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Was wäre wenn...

von

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Der Anfang

Der Anfang
 

Zeitlosigkeit. Unendliche Dunkelheit. Treiben in langsamen, nie endenden Kreisen. Von vielen umgeben, aber allein. Sich den anderen Seelen bewusst, gefangen wie ich, aber nicht fähig, sie zu erreichen. Kein Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen. Nur die zerdrückende Langeweile der Gegenwart und die schmerzvollen Erinnerungen der Vergangenheit.
 

Ich kenne diesen Ort. Es ist der See der Seelen, ein Bereich in den alle Seelen wandern, wenn sie den Zug der Erde nicht verlassen können. Die Seelen mancher Menschen ziehen nicht weiter, wenn sie gestorben sind. Sie bleiben gefangen im Wasser dieses faulenden Sees, dazu verdammt stumm in seinen Tiefen bis in alle Ewigkeit herum zu treiben.*
 

Allein mit meinen Erinnerungen, ohne Zeitgefühl, ziehen alle meine Taten immer wieder an mir vorbei. Immer wieder halte ich mir meine Fehler vor, was hätte sein können, wenn ich hier und da anders gehandelt hätte, nie dieses verdammte Spinne gestohlen hätte, nie auf die Reise zum Berg der Vampire aufgebrochen wäre, nie die Aufgabe, den Herrn der Vampyre zu töten, angenommen hätte, wenn ich Steve erkannt hätte, wenn Larten Crepsley nicht gestorben wäre, wenn Mr. Tiny mich nicht erschaffen hätte, ... Wie viele meiner Freunde und Artgenossen wären nicht gestorben, wären nicht in den Krieg gezogen? Wie war der Krieg der Narben ausgegangen, wer hatte gewonnen? Oft dachte ich an Steve, unsere Freundschaft, was ich mit ihr verloren hatte, wie er mich hasste, und dass diese Hölle hier für ihn noch viel schlimmer sein musste. Ob ich ihn bedauerte oder mich darüber freute kann ich nicht sagen. Ein wenig von beidem denke ich, schließlich war er mein bester Freund und mein ärgster Feind. Meine Gedanken zogen Kreise, genauso wie ich im See, und fanden keine Antworten, keine Ruhe...
 

Es gab eine Zeit, in der ich so gut wie nichts dachte, in trüber Stumpfsinnigkeit vor mich hin trieb, nichts empfand, gar nichts, nicht einmal mehr wusste, wer ich war. Dann kam die Phase, in der ich zu den Erinnerungen meiner Kindheit zurückkehrte, alles nochmal erlebte, wieder zum Kind wurde, jedes Detail in Gedanken nochmal zurückrief. Alles Techniken der Verdrängung, um die bohrenden Fragen und schmerzenden Erinnerungen tief in mein Unterbewusstsein zu verbannen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ein Licht zu sehen, Wärme zu spüren, geborgen zu sein. Leise Stimmen flüsterten, dass das hier nicht sein konnte, aber ich trug die Hoffnung in mir, dass sich in diesen Momenten jemand an mich erinnerte, meiner gedachte und meine Abwesenheit bedauerte. Trost war rar in diesen Gefilden.
 

Mein jetziges Ich beginnt, sich in der Vergangenheit zu verlieren; ich kämpfe dagegen an. Jemand sagte einmal, dass die meisten Seelen irgendwann vergessen, wer sie einmal waren. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer es war, der mir diese Information gab. Aber langsam wurde es mir zu anstrengend, immer um mich zu kämpfen. Mein ganzes Leben hatte ich gekämpft und jetzt sollte es auch nach meinem Tod noch weitergehen? Manchmal mischen sich Gedanken mit Erinnerungen, schmelzen untrennbar zusammen, zu seltsamen Gebilden meiner Fantasie. Werde ich verrückt? Kann schon sein. Aber es ist doch egal, oder?
 

