Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 13: Die Geschichte des alten Henrys (...) ------------------------------------------------- Die Geschichte des alten Henrys und der verdammt unwichtigen, gar nicht dicken Abigail Der Bäcker begann eine so umfangreiche Erzählung, dass ich heute kaum noch weiß, was alles andere passiert war. Ich war so damit beschäftigt, seinen verwirrenden Worten zu folgen und aus den vielen unnützen Zeug Informationen heraus zu fischen, die vielleicht irgendwie, irgendwann wichtig waren, dass man mich hätte niederschlagen können und ich hätte es sicherlich nicht einmal gemerkt. Franky begann seine Erzählung erst langsam und stockend, aber kaum waren seine ersten Sätze über die Lippen gesprudelt, kam der Rest hinterher: „Es war vor etwa vor zweihundertfünfundsiebzigeinhalb Jahren, vielleicht auch zweihundertachtundsiebzig. Ich weiß es nicht mehr so genau, aber so wichtig ist es auch gar nicht, nicht wahr?“, er winkte ab und grinste etwas. „Zumindest ist es passiert, zur Zeit, als der alte Henry, Gott sei seiner armen Seele gnädig…“, an dieser Stelle bekreuzigte Franky sich. Man hatte fast den Eindruck, er würde ein Theaterstück aufführen. „…noch verbannt worden war, ins Exil, wie Ihr sicherlich wisst. Ihr wisst es doch?“, ein Nicken meinerseits, schon fuhr er fort: „Sehr gut, wenigstens scheint Ihr aus dem Süden einiges an Wissen zu haben, das ist wichtig, denn ist der alte Henry keine Legende? Wohl wahr, er wäre eine weitaus größere Legende geworden, wäre er gehört worden, aber na ja. Man kann nicht alles haben. Jedenfalls, zu dieser Zeit lernte Henry ein Weib kennen, Abigail. Was für ein Weib und wäre sie nicht so verdammt unwichtig gewesen, vielleicht gäbe es für sie auch ein Denkmal! Abigail war noch sehr jung gewesen und jeder weiß, der alte Henry liebte stets nur seine teure Prinzessin, aber bei Abigail war das dann ja doch etwas anderes, denn wie wir wissen: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss und das betrifft auch ab und an seine Lenden. Und so lernte er Abigail eben kennen.“ „Er lernte sie kennen, indem er sie…beglückte?“, hakte ich nach. Franky überging meine Frage einfach. „Die zwei kamen sich näher, wie sich Freunde eben so näher kamen, denn auch wenn Abigail ein Weib war, oh ja, sie war trotzdem so etwas wie sein Gefährte und sie begleitete ihn, wohin auch immer sie wollte oder er es wollte.“ „Wer denn jetzt?“, fragte ich verwirrt. „Wenn er es wollte oder sie?“ „Wer auch immer, das weiß ich nicht mehr.“, grummelte der Bäcker beleidigt. Er wollte nicht unterbrochen werden und das machten mir seine Augen deutlich klar. Dementsprechend fuhr er fort: „Das ist ja auch ganz egal, sie begleiteten sich, basta! Und dann gingen und ritten sie zusammen umher und guckten sich die Welt an und so weiter. Dieses Ganze was man eben so macht, wenn man in einem Exil ist, eine Frau bei sich hat und ein Pferd obendrein. Sie ritten umher und sahen alles und fanden schöne Dinge wie schlechte, gute wie böse, schlechte wie böse, und schöne wie gute und sehr schöne und sehr schlechte und sehr böse und...hatte ich schon Gute? Und so weiter.“, er atmete kurz durch, da er den Faden verloren zu haben schien. Nach einigen Sekunden und einem skeptischen Blick meinerseits, fuhr der Bäcker plappernd fort: „Habe ich schon erwähnt, dass sie eine Hütte hatten? Dann erwähne ich es jetzt: Sie hatten eine Hütte und in der lebten sie. Eigentlich lebte dort nur der alte Henry, der damals ja gar nicht alt war, aber dann lebte auch Abigail da und sie wirkten fast wie eine Familie, denn jeder weiß ja, wie eine Familie aussehen muss, damit es eine Familie ist. Und da sie ja kein Kind hatten, tja, so wirkten sie eben nur fast so wie eine Familie. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden und das dachten sich auch Abigail und der alte Henry. Und so kam es, wie es eben kam, denn der Henry, der kam und wie der kam und tja, wie es dann so kommt, wenn es kommt: Abigail war schwanger.“, Franky endete und sah mich geduldig an, als erwartete er irgendeine Reaktion. Ich muss zugeben, ich war weder erstaunt, noch sonderlich fasziniert von seiner Erzählung und ich wusste nicht im Geringsten, was er nun genau von mir wollte. Ruhig nippte ich an meinem Bier, das schon fast leer war und sagte unsicher und gedehnt: „Tja.“, während ich mich fragte, wieso genau der Mann mir diese Geschichte gerade erzählte. Allein dieses Wort reichte ihm völlig aus, fort zu fahren: „Und Abigail, weil sie ja nun einmal schwanger war, wurde so, wie schwangere Frauen eben so sind: Zickig, laut und vor allem: Dick. Und das allerschlimmste war ja: Sie waren nicht einmal verheiratet! Einen Bastard trug sie in sich, jawohl, so war das und jeder wusste das, der das sah. Und alle zeigten mit dem Finger auf sie und sagten: ‚Abigail, wie dick du bist! Trägst du etwa ein Kind in dir?’“, ich musste aufpassen, nicht zu lachen, da der Mann seine Stimme verstellte. Sie klang unglaublich hoch. „Und Abigail verneinte: ‚Ich bin nicht dick, gar nicht dick.’ Und ging weiter ihres Weges. Anfangs waren es nur Bauern die sie ansprachen, später aber auch Händler und am Ende sogar ein Priester!“, Franky riss die Augen auf, was mich vermuten ließ, dass der Priester wohl so etwas wie ein Höhepunkt der Geschichte sein sollte. Ich zog die Augenbrauen hoch, ein recht schwacher Versuch seine geschockte Mimik zu imitieren. „Und der Priester sprach: ‚Abigail, wie dick du bist, trägst du etwa ein Kind in dir? Aber du bist in keiner Ehe, Weib, dies wäre ein Bastard, lass mich dir helfen.’ Doch Abigail verneinte immer wieder, wie dutzende, hunderte, tausende Male zuvor und sagte: ‚Nein, ich bin gar nicht dick. Wollt Ihr mich beleidigen?’ Und auch der Priester nahm alles zurück, denn das Weib fühlte sich durchaus gekränkt durch die vielen Bemerkungen zu ihrem Aussehen, denn schließlich tat sie so, als wäre sie nicht schwanger und als wäre sie nur ganz normal fetter geworden – und das sollte man einem Weib unmöglich direkt sagen. Glaubt mir, ich kannte einst eine Frau, der sagte ich, wie dick sie war und sie hat mir doch prompt mitten ins Gesicht-… Aber das ist eine andere Geschichte, hier geht es um die gar nicht dicke und verdammt unwichtige Abigail.“, Franky sah mich ernst an, doch ich erkannte an seinem Blick, dass er erneut den Faden verloren hatte. Ich lächelte etwas aufmunternd und beschloss, die kurze Pause für eine Frage zu nutzen: „Aber sagtet Ihr nicht, Abigail sei unwichtig? Wieso redet Ihr denn die ganze Zeit über nur von ihr?“ „Unterbrecht mich nicht andauernd!“, plusterte sich der Bäcker auf, dann räusperte er sich. „Nun, wie auch immer. Jedenfalls war sie dick und sagte, sie wäre es nicht und dann war es so weit – sie bekam ihr Kind.