Shattered- Take me home to my heart von -Syu- ================================================================================ Kapitel 1: Chapter I -------------------- Uruha’s POV (Point of view) Das blechern schrille Klingeln seines antiken Weckers riss ihn aus einem unruhigen Schlaf. Stöhnend rollte er sich zur Seite und schlug mit der flachen Hand auf den Aus- Knopf. Der Wecker verstummte. Grummelnd drehte er sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Die Verlockung, einfach liegen zu bleiben und die Schule sausen zu lassen schien beinahe unwiderstehlich groß. Wen kümmerte se schon, ob er nun am ersten Schultag im neuen Jahr anwesend war oder fehlte? Seinen Vater bestimmt nicht. So wie er ihn kannte, lag er wieder schnarchend in seinem heiligen Gemach, während ein übel riechender Alkoholdunst schwer über dem Zimmer hing. Voller Ekel versuchte er, das aufsteigende Bild in seinem kopf zu verdrängen. Er hasste seinen Vater. Nicht so, wie es Andere vielleicht taten. Es war keine Phase pubertärer Rebellion oder übler Laune. Er hasste ihn. Tief in seinem Herzen. Hiroki Takashima war in seinen Augen nur ein widerlicher alter Sack, der es in seinem Leben zu weniger als nichts gebracht hatte. Seine Frau hatte ihn und seinen Sohn mit einem Haufen Schulden verlassen, er hatte seine Arbeit verloren und seinen Frust im Alkohol ertränkt. Anstelle zu versuchen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, tat er nichts besseres, als Tag ein Tag aus mit mieser Laune zu Hause zu sitzen. Mit dem Ziel, seinem Sohn Kouyou, kaum dass dieser die Wohnung betrat, zu zeigen, wie sehr er das Leben und ihn verabscheute. Resigniert seufzend schwang er die Beine aus dem Bett und tastete nach dem Lichtschalter. Es hatte ja doch keinen Sinn. Würde er jetzt zu Hause bleiben, würde sein Lehrer schon vom allerersten Schultag an Abneigung gegen ihn empfinden und wenn sein Vater aufwachte, wäre die Ruhe eh vorbei. Er schaltete das Licht, nach schier unendlicher Sucherei, an und warmes, gelbes Licht erleuchtete sein spärlich möbliertes Zimmer. Ein schmales, ungemachtes Bett, daneben in geduckter Kleiderschrank mit knarrenden Türen, die schief in den Angeln hingen. Ein monströser, alter Schreibtisch, auf dem sich Bücher, Hefte und Geschirr stapelten. Staubige, graue Holzdielen, auf denen sich zerknüllte Papierfetzen und getragene Socken erstreckten. Er bückte sich, angelte eine zerknitterte Jeans unter dem Bett hervor und klopfte sie aus. Staubflocken tanzten im Licht und er runzelte angewidert die Stirn. In den Ferien hatte er das Wäschewaschen ein wenig vernachlässigt, das musste er sich eingestehen. Immerhin gab es in seiner Schule keine Uniformpflicht, und auch wenn die meisten Schüler eine trugen – er tat es jedenfalls nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlüpfte er in die Hose, bahnte sich einen Weg zum Schrank, vorbei an alten und dreckigen Kleidungsstücken, um diesen mit der einen Hand zu öffnen, während er mit der Anderen die ihm entgegenkommende Kleiderflut abhielt. So schnell es ging, zog er ein einigermaßen ordentlich zusammengelegtes Hemd aus dem Haufen und schlug die Tür wieder zu. Na toll, blaue Jeans und ein weißes Hemd, wie spießig. Gelangweilt strich er die gröbsten Falten am Kragen ein wenig glatt und zog sich das Hemd an, dass sich knitternd an seinen schmalen Oberkörper schmiegte. Aus dem Spiegel im Bad blickte ihm ein übermüdet aussehender 17- Jähriger mit dunklen Ringen unter den Augen an, der aber ansonsten ein recht hübsches Gesicht und einen schlanken, hochgewachsenen Körper mit feingliedrigen Armen