Inzwischen kann ich meine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Sie kommen und gehen, ohne Halt, ohne Sinn. Meine Gefühle sind stumpf, fast nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich ist es so besser. Es machte keinen Unterschied, ob ich mich weiter mit ihnen - ein tiefer Schmerz breitet sich plötzlich in mir aus. Welch komische Empfindung. Er wird immer stärker, ich versuche, mich zu wehren. Was passiert? Etwas zieht an mir, zieht mich nach... ja wohin? Ich kann mich nicht wehren, mit was denn auch. Es tut weh, immer schlimmer, es hört nicht auf, ich will nicht, lasst-
 

Mein Kopf durchstößt die Oberfläche des Sees, gefolgt von meinen Armen und dem Rest meins Körpers. Es ist unheimlich grell, zu hell für meine Augen, und so kalt wie schon lange nicht mehr. Ich fühle meinen Körper ans Ufer gezerrt werden und rolle mich zusammen, zitternd und schwach. Aber ich bin wieder da, ich bin wieder auf festem Boden, ich bin wieder... am Leben.

___
 

*Anmerkung: Die oberen zwei Textpassagen sind aus 'Darren Shan – Die Söhne des Schicksals'. Ich habe die Bücher nur auf Englisch, daher hab ich die Absätze selbst übersetzt.

Kapitel 1

Kapitel 1
 

Zuerst ist es einfach nur ein einziger, großer Schock. Nach langer – jahrelanger? – Benutzung strömen tausend Eindrücke auf meine Sinne ein, so viele auf einmal, dass ich es nicht beschreiben kann. Am deutlichsten ist mir das stechend helle Licht und die lauten Stimmen nahe an meinem Kopf in Erinnerung geblieben. Die ersten Stunden, auch nachdem man mich in ein Zelt gebracht hatte, wie mir später erzählt wurde, verbrachte ich zusammengerollt auf einer schmalen Pritsche und rührte mich nicht, versuchte, all dem Herr zu werden, was gerade passierte. Später, als ich meine Augen wieder normal öffnen konnte, stellte ich fest, dass ich allein und immer noch nackt war. Mit einigen wenigen Blicken versicherte ich mich, das alles noch da war, wo es sein sollte und nichts fehlte. Kleider, welcher Art auch immer, sah ich keine. Meine Bewegungen waren immer noch ein wenig unkoordiniert und ungeschickt, Sprechen klappte auch noch nicht so richtig. Es klang mehr nach Babygebrabbel als nach Worten und Sätzen. Hoffentlich gab sich das noch. Da ich nicht wusste, wo ich mich befand und wer mich aus dem See gezogen hatte, beschloss ich, erst einmal an Ort und Stelle zu bleiben und die Ruhe zu nutzen. Nicht, dass ich schon stark genug wäre, mich zu wehren, eher im Gegenteil. Aber die Fragen nach dem wo und wann drängten sich mir immer stärker auf. Sicher würde bald jemand kommen und nach mir sehen, schließlich konnte ich nicht ohne Grund hier sein.
 

Wie ich vermutet hatte kam nicht viel später ein großer, breiter, vollbärtiger, glatzköpfiger und zu allem Überfluss auch noch muskulöser Mann ins Zelt und besah mich. Noch nie war es mir peinlich gewesen, vor jemandem nackt zu sein. Vielleicht war ja doch nicht alles beim Alten geblieben? Hatte ich mich verändert? Nach einigen Sekunden unverhohlenem Starrens kam der breite Kerl auf mich zu und begann in einer mir absolut unbekannten Sprache zu reden. Aha. Das half mir jetzt weiter. Und warum kam dieser Kerl immer näher? Dicht vor ihm blieb er stehen und begann mich grob zu untersuchen (dieser Typ war Arzt?!), sah mir in den Mund und in die Augen, prüfte meine Reflexe, und redete währenddessen die ganze Zeit. Ich kam mir vor wie ein Ackergaul, der zum Verkauf stand. Und wehren konnte ich mich auch nicht. Ich war mir sicher, dass der grobe Klotz ein Mensch war, zumindest roch er so (er roch im allgemeinen so stark, dass er sich vermutlich selber riechen konnte... einfach ekelhaft), also musste ich noch mehr aufpassen, ihn nicht zu verletzen. Menschen waren manchmal so zerbrechlich. Am Ende der für meine Verhältnisse ziemlich erniedrigenden Behandlung warf er mir noch ein paar gut gearbeitete Kleider, eine Hose und ein Hemd, wenn auch aus Leder, hin und verließ, diesmal schweigend das Zelt. Ich war genauso klug wie vorher. Immerhin hatte ich jetzt Klamotten. Ich zog sie an und legte mich zurück auf die Pritsche und schlief ein.
 

