Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 18: Viele Warnungen und Ratschläge ------------------------------------------ Ich wandte mich irgendwann ab und ging in den Tunnel zur Rum-Marie. Umso näher ich kam, desto wärmer wurde es und das Gefühl der Heimkehr überkam mich. Ich fühlte mich wohl und ich mochte es, die Tür zu öffnen, den Blechkrug klimpern zu hören und den Geruch von warmen Speck zu riechen. Ich mochte die Rum-Marie, mein Zuhause und Brehms. Sollte ich das wirklich alles aufs Spiel setzen? Es erschien mir absurd, für etwas zu kämpfen, vor was ich fliehen musste. Tat ich das nicht? Kämpfte ich nicht dafür, dass Menschen wie O'Hagan nicht an Macht verloren? Ich konnte mir damit eine eigene Zukunft aufbauen, ein Leben in Freiheit, aber würde ich mich damit wirklich frei fühlen? Würde ich mich wohl fühlen, mit einem Leben als Verräter? Denn es war nichts anderes als Verrat. Allerdings, wenn es stimmte, was Domenico sagte, dann hatte Annonce die Chance, zu einer Stadt wie Brehms heran zu wachsen. Die Inquisition konnte nicht schlecht sein, wenn durch ihr Handwerk ein Ort wie diese Stadt entstand, sauber, voller Kunst und fast gewaltfrei. Als ich mein Zimmer betrat, fand ich zwei Briefe auf meinem Kopfkissen vor. Mir war klar, dass sie von Nevar stammten und es verwunderte mich, dass sie bereit lagen, obwohl niemand hatte wissen können, dass ich weiterhin für Domenico arbeiten wollte. Wie ich es mir gedacht hatte, handelte es sich um Aufzeichnungen über Edgar und Gilian. Seufzend ließ ich mich auf die Strohmatratze sinken und öffnete sie nacheinander. Im ersten Brief ging es um den dreiundvierzigjährigen Mann namens Edgar Lynch. Er war kinderlos, so wie unverheiratet und galt als Hurenbock. Wohnen tat er im oberen Stockwerk des Gasthauses Zum Genickbruchbalken. Ich stutzte etwas über den Namen, dann las ich weiter. Er unterhielt geschätzt zehn Frauen, jedoch war diese Hurerei nicht gemeldet. Als Anmerkung wurde erwähnt, dass Edgar regelmäßig Informationen über manche seiner Kunden preisgäbe, weswegen ich es vermeiden solle, einen Wachmann in irgendeiner Weise auf ihn aufmerksam zu machen. Er galt als wichtiger Informant und durfte unter keinen Umständen Schaden nehmen. Sollte er sich als Samariter herausstellen, galt es, umgehend mit Domenico Rücksprache zu halten. Er galt als brutal, schnell reizbar, jähzornig, unberechenbar und falsch. Mir blieb demnach nichts anderes übrig, als ihn auszuspionieren oder in seinen Zimmern herum zu schnüffeln. Eine Befragung dürfte sich bei einem Mann seines Kalibers sicherlich als schwierig herausstellen. Ich stellte mir einen großen, muskulösen Kerl vor, der Frauen in Wirtshäuser prügelte und sich mit jedem schlug, der es drauf anlegte. Morgan war laut meiner Vorstellung nichts gegen ihn und selbst mit dem bin ich kaum allein fertig geworden. Ich wollte jeden direkten Kontakt mit ihm vermeiden, so weit es ging. Im zweiten Schreiben ging es um Gilian Daly. Über Gilian gab es viel zu sagen, so hatte es zumindest den Anschein, denn vor mir lag die gesamte Biografie des siebenundzwanzigjährigen Mannes. Sie begann in einem Dorf namens Caysale, nicht weit entfernt von Annonce, wo er als Junge eines Bauern zur Welt kam. Dieser war der gute Freund eines Händlers namens George Fynn, der den jungen im Alter von neun Jahren mit auf eine Händlerreise nahm, um aus ihm einen anerkannten Kaufmann zu machen. Das Kind erwies sich jedoch als äußerst untalentiert. Durch einen Überfall verlor der Händler letzten Endes sämtliche Waren und kam ums Leben, der junge Gilian überlebte als einziger und irrte ziellos in St. Katherine umher von Stadt zu Stadt. Aus Angst vor der Strafe seines Vaters, da er nach drei Jahren noch immer nichts erreicht hatte, arbeitete er in verschiedenen Gasthäusern und Schenken, sparte sich ein kleines Vermögen zusammen und versuchte sein eigenes Glück als Händler. Natürlich schaffte er es nicht, Profit zu machen. Im gleichen Jahr starb sein Vater, sein letztes Familienmitglied und er verkaufte sämtlichen Besitz der Familie, inklusive Haus, Tiere und Land. So bekam er eine zweite Chance und arbeitete sich stückweise mit den Waren hoch. Mittlerweile galt er als zweitklassiger Verkäufer und wurde von den meisten anderen gemieden, da seine Waren oft gefälscht waren. Er hatte ein eigenes Geschäft mit dem Namen Goldenes Glück. Gilian Daly war der größte Rivale von Luke gewesen, denn Luke und er wandten meist die gleichen Methoden an, um an Geld zu kommen. Sein Charakter wurde in etwa – wenn auch nicht wortwörtlich - wie folgt beschrieben: Ein absoluter, durchtriebener Pechvogel. Als letztes gab es noch genauere Beschreibungen zu