“ Erneut endete er. Ich sah zu, wie der Bäcker kurz hinaus ging, um sich um sein Brot zu kümmern, das er aus dem Ofen holte und stolz vor sich auf die Theke legte, in ein Tuch eingewickelt und dampfend warm. Es roch gut und die braune Kruste bewirkte ein Magenknurren meinerseits, obwohl ich längst satt war. Schon plapperte er munter weiter, als hätte es nie eine Pause gegeben: „Sie bekam ein kleines Mädchen, die Anneliese, ein gutes Kind und wahrlich hübsch und das zog sie mit dem alten Henry ganz allein im Exil groß. Die Anneliese war jedoch sehr krank und dann kam es, dass sie eines Tages fiebrig wurde und nur ein Arzt konnte ihr noch helfen. Aber Medizin war so teuer! Also ging Abigail in die Stadt um Krüge zu verkaufen, die sie getöpfert hatte und um von diesem Geld den Arzt zu bezahlen für die arme, arme Anneliese. Doch es reichte nicht und so verkaufte sie am nächsten Tag ihren Stuhl und am übernächsten dann ihren Tisch, dann ihr Bett, ihre Teller, ihr Besteckt, ja sogar ihre Fensterläden, die Bettpfanne, alles verkaufte sie und endlich reichte es und dann kam der Arzt, jawohl, aber der meinte dann: 'Oh arme Anneliese, du bist so krank, du brauchst Medizin und nicht nur das: In einer Woche muss ich erneut nach dir sehen.' Aber mittlerweile hatten sie kein Geld mehr und auch nichts zu verkaufen und Abigail weinte so schrecklich, dass der alte Henry nicht mehr ein oder aus wusste. Und er ging in die Stadt und arbeitete hier und dort, aber er konnte doch nichts, außer reiten – war er doch der Reitlehrer der Prinzessin gewesen! Und dann, dann kam ihm eine Idee.“, der Bäcker grinste, wie als würde er mir sagen wollen: War doch klar, der alte Henry ist eben ein Held! Aber wenn ich ehrlich sein soll, begann die Geschichte mich zu langweilen und ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Ich wusste weder, wieso er mir diese Sachen erzählte, noch, wieso man solche uninteressanten Dinge überlieferte. Viel mehr starrte ich hinüber zum Allerleiladen, um nicht zu verpassen, wenn Luke und sein Vater vom Essen zurückkehrten. Franky wartete geduldig, bis ich Anteilnahme zeigte und er redete erst weiter, nachdem ich ihn fragend ansah, völlig aus meinen eigenen Gedanken gerissen. Ich war nicht einmal sicher, ob die Geschichte bereits zu Ende war, da ich die letzten Sätze einfach ausgeblendet hatte, doch sein folgender Redeschwall war wohl Antwort genug: „Der alte Henry hatte schließlich Freunde bei Hofe und so ging er heimlich zum Schloss, obwohl es ihm verboten war und sprach mit jenen, die dort arbeiteten und die er von früher kannte und sie alle trugen allerhand Geld zusammen um ihm zu helfen. Ihm und der armen, armen Anneliese. Und als sie alle erfuhren, wie arm er nun lebte, bekam er sogar Tische und Stühle und neues Geschirr, sogar alte Kleider und das beste Essen aus der Küche der Majestät! Tja und das war die Geschichte.“ Ich zog abermals beide Augenbrauen hoch und starrte ihm entgegen, doch Franky meinte es tatsächlich ernst. Nach einigen Sekunden frage ich, bemüht ihn nicht zu frustrieren: „Das war's?“ „Ja, das war's!“, der dicke Bäcker nickte entschlossen und verschränkte die Arme. „Seid Ihr sicher?“ „Ja, wieso denn nicht?“ Ich zögerte, ehe ich Antwort gab. „Nun ja, das Ende kam etwas...aprubt.“ „Kam es nicht. Henry hat Anneliese gerettet, das liegt doch glasklar auf der Hand. Er ist nun mal schon ein Held gewesen, ehe er versuch hat, uns allen die Friedensbotschaft zu überbringen. Wie sagte mein Herr Vater immer? Man wird als Held geboren, jawohl!“ Eine Kutsche passierte die Bäckerei und für eine kurze Zeit schwiegen wir und sahen hinaus. Sie fuhr einfach an uns vorbei, ein großes, altes Gestell mit einer Plane über den Waren, dann verschwand sie wieder. Einen Moment wirkte es, als wäre ich wieder in Annonce: ein herunter gekommener Händler, ein alter, zerzauster Esel und morsche Räder und Balken. „Aber wenn es nur darum geht, wie Henry sie rettet...