Nach meinem nächsten Erwachen war ich auch alleine, aber wie zuvor erschien bald darauf wieder der grobe Klotz und sah nach mir. Dieses Mal hatte er eine Schale dabei, die, wie ich hoffte, Essen enthielt. Dem war auch so, wenn auch nicht ganz in der Form, wie ich es mir gewünscht hätte. Ehrlich gesagt hätte ich bei dem Anblick auch gerne auf essen verzichtet. Nach dem ersten vorsichtigen Bissen stellte ich fest, dass es eigentlich gar nicht so schlimm schmeckte, was vielleicht auch daran lag, dass ich seit - ja seit wann eigentlich? - nichts mehr gegessen hatte. Immer diese Fragen. Die ließen mich auch nicht los. Der Typ sah mit einem Blick zu, wie ich den Inhalt der gesamten Schale recht schnell hinunterschlang, der mir klar machte, dass er mich so oder so zum Essen gezwungen hätte. Mein persönlicher Aufpasser also. Danach verschwand er wieder spurlos und ich legte mich wieder, total geschafft, hin und schlief ein.
 

Diese Prozedur wiederholte sich noch ein paar mal, und ich bekam das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Woher würde der Kerl sonst wissen, wann ich wach war und wann nicht. Inzwischen kannte ich seinen Namen. Er hieß Boris, wie er mir nach dem dritten oder vierten Mal mittel Zeichensprache und einem knappen Satz, von dem ich nur den Namen verstand, mitteilte. Mittlerweile ging es mir auch schon viel besser, ich war kräftiger und auch nicht mehr so schnell müde. Wenn ich fliehen wollte, könnte ich das jetzt schaffen. Aber warum sollte ich das tun? Ich wusste ja noch nicht mal, warum und wo ich hier war.
 

Wenn ich mich nicht verschätzt hatte, war ich jetzt ungefähr eine Woche hier. In meinem früheren Leben hatten Dinge wie Wochen und Jahre keine Rolle gespielt, deshalb war ich nicht sicher. Die meisten Tages- und Nachtwechsel hatte ich sowieso verschlafen. An diesem Tag jedenfalls nahm Boris mich mit nach draußen. Erst verstand ich nicht, was er meinte, als er mir mit einem Grunzen bedeutete, zu sich zu kommen, aber die dazugehörige Handbewegung machte es mir dann doch klar. Ich wurde mit einem Mal sehr neugierig. Jetzt war vielleicht der Zeitpunkt, endlich mehr über meinen Verbleib zu erfahren. Ich ging schnell auf Boris zu, aber bevor ich auch nur in die Nähe der Zeltklappe kam, fing er mich ab, und hielt mich am Rücken meines Oberteils fest. Ein warnender Blick folgte auf meinen fragenden. Ich verstand, keine Mucken jetzt. Er ließ wieder los und schob mich stattdessen hinaus. Was ich sah ließ mich in meinem Schritt stocken und überrascht die Luft einziehen.

Kapitel 2

Kapitel 2
 

Das erste was ich sah, nachdem ich das Zelt, in dem ich jetzt fast eine ganze Woche verbracht hatte, verließ, war eine Zeltstadt an den Ufern des Sees. Aber es waren nicht einfach nur ein paar Zelte, es waren richtiggehend viele und große noch dazu. Sie waren gut befestigt, mit stabilen Holzstangen gestützt und aus Leder gefertigt. Ein ähnliches Leder wie meine Kleidung. Wer auch immer diese Leute waren, sie lebten schon eine Weile hier und hatten vermutlich vor, noch einige Zeit hier zu bleiben. Leute selber sah ich kaum. Ein paar waren am Ufer des Sees zu erkennen, aber sonst waren sie entweder nicht da oder in den Zelten. Es war auch erstaunlich warm hier, obwohl die Sonne noch gar nicht so hoch am Himmel stand. Ein Schubs in den Rücken ließ mich stolpern. Boris hatte mich angestoßen, damit ich mich endlich aus dem Zelteingang bewegte. Wie schon zuvor führte er mich mit einer Hand am Rücken zu einem Zelt, dass sich in meinen Augen kein bisschen von den anderen unterschied. Und schon war ich wieder in einem Zelt.
 

