Droßelmeier GmbH von -Broeckchen- (Von Uhrwerken, Gentlemen und der Wissenschaft) ================================================================================ Prolog: Auf den ersten Blick ---------------------------- Einst, als die Welt noch jünger war, da war der Mensch auf dem Thron der Schöpfung nicht allein. Genau genommen saß er nicht einmal darauf. Ihn umgaben etliche Wesen, von denen er sich heute einredet, sie seien seiner eigenen Phantasie entsprungen. Doch auf jedes Einzelne von ihnen einzugehen, das wäre Verschwendung kostbarer Lebenszeit, von der dem Menschen nur so wenig vergönnt ist, und die Grenzen der Vorstellungskraft schnüren sich ohnehin zu eng um den menschlichen Geist, als dass er den wahren Inhalt der Worte, das was hinter ihnen ruht, erfassen könnte. Nur auf eine der vielen Arten, die den Menschen teils wohlwollend, teils verspielt und teils angewidert aus dem Affen erwachsen sahen, soll ein näherer Blick geworfen werden: Die Alps. Noch vor wenigen Jahrhunderten wurden sie in vielen Schriften erwähnt, die Geister, die in den Gefühlen der Menschen einen vorzüglichen Mittler für Lebensenergie sahen, und seine Träume manipulierten, um an ihr nächtliches Mahl zu gelangen. Doch damals, als auch ihre Rasse jung war und ihr Blut noch nicht von dem des Menschen verwässert, da lebten so einige von ihnen, die große Macht besaßen. Sie verschlangen Gefühle schlichtweg pur, erzeugten sie mit wenigen Fingerzeigen und nahmen sie genauso mühelos in sich auf. Sie konnten von jedem Gefühl leben, das der Mensch erzeugte, und so tafelten sie sein Wechselspiel an Emotionen genüsslich, während sie sich an Intrigen und Spielen mit ihm ergötzten. Liebe geht durch den Magen, so besagt ein alter Spruch, und womöglich stammt er von den Ur-Alps... denn eines nach dem anderen dieser Wesen verfiel dem wechselhaften Menschen und seiner gefühlsbunten, schmackhaften Seele. Die Alps paarten sich mit Menschenkindern und den wenigen, die das nicht taten, erschlossen sich kaum noch Partner – und so nahm die Verdünnung ihres Blutes seinen Lauf. Die erste, menschgeborene Generation bestand aus starken Wesen, in die der Alp noch aus heutiger Sicht oft aufgeteilt ist: Irrlichter, Alps (die den Alpdruck oder -traum verursachen), Incubi und Succubi, Nachtmahre... Ihnen allen war noch immer gemein, dass sie Gefühle in reinster Form verspeisen konnten, nahezu unsterblich waren und den Menschen nicht im Schlaf übermannen mussten – doch schon war ihre Kraft geschwächt, denn sie waren je auf eine Art von Gefühl beschränkt. Die ihnen folgende Generation war zerbrechlicher, noch stärker spezialisiert, schwächer darin, die für sie nötige Nahrung im Menschen zu erzeugen. Die herauf folgende Generation musste das Gefühl als Medium nutzen, um die Lebensenergie des Menschen anzugreifen und konnte nur in dessen Schlaf agieren – oder sie war fast so leicht zu zerstören wie der Mensch. Kurzum: Die Kraft der Alps nahm ab, je mehr ihr Blut sich mit dem des Menschen mischte. Doch wieso vermengten sie es nicht wieder mit dem der wenigen Verbliebenen der Ur-Rasse? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss ein Blick tiefer in den Moment des Beginns reichen, und auf ein Ereignis treffen, ohne dass er für die späteren Geschehnisse blind wäre. Einer der Ur-Alps hatte sich eine Menschenfrau erwählt, deren Seele nicht nur farbenfroh an Gefühlen, sondern auch voller ursprünglicher Magie war. Er legte ihr viele Kinder in den Schoß, doch eines war von besonders bemerkenswerter Art. Alle anderen waren geboren als mächtige Incubi, Succubi, Nachtmahre, Irrlichter – und unter ihnen waren auch viele mit sterblichen Körpern, die so schamanistisch veranlagt waren wie ihre Mutter. Doch dieses, und