Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 63: ------------ Ein schallendes Klirren hallte durch den Tempel. Alle kaiserlichen Soldaten, sowohl die auf Gildensterns als auch jene auf des Kaisers Seite, zogen ihre Waffen. Beide Parteien taten einen Schritt nach vorn. Weder Cotter noch die anderen unternahmen etwas, in der Ahnung, das Problem könnte sich nun von selbst lösen. Gildenstern sah mit Genugtuung, wie sich die beiden Seiten einander näherten. Offensichtlich frohlockte er schon ob der Überlegenheit seiner eigenen Männer. Doch plötzlich stoppten diese und tauschten nervöse Blicke aus, von denen so mancher auch Gildenstern traf. Scheinbar erwachten in ihnen Skrupel, den eigenen Kaiser anzugreifen. „Seht ihr denn nicht, was hier vorgeht?“ rief Modestus, der das merkte. „Er hat meinen Vater hinterrücks ermordet, nun verrät er mich! Ihr werdet die Nächsten sein, versteht doch! Wenn schon nicht für mich, dann beendet diesen Irrsinn für Galdoria!“ rief Modestus ihnen über die Schultern seiner eigenen Wachen zu. Tatsächlich wurde das Zögern noch deutlicher. „Tötet ihn, und zwar für Galdoria!“ brüllte Gildenstern zurück. „Glaubt mir, ihr erweist unserem Land einen Dienst damit!“ Die Unentschlossenheit angesichts dieses Zwiespalts konnte er damit aber nicht lösen. Gildenstern wurde wieder des geöffneten Maleficium in seinen Händen gewahr und blickte in die aufgeschlagene Seite. Er erstarrte, und seine Augen weiteten sich. Eine Hand griff nach seiner Seele, von eiskaltem Griff und finsterer Entschlossenheit. Ein Wille rang mit dem Gefängnis, aus dem er sich schon befreit gesehen hatte. Der Entschluss, die Freiheit zu erlangen, sprengte alle Fesseln. Das Wesen, seit Jahrhunderten in dem Maleficium gefangen, war bereit, jede nur erdenkliche Gelegenheit zu ergreifen. Und diese hier war verlockend. Gildensterns Kopf begann zu vibrieren, als würde er jeden Moment zerbersten. Sein Mund öffnete sich unnatürlich weit, und der daraus ertönende Schrei ließ alle Anwesenden unwillkürlich in Deckung gehen. Gleißendes Licht strahlte aus seinen Augen; etwas aus dem Maleficium schien sich daraus zu lösen, um wie ein schattenhaft umwölktes Gespenst in sie einzudringen. Ebenso in seinen Mund, in den eine Schlange aus Rauch und dunklem Licht kroch. „Auf den Boden!“ schrie Sarik aus vollem Halse. Seine Begleiter leisteten dem folge, ohne es zu hinterfragen. Nicht so jedoch die kaiserlichen Soldaten. Nur Modestus achtete auf Sarik und blickte ihn fragend an. Das Licht wurde unerträglich hell, um daraufhin zu einem Flackern aus Schwarz und Weiß, aus Hell und Dunkel, zu werden. Die Lichtstrahlen schienen direkt aus Gildensterns Körper auszutreten, und das Maleficium in seinen Händen zerfiel zu Staub. Seine zitternde, bebende, von tausend Krämpfen gebeutelte Gestalt hob sich vom Boden und schwebte empor. Dabei streckte er die Arme von sich, während sein unkontrolliert vibrierender Kopf herabgezogen wurde, so dass er wie ein Gekreuzigter vor ihnen schwebte. Keiner der kaiserlichen Soldaten dachte noch an irgendeine Order. Sie alle umstellten diese groteske Kreatur, die sich vor ihren Augen verwandelte. Gildensterns Harnisch schmolz auf seiner Brust, ebenso ging seine Kleidung in Flammen auf. Die Überreste wurden aufgesogen von dem, was jetzt aus seinem Leib entstand. Endlich wagte es Dorian, den Blick zu heben. Was er sah, war