Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Die meisten Lampen waren verlöscht. Nur noch eine Einzige brannte an Yannicks Schreibtisch. Er brütete über seinen Aufzeichnungen, die er sehr gewissenhaft führte. Dorian betrachtete ihn von seinem Stockbett aus. Im Gegenlicht der einzelnen Glühdrahtlampe wirkte Yannicks Gesicht älter als sonst, die Falten wirkten tiefer und die einzelnen grauen Strähnen in seinem Bart zahlreicher. Gaubert lag im Stock über ihm und schnarchte. Im gegenüberliegenden Stockbett lagen Nikodemus und Ludowig. Sie unterhielten sich leise und lachten hin und wieder auf, aber nur verhalten, um ihre Gäste nicht zu stören. Nadim Wenzelstein lag schon eine Weile in seinem frisch überzogenen Bett und schlief tief und fest. Er vergrub sich förmlich in Decke und Polster, als hätte er derartige Annehmlichkeiten schon eine Weile nicht mehr in Anspruch nehmen können. Iria Halloran war erst vor kurzem vom Dach herabgekommen, um sich wortlos zur Ruhe zu legen. Die Formen ihres Körpers zeichneten sich nur undeutlich unter der Decke ab, geradeso, als suchte sie ihre Erscheinung zu verschleiern. Als wollte sie sich verstecken vor einer nicht greifbaren Bedrohung. Dorian betrachtete seinen Escutcheon. Selbst im Dunkeln glomm das Metall schwach, als würde eine eigenständige Energie ihn von innen zum Glühen bringen. Er betrachtete die Glasscheibe, in der ein zarter Schein von Grün um dessen Ränder tanzte. Es war sehr wenig, wie ihm bewusst war. Die Wachen des Kaisers Modestus hatten zumindest eine, und viele mehrere der Scheiben ihrer Escutcheons aus Stahl oder sogar Gold gefüllt. Dies war ein Zeichen langjähriger Kampferfahrung und machte sie zu einem ernsten Gegner selbst für starke Kämpfer. Und von einem starken Kämpfer war er noch weit entfernt. „Mist…“, fluchte er tonlos und legte den Escutcheon auf den kleinen Schrank neben dem Bett. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte auf die vergilbte Matratze hinter dem Lattenrost oberhalb seiner Liegestatt. „Eines Tages werde ich ein großer Kämpfer sein… und der König aller Diebe. Das weiß ich genau…“, flüsterte er vor sich hin. Er schloss die Augen und im Nu war er verstrickt in einen Traum an der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen. Einem Traum, in dem er, in voller Rüstung und mit einem prächtigen Schwert, seine Widersacher bekämpfte, in dem selbst die Garde des Kaisers ihn fürchtete und er durch fremde Länder zog und in Ruinen eindrang, um dort scheußliche Ungeheuer zu vernichten. Er sah sich selbst, über geöffnete Schatztruhen gebeugt, aus denen Gold und Juwelen glühten und sich auf seinem polierten Brustpanzer sowie in seinen geweiteten Augen spiegelten. Er sah sich auch in einem großen Haus, voller Marmor und Wandteppiche, von Dienerschaft umringt, mit herbeigebrachten Früchten in den Fingern seiner von Ringen geschmückten Hand- und nicht mehr in dem ärmlichen, verfallenen Haus am Bucket-Weg, einer der schäbigsten Gegenden von Galdoria, wo er letztendlich einschlief. Die sanften Wogen des Schlummers ebneten die Sandburgen seiner Wachträume ein und verteilten sie gleichmäßig im Sand seines traumlosen Schlafs. Der Himmel war grau und seine Tränen flossen beständig. Sie trommelten gegen das Dach der Waggons, liefen in dichten Strömen die angelaufenen Scheiben hinab und bildeten tiefe Pfützen auf dem Bahnsteig. Der Zug kam zum Halten, und der Ruck weckte die meisten der Passagiere. Stickige Luft ließ die Scheiben beschlagen. Säuglinge erwachten und schrien. Mütter versuchten sie zu beruhigen. Männer blickten nervös durch die überfüllten Abteile, in denen man vor zusammengedrängten Personen, übereinander gestapelten Koffern und Kisten und einigen hechelnden