Langsam wurde ich unruhig. Noch immer hatte ich keine Antworten auf meine Fragen und eigentlich auch keine Ahnung warum ich hier war. Und ich wurde von einem Klotz herumgeschoben. Konnte er das nicht endlich lassen? Zu meiner großen Erleichterung und zur Schonung seines sonst gefährdeten Arms ließ er mich los, sobald wir im Zelt waren. Im Inneren befanden sich weitere Personen, alles Männer in mittleren Jahren, kaum welche waren älter oder jünger. Alle waren sie in Leder gekleidet, einige trugen Waffen bei sich. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass sie alle Narben hatten, größere und kleine, manche noch nicht sehr alt. Mit dem Bart, den ausnahmslos alle trugen, wirkten die Männer grob, auch wenn nicht alle die Statur von Boris hatten. Einer der Männer kam auf mich zu. Er sprach mich in derselben Sprache an, die auch mein bisheriger Pfleger gesprochen hatte und ich verstand kein Wort. Nachdem ich keine Reaktion zeigte, wechselte er die Sprache. Ich meinte, ein paar Brocken Französisch, und später etwas anderes zu erkenne, doch auch in diesen Sprachen blieb mir sein Wortschwall unverständlich. Abrupt trat Schweigen ein. Tja, Sprachproblem ungelöst, was tut ihr nun, Leute? Ein weiterer Mann trat vor. Er begann sofort in fließendem Englisch zu sprechen, wenn auch mit einem recht undefinierbarem Akzent. Endlich jemand, den ich verstehen konnte.
 

„Verstehst du mich? Kannst du dich an irgendetwas erinnern aus deinem Leben?“, kamen die Fragen schnell aus dessen Mund. Die letzte Frage irritierte mich zwar ein wenig, aber jetzt konnte ich schließlich meine Antworten bekommen.
 

„Ich verstehe Sie. Wo bin ich hier? Und was wollen Sie von mir?“ Wenn sie mich fragten, dann durfte ich ja wohl dasselbe tun. Und auf die zweite Frage sollte ich vorerst lieber nicht antworten. Es schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht des Anderen.
 

„Du verstehst mich also. Das ist gut.“ Dann drehte er sich zu den anderen Männer um und sprach wieder in der seltsamen Sprache, die mir so gänzlich unbekannt vorkam. Sofort begann eine Diskussion. Auch wenn ich nicht wusste, um was es hier konkret ging, sicher war, dass ich Mittelpunkt der Unterhaltung war. Wenige Sekunden später wandte sich der Mann wieder mir zu.
 

„Ich heiße Anton. Ich bin einer der wenigen Heiler hier im Lager, genauso wie Boris; er hat dich in den letzten Tagen betreut.“ Na toll, ein Klotz als Arzt. Das konnte noch heiter werden. „Wir sind hier auf dem europäischen Kontinent, genauer im früheren Deutschland.“ Er warf den anderen im Raum einen Blick zu und sah mich dann halb besorgt, halb neugierig an. „Weißt du, wie du heißt?“
 

Ich hatte gewusst, dass ich mich hier am See der Seelen befand, aber wo dieser lag was mir bis jetzt unbekannt gewesen. Deutschland also. Ich war sicher schon ein paar Mal durchgereist, früher mit Mr. Crepsley, aber nie lange genug geblieben, um die Sprache zu lernen. Kein Wunder, dass ich nichts verstanden hatte, wenn hier deutsch gesprochen wurde. Eher überraschte mich, dass Anton nichts über den See der Seelen erwähnt hatte. Vermutlich wussten diese Leute hier nicht einmal, was für einen See sie sich hier als Lagerplatz ausgesucht hatten. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatten Drachen den größten Teil der Weltbevölkerung ausgemacht und nur noch wenige Menschen waren übrig gewesen. Eine weit entfernte Zukunft. Aber Drachen hatte ich hier noch nicht gesehen, wenn es auch unbestreitbar war, dass die Landschaft, die den See umgab, und das Aussehen des Lagers, Ähnlichkeiten mit dieser Zukunft hatten. Vielleicht war das hier ja sogar die Zukunft. Versunken in meinen Überlegungen bemerkte ich nicht, dass Anton mich immer noch erwartungsvoll ansah. Stimmt, er hatte mich nach meinem Namen gefragt.
 

