Falling von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Leer --------------- Vor einem Jahr, fast auf den Tag genau, hätte niemand daran geglaubt, dass die Sonne noch einmal aufgehen würde. Der bevorstehende Weltuntergang, der vom Winterkontinenten ganz im Norden ausgehen sollte, war selbst im entlegensten Winkel noch zu beobachten gewesen. Doch was genau dieses Phänomen ausgelöst hatte oder wie es gestoppt worden war, davon wusste nur noch eine Handvoll Leute. Eine dieser Personen lief gerade durch ein kleines Haus, das ebenfalls gerade einmal ein Jahr alt war. Die rosa Kleidung und die weißen Stiefeln, die bis zu ihren Oberschenkeln reichten, hatten sie schon bei ihrer Reise im vorigen Jahr begleitet. Quer über ihren Rücken trug sie mittels eines Lederriemens eine riesige in Bandagen gewickelte Waffe, die ein wenig größer und mit Sicherheit auch schwerer als sie war. Vor einer bestimmten Tür blieb sie wieder stehen und trat heftig mit dem Fuß dagegen. „Kyrie!“, rief sie gleich darauf. „Wach auf, es wird Zeit!“ Sie versuchte, die Stimme gedämpft zu halten, um alle anderen Bewohner nicht zu wecken, aber dennoch laut genug zu sein, um ihren ehemaligen Reisegefährten zu wecken. Geduldig wartete sie vor der Tür, auch wenn sie für Umstehende wohl eher ungeduldig gewirkt hätte. Sie tappte mit ihrem rechten Fuß immer wieder auf den Boden, mit viel Fantasie war eine Melodie daraus erkennbar. Sie wollte gerade noch einmal an die Tür klopfen, als sie Geräusche aus dem Inneren des Zimmers hörte. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und ein fröhlich aussehend junger Mann stand im Rahmen. Sein blondes Haar stand wie üblich von seinem Kopf ab, seine grünen Augen leuchteten ungewöhnlich gut gelaunt für diese frühe Uhrzeit. „Guten Morgen, Morte~“ Sie gab es nicht gern zu, doch seine helle Stimme sorgte immer dafür, dass sie sich sofort besser fühlte. Genau wie sein Lächeln, denn es versicherte ihr, dass der furchterregende Kyrie, der die Welt auf ihren Wunsch hin zerstören wollte, nicht mehr da war – und hoffentlich auch nie wiederkommen würde. Wenn sie heute darüber nachdachte, erschien es ihr selbst lächerlich. Die Bestienmenschen beherrschten diesen Planeten, der fast vollständig mit Sand statt Wasser gefüllt war und unterdrückten die Menschen. Morte hatte genau wie ihr Bruder dagegen angehen wollen, mit dem, was er ihr vermacht hatte: dem Destruct Code. Es war eine einfache, schwarze Kugel gewesen, der man nachsagte, sie könne die Welt vernichten, wenn man ihr Geheimnis entschlüsseln konnte. Auf ihrer Reise dieses Rätsel zu lüften, war sie Kyrie begegnet. Da der Code auf ihn reagiert hatte, war sie gemeinsam mit ihm weitergereist – nur um herauszufinden, dass der eigentliche Destruct Code Kyrie selbst gewesen war. Die Kugel hatte lediglich als Utensil gedient, seine Erinnerungen und damit seine Macht sicher aufzubewahren. Doch in dem Moment, in dem der wahre Kyrie den Untergang der Welt eingeläutet hatte, war der Zweifel in Mortes Herz ins Unermessliche gewachsen. Er erhörte ihre Bitte und stoppte den Vorgang schlussendlich. Kyrie kehrte wieder in seinen naiven Zustand zurück, den Morte so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, die schwarze Kugel endgültig zerstört und unbrauchbar, so dass nie wieder jemand den Destruct Code zur Zerstörung der Welt nutzen könnte. Doch manchmal verfolgte dieser andere, der „wahre“ Kyrie sie weiterhin in ihren Träumen und an manchen Tagen befürchtete sie, morgens nicht den gut gelaunten blonden jungen Mann vorzufinden, sondern das verbitterte rothaarige Wesen, das so alt wie die Welt selbst war. Aber bis heute war dies zu ihrem Glück nicht eingetreten. Nicht einmal eine rote Strähne, egal wie klein, schlich sich in sein Haar. Der Anblick stimmte sie glücklich und zufrieden. Und inzwischen machte es ihr auch nichts mehr aus, dies Kyrie zu zeigen. „Guten Morgen“grüßte sie lächelnd zurück. „Soll ich dir Frühstück machen?