Haustieren kaum den Boden erkennen konnte. Ein Mann saß da, und er war wach. Unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze glänzten Brillengläser. Nur sein Kinn und der von Falten zerfurchte Bereich um seinen Mund, der dicht von dunklen Bartstoppeln besetzt war, waren sichtbar unter der Kapuze. Neben ihm lehnte an der Wand des Zugabteils ein langer Gegenstand, fest in weißen Stoff eingewickelt. Der Zug stand jetzt. Viele der Passagiere drückten gegen das Glas, ihre von Furcht erfüllten Blicke sahen aber nur den Regen, der gegen die Fenster peitschte. Dann erst sahen sie Gestalten in langen Mänteln. Sie waren alle gleich gekleidet. Mit herrischen Stimmen trieben sie die Familien, die alten Männer mit Gehstöcken, die Mütter mit schreienden Kindern in ihren Armen, und die jungen Väter mit ihren schweren Koffern ins Freie. Sie gingen brutal und rücksichtslos vor. Bald war der Zug leer, und die unüberschaubare Menschenmenge versammelte sich auf dem Bahnhofsplatz. Auch der Mann mit der Kapuze stand im Freien. Der Regen trommelte ohne Gnade auf die Menschen, ließ Bäche seiner kalten Berührung über ihre verängstigten Gesichter laufen und durchnässte ihre Schuhe, die nervös in Pfützen traten. Die Soldaten mit ihren langen Mänteln und ihren zur Schau gestellten Waffen bildeten mit harschen Befehlen mehrere Kolonnen. Oft schrien sie die verängstigten Flüchtlinge an, und manchmal stießen sie sie zu Boden, wenn Gebrechliche und Kranke nicht schnell genug reagieren konnten. Der Mann mit der Kapuze besah sich dies alles, sein langes Gepäckstück mit einem Riemen über der Schulter tragend. Sein teilnahmsloser Blick traf die Soldaten, die Ausweise und Gepäck kontrollierten. Jene, die Glück hatten, durften in den Zug wieder einsteigen. Andere wurden weggetrieben. Erstarrte Blicke folgten den Kolonnen, die von den Soldaten mit Schreien und Hieben weggetrieben wurden. Einige Frauen begannen zu weinen und drückten ihre Kinder fester an sich. Ihre Männer standen daneben. Aus ihren Mienen sprach Hoffnungslosigkeit und stumme Resignation. Der Mann mit der Kapuze kam an die Reihe. Die drei Soldaten, die seine Kolonne abfertigten, blickten ihn durch ihre hochgeklappten Visiere mit unverhohlener Geringschätzung an. Wortlos reichte er ihnen seine Papiere. „Was haben wir hier…? Sarik Metharom, aus der Südprovinz von Mosarria, so, so…“ Er tauschte vielsagende Blicke mit seinen Kameraden an. Sarik Metharom verzog keine Miene, und hätte er es getan, so hätte man es unter seiner Kapuze im vom Regen getrübten Zwielicht kaum erkannt. „Das Ding da…“ Ein weiterer Soldat deutete auf sein einziges Gepäckstück. „Das ist konfisziert. Ein Erlass vom Kaiser. Flüchtlinge können rein, zumindest ein gewisses Kontingent. Aber Freischärler werden mit dem Tod bestraft, und ihr wollt doch nicht mit einem verwechselt werden?“ Die Soldaten lachten, doch Sarik reagierte nicht. Er sagte nur ein einziges Wort. Seine tiefe, überraschend sanfte Stimme drang unter der Kapuze hervor, und sein unrasiertes Kinn bewegte sich kurz. „Nein.“ Die Soldaten blickten sich an. Es war offensichtlich, dass sie nicht mit Widerstand gerechnet hatten. Sie verständigten sich durch Blickkontakt, dann winkten sie weitere Soldaten herbei, die zuvor noch mit strengen Blicken und offener Feindseligkeit die Kolonnen der durchnässten Flüchtlinge überwacht hatten. „Wir haben hier einen ‚Sonderfall‘“, sagte der Soldat, der immer noch seinen Ausweis in der gepanzerten Hand hielt. Er steckte ihn ein und musterte ihren ‚Sonderfall‘ argwöhnisch. „Ihr macht hier weiter. Wir ‚kümmern‘ uns derweil um das ‚Anliegen‘ dieses Herrn.