„Ich heiße Darren Shan. Welches Datum haben wir heute?“ Anton sah mich überrascht an. Er wandte sich kurz an die anderen, die nicht minder überrascht aussahen. Anscheinend war dies keine Frage, die man normalerweise so früh stellte. Gut, es dürfte nicht viele andere geben, die auf den Gedanken kämen, sich hier in der Zukunft zu befinden. Einer der Älteren nickte. War er der Anführer? Anton gab mir die Antwort: „Wir wissen nicht, welches Datum genau wir haben. Aber wir glauben, dass dieses Jahr das Jahr 2094 ist.“ Dann wartete er fast schon nervös auf meine Reaktion. Also befand ich mich wirklich in der Zukunft, gar nicht so weit von meiner alten Zeit weg. Ich nickte langsam. „So ist das.“, sagte ich gefasst. Sofort glätteten sich die Züge aller Anwesenden. Sie hatten wohl mit einer heftigen Reaktion gerechnet.
 

Erleichtert sprach Anton weiter: „Ich denke, du wirst dich hier gut einfinden. Wir haben ein Zelt für dich vorbereitet. Einer unserer Leute, Michael, schläft auch dort. Er wird dir das Lager zeigen und dich später in deine Aufgaben einweisen, wenn du wieder vollständig hergestellt bist. Von ihm kannst du auch unsere Sprache lernen; die meisten hier sprechen kein Englisch. Und er wird auch dein Trainingspartner für die nächsten paar Wochen sein. Jeder hier bekommt ein Kampf- und Ausdauertraining. Das klingt jetzt vielleicht hart, aber wir stellen dir soviel Zeit zur Verfügung, wie du benötigst, bis du dich hier eingelebt hast.“ Hier unterbrach er seinen Redefluss.
 

Ich sollte also hier im Lager bleiben und Arbeiten. Kurz war ich geneigt, ihm zu sagen, was ich von seiner Idee hielt (was nicht besonders viel war), aber Training klang gut, und hier zu bleiben war besser als allein durch die Gegend zu streifen. Und es war eindeutig bequemer in einem Zelt zu schlafen, als auf feuchtem Waldboden. Mal abgesehen davon, viel hatte ich ja nicht zu tun, also konnte ich genauso gut hier bleiben, bis ich wieder bei Kräften war.
 

Mit einem Wink seiner Hand rief Anton Boris wieder ins Zelt. Ein paar kurze Sätze später hatte er mich wieder und seine Hand an meinem Rücken. Toll, jetzt ging das schon wieder los. „Ich hoffe, dir gefällt es hier.“, rief Anton mir noch hinterher, dann wurde ich schon grob aus dem Zelt geschoben. Boris bugsierte mich zwischen ein paar Zelten hindurch zu einem, dass sich in keiner Weise von den anderen unterschied und stellte mich davor ab, dann nahm er zum ersten Mal seine Hand wieder weg. Gut für seine Hand. Ich betrachtete das Zelt genauer. Keinerlei Markierung wies auf irgendeine Ordnung hin, es gab nicht mal Erkennungsmerkmale. Wenn ich es jemals wiederfinden wollte, dann musste ich mich auf meinen Orientierungssinn verlassen. Ich drehte mich um und sah Boris an. Dieser grinste mich nur kurz an und verschwand dann in den Zeltreihen. Aha. Dann würde ich jetzt wohl reingehen.
 

Im Zelt standen zwei Pritschen mit je einer kleinen Kiste davor. Das war wohl für unsere Besitztümer, die bei mir noch nicht vorhanden waren. Sonst gab es nicht viel in hier: eine Öllampe, eine weitere Kiste, in der sich Kleider befanden, genau dieselben, wie ich sie schon trug, und ein niedriger Tisch. Alles war entweder aus Holz oder aus Leder.
 