“, ich wandte mich wieder dem Bäcker zu, der mir nun meinen leeren Krug abnahm. „...wieso habt Ihr dann erst so viel von Abigail erzählt?“ „Als Einleitung natürlich, das macht man so. Damit der alte Henry in einem besseren Licht steht. Ihr seid doch Buchbinder, Ihr müsst doch wissen, wie das geht. Es gibt immer eine Einleitung, die die Spannung aufbaut!“ Schmunzelnd sah ich ihn an. „Ja, vielleicht habt Ihr recht. Aber Ihr habt mit Eurer Einleitung eigentlich nur erzählt, dass Henry ein gottloser Ketzer ist., der außerhalb einer Ehe Kinder zeugt, heimlich das Exil verlässt und ein Weib hatte, dass sogar Priester anlog.“, nun wurde Franky rot, denn scheinbar hatte er das nicht bedacht. Etwas beschämt machte er sich daran, das Brot in Stücken zu schneiden. Ich sah ihm zu und fuhr amüsiert fort: „Davon abgesehen, bestand der Großteil der Geschichte aus Abigail und nicht aus dem alten Henry. Ehrlich gesagt wirkt es auf mich sogar so, als hättet Ihr das Ende vergessen und Euch selbst eines ausgedacht. Und als wäre Abigail eigentlich sehr wichtig gewesen.“ „War sie aber nicht.“, grummelte er beleidigt. „Es scheint aber so.“ Nun sah er mich leicht frustriert an. „Wenn Ihr mir zugehört hättet, von Anfangan, hättet Ihr gemerkt, dass die Geschichte heißt: Die Geschichte des alten Henrys und der verdammt unwichtigen, gar nicht dicken Abigail. Und das zeigt ja wohl, dass Abigail verdammt unwichtig ist. Wenn Ihr das mitbekommen hättet, hättet Ihr Euch nicht auf sie konzentriert und dann hättet Ihr auch nicht solch dermaßen falsche Eindrücke, so sieht das nämlich aus! Und nun habe ich zu tun, wenn der Herr also nichts mehr will?!“, und mit diesen Worten beförderte er mies gelaunt das Brot in das Regal hinter sich und stolzierte mit großen Schritten zurück ins Hinterzimmer. Mir blieb keine andere Wahl, als ihm grinsend nachzusehen, ehe ich mir die Kapuze über den Kopf zog und den Laden verließ. Franky war ein lustiger Mensch, das stand für mich fest und ich würde am nächsten Morgen wieder kommen, um erneut bei ihm zu frühstücken. Vielleicht könnte ich mir Gedanken über die Geschichte machen, ihm ein paar Interesse heuchelnde Dinge fragen und ihm anschließend ein paar Informationen bezüglich der Familie Caviness entlocken. Während ich zurück in die Kälte trat, überkam mich leichte Sorge, denn ich hatte vieles vor mir, was es zu überwältigen galt. Ich musste nicht nur die Samariter finden, sondern auch noch arbeiten und meine Probleme mit Morgan klären. Zudem beschäftigte mich manchmal noch immer unterschwellig die Frage, was O'Hagan eigentlich von mir wollte. Seit Nevars Bindung zu mir stärker geworden war, hatte ich aufgehört, mich das zu fragen, aber manchmal kam noch immer der Drang in mir hoch, endlich zu wissen, was passiert ist. Immer und immer wieder spielte ich die Ereignisse des vergangenen Jahres in meinem Kopf ab. Nur selten bis zum Ende, da schlechtes Gewissen und Reue mich übermannten, aber oft genug, um zu wissen, dass ich nichts wusste. Ich hatte in den letzten Monaten Fehler gemacht, die nicht mehr gerade zu biegen sind, zumindest nicht binnen kurzer Zeit. Morde lasteten auf meinen Schultern und das Wort Sünde hatte sich tief in meinen Körper gebrannt. Mein vernarbter Rücken, meine kaputten Hände und vor allem die Narbe in meiner Taille erinnerten mich immer und immer wieder daran und sollten mich das wohl niemals mehr vergessen lassen. Trotzdem hatte ich nicht das Bedürfnis, das wohl die meisten an meiner Stelle hätten, alles rückgängig zu machen. Statt mir zu sagen: Verdammt, hätte ich Kai doch bloß nicht umgebracht...! dachte ich mir oft: Verdammt, wäre doch