“ Sie deuteten ihm, zu folgen. Von insgesamt vier Soldaten umringt, ging Sarik in die befohlene Richtung. An ihren Armen glänzten die Stahl-Escutcheons ihrer Armee, und bei jedem von ihnen leuchtete eine der Glasscheiben in einem satten, vollen Grün. Aus seinem Augenwinkel sah er die Menschen aus dem Zug. Manche stiegen wieder in den Zug ein und klammerten sich dabei an ihre wenigen Habseligkeiten, als wären sie der letzte verbliebene Rest von Heimat, den sie noch hatten. Andere wurden in Gruppen weggeführt. Die Befehle der Soldaten hallten durch den strömenden Regen. Ihre Schritte klatschten durch tiefe Pfützen, und Angst war aus ihnen herauszuhören. Sarik wandte sich wieder ab von all dem Elend, und so kamen sie auf die Rückseite des Bahnhofsgebäudes, wo sie niemand sehen oder hören würde. „So, du Witzfigur. Jetzt legst du alle deine Wertsachen ab, und dann darfst du vielleicht wieder einsteigen in den Zug“, sagte einer der Soldaten. Aus seinem Blick sprach jene Kälte und sadistische Belustigung, wie sie Soldaten zu Eigen wurde, die angesichts grausamer Erlebnisse im Krieg ihre Menschlichkeit vergessen hatten. Sarik hatte dies schon oft gesehen. „Bist du taub? Oder sollen wir dich gleich umbringen?“ schrie ein anderer Soldat. Dann erfolgte ein Lachen, aus dem der Wille zur Einschüchterung, die Angst davor, durchschaut zu werden, und das Gefühl absoluter Macht einem wehrlosen Menschen gegenüber sprach. Sarik lüftete mit langsamen Bewegungen seine Kapuze. Sein Gesicht kam zum Vorschein. Durch sein wirres, schwarzes Haar zog sich eine auffällige graue Strähne. Sein Gesicht war kantig, fast ausgemergelt. Tiefe Falten saßen um Mund und auf seiner Stirn. Er trug eine Brille, die nur ungenügend verschleierte, dass er nur ein Auge hatte. Das andere war bleich von einer Augenkrankheit, oder auch von einer Verletzung, man konnte es nicht genau sagen. Er hob leicht die rechte Hand. Sein Ärmel rutschte zurück, und der Rand eines Escutcheons wurde sichtbar. Er hob ihn weiter und näherte sich mit ihr dem langen Gegenstand auf seinem Rücken. Unruhe kam nun in die Soldaten, und sie zogen aus Vorsicht ihre Waffen. „Keine falsche Bewegung!“ schrie einer von ihnen. Seine Hand am Schwert zitterte leicht. Aus seiner Stimme klang die Befürchtung, die überlegene Fassade zu verlieren. „Ich mache niemals falsche Bewegungen“, flüsterte Sarik. Die Männer starrten ihn mit weit geöffneten Augen an. „Zum letzten Mal, leg das Ding ab!“ brüllte einer der Männer, und seine Stimme überschlug sich fast. Sie kamen näher und hoben dabei ihre Waffen. Sarik verbreiterte seinen Stand, ging leicht in die Knie und schloss seine rechte Hand um das Ende des Gegenstands auf seinem Rücken. Ein singender Klang entwich seinem Escutcheon. Der Kampfdom spannte sich über ihn auf, umschloss die vier Soldaten und hüllte sie alle ein. Der erste Soldat stürmte heran. Er zielte mit der Klinge genau auf sein Brustbein, und Sarik wandte sich ihm zu. Das weiße Tuch, das eben noch den Gegenstand eingehüllt hatte, flatterte durch den Regen wie ein sterbender Vogel, der langsam zu Boden sank. Sariks Waffe, eine schlanke Klinge von leichter Biegung und mit einem verbreiterten Ende, blitzte im Grau des fallenden Regens auf. Der Hieb schlug dem Soldaten seine Klinge fast aus der Hand, und er taumelte mit einer Miene des Entsetzens zurück. Verwirrt und bestürzt zugleich starrte er den Mann an, der vor ihm stand und sein eigenes Schwert in beiden Händen und zu Boden gerichtet hielt. „Tötet ihn, sofort!