Mein zukünftiger ‚Partner’ war anscheinend noch nicht da. In Ermangelung einer Beschäftigung legte ich mich auf eine Pritsche. Langsam drifteten meine Gedanken ab, zurück zu meinen alten Freunden und zum Berg der Vampire. Was war aus ihnen geworden, nachdem ich im See der Seelen gelandet war? Wer hatte den Krieg der Narben gewonnen? Später, so nahm ich mir vor, wenn ich stark genug war, würde ich zum Berg reisen und dann würde ich es erfahren. Es wurde immer dunkler draußen und ich wurde müde. Man merkte es mir vielleicht nicht an, aber ich war erschöpft. Es würde wohl noch seine Zeit dauern, bis alles wieder beim Alten war.

Kapitel 3

Kapitel 3
 

Leise Schritten drangen an mein Ohr. Jemand wühlte in einer Kiste, nur ein paar Schritte von mir entfernt. Sofort spannten sich alle meine Muskeln an, während ich mich bemühte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu atmen, und so zu tun, als würde ich noch schlafen. Nach einer Woche hier wusste ich sofort, dass ich mich in einem Zelt befand. Boris hatte mich hierher gebracht. Ich war eingeschlafen. Durch meine geschlossenen Augenlider konnte ich sehen, dass es draußen zwar dunkler war, aber die Sonne schien. Früher Morgen oder später Abend, schloss ich. Das war das Wann. Blieb noch das Wer. Wer war hier im Zelt und warum? Hatte der Rat doch noch beschlossen, mich nicht hier zu behalten und wollte mich jetzt auf einfach Weise ‚loswerden’? Das hätten sie einfacher haben können. Früher wäre ich sofort aufgesprungen und hätte einen Angriff gestartet, aber hier befand ich mich auf fremden Terrain.
 

Die Schritte kamen jetzt näher, direkt auf mich zu. Meine Gedanken rasten. Was sollte ich tun?! Ich bereitete mich darauf vor, jeden potentiellen Angreifer so schnell es ging außer Gefecht zu setzen. In Hochform war ich zwar noch nicht, aber für einen Menschen reichte es allemal, auch ohne Waffe. Die Person stoppte am Fußende der Pritsche. Es wurde still. Ich bewegte mich nicht. Sie bewegte sich auch nicht. Angestrengt lauschte ich, ob ein Klinge oder eine andere Waffe gezogen wurde. Nichts. Nur gleichmäßiges Atmen. Ich öffnete die Augen einen Spalt, sah unter meinen Wimpern hervor. Verschwommen nahm ich die Umrisse der Person wahr, die sich dunkel gegen die helle Zeltwand abhob. Ein unbekannter Mann, nicht besonders groß. Bewegungslos stand er einfach nur da. Keine Gefahr, zumindest noch nicht... Ich öffnete meine Augen ganz und sah direkt in ein paar hellgraue Augen in einem bartlosen Gesicht und einem breiten Grinsen auf den Lippen. Blonde, lockige Haare standen ihm kurz vom Kopf ab.
 

„Guten Morgen! Hab ich dich erschreckt?“ Eine neugierige Stimme mit einem spöttischen Unterton, nicht so tief, wie man es bei einem Mann gewohnt war. Eher bei einem Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein. Es war also tatsächlich Morgen. Dann musste ich sehr früh eingeschlafen sein. Aufmerksam beobachtete er mich weiter. Und er machte immer noch keine Anzeichen mich anzugreifen oder sich in anderer Weise zu bewegen.
 

Nach ein paar Momenten der Stille fuhr der Mann fort: „Ich bin Michael. Die Alten haben dir sicher erzählt, dass du einen Partner bekommst, wie jeder Neuling. Eigentlich wollte ich mich schon gestern vorstellen, aber du hast so schön geschlafen, da wollte ich dich nicht wecken.“ Wieder hatte seine Stimme diesen aufziehenden Ton. Langsam richtete ich mich auf meiner Pritsche auf, und das Leinentuch, von dem ich keine Ahnung hatte, wie es dorthin gekommen war, rutschte auf meinen Schoß zu meinen Händen.
 