und Händen hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er keine Zeit mehr hatte, sich großartig zu stylen. Somit klatschte er sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, fuhr sich einmal mit der Haarbürste durch das gebleichte Haar und schmierte sich lustlos ein wenig Make-up ins Gesicht. Mehr oder weniger zufrieden mit seinem Aussehen tapste er zurück in sein Zimmer, stopfte sämtliche Bücher und Hefte in seine schwarze Schultasche und eilte auf Socken über die Diele zur Wohnungstür, wobei er ihm Vorbeigehen einen Blick auf seinen Vater erhaschte, der mit dem Kopf auf der Tischplatte in der Küche saß und schlief, vor ihm reihten sich leere Bierflaschen auf. Er unterdrückte seinen Ekel und schlug hastig die Wohnungstür hinter sich zu. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es bereits 7.55 Uhr war. Scheiße, er würde zu spät kommen. _______________________________ So sehr er sich auf dem Schulweg auch beeilt hatte, war es bereits 8.25 Uhr, als er in den Schulhof einbog, der bereits wie ausgestorben dalag. Natürlich, der Unterricht hatte schließlich vor zehn Minuten begonnen. Wenn er Pech hatte, durfte er den ganzen Vormittag draußen vor dem Klassenzimmer stehen und die Türklinge drücken. Welch verlockende Aussicht. In der Eingangshalle überflog er mit tränenden, zusammengekniffenen Augen die eng gedruckten Listen. Verdammt noch mal, seine Brille hatte er natürlich mal wieder vergessen. Den unscharfen Hieroglyphen entnahm er schließlich doch, dass sich sein Klassenzimmer im zweiten Trakt, im dritten Stock befand und hastete los. Atemlos klopfte er gegen die weiß gestrichene Tür. Drinnen erstarb der monotone Singsang des Lehrers. Sekundenspäter ging die Tür auf. Entschuldigend senkte er den Kopf und setzte zu einer Erklärung an, wurde aber mit einem ungehaltenen „Wenn das noch einmal passiert, lasse ich Sie beim Rektor vorstellen“ in die letzte Reihe verwiesen, wo er den Rest der Stunde damit verbrachte, kleine Figuren auf den Rand seines Heftes zu zeichnen und kein einziges Mal aufsah. Im Stundenwechsel stellte er fest, dass er es anscheinend ganz gut getroffen hatte. Er hatte den einzigen Einzelplatz ergattert, alle anderen Schüler hatten einen Sitznachbarn. Zudem saß er im toten Winkel des Lehrers, der ihn von hier aus vermutlich kaum sehen konnte, wenn er sich in Richtung Fenster lehnte. Von den Mitschülern würde ihm wohl Keiner Ärger machen. Sicherlich würde er mit ihnen nicht viel zu tun haben. Er hielt nicht besonders viel von anderen Leuten in seinem Alter. Seine Freunde hatte er außerhalb seines Schulalltags, damit hatte er sich bereits abgefunden. Zufrieden lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass der Vormittag geruhsam an ihm vorbeizog. Um exakt 15.30 Uhr wurde er durch den Schulgong vom seinem nicht enden wollenden Schultag erlöst. Augenblicklich setzte geschäftiges Murmeln um Klassenzimmer ein, während seine Mitschüler um ihn herum hastig ihre Sachen zusammenpackten und in kleinen Grüppchen das Klassenzimmer verließen. Er trödelte gedankenverloren herum und schlich schließlich mit gesenktem Kopf am Lehrerpult vorbei. Er war schon beinahe zur Tür hinaus, als… „Takashima- kun!“ Langsam drehte er sich um, wobei er vermied, den Lehrer direkt anzusehen. „Sensei.“ „Sehen Sie mir in die Augen, wenn ich mit Ihnen spreche.“ Trotzig sah der Blonde ihn an, während sich seine Fingernägel nervös in die Handflächen gruben. „Ich verachte Unpünktlichkeit in meinem Unterricht. Sollte mir dieses Verhalten noch ein weiteres Mal zu Ohren kommen, muss ich Sie leider zum Nachsitzen bitten.