das wird von Bedeutung sein, dieses war zu viel. Zu viel für ein einziges Wesen. Und dennoch kam es allein auf die Welt, nur um dort der Magie zu erliegen, die zu dieser Zeit noch wild und ungezähmt die Welt durchzog wie die Blutbahnen den Körper des Menschen. Nun kann der Blick wieder vom Moment abgewendet werden, um die Zeit zu erfassen. Sie verrann, und der Mensch erlangte Intelligenz und Dummheit. Die Dummheit machte ihn ängstlich, und in seiner Angst begann er zu töten, was ihm furchterregend schien. Allein ist ein Mensch keine Bedrohung für ein so mächtiges Wesen, wie die Alps es waren. Doch er hatte sich vermehrt, während sie mit seinen Kindern gespielt hatten, und nun war er für sie wie eine hausgroße Rattenrotte, die sich auf ein Rudel Löwen warf – der Mensch rottete den Alp aus, und obwohl er dabei viele Leben lassen musste, war er noch immer zahlreich und mächtig und übernahm nach und nach die Welt. Die Nachkommen der Alps starben durch Menschenhand, wenn sie durch Zeit nicht getötet werden konnten, und sonst durch Alter und Krankheit wie der Mensch selbst. Noch heute wandeln ihre Nachfahren unter den Sterblichen, nur sind ihre Körper bereits genauso vergänglich geworden wie der des Menschen – einzig ihre stets nach Gefühl durstenden Seelen verraten noch ihre wahre Art. Und so kann der Blick wieder abgewandt werden, die Augen können sich schließen, um dem Kopf Zeit zu schenken, die er zum Verstehen braucht. Und dann werden sie sich öffnen, um den nächsten Moment näher zu betrachten, den die Geschichte ihnen schenkt. Kapitel 1: Der Mord am eigenen Gewissen --------------------------------------- Die Nacht war dunkel, und die Winde, die sie aussandte, so schneidend kalt, dass jeder Tropfen Wasser, der in ihren Griff geriet, auf der Stelle gefror. Alberic zitterte entsprechend erbärmlich – doch was sollte er tun, außer seinen Mantel enger um seinen schlanken, fast hageren Leib zu ziehen und die Zehen in den ausgetretenen Schuhen etwas zu bewegen? Egal wie eisig es um ihn her sein mochte, er war dazu verdammt zu warten, bis die Uhr des nahen Glockenturms endlich Mitternacht verkündete... Zum ersten Mal in seinem Leben verdammte er innerlich seinen Hang zur Überpünktlichkeit, während der Minutenzeiger unerbittlich auf der Elf verharrte. Und vermutlich kam der Mann, den er hier treffen sollte, obendrein noch zu spät. Das Knirschen von Schnee ließ den Jüngling zusammen zucken, und unwillkürlich schmiegte er sich tiefer in die schattige Ecke hinter einem Gebüsch, die ihm bereits Schutz vor neugierigen Blicken bot. Er hatte großes Glück, dass der boshaft kalte Wind frische Flocken mit sich führte, die seine Spuren von vorhin emsig verwischten und verwehten, denn tatsächlich hatte ein Gendarm das Knirschen verursacht und trabte nun ohne Verdacht an Alberics Versteck vorbei. Alberic hasste seinen neuen Beruf inzwischen. Halt, nein – das war nicht ganz korrekt. Er liebte das Uhrhandwerk. Er liebte es, die aus Zahnrädern und winzigen Spiralen geschaffenen, zarten Mechanismen zu betrachten und sie an den Wänden ticken oder beim Öffnen der Spieldosen lieblich klingen zu hören. Er liebte das Gefühl eines pulsierend pendelnden Unruhs in seiner Hand, während das Metall des Uhrwerks sich darin erwärmte – als hielte er ein winziges Leben in den Händen. Und für seinen schier grenzenlosen Hunger nach Wissen fand er mehr als genügend Futter im Genie seines Arbeitgebers, mehr als genug. Aber im Segen lag auch der Fluch: Sein Arbeitgeber. Shoggotho Elias Scoundrel war ohne Zweifel ein eindrucksvoller Mensch. Alles an ihm war irgendwie eindrucksvoll, von seinen körperlichen Ausmaßen (die davon kündeten, mit welcher Hingabe sich die Kundschaft auf seine Schöpfungen warf) bis