen sie. Vielleicht würde ein starker Ruck helfen, das Metall aus der Mauer zu schleudern und ich stürzte in den Flur? Egal wie sehr ich es versuchte, mehr, als eine schmerzende Schulter, brachte es mir nicht. Irgendwann keuchte ich und ließ mich wieder gegen das Holz sinken. Ich musste hier raus, dringend, so schnell es ging. Was würde Nevar an meiner Stelle tun? Nevar wäre sicherlich nicht in diese missliche Lage geraten, also war diese Frage unsinnig. Erschöpfung machte sich in mir breit und unheimliche Müdigkeit trat an die Stelle meiner Wut und meines Zornes. Ich spielte mit dem Gedanken, mich hin zu legen und zu schlafen, entkommen konnte ich ja doch nicht mehr. Wieder sank ich auf den Boden und spürte den Stein durch meine Hose hindurch und meine Waden zogen etwas unter der Kälte. Was sollte ich tun? Dann kam mir eine Idee. Im Kloster hatte ich einst einen Kuhfuß gesehen, den die Handwerker benutzten, um Nägel aus Holzbalken heraus zu ziehen. Dabei handelte es sich nicht um den Fuß eines Tieres, sondern um ein langes Metallwerkzeug, an dessen Ende zwei Kuhfußähnliche Zacken waren, zwischen welche man den Nagel klemmen konnte. Anschließend drückte man das lange Ende einfach hinunter und ohne großen Kraftaufwand war der Nagel befreit. Ich verstand nicht ganz wieso, aber mir war bereits öfters aufgefallen, dass bei Werkzeugen mit langen Stielen meist viel weniger Kraft von Nöten war. Wenn ein Schmied ein Stück Metall zerschneiden wollte, benutzte er Zangen, die so lange Arme hatten, dass er sie mit beiden Händen greifen musste. Wenn man schwere Lasten tragen wollte, benutzte man Schubkarren, mit langen Armen und einem Rad fast am anderen Ende der Konstruktion. Schlug man Nägel in einen Holzbalken oder eine Wand, griff man zu einem Hammer mit langem Stiel. Für mich war es zu schwer, die Tür mit der Wucht meines Körpers aufzustoßen, aber vielleicht könnte es mir gelingen, wenn ich etwas fand, was nach dem gleichen Prinzip arbeitete, wie all diese Geräte. Ich wünschte mir für einen Augenblick, einen Handwerksberuf gelernt zu haben, der mir ermöglichte, all diese Dinge zu verstehen. Hätte ich weniger Zeit schlafend in der Bibliothek verbracht und stattdessen in einem Handwerkshaus des Klosters, dann hätte ich sicherlich mehr gewusst und wäre nicht auf die dumme Idee gekommen, mir die Pfeife zu nehmen und sie zwischen Tür und Wand zu stecken. Aber ich hatte nun einmal so viel Zeit damit verbracht. Und so zwang ich das lange Mundstück in den Spalt, grinste, da es mir logisch erschien dieser kleine Hebel würde meine Kraft nun magisch irgendwie bündeln und mit einem Ruck hielt ich den abgebrochenen Pfeifenkopf in der Hand. Es klapperte, als der Stiel zu Boden fiel und irgendwo im Flur landete. Fluchend warf ich den Kopf auf den Küchenboden, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich ging im Raum umher, als würde eine Metallstange irgendwo auftauchen, wenn ich sie nur gut genug suchte, dann erstarrte ich. Schritte hallten durch die Straße. Ich ging ans Fenster, öffnete es einen Spalt und hielt den Atem an, um alles zu hören, was es zu hören gab. Ungefähr drei Personen liefen dem Haus entgegen, passierten es dann aber und gingen lachend weiter. Drei Angetrunkene, die sich leise darüber unterhielten, dass ein Hafen Brehms viel berühmter machen würde, man müsste nur einen künstlichen Fluss legen. Ich fand den Gedanken sehr interessant, denn man konnte schließlich ein Feld mit Gräben bewässern, wieso also keinen künstlichen Fluss bauen? Doch ich zwang mich, später meine Zeit damit zu verschwenden. Als erstes musste ich hier raus. Mein Blick fiel auf die Stühle, dann auf den Tisch und als letztes auf die dünnen Tischbeine. Ohne zu Zögern und wie ein Verrückter griff ich einen der Stühle und schlug mit voller Kraft auf die Tischplatte. Es donnerte, dann krachte es und Holz fiel zu Boden. Als erstes flogen die