seinem Aussehen. Seufzend schloss ich die Briefe wieder und legte sie unter mein Kopfkissen. Verbrennen würde ich sie erst am Morgen, jetzt brauchte ich Ruhe. Keiner der beiden Männer lockte mich wirklich an und weckte in mir das Gefühl, aufzustehen zu wollen und sich auf ihr Privatleben zu stürzen. Mir erschien es verquer, schon wieder Menschen zu belauschen, die mich nicht interessierten und Dinge herauszufinden, die mich nichts angingen. Ich wollte das nicht. Umso länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass ich diese Arbeit zu hassen begann. Ob es Nevar wohl Spaß machte? Ich legte mich ins Bett, ohne mit jemanden zu reden und spürte noch vor dem Einschlafen einen unglaublichen Schmerz im Kopf. Er hielt bis zum Morgen an und das pochende Gefühl in meinen Schläfen begleitete mich durch den gesamten, darauf folgenden Tag. Es fiel mir schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und meine Augen schienen unter den Schreibaufgaben mehr zu leiden, als mein müdes Handgelenk. Meister Pepe bemerkte meinen Zustand, aber selbst er verlor langsam seine Geduld mit mir. Meine häufige Müdigkeit und meine Gedankengänge begannen, meine Arbeit zu beeinflussen. Ich vertauschte Buchstaben oder verrutschte in Zeilen, manchmal nahm ich die falsche Tinte oder stellte mich schon beim Zusammenmischen dieser völlig unfähig an. Ich sah in seinen Blicken, dass er meine Arbeiten nicht mehr gut hieß und dass ich mich anstrengen musste, wollte ich meine Arbeit bei ihm behalten, auch wenn er es nicht direkt sagte. Dieser zusätzliche Druck bereitete mir noch mehr Kopfschmerzen, als ohnehin schon. Was sollte ich tun, wenn ich meine Stelle bei ihm verlor und wie sollte ich es schaffen, nebenbei Informationen über Edgar oder Gilian herauszufinden? Gegen Abend hin dann ging ich auf einem langen Spaziergang nach Hause, da ich die Hoffnung hatte, die frische Luft würde meine Schmerzen etwas mildern. Mich beschäftigte die Frage, was geschehen würde, würde Domenico sterben. Er war ein alter Mann, sogar sehr alt. Was, wenn er einfach weg war? Wem diente ich dann? Der Deo Volente, so wie Nevar? Bis auf ihn und Domenico kannte ich niemanden von dort. Was sollte ich tun, wenn der Rest gar nicht einverstanden mit dem Handeln des Alten war und nach fast einem Jahr würde er unsere Welt verlassen und ich stand alleine da? Ich hatte dann noch immer keinen Freispruch von meinen Sünden. Allerdings, und dieser Gedanke gefiel mir, hatte ich dann noch immer die Geburtsurkunde als Falcon O'Connor. Nevar würde mich sicherlich nicht verraten und ich könnte, wenn die Deo Volente vielleicht nicht einmal etwas von mir wusste, einfach als Falcon weiter leben. Ich ging gedankenverloren den Marktplatz entlang und musterte jeden einzelnen Stand. Wenngleich ich mich an die Stadt Brehms gewöhnt hatte und ihre Architektur und Bauwerke immer mehr an Zauber verloren, so waren die vielen Stände mit ihren fremden Menschen und Waren noch immer etwas Besonderes für mich. Ich liebte es, Neuartiges zu entdecken, das ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Seien es Früchte, Schmuckstücke oder Tonwaren, es gab so vieles. Mit der Zeit glichen die Stände immer mehr den anderen und der Reiz, an jedem anzuhalten um zu gucken schwand, aber umso mehr machte es Spaß, nach neuen Dingen Ausschau zu halten. Ohne es zu merken ließ ich eine längere Strecke hinter mir, als jemals zuvor. Ich sah mir sogar die hintersten Stände an und bog in mir unbekannte Gassen ein, nicht wissend, wohin genau ich eigentlich wollte. Ich passierte die Stadtmauer, lief sie einige Zeit entlang und schlenderte durch die ärmlicheren Viertel. Der schwindende Winter ließ die Sonne länger scheinen und lange Zeit genoss ich es, wieder einige ihrer Strahlen auf meinem Gesicht zu spüren. Ich kam vorbei an einigen Bettlern, die mich anflehten, ihnen etwas Geld oder Essen zu geben, meist Frauen und Kinder mit verstümmelten Armen oder Beinen; ich sah einen Maler, der sein Glück versuchte, indem er die verschiedensten Dinge aufzeichnete, von Katzen bis hin zu jungen Waschweibern; eine tanzende Zigeunerin mit ihrem kleinen Bruder, der auf einer Holzflöte spielte ließ mich kurze Zeit innehalten und irgendwann erhob sich gigantisch hoch ein steinerner Turm vor mir. Ich hatte das Ende der Stadt erreicht, das wurde mir nun umso bewusster. Ich legte den Kopf in den Nacken und musterte das zylinderförmige Gebäude, mich fragend, was genau es wohl war. Dass es eine Art Gefängnis darstellen sollte, war mir bewusst, mehr aber auch nicht. Die wenigen Fenster waren vergittert und das Dach lief spitz zu, so hoch, dass ich sie von meiner Position aus nicht erkennen konnte. Der Turm verlief weiter in den Stadtwall hinein und verschmolz mit ihm, als hätte man die Mauer und das Gebäude gleichzeitig gebaut. Schweigend ging ich daran vorbei, grüßte höflich die zwei positionierten Soldaten am Eingang und warf einen Blick zu den sich am Boden befindenden Fenstern. Ich erkannte zwei Arme, die sich zwischen die Gitterstäbe drängten, die Hände aufhielten und eine krächzende Stimme verlangte kaum hörbar: „Eine Spende. Man hat mich reingelegt, eine Spende. Ich bin zu unrecht hier, bitte, eine Spende.