hin zu den großen Worten, in die er seine eindringliche und zuweilen donnernde Stimme wickelte. Obendrein wirkte er stets, als läge hinter seinem Sein noch eine weitere Person – wie ein Bild, das hinter einem anderen liegt und von der einem abgewandten Seite beleuchtet wird. Manchmal hatte Alberic das Gefühl, einen deutlicheren Eindruck von dieser anderen Person zu erhaschen, und was er sah, jagte ihm viel zu tiefe Angst ein als, dass er je gewagt hätte, gegen sie anzumucksen. Ja, natürlich hatte er dann und wann Einwände. Er äußerte Bedenken, aber er tat das stets sorgsam in einer Weise, die eher nach einem Tagtraum als einem tatsächlichen Abraten von Scoundrels Plänen klang. Doch diese ungewöhnliche Wesensart war nicht alles, was Alberic an seinem Meister verfluchte. Dieser war nun einmal ein Mann der Wissenschaft, und wie alle wirklich guten Wissenschaftler – und wohl auch alle wirklich guten Künstler – hatte er eben ein wenig einen Schatten. Dafür war er ja auch ein Genie, wie es seinesgleichen suchte. Seine Uhren waren so präzise, klug und liebevoll gefertigt und so herrlich verziert, dass viele der kleinen Kinder im Dorf keinen größeren Wunsch hegten als einmal eine davon besitzen zu dürfen. Aus aller Herren Länder schienen Menschen anzureisen, nur um ein Uhrwerk Scoundrels besitzen zu dürfen, und sie überließen ihm selbst die kostbarsten Materialien ohne mit der Wimper zu zucken dafür – um hernach wahre Schätze in Empfang zu nehmen. Wie sein berühmter Erbgroßonkel Christian Elias Droßelmeier, der hier einst gelebt hatte, besaß Scoundrel die Fähigkeit herrlichstes Spielzeug mit Uhrwerken zu beleben, und so brachte er die Augen von Klein und Groß gleichermaßen zum leuchten. Allein – er hatte seine Allüren. Wann immer er etwas Besonderes baute, so wollte er, dass auch die Teile besonders waren. Zu Beginn hatte er nur nach ungewöhnlichem, teurem Material verlangt. „Bring mir Granate, Alberic!“, hieß es dann, oder „Besorge mir Silberfäden!“ Für jemanden, der in einer Goldschmiede arbeitete und mehr Geld verdiente, als er wohl je wieder ausgeben konnte, war das kein Problem. War das Gewünschte nicht vorrätig, so wurde es eben von wohlbekannten Händlern erstanden, und schon war der Meister zufrieden. Doch dann wurden die Produkte ausgefallener, und mit ihnen mussten es auch die Materialien sein. Der materielle Wert war das Eine, doch Scoundrel schien urplötzlich von der tiefen Überzeugung besessen zu werden, dass auch der ideelle Wert eines Materials seinen Nutzen für den Mechanismus mitbestimmte. „Schmilz diese alte Kirchenglocke ein, wir wollen daraus Spieldosen machen, die schöner tönen als sie es je taten!“, tönte er dann, und es wurde zu: „Bring er mir diese Porzellanpuppe – ihre Keramik wird meiner neuen Uhr das beste Gehäuse!“ Und dann hatte es begonnen, wirklich bedenklich zu werden. Scoundrel verlangte immer öfter Dinge, die bereits irgendwem gehörten. Oft musste der arme Alberic ausschwärmen, um neben seiner dürftigen Redegewandtheit auch noch Unsummen ihrer Einnahmen auf Wildfremde zu verwenden, und zurück kehrte er mit Dingen, die zwar wertvoll waren ohnegleichen – aber von Scoundrel sofort zerstört wurden, um damit etwas Neues zu schaffen. Das Handwerkerherz schmerzte dem Jüngling dabei immer wieder, doch was sollte er tun? Die Liebe zu den Uhrwerken fesselte ihn an seinen seltsamen Meister, genauso wie die aufregende Freiheit, ein eigenes kleines Büro und alle Chemikalien zu besitzen, die er sich erträumen konnte. So eigen Scoundrel war, wenn es um Mechanik ging, so hoch schätzte er Alberics Kenntnisse der Alchemie, und er stellte ihm zur Verfügung, was auch immer der Lehrling begehrte. Dennoch hätte ein Satz, das Lehrverhältnis zwischen den beiden beinahe beendet: „Die Zahnräder für dieses Werk müssen aus der Analytical Engine stammen.