“ schrie der Soldat, und unterdrückte Panik klang aus seiner Stimme. Seine eigene Forschheit war für den Moment versiegt, und so ließ er seine Kameraden angreifen. Sarik erwartete sie und reagierte erst im letzten Moment. Mit gefassten Bewegungen parierte er ihre Hiebe, und jedes Mal traf sie der prüfende Blick seines gesunden Auges, gerade so, wie der eines Lehrers, der die Fortschritte seiner Schüler überwacht. Wilde Schreie erklangen in der Arena, die die fünf Kämpfer einschloss, und das Aufeinandertreffen ihrer Klingen erhellte seine Ausdehnung für kurze Momente. Wieder ließ Sariks Reaktion einen Schwerthieb ins Leere gehen, und der Konter folgte schnell wie ein Blitz in finsterer Nacht. Der Hieb spaltete die Rüstung des Soldaten von der Schulter abwärts. Dessen Herzschläge ließen das Blut in dunklen Bächen herauslaufen. Der Soldat sank zu Boden, und Sarik wandte sich den verbliebenen Herausforderern zu. Diese sahen sich an und versuchten gar nicht mehr, ihre Furcht zu verbergen. Mit dem Mut der Verzweiflung griffen sie an. Ihre Hiebe sandten blecherne Geräusche durch die Arena. Die blauglühenden Linien des Kampfdoms rotierten langsam um ihr Zentrum, um den einäugigen Mann, der mit seiner schlanken Klinge die Attacken der Soldaten abwehrte wie ein Lehrmeister, der eine Lehrstunde gab. Doch dieser Lehrmeister kannte kein Erbarmen, und seine Klinge war geschliffen. Und so sirrte sie an den hektisch fuchtelnden Klingen seiner Kontrahenten vorbei, schnitt schnarrend durch ihre Harnische und ließ sie sterbend zu Boden sinken. Zwei der Soldaten lagen bereits tödlich verwundet im nassen Gras. Der dritte, von einem Konterhieb an der Kehle getroffen, sank röchelnd vor ihm zu Boden. Der verbliebene Soldat, der mit der lautesten Stimme und dem wenigsten Mut, stand hinter ihm und hielt fest mit beiden Händen sein Schwert, als bestünde die Gefahr, es könnte ihm aufgrund seines Gewichts entgleiten. Dann stürmte er mit hektischen Schritten los. Sarik wandte ihm immer noch den Rücken zu. Er schwang seine Waffe in einer eleganten Bewegung und nahm eine neue Stellung ein. Dann drehte er sich in einer wirbelnden Bewegung, die seinen Mantel aufbauschte, und ließ so den Soldat an ihm vorbeitaumeln. Dessen Angriff ging ins Leere. Sariks Klinge blitzte auf und sandte einen grellen Schein durch die Arena, woraufhin der Soldat zu Boden sank. Sein Schwert entglitt ihm, und aus einer Wunde am Rücken floss Blut. Er stand da, das Schwert in beiden Händen, den Griff vor dem Gesicht und die Spitze auf seinen letzten Widersacher gerichtet. Der Kampfdom schrumpfte zusammen, die blauglühenden Linien erloschen, und das Grau das verregneten Himmels fiel wieder ungefiltert auf die Szenerie aus vier toten Soldaten und einem aufrechtstehenden Mann. Dieser hob das weiße Tuch auf und wartete, bis der strömende Regen die makellose Oberfläche seiner Klinge reingewaschen hatte. Schwere Tropfen glitten über ihre Oberfläche und ließen die dunkle Flüssigkeit auf ihr im Boden versickern. Dann wickelte er seine Waffe wieder in das Tuch. Der Escutcheon an seinem rechten Arm kam zum Vorschein. Drei volle Kreise aus schimmerndem Glas strahlten in einem satten Grün an der Armschiene, und der Vierte war zur Hälfte gefüllt. Er hängte sich die Waffe wieder auf den Rücken, dann beugte er sich über eine der verkrümmten Gestalten. Aus der Tasche des Soldaten nahm er seinen Ausweis wieder an sich. Seine Ohren vernahmen das Pfeifen des in Kürze abfahrenden Zuges, woraufhin sich seine Schritte beschleunigten. Dabei streifte er sorgfältig den Ärmel über seinen Escutcheon und verbarg so die grünleuchtenden Scheiben darauf. Wieder saß er im Zug am Fenster, die Kapuze ins Gesicht gezogen, und blickte hinaus. Der Regen ließ allmählich nach, der Himmel begann sich zaghaft aufzuklaren. In der Ferne tauchten die Umrisse einer großen Stadt auf. Durch die Gläser seiner Brille erkannte er die unregelmäßigen Umrisse der Dächer, Türme und Festungsanlagen der Stadt Galdoria. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)