“ Uruha nickte betont schuldbewusst. „Ich habe verstanden, Yamada- Sensei.“ „Dann dürfen Sie jetzt gehen. Schönen Tag noch.“ Der Blonde erwiderte den Gruß flüchtig und schob sich so schnell es ging aus der Klassenzimmertür. Bereits auf dem Schulhof sah er sie auf dem Mäuerchen neben dem Nebeneingang sitzen: Acht lässige Typen mit schwarzen Lederjacken und Sonnenbrillen, von denen fünf betont gelassen rauchten. Einer schnippte gerade einen Zigarettenstummel auf den Boden. Seine Mine hellte sich auf und er spürte, wie sein Herz voller Vorfreude und kribbelnder Erwartung zu schlagen begann. So schnell es ging, ohne zu rennen, überquerte er den Schulhof und gesellte sich zu dem kleinen Grüppchen. Schon von weitem hörte er ein herablassendes „Sieh mal einer an, wenn das nicht Kouyou- chan ist, der kleine Hosenpisser!“. Früher hatten ihm Sätze dieser Art die Schamesröte ins Gesicht getrieben, mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Die Anderen meinten es ja nicht so. Bei dem Grüppchen angekommen, schleuderte er seine Tasche achtlos auf den Boden und ließ sich mit einem betont lässigen Satz auf dem Mäuerchen nieder. „Na Kleiner, wie war dein Tag?“ wurde er von Shiro Yamamoto begrüßt. Shiro war so etwas wie der Anführer ihrer kleinen Gang. Zumindest hörten die anderen auf sein Wort. Immerhin war er auch schon 21. Uruha war froh, zu Ihnen gehören zu dürfen. Shiro und die Anderen verstanden ihn. Nicht so wie seine Mitschüler. Was wussten die denn schon? „Mein Tag war ganz okay, denke ich.“ Murmelte Uruha, während der Ältere ihm vertraulich den Arm um die schmächtigen Schultern legte und seine Finger mit dessen Hemdkragen spielten. Der Blonde schluckte. Vergeblich versuchte er, sich dem Griff zu entwinden, die Anderen lachten nur. Uruha merkte, wie seine Wangen vor Scham und Wut brannten. Es beschlich ihn jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn Shiro ihm nahe kam. Er konnte selbst nicht genau sagen, weshalb. Aber es fühlte sich ganz und gar nicht richtig, ja sogar gefährlich an. Stocksteif saß er also da, die Hände im Schoß gefaltet und versuchte, dazuzugehören. Es mochte etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als ihn Shiro plötzlich am Arm packte und mit dem Kopf in Richtung Straße nickte. Der Jüngere folgte seinem Blick. Ein Junge, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, schlenderte langsam die Straße entlang. In den Armen trug er einen Bücherstapel, am Körper eine sorgfältig gebügelte Schuluniform und schwarz glänzende Lederschuhe. Shiro’ s Lippen kräuselten sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Wenn das nicht der perfekte Spielkamerad für uns ist, meinst du nicht?“ raunte ihm Shiro ins Ohr. Uruha’s Herz pochte. Seine Augen verengten sich, als eine kühle Hand seinen Arm entlang strich und schließlich sein Handgelenk packte. „Du willst mich doch nicht enttäuschen, oder? Nein? Dann zeig mir, was du gelernt hast, und mach Shiro stolz auf dich. Der Kleine da drüben hat sicher keinen schmalen Geldbeutel, so wie der aussieht. Denkst du nicht auch?