“ Die Analytical Engine, ein von Charles Babbage entwickeltes Gerät zur Erfüllung vor allem rechnerischer Aufgaben, nur durch einen glücklichen Zufall vom Komitee der British Association for the Advancement of Science empfohlen und von Letzterer gebaut... Ein Wunder der Wissenschaft, Grundlage des mechanischen Standards ihrer Welt – und Museumsstück in England. Die Analytical Engine gehörte nicht nur irgendjemand anders – sie gehörte dem britischen Volk und seiner Königsfamilie. Um diesen Auftrag zu erfüllen, wovon sein Unterhalt und sein Lebenstraum abhingen, ging Alberic zum ersten Mal an die Grenzen der Legalität. Er bestach einen Gutachter, der daraufhin die Analytical Engine als Fälschung „entlarvte“, und während man fieberhaft nach dem vermeintlich gestohlenen echten Stück suchte hatten Leute, die so etwas für Geld taten, das falsche Kuckucksei schon längst an sich gebracht und Alberic übergeben. Dem jungen Liebhaber der Mechanik tat es in der Seele weh, als er den ersten Computer der Welt an seinen Herren übergab. Die darauf folgende Nacht drückte er sich sein Kissen fest auf die Ohren, damit das Geräusch der demontiert werdenden Teile ihm das Herz nicht ganz so leicht zerriss. Die folgenden Aufträge waren leichter für sein Gemüt, aber schwerer für seinen Verstand gewesen. Scoundrel schien mit der Analytical Engine genügend grundlegend mechanische Teile zu haben, um seinen Lehrling wenigstens nicht mehr nach Maschinen auszusenden. Stattdessen verlangte er hauptsächlich Kunstgegenstände und historische Artfakte, die schwierig und nicht auf legalem Wege zu beschaffen waren. Als habe die Übergabe der Analytical Engine Alberics völliges Verständnis für Moral regelrecht gebrochen, beschaffte er fast wie in Trance jedes Stück, das sein Meister verlangte. Er tat es heimlich, er tat es illegal – und er tat es überraschend gut. Sein Gehirn lief selbst so schnell und sauber wie die Uhrwerke Scoundrels, und es fand zuverlässig die Wege, die zu den bestellten Gütern führten. Bald war Alberics Netz an Kontakten im Untergrund so weit verästelt, dass ihn die zwielichtigen Gestalten schon mit in ihre Verstecke zerrten, sobald man sie beinahe entdeckte. Sie schienen Mitleid zu haben für das sanfte, feingeistige Gesicht mit der filigranen Halbmondbrille, das zwischen seinem ungewöhnlichem schlohweißen Schopf und einem schlanken, langen Hals thronte, und für die geistesabwesende Leere, die in seinen blassblauen Augen stand. Da niemand von ihnen seinen Namen kannte, nannten sie ihn den „Professor“ und sie behandelten ihn mit Respekt wie einen Akademiker ihres eigenen Schlages. Und trotzdem war das einzige Gefühl, dass seine Handlungen in ihm hervorriefen nicht etwa Reue oder Scham, sondern nur gelegentlicher, wattiger Ärger darüber, was er alles durchzumachen hatte. So auch jetzt. Wieder war es ein Kunstgegenstand gewesen, den Meister Scoundrel verlangt hatte. Doch dieses Stück war noch mehr – es galt als Artefakt und war seit fast einem Jahrhundert nicht mehr von seinem wiedereingenommenen ursprünglichen Platz auf einem Podest in einem alten Tempel irgendwo in einem exotischen Land (Alberic verschwendete keine Gedanken mehr an solche Details) bewegt worden. Die Einheimischen erzählten sich von der besonderen Macht, die diese Statue angeblich ihrem Besitzer verlieh: Die Plastik machte vor anderen Menschen angenehm, sie zog Zuneigung regelrecht an wie ein Magnet das Eisen. Doch der Zuneigung folgten meistens Neid und Gier und so fiel auf jeden, der die Statue besaß, früher oder später ihr Fluch zurück. Das war alles. Messing und eine Sage. Alberic verspürte großes Unbehagen bei