“ Nun verstand ich: Es war der Schuldturm. Jene, die ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, wurden hier eingesperrt, bis die Beträge beglichen waren. Ein kurzer Blick zu den Wachen, der mir zeigte, dass diese die Frau nicht einmal beachteten. Wahrscheinlich war sie nicht fähig, das Geld abzuarbeiten, also durfte sie betteln, bis sie den Betrag beisammen hatte. Ich hockte mich zu ihr und sofort packte sie mein Hosenbein. Ich sah schrammen auf ihrer rauen Haut, blaue Flecken und ihre Knochen traten leicht hervor. Zwischen den Gittern sahen mich helle, blaue Augen an aus einem verdreckten, schwarz gefleckten Gesicht mit wirrem, hell weißem Haar an. „Eine Spende, ich bitte Euch!“ „Sagt mir, was geschehen ist.“, bat ich sie ruhig, ihre dreckige Hand ignorierend. Ihr Alter musste um die fünfzig sein, ihre Haut war unter dem Schmutz faltig und mit Altersflecken übersäht. Die Frau krächzte wie im Wahn: „Mein Mann und ich wurden herein gelegt, mein Herr, bitte glaubt mir! Wir sind ehrenhafte Leute, wir haben nichts Böses gewollt, bei der Jungfrau Maria! Betrunken gemacht hat er meinen Mann und dann seinen Namen unter den Vertrag gesetzt. Niemals haben wir ihn gesehen, ich gebe Euch mein Wort, beim heiligen Jesu'!“, ihr Griff wurde etwas fester. „Nun müssen wir dreihundert Goldstücke zahlen, der Herr, dreihundert! Dabei besitzen wir nicht einmal zwanzig Silberlinge, von denen man leben könnte. Eine Spende, ich bitte Euch!“ „Wo ist Euer Mann jetzt?“, hakte ich nach und löste mich nun doch etwas, da ihre langen Nägel schmerzten. Ich bekam Mitleid mit der Frau und es wurde mir unangenehm, ihr so nahe zu sein. „Im Tretrad der Mühle, Herr, er arbeitet für unsere Freiheit, wie ein frommer Mann es tut.“ „Wenn das so ist, will ich Euch helfen. Wer sich nicht selbst aufgibt, ist sich meist keiner Schuld bewusst.“ Ich richtete mich wieder auf, griff in meine Tasche und zog einige Silberlinge hervor. Einer der Soldaten warf mir einen kurzen Seitenblick zu und nachdem er gesehen hatte, dass es nur Geld war, nickte er zum Zeichen seiner Erlaubnis. Kaum hatte die alte Frau das Geld in ihrer Hand, packte sie meine Hose erneut und riss mich zu sich. Es wirkte, als hätte sie Angst, ich würde gehen, ohne ihren Dank zu hören. Gefügig ließ ich mich wieder sinken, nun griff sie meine Hand. „Eure Güte ist unendlich, mein Herr. Größer, als die des Allmächtigen, der mich so hart bestraft!“ Ich schwieg einige Sekunden lang, nicht wissend, was ich sagen sollte. Es schien mir falsch, mich als gütiger hinzustellen, als der Herr persönlich es war. Dann flüsterte ich: „Die Güte des Herrn reicht so weit, wie der Himmel, Weib. Meine jedoch nur bis zu diesem Gitterfenster. Hättet Ihr verwildert vor mir gestanden, ich hätte Euch nichts gegeben. Was mir leid tut, sind Eure Arme, mehr nicht.“ Sie ließ nicht los und ihre blauen Augen wurden wissend. „Ihr seid einer aus Annonce, das hört man.“ „Vielleicht.“, gab ich zu. „Ein Gelehrter? Mönch vielleicht.“, in die Stimme der Gefangenen mischte sich Spott. „Gewiss gebt Ihr mir Geld, dass Eure Sünde Euch vergeben wird. Richtig?“ „Ihr werdet höhnisch.“, stellte ich fest, griff ihre Hand und versuchte sie zu zwingen, los zu lassen. „Ich habe Euch gerade ein Stück Eurer Freiheit gegeben, Ihr solltet dankbar sein, statt voller Hohn.“ „Ich bin nicht höhnisch.“, zischte sie mir zu, ihr Griff wurde fester. „Hört mich an. Wenn ihr wirklich ein Mönch seid, so folgt Ihr dem falschen Glauben.“ „Ach ja?“, ich gab nach. Nun hörte ich ein Grinsen. „Oh ja. Gott hat uns verlassen, seht mich an. Ich habe nichts getan und werde gestraft für mein Sein, ist das Rechtens? Das ist niemals rechtens, da sind wir uns einig. Ich bin nur ein Weibsbild, das gebe ich zu, aber eines weiß ich: Recht ist das nicht.“ „Wenn Euer Mann trinkt und Euch in Schuldschaft bringt, dann ist es richtig, dass Ihr dafür zahlt.“, sagte ich ernst. „Ich sehe keinen Zusammenhang zum Allmächtigen. Lasst mich los.“ „Hört mich an.“, forderte sie erneut. Der Wachmann warf uns einen mürrischen Blick zu, das Gespräch dauerte ihm zu lange, mir ebenso. Es wurde mir unangenehm und ich bereute es, mich zum Fenster gehockt zu haben. „Der Herr im Himmel ist gütig, Ihr sagtet es selbst. Sieht dies hier wie Güte für Euch aus?