“ Ehe Uruha sich versah, hatte ihn der Andere auch schon mit einem kräftigen Schlag zwischen die Schulterblätter auf die Straße befördert. Nervös wischte er seine verschwitzten Hände an der Hose ab. Wollte er das wirklich? Nun, er hatte keine Wahl. Was konnte ihm außerdem großartig Schlimmes passieren? Er wartete im Schatten einer Einfahrt auf sein Opfer. Soweit er es von hier aus beurteilen konnte, war er seinem Gegenüber körperlich nicht besonders überlegen. Zwar war der Andere kleiner als er, war aber um Einiges kräftiger gebaut. Davon abgesehen musste er sich eingestehen, dass er ein hübsches Gesicht hatte. Lange schwarze Haare umrahmten sein markantes, mit einem Lippen- Piercing verziertes Gesicht. Er schloss die Augen und atmete einmal tief durch, bevor er mit einem Satz seine Deckung verließ und dem Dunkelhaarigen beide Hände mit aller Kraft vor die Brust stieß. Sein überraschtes Gegenüber fiel hintenüber auf den harten Asphalt. Uruha ließ ihm keine Zeit zum Gegenangriff, stattdessen drückte er dessen Körper mit seine, eigenen Gewicht zu Boden, während seine Hände nervös dessen Hosentaschen auf der Suche nach einer Geldbörse durchwühlten. Er hätte erwartet, dass der Dunkelhaarige sich wehren oder um Hilfe schreien würde, stattdessen lag er einfach nur da und starrte ihn mit einem verständnislosen Blick aus dunklen Augen an. Das machte ihm mehr zu schaffen, als es Gegenwehr getan hätte. Hastig riss er seinem Opfer, dass sich noch immer nicht gerührt hatte, den Geldbeutel aus der Hosentasche und verlagerte sein Gesicht. In seinem Inneren brodelte die Siegesgewissheit. Shiro würde stolz auf ihn sein. Er schlug seinem Gegenüber mit dem Handrücken ins Gesicht. Nicht hart, gerade fest genug, um ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen zu entlocken. Dann rannte er los. In die Bar, die zwei Straßenblocks östlich lag. Dort würden die Anderen auf ihn warten. Und Shiro würde stolz sein. Stolz, weil er mutiger war, als alle Anderen. An diesem Tag wusste er noch nicht, dass seine Euphorie sehr bald einen Dämpfer erleiden würde _____________________ Der nächste Tag begann unwesentlich organisierter, als der Morgen zuvor, aber immerhin schaffte er es dieses Mal pünktlich zur Schule. Er war gerade dabei, seine Sachen für die erste Stunde auf seiner Bank auszubreiten, als das gedämpfte Murmeln seiner Mitschüler erstarb. Dafür gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte der Lehrer den Klassenraum betreten, oder… Er erkannte den neuen Mitschüler, der da mit dem Lehrer den Raum betrat, auf den ersten Blick. In diesem rutschte ihm das Herz in die Hose. Er kam sich vor, wie in einem schlechten Film. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sein neuer Mitschüler war der Schwarzhaarige vom Vortag – der in sicherlich nicht in besonders guter Erinnerung hatte. Sollte dieser Junge auch nur ein Sterbenswörtchen an den Lehrer verlieren, dann war er geliefert. Das war er vermutlich in diesem Moment auch, als sein Blick auf die kalten Augen des Dunkelhaarigen traf. But I know All I know Is that the ends beginning Kapitel 2: Chapter II --------------------- Chapter II Aoi’s POV Sein Herzschlag setzte für einen winzigen Augenblick aus. Den Lehrer, der auf ihn einredete, nahm er nur am Rande wahr. Unwillkürlich strichen seine Finger über seine Nase, die am Nasenrücken eine hässlich blaue Verfärbung hatte. Im ersten Moment hatte er sich gefragt, ob der Junge in der letzten Bank wirklich der war, für den er ihn hielt. Aber als sich ihre Blicke kreuzten, war er sich sicher. Niemals wieder würde er diesen besonderen Gesichtsausdruck vergessen. Ob er nun wollte, oder nicht. Der Andere war groß und sehr schlank, um nicht zu sagen mager. Sein Gesichtsausdruck war ernst, und auf eine verwirrende Art intelligent und verschlossen, und in seinen Augen lag etwas, das er jetzt noch nicht deuten konnte. In diesem Augenblick waren sie allerdings starr vor Entsetzen und Angst? Vielleicht auch nur eine Fassade, wer wusste das schon. Aber dieser Blick… Aoi konnte dem Unbekannten, der in der letzten Reihe saß nicht böse sein. Egal was er getan hatte. Es war nicht richtig gewesen, das konnte niemand bestreiten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den Lehrer gegenüber eine Bemerkung diesbezüglich fallen zu lassen und einen Moment lang spielte er sogar mit dem Gedanken, dies tatsächlich zu tun. Verdient hatte der Andere es ohne Zweifel. Und dennoch… „Shiroyama! Aufpassen!