diesem Stück. Er war weder religiös noch besonders abergläubisch, aber etwas einem Tempel zu entwenden war neu für ihn. Museen – nun, seit dem Diebstahl der Analytical Engine schmerzte der Gedanke daran dumpf, aber gewöhnlich raubten seine Kontakte mittlerweile Galerien und Ausstellungen aus... Tempel, das war neu, und es fühlte sich gefährlich an. Ein Museum gehörte einem Land, eine Galerie ebenfalls – aber ein Tempel gehörte höheren Mächten, vor allem wenn er alt und erhaben war, und in jedem Menschen glüht ein ewiger Funke der ihn noch immer davor warnt, es sich mit höheren Mächten zu verscherzen. Der Funke wurde allerdings vom unglückseligen Verstand des Alchemisten schön vom Zunder ferngehalten. Die Turmuhr schlug und Punkt auf ihren zwölften Schlag umschlangen knochige Finger Alberics Schulter mit festem Griff. Kapitel 2: Fehlgeleitete Erfolge -------------------------------- „Wechselbalg“ nannte man den Mann, der Alberics Schulter umfasste. Ihm gefiel der Name, genau wie die Legende, die sich darum rankte: Man behauptete, dass er in Wahrheit ein Koboldkind sei, dass die Naturgeister an die Stelle eines gestohlenen Menschenkindes gelegt hatten. Dem schrieb man auch seine erstaunlichen Fertigkeiten im Diebstahl und Schleichen zu – und seine abgrundtiefe Hässlichkeit. Die meisten Leute fürchteten den zwielichtigen Gesellen und seine womögliche Fähigkeit, Feenpfeile zu verschießen. Alberic glaubte nicht an Götter, Geister, Dämonen, Feen oder Kobolde. „Gute Nacht, Herr Wechselbalg“, begrüßte Alberic seinen Geschäftspartner ruhig und befühlte den Beutel mit Münzen, den er in der Tasche trug. Wechselbalg machte stets eine riesige Theateraufführung um alles – daher auch der Treffpunkt um Mitternacht – und trug auch damit, dass er nur Münzgeld, keine Scheine akzeptierte, zu den Legenden um sich bei. Alberic vermutete dahinter aber auch noch einen deutlich trivialeren Gedanken: Niemand wurde misstrauisch, wenn man ihm Münzgeld anbot. Manche prüften es zwar auf Echtheit, aber es war nicht halb so verdächtig wie große, neue Scheine. „Gute Nacht, Professor“, grüßte Wechselbalg zurück und es gelang ihm sehr mannhaft, sich seine Enttäuschung über den ausbleibenden Schreck Alberics nur ein ganz klein wenig anmerken zu lassen. „Ich habe, was Sie wollten, aber-“ „Aber was?“, hakte der Alchemist nach, als sein Gegenüber verstummte und den Kopf wandte wie eine lauschende Katze. Wechselbalgs Blick wanderte wieder zu ihm. „Aber da war auch eine Gruppe von Archäologen, Herr Professor. Sie waren sehr aufgebracht über den...“ Er suchte nach einer eleganten Formulierung, fand aber keine. „...Diebstahl, Herr Professor. Die meisten waren keine Herausforderung, typische Wissenschaftler-“ Er stockte, als Alberics Augenbrauen sich runzelten wie Gewitterwolken, hinter denen sich etwas zusammenbraute. „-der Archäologie!“, fügte er schnell an. Der Professor hatte zwar noch niemals jemandem ein Leid getan und wirkte stets sanft, gefasst, ruhig und geistesabwesend, aber genau das waren die gefährlichsten Leute. „Nur einer tauchte immer wieder auf. Ein Teufelskerl! Ich meine – von Indien bis hierher bin ich immer wieder umgesprungen, hab meine geheimsten Routen genutzt und jeden Haken geschlagen, den ich nehmen konnte-“ „Daher also die Verzögerung“, merkte Alberic gefasst, aber mit einem leisen Unterton von gekränktem Vorwurf an. Wechselbalg hatte den Treffpunkt mehrmals verschoben, und den recht platzeinnehmenden Teil von Alberic, der stets pünktlich war und ein gleich nach mehreren verschiedenen Eigenschaften sortiertes Register seiner Chemikalien führte, beleidigte das ein wenig. Der panische Funken, der in Wechselbalgs Augen aufflammte, konnte er allerdings nicht recht deuten. „J-Ja, die Verzögerung – das tut mir leid, Herr Professor, wirklich!