“ Ich schwieg abermals und umfasste ihre eiskalte Hand etwas fester, damit sie los ließ. Nachdem ich frei war, knurrte ich gereizt: „Was soll das, wollt Ihr mich zur Ketzerei verführen und mich mit in Euren gottlosen Abgrund ziehen?“ „Sieht so Güte für Euch aus?“, wiederholte sie nur. Ein leiser Seufzer meinerseits. „Ihr habt Böses getan, nun müsst Ihr Euch davon befreien, so ist es eben.“ „Ich sage, der Herr bestraft uns nicht, er belohnt uns.“, zischte sie mir zu. „Ich glaube, die Güte des Herrn geht über Seelenheil hinaus. Ich glaube, ich muss nicht Buße tun, um rein zu werden. Ich glaube, ich muss nur lieben und ehren.“, sie hielt inne, doch da ich nichts sagte, erklärte sie mir: „Hör mir zu, Mönch, du hast ein offenes Ohr dafür. Sonst wärst du gegangen und hättest mir keine Beachtung geschenkt. Hör mir zu und verstehe.“ „Ich bin kein Mönch und Ihr habt kein Recht, mich so anzureden.“, sagte ich genervt und wollte aufstehen, doch etwas in mir hielt mich auf. Ich wollte weiter lauschen, was sie mir zu sagen hatte. Die Hexe erklärte leise: „Es ist gelogen, was man uns sagt, dass wir fromm sein müssen durch und durch und sonst in die Hölle kommen. Gott ist Gott, wir sind nur Menschen. Er ist unfehlbar, wir aber nicht. Ich sage, es ist richtig so, dass wir Fehler tun, da wir Menschen sind. Und nun geh. Und dann komm wieder zu mir, gib mir etwas Essen und Geld. Vergiss nicht, wir sind Bruder und Schwester, du und ich. Geh und denke darüber nach, mein Junge, du wirst sehen, wie ich Recht habe.“ „Vielleicht habt Ihr das, vielleicht nicht.“, zischte ich ernst und beugte mich ein Stück näher. „Aber gewiss kommen diese Gedanken nicht von einem dummen Weibsbild wie dir. Wer hat dir diese Sachen gesagt?“ Sie grinste und hielt mein Hosenbein. Nun, wo ich etwas näher war, erkannte ich ihren fast zahnlosen Mund. Über ihre linke Wange kroch eine Fliege, die sie nicht einmal zu bemerken schien und ihre Augen waren glasig und feucht, aufgrund von Krankheit. „Er wird uns befreien, das ist wahr, aber eines ist doch sicher: Alle Menschen sind gleich, egal ob Priester oder Bauer.“ „Wer dir das beigebracht hat, will ich wissen!“, wiederholte ich abermals. Das Weib ließ mich los und ihre Arme verschwanden im Turminneren. Ich blieb lange hocken und wartete, doch sie kehrte nicht zurück. Es war offensichtlich, dass ich es mit einer Vertreterin des Irrglaubens zu tun hatte, den die Samariter verbreiteten, doch diese Tatsache brachte mir nichts, wenn zwischen ihr und mir eine dicke Steinwand war. Nach einigem Warten verabschiedete ich mich höflich von den Wachen und ging weiter. Die Worte der Frau konnte ich nicht vergessen, auch wenn ich unschlüssig war, ob ich es mit einer Verrückten zu tun hatte. Ich beschloss den Heimweg anzutreten, denn das Dämmerlicht verriet die baldige Nacht und es dauerte nicht lange, da sah ich bereits den Lampenanzünder. Ich beobachtete, wie er von Laterne zu Laterne ging oder zumindest zu denen, die nicht zu den Geschäften oder Wohnhäusern gehörten, denn um diese kümmerten die Bewohner sich selbst. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass hier alles seine Ordnung hatte. Schuldner wurden nicht zu Tode geprügelt und ihr Hab und Gut einfach konfisziert, nein. Sie wurden eingesperrt und bekamen das Recht, sich frei zu kaufen, mit dem Bezahlen ihrer Schulden. Ketzer wurden nicht hingerichtet und öffentlich zur Abschreckung ausgehängt oder eingesperrt, sondern wurden verurteilt, getötet und beseitigt. Es war durch und durch eine angenehmere Atmosphäre, als in Annonce. Die alte Frau ging mir nicht mehr aus dem Kopf und meine Gedanken schwirrten zwischen der Deo Volente und den Samaritern hin und her. Vielleicht irrte ich mich auch und sie hatte mit der blasphemischen Gruppierung nicht das Geringste zu tun. Vielleicht war sie eine Hexe, wie all die anderen auch und sonst nichts weiter. Aber auf jeden Fall hatte sie Unrecht. Es erschien mir falsch, über ihre Worte nachzudenken, also zwang ich mich, sie aus meinem Hinterkopf zu vertreiben. Ich hätte nicht zuhören sollen und nun sollte ich auf keinen Fall darüber nachdenken, was ich gehört hatte. Wenn sie Schuld trug, so verdiente sie Strafe. Ich brauchte länger, den Heimweg zu finden, als geplant, da ich mich verlief und kurzzeitig in einem Nebenviertel umher irrte, für das es nur einen Ein- und Ausgang gab. Es war irritierend hinter jeder Ecke nur eine Sackgasse zu finden und erst nach einer halben Stunde zu merken, dass ich mich in einem Hufeisenförmigen Häuserbezirk befand. So lange ich auch bereits in Brehms