einfach nur grauenhaft. Eine geflügelte Gestalt schwebte im Tempel, direkt über dem Altar, als wäre eines der Heiligenbilder zum Leben erwacht. Allerdings eines, das keinen Heiligen, sondern den Leibhaftigen zeigte. Ein bräunlich verfärbter Leib, als wäre Gildensterns Körper verbrannt worden, bildete den Korpus dieser grotesken Kreatur. Glänzende Streifen überzogen ihn, wie Erzadern in dunklem Gestein. Gewaltige Schwingen entfalteten sich mit einem knirschenden Geräusch. Die Augen jenes Wesens, das früher den Namen Gildenstern getragen hatte, loderten wie der Scheiterhaufen eines Ketzers, dessen Sünden nun mit Blut und Feuer vergolten wurden. Bevor sich noch irgendeiner der kaiserlichen Soldaten aus seiner Schreckstarre befreien konnte, öffnete diese Kreatur ihren Schlund. Eine Flutwelle von den Flüchen längst einen qualvollen Tod Gestorbener brach daraus hervor. Dorian erkannte im Sturmwind aus giftigen Winden und unheilvollen Schreien reitende Skelette auf Pferden, die ebenso aus verblichenen Überresten bestanden, abgebrochene Waffen in knochigen Händen haltend und mit aufgerissenen Kiefern auf sie zu galoppierend. Bis sich Sariks Hand auf seinen Kopf legte und ihn unsanft zu Boden drückte. Die Armee des Todes galoppierte über die kaiserlichen Soldaten hinweg und durch sie hindurch. Ein Orkan aus dem Hass längst zu Staub zerfallener Krieger ließ ihre Rüstungen, ihr Fleisch und schließlich auch ihre Gebeine zu Asche zerfallen. Modestus, der Sariks Warnung mitbekommen hatte, warf sich zu Boden, fast zu spät allerdings. Der Fluch des Kriegsgottes streifte ihn, und ein Teil seiner Schulter wurde zu Asche verbrannt. Sein Gekreische ging unter in dem Tosen der Geisterarmee, die über sie hinweg galoppierte. Endlich versiegte das Inferno. Sarik war bereits auf den Beinen, und auch seine Wegbegleiter waren unversehrt. Von den Soldaten des Kaisers war jedoch nichts als Staub und graue Asche geblieben. Modestus lag inmitten dieser Spuren, die wie der Rest eines niedergebrannten Scheiterhaufens wirkte, und wand sich in seinen Qualen. Dorian stellte entsetzt fest, dass ein Teil seines Arms und seiner Schulter verkohlt waren und unter zuckenden Bewegungen langsam zerfielen. Er erstarrte vor Mitleid und auch Abscheu, dann zog ihn Sarik mit sich. Sean Hardy starrte fassungslos auf seine Geräte, die allesamt ausfielen. Aus dem Funkgerät drang nur mehr atmosphärisches Rauschen. Schließlich vergaß er Gildenstern beschwörende Worte, auf jeden Fall im Flugschiff zu bleiben, und trat durch die Luke ins Freie. Er beschirmte seine Augen gegen das erstarkte Tageslicht und blinzelte in Richtung jenes Gebäudes, das sie seinen Funkrufen nach zuletzt betreten haben mussten. Sein Augenmerk glitt über Dächer, Säulengänge und Kuppeln- um an einer Kuppel zu stoppen, deren Wölbung barst. Hardy hörte das Einstürzen des Gewölbes aus der Entfernung. Mauerstücke fielen in die Tiefe, und ihr Aufschlagen ließ Staubschwaden bei den Eingängen austreten. Dann stockte sein Atem, als er sah, was sich durch diese so entstandene Öffnung ins Freie kämpfte. Verbrannt aussehende Klauen suchten Halt am geborstenen Mauerwerk, um einen bizarren Leib mit langen Flügeln ins Freie zu ziehen. Gleich einem Schmetterling, der gerade aus dem Kokon schlüpft, so befreite sich die groteske Kreatur aus ihrem steinernen Gefängnis. Einige wenige unbeholfene Bewegungen