“ Erschrocken fuhr er aus seinen Gedanken hoch und sah den Lehrer peinlich berührt an. „Es tut mir aufrichtig Leid, Yamada- sensei. Ich war nicht ganz bei mir.“ Entschuldigte er sich zerknirscht, während seine Wangen zu brennen begannen. Im Klassenzimmer erhob sich unterdrücktes Kichern und Raunen. „Ruhe!“ Auf der Stirn des Lehrers hatte sich eine steile Falte des Zorns gebildet. „Sie können sich jetzt zu Ihrem Platz begeben. Dort hinten, neben Takashima- kun.“, mit dieser schroffen Anweisung entließ er ihn. Mit gesenktem Kopf, und peinlich darauf berührt niemanden anzusehen, wanderte er durch den Gang nach hinten. Immerhin kannte er jetzt schon den Namen seines Sitznachbarn. Takashima. Klang eigentlich ganz unschuldig. Überhaupt nicht nach einem Jungen, der gerne Aufsehen erweckte. Warum machte er sich eigentlich überhaupt Gedanken um diesen Takashima? Es interessierte ihn nicht und eigentlich ging es ihn auch gar nichts an. Er würde dieses Jahr neben ihm sitzen, nicht mehr und nicht weniger. Vermutlich würden sie kein einziges Wort miteinander wechseln, aber das war auch nicht weiter tragisch. Er hatte schon genug mit sich selbst zu tun, da brauchte er sich nicht auch noch um einen brutalen Problem- Teenie zu kümmern. Punkt. Schweigend stellte er seine Tasche neben der Bank ab und ließ sich auf den Stuhl neben Takashima gleiten, wobei er ein leichtes Nicken andeutete, es aber vermied, auch nur in die Richtung des Blonden zu sehen. Daher konnte er auch nicht sehen, ob dieser seinen Gruß erwiderte. Wie zum Schutz ließ er seine glatten, schwarzen Haare wie einen Vorhang über sein linkes Auge fallen. Wenn er jetzt die Lider ein wenig senkte, konnte er seinen Sitznachbarn unauffällig beobachten. Dieser war von ihm abgerutscht und saß nun angespannt auf der Stuhlkante, eine Hand hatte sich in seinem Schoß zur Faust geballt, er biss sich nervös auf die Unterlippe. Er konnte nicht sagen, warum, aber seltsamerweise tat ihm dieser Anblick leid. Er hatte gern gewusst, was den Anderen so sehr beschäftigte. Irgendetwas, war tief in seinem Inneren versteckt. In diesem Moment drehte Takashima den Kopf, sodass Aoi rasch den Blick senkte, und sich wieder seiner Matheaufgabe widmete. Die restliche Schulstunde verstrich quälend langsam und gerade als Aoi sich zu fragen begann, ob das Schicksal ihm seit dem vergangenen Tag einen dummen Streich spielen wollte, klingelte es endlich zur Mittagspause. Erleichtert packte er seine Sachen zusammen und beeilte sich, um in die Mensa zu gelangen, bevor sich eine riesige Warteschlange gebildet hatte. Da wurde er an der Schulter zurückgehalten. Nicht grob, aber gerade fest genug, dass er stehen bleiben und sich umdrehen musste. Takashima- san stand direkt vor ihm, sein Gesicht nur wenige Handbreit von seinem eigenen entfernt. Seine schmale Hand ruhte sanft auf seiner rechten Schulter. „Danke.“ Flüsterte er und senkte leicht den Kopf. „Danke, dass du mich nicht verraten hast.“ „Schon okay.“, erwiderte Aoi verlegen. „Ist es nicht.“, murmelte der Blonde und wich seinem Blick aus. „Ich…“ „Ist egal. Geh mir am Besten einfach aus dem Weg.“ Verwirrt runzelte der Kleinere die Stirn, blieb sich aber einer Antwort erspart, als der Blonde sich mit leichtem Druck seiner Finger auf seine Schulter abwandte und den verlassenen Gang entlang eilte. „Hey!