lebte, vieles erschien mir noch genauso fremd wie am ersten Tag. Doch durch meine dauerndes Abschweifen vom Weg traf ich auf jemanden, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich war gerade dabei, den kompletten Weg zurück zu gehen, um endlich dem Wirrwarr aus alten Gebäuden zu entkommen, da erblickte ich eine Gestalt etwas weiter hinten am Straßenende. Ein junger Mann mit bräunlichem Haar und Ohrring in der Ohrmuschel – Slade. Der Mann, dem ich bei meinem Einbruch in den Allerlei-laden begegnet bin. Die Wachmänner hatten ihn gesucht, da er im Kupferfachhandel nebenan gestohlen hatte und nun lief er gemächlich vor mir die Straße entlang und bog in die nächste Ecke ab. Ich fackelte nicht lang, sondern setzte mich in Bewegung und vergaß die Rum-Marie und auch die alte Frau. Neugierde beherrschte mich und so begann ich eine Verfolgung. Slade ging quer durch alle möglichen Gassen und seine Wege schienen auf mich kaum Sinn zu machen. Es wirkte, als wüsste er selbst nicht, wohin er eigentlich wollte, aber das machte es umso interessanter. Vielleicht wollte er sich heimlich mit jemandem treffen und mich abhängen, vielleicht plante er wieder einen Einbruch? Es wurde immer dunkler und kurz glühte der Himmel zwischen den Häusern sanft orange, ehe die Sonne vollkommen verschwand. Slades Gestalt wurde schwerer zu erkennen und ich musste den Abstand zwischen uns verringern. In meiner Fantasie führte er mich in das illegale Viertel, dass es in fast jeder Stadt gab. Dorthin, wo ich Edgar fand und dorthin, wo die Samariter lebten. Slade war ein Dieb, ein Verbrecher und es konnte hilfreich sein, durch ihn Hehler oder andere dieser Klasse zu finden. Wo fand man bessere Informationen, als im Nest der Gesetzlosen? Doch dann verschwand er. Verwirrt stand ich mitten in einer Sackgasse, umgeben von drei Häuserrücken, so hoch, dass ich nicht einmal den Himmel mehr sehen konnte. Ich sah mich unsicher um, doch es gab weder Türen, noch niedrige Fenster. Slade hatte sich in Luft aufgelöst. Weder gab es große Schatten, in denen er sich verstecken könnte, noch Tonnen, Kisten oder Dreckhaufen. Ich seufzte schwer, hatte ich mich verguckt? War er woanders abgebogen und ich hatte einen imaginären Schatten verfolgt? Hatte ich geträumt und nicht aufgepasst, wo er lang gegangen war? Jemand riss mich herum und versetzte mir einen Fausthieb, der mich von den Füßen warf, mehr aus Schreck, als aus Schmerz heraus. Ich landete unsanft auf meinem Hinterteil und verwirrt guckte ich mitten auf Slades Messerspitze. Dieser ließ den Stoffsack neben sich fallen, mir die Waffe demonstrativ entgegen haltend und fragte zischend: „Wieso verfolgt Ihr mich?!“ Sofort hob ich die Hände. „Ich verfolge Euch nicht.“ „Ihr seid ein Meuchler.“, zischte er mir entgegen und drehte kurz das Messer in seiner Hand. „Also? Wer hat Euch dafür bezahlt, mich zu töten?!“ „Ich bin... was? Meuchler, töten?“, vorsichtig wollte ich mich aufrichten, doch die Messerspitze rückte unmittelbar zwischen meine Augen. Mit abermals erhobenen Händen ließ ich mich wieder in den Schnee sinken. Slade wirkte aggressiv, aber keineswegs nervös. „Ich kenne Euch: Ihr seid der Mann aus Annonce, der in Scheiße getreten ist.“ „Wie schön, dass ich Euch sympathisch genug erschien, um Euch mein Gesicht zu merken.“, murmelte ich sarkastisch. Der Dieb ignorierte meine Bemerkung. „Ihr habt Luke Caviness getötet und nun bin ich dran. Was ich nicht verstehe ist: Wieso? Ihr seid ein Mörder, ich weiß es, also redet. Wieso wollt Ihr mich töten, hä?!“ Jetzt ging mir ein Licht auf. Slade wusste, dass ich über die Mauer geklettert und in Lukes Laden eingebrochen war. Dass er eine Woche darauf tot aufgefunden wurde und ich somit der Mörder bin, war eine logische Schlussfolgerung. Kopfschüttelnd versicherte ich ihm: „Ich habe Luke nicht umgebracht. Er hat mich rein gelegt und ich bin eingebrochen, um mir mein Geld zurückzuholen, mehr nicht. Das ist alles.“ „Ihr habt sein Schloss geknackt.“, knurrte Slade bissig. „Das kann kein normaler Bürger.“ „Bürger aus Annonce schon.“, knurrte ich zurück und sah ihn düster an. Slade schien nachzudenken. „Ich komme aus Annonce, schon vergessen? Genau genommen aus einem Waisenhaus. Schlösser knacken und Stehlen, das wurde mir förmlich in die Wiege gelegt.“ Mein Gegenüber zögerte weiterhin. Slade war sich nicht sicher, ob ich ihn rein legen wollte, aber ich glaubte zu merken, dass er sich an die tollpatschige Gestalt erinnerte, die unbeholfen an der Wand hing und nicht hinüber kam. Das konnte unmöglich ein ausgebildeter Meuchler gewesen sein. Dann ließ er das Messer endlich sinken. „Nun gut. Mehr als Euch bedrohen kann ich ohnehin nicht.