auch Robert Iven McGohonnay durch meine Hand gestorben. Viel zu oft wünschte ich mir, alle wären tot, mit denen ich irgendwann aneinander geraten war. Dann könnte ich nach Annonce gehen und kaum einer würde sich noch an mein Gesicht erinnern. Ich wäre frei, wenn auch belastet und verschuldet, aber das Gefühl der Reue würde irgendwann nachlassen und in den Hintergrund rücken. Ich würde ignorieren, ich würde verdrängen und irgendwann dann würde ich vergessen. Stattdessen jedoch hatte ich Black frei gekauft, aus einer naiven Idee heraus, wie ein gehöriger Hund. Hatte ich ihm wirklich so viel zu verdanken, wie ich damals dachte? Hatte er mich nicht nur ausgenutzt? Er hatte die Männer auf dem Schiff provoziert, damit ich keinen Halt mehr hatte. Damit ich alleine war und auf ihn angewiesen. Vielleicht hatte Black sich vor mich gestellt, um mich vor schlimmeren Angriffen zu schützen, ja, aber wäre es zu diesen Angriffen ohne ihn überhaupt gekommen? Ich stellte mich abseits des Ladens an eine Wand und lehnte mich an. Die Straße war fast leer, nur wenige gingen vorüber und keiner nahm Notiz von mir. Schweigend dachte ich weiter nach und starrte die Tür des Gasthauses am anderen Ende der Straße an. Hier sollten Luke und sein Vater bald hinaustreten und den Laden ansteuern, ich durfte das auf keinen Fall verpassen. Ich war nun ein Befehlsempfänger der Inquisition und von dieser Aufgabe hing viel ab, besonders mein eigenes Leben. Die Geschichte des Bäckers von einem Mann, der seiner Vergangenheit halber ins Exil geschickt worden war, hatte meine Melancholie zurückgeholt. Ging es dem alten Henry ähnlich wie mir? Hatte er Fehler gemacht und sie bereut, als man ihn dafür strafte? Bereute er die Fehler oder empfand er sie als richtig? War es vielleicht sogar gut gewesen, all diese Fehler zu machen? Ohne das Verlassen des Klosters hätte ich niemals die Chance gehabt, ein neues Leben überhaupt angeboten zu bekommen. In einem Buch des Skriptoriums stand: „Die Vergangenheit ist stets hinter einem – oder sie holt einen ein.“ Holt sie mich auch irgendwann ein? Renne ich vor ihr weg? War es vielleicht ein Fehler gewesen, mich von Black zu trennen? Vielleicht hätte ich Nevar nicht folgen dürfen. Diese Samariter waren nicht ungefährlich und ich sollte geblendet werden von einer Zukunftsvision, die ich vielleicht niemals wahr machen konnte. Wäre ich Black gefolgt, nachdem ich ihn freigekauft hatte, wäre ich dann von der Inquisition verschont geblieben? Nein, sicher nicht. Oft, wenn ich abends im Bett lag und die Decke stundenlang anstarrte, Gefangener meiner eigenen Gedanken, dann erinnerte ich mich an besondere Ereignisse des letzten Jahres. An Sätze, die gefallen waren oder an Blicke, die gewechselt wurden. Besonders dachte ich an Robert, Black oder auch an Kai. Damals, als Kai zu mir in den Lagerraum gekommen war, hatte er mich bedroht und bis zur Wand zurückgetrieben. Und dort hatte er mir etwas ins Ohr gezischt, das ich niemals vergessen werde. Seine Stimme, der Hass darin: „Ich werde dich jetzt windelweich prügeln, bis du den Auftrag nicht mehr machen kannst. Black wird uns nicht an der Nase herum führen. Er macht gemeinsame Sache mit der Inquisition, du bist der Beweis dafür!