“, beeilte sich der Ganove zu sagen. „Mhm“, erwiderte Alberic nur geistesabwesend und streckte die Hand aus. „Darf ich das Stück nun bitte entgegennehmen?“ Wechselbalg schien verwirrt darüber, dass sein Gegenüber gar nicht interessiert an seinen Ausführungen zu sein schien (so war es auch, denn momentan herrschte in Alberics Kopf als Primärgedanke, endlich wieder ins Warme zurückzukehren, und so hatte er dem Verbrecher kaum zugehört), aber dennoch zog der zwielichtige Mann unter seiner dunklen Pelerine ein Bündel hervor und reichte es Alberic. Von da an ging alles schief. Das Bündel entgegen zu nehmen fühlte sich an, wie ein Baby zu empfangen – für Alberic, der noch nie mit dem Gedanken gespielt hatte, auch nur eine Frau unsittlich zu berühren, ein seltsamer Moment. „Das Misatyek“, flüsterte Wechselbalg seltsam ehrfürchtig, als Alberic das Leinen des Bündels auseinander schlug, um sich zu vergewissern, dass ihm keine Fälschung angedreht wurde. Im Leinen lag ein Baby aus Messing. Es hatte einen ruhigen Gesichtsausdruck, fast als sei es nachdenklich zur Welt gekommen, und seine Augen waren durch Zufall genau auf Alberics Gesicht gerichtet, als er das Tuch davon entfernte. Die Statue war ungewöhnlich detailliert, bei ganz genauem Hinsehen konnte man sogar meinen, Poren zu erkennen. Und der Blick war so lebendig, dass Alberic kurz fröstelte, als er hineinschaute – ihm war, als lege ihm jemand die Arme um die Schultern und flüstere ihm etwas Grauenhaftes mit verführerischer Stimme ins Ohr. Er beeilte sich, einen Blick auf den herzförmigen, aber lang gezogenen Granat zu werfen, der von Brust bis Bauch der Statue reichte – dann verbarg er das unheimliche Gesicht wieder im Leinen. „Sehr schön“, sagte er, und das war das genaue Gegenteil von dem, was er empfand. „Gruselig, nicht?“, meinte Wechselbalg bleich. „Als ich es vom Altar nahm, ich schwöre Ihnen, da hats noch gelächelt!“ In diesem Moment, Alberic wollte gerade die Statue unter seinen Mantel schieben, peitschte ein Schuss durch die Nacht. Es war seltsam, aber nur ein Blinzeln zuvor fühlte der Alchemist sich, als kreische ihm jemand eine Warnung ins Ohr, und gerade als die Kugel auf ihn zu – oder knapp an ihm vorbei – schießen wollte, riss er die Statue zwischen sich und sie. Das Leinen sank just in dem Moment vom Misatyek, als die Kugel darin einschlug – und die kleinen Messinghändchen schienen für einen Moment an seinen fest geschweißt zu sein und seine Arme zugleich zu stärken. Er konnte der Wucht des Schusses überraschend problemlos standhalten, auch wenn sein Körper vor Schreck nach hinten zu kippen drohte. Im Gegensatz zu der Statue. Wieder war es für Alberic, als schrie irgendjemand – obwohl er nichts hören konnte – und dann hatte die Kugel das Messing durchschlagen und stieß an den Granat. Der spitze Stein löste sich aus der Jahrhunderte alten Fassung und bohrte sich in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft zwischen Alberics Kopf und dem Misatyek. Der Alchemist, den Mund voller Schreck geweitet, warf seinen weißen Schopf in den Nacken, um sich darunter zu ducken – aber schon spürte er mit stechendem Schmerz den Granat in seinen Gaumen einschlagen, und schmerzvoll dokumentierten seine Nervenenden dessen Weg hinter seine Stirn. Alberic gurgelte Blut und sackte um in den kalten Schnee. „Hab ich dich, Wechselbalg!“, hörte er eine Stimme knurren und dann erschrocken nach Luft schnappen. „Verdammt – das war nicht geplant! He! He, Sie!“ Ein blondgebärtetes Gesicht erschien über ihm und wurde von den schwarzen Wellen der Bewusstlosigkeit, die um ihn zusammenschlugen, verschlungen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)