“ Sie war ihm das erste Mal in einem Restaurant begegnet, wo er sich als Bestie ausgegeben hatte, um als Bedienung arbeiten zu können. Entweder von dort oder einer anderen Gelegenheit – da war Morte sich nicht sicher – hatte er einen meisterhaften Umgang mit einem Küchenmesser erlernt. Sein Essen wurde von sämtlichen Bewohnern des Hauses und den unmittelbaren Nachbarn, die aus den verschiedensten Schichten stammten, gern gesehen. Doch an diesem Morgen schüttelte Morte mit dem Kopf. „Ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich zu Reibens Grab gehe und erst morgen wieder zurück bin.“ Kyries Blick zeigte sofort Besorgnis. „Du willst allein gehen?“ Demonstrativ zog sie an dem Riemen, der über ihrer Schulter spannte. „Ich kann gut auf mich allein aufpassen, mach dir keine Sorgen. Außerdem werde ich ja nicht länger als ein paar Tage weg sein.“ Sie hätte Kyrie liebend gern mitgenommen, einfach um der alten Zeiten willen, aber aus Erfahrung wusste sie genau, dass er sie nur aufhalten würde. Außerdem würden die Bewohner dieses Hauses sicher nur ungern auf seine Kochkunst verzichten. Zuguterletzt wollte sie auch keine Zeugen haben, wenn sie emotional zusammenbrach. Auch wenn sie überzeugt war, dass sie den Tod ihres Bruders inzwischen weitgehend verarbeitet hatte. Aber sicher war sicher. „Kommst du hier allein zurecht?“, fragte sie. Kyrie nickte. „Natürlich. Mhm...“ - er legte nachdenklich den Kopf schräg - „ich hoffe es zumindest.“ Morte lachte leise, bevor sie zufrieden nickte. „Gut, dann bin ich jetzt unterwegs. Wir sehen uns in einigen Tagen wieder.“ „Sei vorsichtig, Morte.“ Sie versprach, auf sich aufzupassen (wenngleich sie sich mehr Sorgen um den zurückgelassenen Kyrie machte) und brach schließlich zu der Reise zu ihrem alten Zuhause auf. Ihr neues Heim war eine Tagesreise von ihrem Elternhaus entfernt. Reibens Grab war ebenfalls nicht weit weg davon. Kurz nach dem Ende ihrer Reise war sie zuletzt dort gewesen, weswegen sie es für angebracht hielt, ihn wieder zu besuchen, damit er wusste, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung alter Heimat tat, schwand ihre innere Sicherheit und machte einem bedrückenden Gefühl Platz, das sie in dem Ausmaß noch nie zuvor gespürt hatte. Ihre Knie wurden weich, ihre Arme begannen zu zittern, ihr Innerstes zog sich regelrecht zusammen. Doch die Ursache dafür konnte sie nicht ausfindig machen. Egal, wie sehr sie ihre Gedanken schweifen ließ, nichts konnte ihr Auskunft über die Ursache geben. Also musste es etwas sein, was sie bislang noch nicht erfassen konnte. Schon von weitem sah sie Reibens Grab, als ob es besonders hervorstechen würde. Das bedrückende Gefühl verstärkte sich. Lag der Anlass also dort? Vielleicht hatte sie doch mehr Angst vor dieser Konfrontation, als sie angenommen hatte. Doch dies war nicht der Grund, weswegen sie direkt vor der Grabstelle schließlich in die Knie sank, die Augen ungläubig geweitet. Das kann doch nicht sein... es kann nicht... Wer tut so etwas? Die Ruhestätte vor ihr war fein säuberlich ausgehoben worden, der Sarg geöffnet – und leer. Ungläubig schüttelte sie immer wieder ihren Kopf. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen, als sie den Sarg ihres Bruders geschlossen und ihn unter die Erde gebracht hatten. Aber wer und warum würde Reiben – oder ihr – das antun? Und wo war die Leiche hin? Das ungute Gefühl in ihr übermannte sie. Plötzlich sah sie Kyrie vor sich. Ob das ein Zeichen war, eine Vorahnung? Ich muss zurück! Zurück zu Kyrie! Hastig richtete sie sich wieder auf. Ohne einen letzten Blick auf das offene Grab zu werfen, wirbelte sie herum und machte sich trotz der einsetzenden Abenddämmerung auf den Weg zurück nach Hause. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Kyrie in Gefahr war und nur sie konnte ihn beschützen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)