später schwang sie sich Kraft ihrer Schwingen empor, um wie ein Engel des Todes über der Stadt zu schweben. „Bei den Göttern…“, ächzte Sean Hardy. Er glaubte an keine Götter, aber der Anblick dieser Kreatur, dieses geflügelten Dämons, ließ ihn zweifeln, ob es nicht zumindest Götter der Finsternis geben musste. Was ihn aber noch mehr verstörte als der Anblick eines so furchtbaren Geschöpfes, das war die Ähnlichkeit. Eine Ähnlichkeit, die ihm den Hals zuschnürte und seinen eigenen Augen misstrauen ließ. Die Streifen aus geschmolzenem Gold, gleich des Harnisches, den sein Freund getragen hatte. Das Gesicht, mit den scharf geschnittenen Zügen, das kurze, strohblonde Haar, das eben dieses Gesicht umrahmte. All diese Merkmale, die zu einem Menschen gehörten und die sich nun an einem Ungeheuer zeigten. Einem Menschen, der sein Freund gewesen war. „Jan…“, flüsterte er mit zitternder Stimme in das Funkgerät, das er immer noch in Händen hielt. Doch die Antwort blieb aus. Und so bahnte sich eine furchtbare Gewissheit den Weg in seinen Verstand. „He, Sie da!“ hörte er eine aufgebrachte Stimme. Sean Hardy senkte den Blick und sah eine kleine Gruppe auf sich zu laufen. Es waren weder die Männer von Gildenstern noch die Wachen des Kaisers unter ihnen. „Wer sind sie?“ fragte Hardy. Im nächsten Moment sah er sich bereits von einer siebenköpfigen Gruppe umringt. Einer von ihnen, ein vierschrötiger Mann von dunkler Hautfarbe, dessen Gesicht vor Zorn förmlich glühte, trat auf ihn zu. „Haben Sie diesen Gildenstern hierher gebracht?“ Hardy, unfähig zu einer Antwort, nickte nur verstört. „Gut! Denn jetzt sammeln wir ihn wieder ein, und Sie werden uns helfen dabei!“ Dorian stand vorn, beim Pilotensitz, wo sich auch Sarik und der Mann, der sich ihnen als Sean Hardy vorgestellt hatte, aufhielten und aus dem Sichtfenster sahen. Unter ihnen zog die Ebene mit ihrem strohfarbenen Bewuchs vorbei, während in der Entfernung ihr Ziel in weiten Bögen den Himmel durchmaß. „Ich kann es nicht glauben… Wie konnte er so töricht sein?“ fragte Hardy. Sarik hatte ihm die Geschehnisse im Tempel in aller Kürze erläutert, und nun unternahm der Pilot den verzweifelten Versuch, das Ungeheuer, das einst Gildenstern gewesen war, einzuholen. „Das Wesen, das in das Maleficium gebannt wurde, hat immer schon versucht, die Menschen um sich herum zu korrumpieren“, erklärte Sarik. Dorian entging der leise Selbstvorwurf in seinem Tonfall nicht. „Was tut er jetzt? Ich meine, er ist ja nicht mehr er selbst, oder?“ fragte Hardy mit banger Stimme und deutete dem grauen Horizont entgegen, dem die neu entstandene Kreatur jetzt mit kräftigen Flügelschlägen entgegensteuerte. „Dieses Wesen… Es hat offenbar nur einen einzigen Weg gesehen, und zwar sich mit dem, der nach seiner Macht gegriffen hat, zu vereinen. Für beide keine erstrebenswerte Lösung, und ihre Seelen ringen nun miteinander in diesem Körper.