“, dann hielt er mir die Hand entgegen. Ich nahm an und ließ mir aufhelfen. Während ich den Schnee von meiner Kleidung klopfte, das Messer in seiner anderen Hand aufmerksam im Winkelblick beobachtend, erklärte ich: „Aber es wäre auch wirklich unnötig, ich habe kein Interesse daran, irgendjemanden umzubringen. Ich bin ein einfacher Kopist, der sich bei Euch für Eure Hilfe bedanken wollte, mehr nicht.“, der Mann schwieg nur und betrachtete mich aufmerksam. Es machte mich nervös, dass er das Messer noch immer in der rechten Hand hielt. Mir wäre es lieber, würde er es endlich weg stecken und sein Gesicht wieder zu dem eines hilfsbereiten Weggefährten werden. Freundlich streckte ich ihm meine Hand entgegen, um etwas Besseres aus unserer Situation zu machen. „Also... Danke. Mein Name ist Falcon, Falcon O'Connor.“ Er zögerte abermals einige Sekunden, dann steckte er das Messer endlich in seinen Gürtel und ergriff meine Hand. „Keine Ursache. Mein Name ist Will.“ „Slade.“; korrigierte ich höflich, ohne ihn los zu lassen. Sein Mund formte ein amüsiertes Grinsen. „Dann wohl Slade. Ihr kennt mich, also?“ „Nur vom Hören.“ „Ich hoffe, man hört nur Gutes?“, scherzte er und wollte sich lösen. Ich ließ ihn und grinste. „Eher gar nichts, bis auf den Namen. Nun und dass Ihr gern Kupfer klaut.“ „Und Ihr mordet gern.“, stellte er fest. Slade bückte sich und griff nach seinem braunen Stoffsack. Unsicher sah ich ihn an. „Nein, tue ich nicht. Ich bin Kopist, wie gesagt.“ „Eben, wie gesagt.“, nachdem er sein Gepäck wieder über dem Rücken hatte, grinste er mir unverhohlen entgegen. Ich registrierte einen goldenen Zahn, oben links in seinem Gebiss. „Ihr sagtet ‚Ich habe Luke nicht umgebracht.’ Ihr hättet aber auch sagen können ‚Ich habe niemanden umgebracht’ oder ‚Ich bin kein Mörder’. Habt Ihr aber nicht. Ihr sagtet lediglich, dass Ihr Luke nicht getötet hättet. Mir ist es gleich, aber haltet Euch fern von mir.“, mit diesen Worten drehte er ab und wollte gehen. Ich stand da, als hätte er mir gerade gesagt, der Papst hätte geheiratet und Zwillinge mit seiner Frau gezeugt, so sehr war ich vor den Kopf gestoßen. Erst nach einigen Sekunden konnte ich ihm nachgehen und war nicht sicher, ob ich tun sollte, als hätte ich kein Wort verstanden oder es zugeben und auf Freundschaft hoffen. Stattdessen ging ich schweigend hinter ihm her und ließ mein Hirn rattern, in der Hoffnung auf eine rettende Idee. Nach einigen Schritten blieb Slade stehen und drehte sich wieder zu mir, seine linke Augenbraue hatte er spöttisch hoch gezogen. „Ihr lauft mir schon wieder nach, was soll das? Seid Ihr ein Irrer oder so etwas?“ Auch ich hielt wieder. „Ähm, nein, ich hoffe nicht.“ „Warum verfolgt Ihr mich dann?“ Ein verlegenes Lächeln trat mir ins Gesicht. „Ich fürchte, ich habe mich verlaufen.“ „Verlaufen?“, Slade lachte. „Ihr habt Euch verlaufen?“, dann grinste er wieder. „Aber ich bezweifle, dass Ihr Euer Haus findet, indem Ihr mir hinterher lauft.“ Ein leichter Windstoß trug die Laute eines weinenden Kindes zu uns herüber und mit einem Mal gruselte es mich. Wir standen noch immer zwischen Häuserrücken und es war unheimlich, in einer leeren Sackgasse Kinderlaute zu hören. Ohne es zu wollen, sah ich mich um und flüsterte: „Ich habe kein eigenes Haus.“ Mein Gegenüber glaubte mir kein Wort. „Ihr seid Kopist. Kopisten verdienen verdammt gut, selbstverständlich habt Ihr ein Haus.“ „Habe ich nicht.“, versicherte ich ihm. „Dann eine Wohnung.“ „Ich habe ein Zimmer gemietet, in der Rum-Marie.“ Slades Augenbrauen hoben sich nun beide in die Höhe. „In der Rum-Marie? Also seid Ihr kein Kopist.“ „Ich bin Kopist.“ Der Dieb seufzte und kratzte sich den Kopf, als hätte er es mit einem geistig verwirrten zu tun. „Wenn Ihr ein reicher Kopist seid, wieso um alles in der Welt mietet Ihr ein Zimmer in solch einem Loch?“, dann sah er meinen hilflosen Blick. Ich wusste keine Antwort mehr und hatte keine Idee, wie ich ihn davon überzeugen sollte, dass dies die Wahrheit war. „Also gut.“, murmelte er dann etwas aufmunternd. „Ich werde Euch ein Stück bringen, bis Ihr wieder wisst, wo Ihr seid. Aber ab dort lasst mich bitte in Ruhe. Es ist nicht gut für mich, mit Euch gesehen zu werden, kapiert?“ „Verstanden.