Stuhlbeine ab, als zweites brach der Tisch einfach in sich zusammen. Das Donnern klang noch immer in meinen Ohren, als ich die Holzstücken achtlos beiseite warf und versuchte, eines der Beine zu lösen. Wie ein Besessener rüttelte ich, trat gegen die Plattenreste und stellte mich letzten Endes drauf, um mit Biegen und Drehen das Bein zu lösen. Das Gestell war alles andere, als gut verarbeitet, aber die Nägel lagen lang und tief im Holz. Meine blau-lila-farbenen Finger schmerzten dabei und ich wagte es weder, sie zu knicken, noch zu strecken. Als ich das Bein dann in der Hand hielt, rammte ich mich gegen die Tür. Ich warf mich dagegen, so oft ich konnte, wechselte die Seiten und fuhr fort. Ich musste hier raus, dringend, viel Zeit blieb mir nicht mehr. Umso heftiger mein Körper gegen die Tür knallte, desto mehr löste sich der Riegel aus der Wand. Ich würde es nicht schaffen, ihn ganz hinaus zu stoßen, aber ich schaffte es zumindest nach gut fünf Minuten, einen größeren Abstand zu schaffen. Mit einem harten Ruck beförderte ich das Bein zwischen Tür und Wand, wie zuvor die Pfeife, dann zog ich es vorsichtig nach rechts. Ich traf auf Widerstand und das Holzbein knackte bedrohlich. Unsicher schob ich es etwas tiefer durch den Spalt und versuchte es erneut. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Holz ansetzen musste, damit es funktionierte, doch nach einigem Hin und Her gelang es mir etwas besser. Ich hörte Sand rieseln und begann zu grinsen. Der Riegel ließ sich Stück für Stück immer mehr aus der Wand ziehen. Irgendwann dann hatte ich es fast geschafft, doch das Holz reichte nicht mehr, um die Tür weiter zu öffnen. Ich warf es beiseite und begann wieder, mich gegen die Tür zu stemmen. Ein leises Krachen, dann stürzte ich einen erschrockenen Schrei unterdrückend in den Flur. Ich fing mich kurz vor dem Boden, taumelte und bliebt stehen, um zu lauschen. Die Küchentür knallte währenddessen gegen die Wand, der Riegel quietschte leise, seiner Halterung beraubt und der Nachttisch, den Gilian vor die Tür gestellt hatte, war umgefallen. Das liegende Messer hob ich auf und steckte es zurück in meinen Gürtel, die Pfeifenreste ignorierte ich. Ohne weitere Zeit zu verlieren wollte ich den Rückzug antreten, doch natürlich war die Haustür nicht offen. Gilian hatte sie zugeschlossen, für den Fall, dass ich doch irgendwie hinaus kam. Fluchend rüttelte ich an ihr, in der Hoffnung, sie würde doch irgendwie aufgehen, danach zwang ich mich zur Ruhe. Ich musste mich zusammenreißen. Ein Mann, der panisch und schweißgebadet durch die Stadt rennt war auffällig, besonders, wenn man ihn suchte. Schweigend machte ich mich daran, das Schloss irgendwie zu öffnen und wünschte mir, Gilian würde den Tod finden, ähnlich wie Luke. Meine Hand pulsierte leicht und er allein war schuld daran. Alles hatte einwandfrei funktioniert, hätte dieser Idiot nicht kurz nach meinem Passieren den Laden verlassen. Es fiel mir schwer, die Tür zu öffnen aufgrund meiner Finger und meine Nervosität ließ meine Hände leicht zittern. Mehrmals fiel mein Werkzeug zu Boden, rutschte ich ab oder ich bewegte meine kaputten Finger, was mir einen unbeschreiblichen Schmerz bescherte und ehe ich mich versah, hörte ich erneut Schritte. Ich redete mir ein, es wären wieder die jungen Männer, doch sie kamen bedrohlich näher und binnen weniger Sekunden waren sie unmittelbar vor der Tür. Es dauerte, bis ich verstand, was genau eigentlich los war. Ich stand auf, starrte die Tür an und schluckte schwer. Durch das Holz drang Gilians Stimme, wie er sagte: „Ich habe ihn in die Küche gesperrt.“, dann fummelte er an seinem Schlüsselbund herum. Ein weiterer Mann knurrte: „Gute Arbeit, Mister Daly. Wir werden ihn gleich mitnehmen.“ „Das hoffe ich. Ich dulde keine Diebe in meinem Haus.“, und mit diesen Worten steckte er den Schlüssel ins Schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)