“ Alle horchten aufmerksam zu. Dorian drehte sich um und sah das nervöse Gesicht von Brynja, deren Blick in der Ferne nach dem Ungeheuer forschte, dessen Geburt sie erlebt hatten. Er sah auch Hargfried, der sich immer noch in ihrer Mitte befand, obwohl das Maleficium endgültig verloren war. Nur noch die Neugier, wohin ihn diese Reise führen würde, die mit der Suche nach den Mördern seines Vaters begonnen hatte, schien jetzt seine Handlungen zu bestimmen. Iria und Nadim standen beieinander und stützten sich gegenseitig mit dem Vertrauen, das über die Jahre hinweg gewachsen war, so tief wie die Bande zwischen Geschwistern ging und sie auch jetzt nicht verlassen würde. All dies spürte Dorian genau, wenn er sie ansah. Er wunderte sich über Nadim, der immer noch irgendwo in den Winkeln seiner Persönlichkeit genug Mut fand, um sie auch auf dieser allerletzten Etappe zu begleiten. Seine Augen blickten klar und stolz in die Ferne, wo ihre letzte Herausforderung lag, und sie schämten sich nicht mehr der Angst, mit der er Zeit seines Lebens gerungen hatte. Vielmehr schienen sie den zufriedenen Blick seiner Vorfahren, der Wenzelsteins, auf sich zu spüren, die endgültig überzeugt sein mussten, dass er einer der Ihren war. Dann fiel Dorians Blick auf Iria. Ihre Miene war gelöst, beinahe fröhlich. Im Angesicht ihres endgültigen Scheiterns, das Maleficium zu finden, schien sie Erleichterung zu verspüren, dass nun die Verantwortung von ihr abfiel, das Unmögliche schaffen zu müssen. Sie hatte es zwar nicht geschafft, aber auch mit eigenen Augen gesehen, wohin einen anderen Menschen das Streben nach dem Maleficium führte. Dorian selbst verspürte verwunderlicherweise keine Angst mehr: Nicht um sich selbst oder sein Zuhause, das er sowieso nicht mehr retten konnte, und auch nicht um seine Begleiter, die, wollte er es wahrhaben oder nicht, zu seinen Freunden geworden waren. Am ehesten noch verspürte er Angst für Iria. Allerdings nicht um sie: Die Entschlossenheit, die immer unterschwellig aus ihren Augen leuchtete, hatte ihm längst klar gemacht, dass sie ihren Weg unbeirrt bis ans Ende gehen würde. Es war eher die Angst um die Zeit, die er mit ihr verbringen hatte dürfen, und die nun, so spürte er es in jeder Faser seines Körpers, vielleicht endgültig endete. „Was wird er nun tun?“ fragte Hardy, dessen fragender, trauriger Blick Sarik traf. „Wie gesagt, ihre Persönlichkeiten sind nun miteinander verschmolzen; ich glaube aber, dass Ares die Oberhand gewinnen wird. Seine Macht geht über Menschenverstehen hinaus, und er wird dorthin wollen, wo ihm gehuldigt wird.“ „Was für ein Tempel könnte das sein, in dem so einem… Monster gehuldigt wird?“ „Kein Tempel“, erwiderte Sarik düster. „Diesem Gott wird nur an einem Ort gehuldigt. Auf dem Schlachtfeld, wo er jeden Gefallenen als Gebet auffasst.“ Endlich gelang es dem Piloten, das Schiff neben die Kreatur zu steuern. Hardy wandte sich voller Abscheu ab, als das Ungeheuer, das seinen Freund in sich aufgenommen hatte, ihnen eine undeutbare Grimasse zuwarf. Dann wich er ihnen mit einem jähen Haken aus. Dieses Wesen war um vieles wendiger als das träge Flugschiff, und so entkam es ihnen mühelos. „Wir müssen etwas unternehmen“, murmelte Sarik, während der Pilot abermals die Kreatur, die wie die gigantische Karikatur eines Raubvogels über den Himmel von Galdoria dahin raste, ansteuerte. „Wenn er erst den Frontverlauf erreicht, wird seine Macht noch größer. Er wird die Energie der sterbenden Soldaten in sich aufnehmen, und ihr Schmerz wird ihn noch weiter stärken. Unserer Welt droht ein ewiger Krieg, den er anheizen wird, um sich davon zu nähren.“ Sarik schüttelte den Kopf, und die beunruhigten Blicke aller trafen ihn. Plötzlich lichtete sich sein Gesicht. „Ich habe eine Idee!“ Damit wandte er sich an den Piloten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)