“, er ging weiter und ich folgte, darum bemüht, neben ihm zu laufen. Slade hatte ein ausgesprochen langsames Tempo. Er ging gemächlich und schlendernd, als würden wir einen Spaziergang machen. Ich verstand nicht wieso, aber ich fühlte mich wohl bei ihm. Er war mir sympathisch, er hatte scheinbar Humor und freundlich war er auch. Dennoch wagte ich es kaum, ihn auszufragen. Eigentlich war ich Slade aus Neugierde heraus gefolgt. Ich hatte viele Fragen an ihn: Wieso er stahl, woher er kam und wieso er nachts herum lief, aber keines meiner gedachten Worte trat über meine Lippen. Wir gingen fast den kompletten Weg zurück, bis wir das hufeisenförmige Viertel endlich hinter uns ließen und auf die größeren Straßen zurücktraten. Ich hatte damit gerechnet, dass Slade etliche Geheimpfade nutzen würde, versteckte Wege und verwinkelte Gassen, schließlich war er ein Straßendieb. Stattdessen gingen wir über die Haupt- und Marktstraßen, als wären wir ganz normale Bürger dieser Stadt. Mehrmals warf ich ihm einen Blick zu und musterte sein geschlitztes Ohr und den goldenen Ohrring darüber. Er war in einer Gilde gewesen, aber verstoßen worden. Welche Gilde würde denn so jemanden wieder aufnehmen? Keine mir bekannte – außer vielleicht die Deo Volente. Allerdings gab es dort keine Ohrringe, die zur Kennzeichnung dienten. Vielleicht war Slade auch verstoßen worden, fälschlicher Weise und anschließend wieder aufgenommen? Auf dem Platz des alten Henrys hielten wir und Slade streckte mir die Hand entgegen. „Ab hier werdet ihr wissen, wo lang Ihr müsst.“ Lächelnd schüttelte ich seine warme Hand. „Ich danke Euch.“ „Keine Ursache. Ihr seid ja noch nicht so lange in Brehms, schätze ich. Grüßt die Deo Volente von mir, dort gehört Ihr doch hin?“ Instinktiv zog ich fast sofort meine Hand zurück. „Was?“ „Ihr wirkt so, nur ein Gedanke.“, Slade warf seinen Rucksack auf seine andere Schulter und grinste. „Euer Blick, Eure Art. Ihr wirkt so. Wie ein Pfaffe.“ Unsicherheit machte sich in mir breit und ich musste mich zusammenreißen, um nicht misstrauisch zu wirken. Mit krauser Stirn und verständnislosem Blick schüttelte ich den Kopf, um möglichst ein glaubwürdiges Bild entstehen zu entlassen, gelingen wollte es mir jedoch nicht. „Das ist Unsinn. Ich habe mit der Deo Volente nichts am Hut.“, dann begann ich zu grinsen. „Ich verstehe. Ihr denkt, weil ich Kopist bin, aber recht arm lebe, dass ich sicherlich im Kloster-Skriptorium arbeite. Und da ich nicht dort lebe, muss ich wenigstens in der Deo Volente sein – Geld habe ich ja genug.“, in Slades Augen erkannte ich, dass ich Recht hatte und mein Grinsen wurde etwas breiter. Selbstbewusst hob ich die Hand und zeigte in eine der Gassen. „Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, aber ich arbeite im Schreibladen von Meister Pepe, dort die Straße hinunter.“, dann sah ich ihn wieder an. „Nichts Deo Volente und auch nichts Pfaffe.“ Slade zuckte mit den Schultern, ein wenig verlegen vielleicht und folgte meinem Zeig. „Nun, man kann sich irren. Meine Hellseher-Fähigkeiten sind nicht immer die Besten.“, dann grinste auch er. „Aber gut zu wissen, dass ihr nicht von dort kommt. Mit der Deo Volente habe ich nämlich so meine Schwierigkeiten.“ Das machte mich neugierig. „Wieso?“ „Na ja. Ihr seid nicht von hier, wenn ich es richtig verstanden habe, also will ich es Euch erklären. Die Kreuzer, die von der Deo Volente, die gehen neuerdings um und sammeln alles zusammen, was nicht mit Gottes großen Plan übereinstimmt.“, er beugte sich etwas vor und begann zu flüstern. Auch ich musste mich nach vorn beugen, um etwas zu verstehen, trotz dem Lachen einiger Männer aus einem Gasthaus, wenige Häuser weiter. Es schien, als würde der riesige Platz jedes leise Wort einfach verschlucken. „Neuerdings sind scheinbar alle in Aufruhr, keine Ahnung wieso. Aber wenn Ihr wirklich nichts mit ihr zu tun habt und in diesem Loch dort arbeitet, dann passt gut auf Euch auf. Sie suchen gerade sämtliche Leute zusammen, die auch nur verdächtig aussehen. Was mit ihnen passiert, weiß ich nicht, aber gut kann es nicht sein.“, kurz warf Slade einen Blick zum gemeinten Gebäude, dann sah er mich wieder warnend an. „Ein Bekannter, Bairre Clarke, er gehörte zu mir, klar? Nun nicht mehr. Er ist verschwunden, von heute auf morgen. Ich sage Euch, die Deo Volente hat irgendwas mit ihm angestellt. Nun redet er kein Wort mehr mit mir, ist total verrückt der Kerl.“ „Verrückt?“, nun, wo er mir so nahe stand, registrierte ich den starken und recht unangenehmen Geruch von Rauch auf seiner Kleidung. Ich versuchte, es zu ignorieren und sah unsicher in seine braunen Augen. „Wie meint Ihr das, verrückt?“ Slade zuckte nur mit den Schultern. „Er ist durchgedreht. Wenn ich zu ihm will, rennt er weg, als hätte ich ihn gebissen. Und er ist nicht der einzige, der so geworden ist, seid die Kreuzer ihn mitgenommen haben. Gebt bloß Acht.“, die letzten Worte hatte mir der Dieb förmlich zu gezischt, nun richtete er sich wieder auf. Ich sah, dass Slade es ernst meinte und nickte nur schweigend, da mir keine Antwort einfiel. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Warum sollten die Kreuzer Menschen verschleppen und warum sollten diese anschließend Angst vor anderen haben? Es war mir ein Rätsel. Mein Gegenüber streckte mir abermals die Hand entgegen und nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, wünschten wir uns eine gute Nacht. Ich bedankte mich abermals, für die Hilfe, den Platz zu finden, doch er winkte nur ab. Slade war ein komischer Kerl, das war mir nun umso klarer und ich sah eine Zeit lang zu, wie er quer über den Platz schlenderte. Dennoch war er mir sympathisch, er störte sich nicht daran, dass er mich nicht annähernd kannte. Er nahm die Dinge, wie sie kamen. Etwas, worum ich ihn beneidete. Anschließend betrachtete ich wieder den alten Henry. Er stand unverändert da, mit erhobenem Schwert und Schriftrolle. Das wenige Mondlicht erhellte ihn gerade stark genug, um von unten seine tiefen Augenhöhlen zu erkennen. Ein Held der vergangenen Zeit, wenn ich es richtig verstanden hatte und nun war er als Statue auf diesem Platz und bewachte das Geschehen der Straßen. Ob Henry für solch ein Brehms gekämpft hatte? Ob Henry gewollt hatte, dass diese Stadt zu so einer Handelsmetropole heran wächst? Früher, zu seiner Zeit, war diese Stadt hier sicher weitaus kleiner gewesen. Es hatte vielleicht ein Dutzend Straßen gegeben, etliche Wohnhäuser und natürlich das Schloss, das er angesteuert hatte. Viele der Statuen in den Straßen stammten aus dem Jahr, in dem der alte Henry gestorben war und ihre Standorte zeigten, dass selbst das Königliche Gebäude sehr klein gewesen sein musste. Ja, früher war wohl alles sehr klein gewesen. Klein und überschaubar – keine Gilden, keine Deo Volente und keine Kreuzer, die Menschen verschleppten und niemand bekam es mit. Mir kam der Gedanke, dass auch Nevar ein Kreuzer sein könnte. Vielleicht waren die Kreuzer ja keine Wachmänner, so wie die Patrouillen, die ich kennen gelernt hatte. Vielleicht waren sie Männer wie Nevar, die im Schatten lebten und alles beobachteten. Man könnte behaupten, ich wäre verschleppt worden, von Nevar, vor gut einem halben Jahr. Natürlich war ich freiwillig mitgegangen, aber hatte ich wirklich eine andere Wahl gehabt? Ich sah mich um, aber nirgendwo war jemand zu sehen. Der gesamte Platz lag leer und dunkel vor mir, nur von wenigen Laternen erhellt. Keine Passanten, keine Patrouillen und auch keine Händler. Das war meine Chance. Ich sah erneut zum alten Henry hinauf und zum muskulösen Pferd, dann begann ich, mich an dessen Zügel empor zu ziehen. Es war schwer und die Statue war kalt, doch ich schaffte es, auf den Sockel zu steigen. Ich hatte mich bereits bei meiner ersten Begegnung mit dem alten Henry gefragt, ob er wirklich so detailgetreu war, wie es den Anschein hatte – nun wollte ich es kontrollieren. Und so kletterte ich mühsam das Pferd hinauf, um einen Blick auf Henrys Schriftrolle zu werfen. Als ich oben war, sah ich mich abermals um. Slade stand in einer der Laternenlichter, sah zu mir rüber und starrte mich an. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand in der Dunkelheit. Ich zögerte, ehe ich mich der Schriftrolle zuwandte. Es dauerte, bis ich die eingravierten Zeichen entziffern konnte und ich musste an manchen der Buchstaben reiben, um den Schmutz zu entfernen, doch dann konnte ich es lesen. Dort stand: „Deo iuvante. Deo volente. Oderint dum metuant; cum tacent clamant.“ Ich warf der Deo Volente einen unsicheren Blick zu, als würde mir das katholische Gebäude Antworten geben können, dann rutschte ich langsam hinunter. Nachdem ich wieder auf dem Boden stand, starrte ich den alten Henry an. Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten; indem sie schweigen, stimmen sie zu. Für mich klang das nicht wirklich nach einer Friedensbotschaft, die einen Krieg beenden sollte und das Königreich retten. Vielleicht hatte auf der Schriftrolle zuvor auch nichts gestanden und die katholische Kirche hat die Worte eingravieren lassen, um dem alten Henry wenigstens den Hauch eines katholischen Helden zu geben? Ich begann den Heimweg anzutreten und warf kurz vor dem Einbiegen in eine der Seitengassen einen erneuten Blick zur Statue. Sie warf einen riesigen Schatten über den Platz und ich hatte das Gefühl, sie wäre unheimlich groß geworden. Mit Gottes Hilfe, mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten; Indem sie schweigen, stimmen sie zu. Leise flüsterte ich: „Luther Henry Mattheus, wenn du doch nur sprechen könntest.“, dann ging ich weiter. Wer sollte wen hassen und wer wem zustimmen? Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir durchs Haar. So viele Fragen, so wenig Antworten. Vielleicht hatte Nevar Recht: Ich dachte zu viel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)