“, rief Aoi ihm nach. „Du hast mir deinen Namen nicht verraten!“ „Mein Name ist Kouyou“, entgegnete der Andere ohne sich dabei noch einmal umzudrehen, „aber meine Freunde nennen mich Uruha.“ Und weg war er. Uruha. Komischer Name, aber passend für einen komischen Typen. Die einzige Erkenntnis, zu der er jetzt kommen würde, war die, dass die Schlange beim Mittagessen riesig sein würde. Wunderbar. Es war bereits nach sieben Uhr, als er die Tür zur Wohnung seiner Eltern aufschloss und ächzend seine Schultasche in die Ecke pfefferte. „Yuu!“ kam es tadelnd aus dem Wohnzimmer „Hast du schon wieder deine Tasche im Flur abgestellt? Du weißt doch, dass dein Vater böse wird, wenn er nach Hause kommt, und das sieht!“ Genervt verdrehte Aoi die Augen und zog sich Jacke und Schuhe aus. Auf dem Weg ins Wohnzimmer legte er seine Schultasche neben seiner Zimmertür ab. „Hallo Mama.“ Begrüßte er die elegante Frau, die dort auf dem hellen Ledersofa saß, mit einem müden Lächeln. „Yuu mein Liebling, wie war dein erster Schultag? Sind deine Mitschüler nett? Hast du ein paar hübsche Mädchen in deiner Klasse?“ „Mama, ich bin müde. Ich hoffe du bist mir nicht böse, wenn ich heute Abend auf meinem Zimmer bleib.“ Unterbrach Aoi ihren Redefluss und schlenderte in die Küche. „Aber hast du denn überhaupt keinen Hunger?“ „Nein danke, ich nehm mir `ne Packung Sushi mit in mein Zimmer.“ „Bist du sicher? Fühlst du dich nicht wohl?“ „Danke Mama, alles bestens!“, rief Aoi noch und schloss dann schnellstmöglich seine Zimmertür, um den Fragen seiner Mutter zu entkommen. Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und zog die Knie an. Während er sich ab und an sein Essen in den Mund schob, grübelte er über sein Leben nach. Es war der festen Überzeugung, dass es das Schicksal überhaupt nicht gut mit ihm gemeint hatte. Gut, er hatte eine große Wohnung, wohlhabende Eltern, ein großes, eigenes Zimmer und fuhr mindestens zwei Mal im Jahr in den Urlaub aufs Land. Dafür würde er niemals richtig frei sein. In etwa einer Stunde würde sein Vater von der Arbeit in seiner Anwaltskanzlei nach Hause kommen und dann würde das geschehen, was beinahe jeden Abend geschah: Der Vater würde sich zu ihm in sein Zimmer setzen und ihm unangenehme Fragen über den vergangenen Schultag stellen. Anschließend würde er Aoi’s Englischbuch zur Hand nehmen und ihn Vokabeln ausfragen, da Englisch in seinen Augen eine wichtige Vorraussetzung für die spätere Karriere seines Sohnes war. Wie immer würde er mehr als unzufrieden mit dem Ergebnis sein und Aoi, wie fast immer, mit Strafe drohen, sollte er sich nicht verbessern. Zu guter Letzt würde er ihn noch wegen seinem Aussehen tadeln, aber in diesem Punkt hatte er gelernt, seinen Vater zu ignorieren, so sehr er sein Lippen- Piercing und seine verwegene Frisur auch missbilligte. Nachdenklich zupfte er an seiner Unterlippe herum und ertappte sich dabei, dass er schon wieder an seinen Banknachbarn dachte.. Vielleicht hatte Uruha ja auch einen Vater, der ihn ungerecht behandelte oder sehr streng war. Oder womöglich stand er unter noch größerem Leistungsdruck als er selbst? Auf der anderen Seite: Vielleicht irrte er sich auch in dem Blonden. Was wusste er schon über ihn, außer seinen Namen? Und das, was er in seinen Augen gesehen zu haben glaubte, gab ihm nicht Gewissheit, ob er mit seiner Vermutung richtig lag. Tatsache war allerdings, dass irgendwas an diesem Jungen ihn davon abgehalten hatte, dem Lehrer die Geschichte zu erzählen. Vielleicht, weil er sonst sofort wieder der Streber für alle