“ Diese Worte hätten ein Warnsignal sein sollen, eine Alarmglocke in meinem Hinterkopf. Die Meuterer hatten stets behauptet, dass Black mit einem Bein pro Partei stand und ich hatte naiv gedacht, es ginge bei diesen Parteien um Meuterer und ehrliche Matrosen. Aber das war falsch gewesen. Sie hatten nicht Meuterer und Matrosen gemeint, sondern Meuterer und Männer der Kirche. Leider hatte ich das viel zu spät verstanden. War die Inquisition deswegen auf mich aufmerksam geworden? Hatte etwa sogar der alte Seebär mit der Inquisition zu tun? Black war fünf Jahre lang unter Wilkinson gesegelt, um an eine Kiste zu kommen. Diese Kiste ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten einen Schüssel gebraucht, aber man hätte sie auch genauso gut aufbrechen können. Also wieso durfte das nicht passieren? Wieso war es wichtig gewesen, dass das Schloss der Kiste nicht beschädigt war? Wieso sagte Black bei ihrer heimlichen Besprechung im Lagerraum: „Wenn wir die Kiste haben, wird O'Hagan nicht auf sich waren lassen, mein Wort darauf und was ist besser, als ein Pfaffe in unserer Runde?!“ O'Hagan würde nicht lange auf sich warten lassen... Immer, wenn ich diese Szene in meinem Kopf abspielte, spürte ich tief im Innern eine Art Vorahnung. Ein Kribbeln, was mir sagen wollte: Du bist verraten worden, Sullivan. Black hat dich nicht nur in die Sache mit hineingezogen, er hat alles auf dich abgewälzt. Du wirst verfolgt, Son und er ist schuld. Black hat dich reingelegt und du bist darauf rein gefallen. Ich versuchte diese Gedanken zu ignorieren, denn ich wollte es nicht glauben. Ich hatte Black nicht einfach nur frei gekauft, ich hatte einen Priester für ihn erpresst. Kaum war ich frei gewesen, hatte ich eine neue Straftat begangen, für ihn! Sollte Black mich wirklich als Dank an den Pranger gestellt haben? Denkt O'Hagan, ich würde wissen, wo diese dämliche Kiste war, die ich kurzerhand in einem Fass versteckt hatte? Wenn Wilkinsons Schiff versenkt worden war, dann war die geheimnisvolle Kiste verloren. Aber war es versenkt worden? Erneut passierte ein Karren die Bäckerei und ich musste mich in einen Häusereingang stellen, um ihm Platz zu machen. Da war noch die Sache mit O'Hagan und Wilkinson selbst. Es war alles sehr schnell gegangen und ich stand damals unheimlich unter Schock, aber wenn ich mich richtig erinnerte, kannten O'Hagan und Wilkinson sich von früher. Der Kapitän hatte behauptet, O'Hagan hätte alles ihm zu verdanken gehabt und trotzdem fiel binnen weniger Sekunden bereits der Schuss. Das war mir zu schnell passiert, weitaus zu schnell. Wieso wollte O'Hagan ihn zum Schweigen bringen? Man könnte behauptet, das lange Alleinsein des letzten Jahres in der Hütte von Nevar hatte mich nicht nur ruhiger und melancholisch gemacht, es hatte mich sogar voran gebracht. Ich war nachdenklicher geworden, als ohnehin schon. Wie sehr verfluchte ich mich, dass ich nicht bereits vor einem Jahr solche Gedankengänge gehabt hatte. Ein Gefühl der Dummheit schwebte über mir und warf dunkle, verachtungswürdige Schatten auf die vergangenen Tage. Nie wieder wollte ich so dumm sein. Was geschehen war, war geschehen und nun war es an der Zeit, alles zu korrigieren. Ohne Kai, ohne Black und vor allem: Ohne O'Hagan. Mich ging die Kiste nichts an und mich ging Black nichts mehr an. Alles, was nun wichtig für mich sein durfte, war der Neuanfang. Und wenn ich dafür erneut morden musste, dann war dem so. Ich durfte jetzt weder zögern, noch Unsicherheit zeigen. Ich musste handeln! Und das sagte ich mir auch, als endlich die zwei Gestalten in meine Richtung kamen, auf die ich so lange gewartet hatte. Der Vater rechts und Luke links, beide recht mies gelaunt und schweigend, hatten das Gasthaus verlassen und steuerten nun ihren Laden an, um ihre Arbeit zu beginnen. Entschlossen stieß ich mich von der Wand ab und ging auf die zwei zu. Ich musste handeln! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)