gewesen wäre. Der, mit dem niemand etwas zu tun haben will, nur weil er einflussreiche Eltern hat. Diese Erfahrung hatte er an seiner alten Schule in Mie gemacht. Dort hatten sie ihn verachtet, ohne ihn überhaupt richtig gekannt zu haben. Vielleicht fühlte er sich deshalb so zu Uruha hingezogen. Eigentlich konnten sie Beide nicht unterschiedlicher sein und trotzdem waren sie Beide kein Teil ihrer Klassengemeinschaft. Einzelkämpfer, würde sein Vater es nennen. Einzelkämpfer waren ebenfalls schlecht für die Karriere, oder? Ach, was interessierte ihn sein Vater? Irgendwann musste er ihm ohnehin gestehen, dass er nicht vorhatte, die Anwaltskanzlei zu übernehmen, so sehr sein Vater das auch wünschte. Es war immer noch sein Leben. Er seufzte geschlagen und versuchte vergeblich, das Thema aus seinem Kopf zu verdrängen. Schließlich gab er auf und stand auf. Die dunklen Holzdielen knarzten leise, als er sein Zimmer durchquerte und sich an seinem Schreibtisch niederließ. Während er ungeduldig darauf wartete, dass sein Laptop hochfuhr, fiel ihm ein zusammengefalteter Zettel ins Auge, der auf seinem Schreibtisch lag. Zögernd griff er danach und entfaltete ihn: Projekt Schulband Unsere Schule bietet in diesem Schuljahr nach vielen Jahren erneut die Möglichkeit, eine Schulband zu gründen. Gesucht werden drei bis sechs MitgliederInnen. Proberäume und eventuell Instrumente werden von der Schule zur Verfügung gestellt. Bewerbung an Saito- sensei Gezeichnet, die Schulleitung Unwillkürlich schweifte sein Blick nach rechts ab und streifte seine Gitarre, die dort auf seinem Sofa lag. Vielleicht wäre das eine Chance, ein paar Leute kennen zu lernen, die die selben Interessen wie er teilten. Er lebte für die Musik, warum also nicht Teil einer Schulband werden? Sein Notebook hatte sich glücklicherweise endlich dazu bequemt, ihn ins Internet zu lassen. Nachdem er etliche Popups geschlossen hatte, rief er seine Lieblingsssuchmaschine auf. Seine Finger schwebten einen Augenblick reglos über der Tastatur, dann tippten sie wie von selbst den Namen „Takashima Kouyou“ in das Suchfeld. Wie erwartet, ergab die Suche nach dieser Person null Treffer, dafür gab es ungefähr 30 Millionen Leute, die entweder Takashima, oder Kouyou hießen. Resigniert seufzend kehrte er auf die Startseite zurück und klickte unschlüssig auf dem Desktop herum. Hatte er ernsthaft gedacht, er würde Uruha im Internet finden? Er lachte leise, amüsiert über sich selbst. Anstatt den Anderen einfach in Ruhe zu lassen, verschwendete er einen Großteil seiner Gedanken an ihn. Jeder vernünftige Mensch wäre böse auf Kouyou. Immerhin hatte er ihm den Geldbeutel gestohlen und ihm auch noch eine verpasst. Was dann wohl hieß, dass ER, Aoi, nicht vernünftig war, richtig? Er schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. So viel Nachdenken tat ihm nicht gut. Mit einem unterdrücktem Gähnen fuhr er seinen Laptop wieder herunter. Es hatte ja doch keinen Sinn. Am Besten ging er jetzt einfach ins Bett, dann war er am nächsten Tag wenigstens ausgeruht und entkam seinen Gedanken. In diesem Moment hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und Sekunden später drang die kräftige Stimme seines Vaters an sein Ohr. „Yuu, bist du zu Hause? Komm her, ich hab mit dir zu reden. Ich war eben noch bei deinem Lehrer, ein Bekannter meines Kollegen, hörst du?“ Aoi stöhnte geschlagen und stand auf. So bald würde er gewiss nicht mehr seine Ruhe bekommen. And finding answers Is forgetting all of the questions we called home Passing the graves of the unknown Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)