„Also, noch mal von vorne. Ich heiße Michael. Ich bin dein Partner für die nächsten paar Wochen. Du kannst mich gerne Mike nennen.“ Breit lächelnd streckte er mir die Hand entgegen.
 

„Darren... Darren Shan.“, erwiderte ich langsam, mit vom Schlaf rauer Stimme und dem vielen Nicht-reden in den letzten Tagen. Michael, oder Mike, schnappte sich meine Hand von der Decke und schüttelte sich kräftig.
 

„So, und nachdem wir uns jetzt kennen, kannst du ja aufstehen. Essen müssen wir uns selber holen und das Lager zeigen will ich dir auch noch, bevor wir zum Übungsplatz gehen. Also hopp, schlafen kannst du auch heute Abend wieder. Deine Klamotten liegen in deiner Kiste.“ Munter ging er zum Zeltausgang. Dort drehte er sich noch mal um und meinte: „Ich komm dich in zehn Minuten abholen, zum Essen. Und wenn du auch beim Kämpfen so träge bist wie gerade eben, dann haben wir echt noch was vor uns.“ Dann zog er von dannen.
 

Ich saß erst mal ein wenig überfordert auf der Pritsche. Auf die Art geweckt zu werden war eindeutig nicht mein Fall. Erst später wurde mir bewusst, dass er die ganze Zeit Englisch gesprochen hatte, und nicht die hier übliche Sprache.
 

***
 

Zehn Minuten später war ich an- bzw. umgezogen und einigermaßen wach, als Mike wiederkam, um mich abzuholen. Ohne viel Zeit zu verschwenden nahm er mich am Handgelenk und zog mich zwischen den Zelten hindurch. Immer wieder wies er auf bestimmte Zelte oder Bereiche des Lagers und erklärte kurz ihre Funktion, um dann anzumerken, dass er mir später alles noch genauer zeigen würde. Schließlich sei jetzt erst einmal das Frühstück dran. Zum Schluss hielt er vor einem großen Zelt an.
 

Es war zwar weiß und aus Leder, wie alle anderen Zelte, aber ein wenig höher und in der Grundfläche viel größer. Innen standen Bänke und Tische in langen Reihen. An einigen saßen Leute zusammen und unterhielten sich während dem Essen. Am hinteren Ende war so etwas wie ein Buffet aufgebaut. Ein Tisch mit einigen großen Schüsseln und Platten. Das Essen, welches darauf lag, sah selbst gemacht aus, nicht gekauft. Mehr so wie das, was Mr. Crepsley und ich auf unseren Reisen gegessen hatten. Zum Teil selbst gejagt oder gesammelt und immer selbst zubereitet. Schinken, Käse, Brot, ein wenig Marmelade, Obst. Wasser, Wein und Milch gab es zu trinken. Mein Magen begann zu knurren. Das Zeug, das Boris mir immer mitgebracht hatte, war einfach nichts gegen richtiges Essen. Mike hörte das verräterische Geräusch und lachte.
 

„Du hast Hunger. Dann komm endlich und nimm dir. Du bist nämlich nicht der Einzige mit einem Loch im Bauch.“ Er nahm einen der Teller, die auch auf dem Tisch standen, und lud ihn sich voll. Bei der Menge meinte ich, wir würden morgen früh noch hier zu sitzen. Ich wusste, dass mein Magen es mir übel nehmen würde, wenn ich mich jetzt voll stopfte, also beschränkte ich mich auf zwei Scheiben Brot, je eins mit Käse und Schinken, und Wasser. Köstlich!
 

Das Essen dauerte nicht so lange wie angenommen. Nicht nur die Menge, sondern auch das Tempo, mit dem Mike aß, war beeindruckend. Aber vermutlich brauchte er einfach soviel, um immer so viel zu reden und zu grinsen.
 

Danach begann meine Privattour. Ich war schon erstaunt gewesen, als ich das Lager zum ersten Mal gesehen hatte, aber die tatsächliche Größe war noch um einiges größer. Es umschloss den ganzen See und grenzte zum Teil schon an den Wald, der die Lichtung umschloss. Es war in Bereiche unterteilt, je nach Funktion. So gab es einen Bereich, der alle Unterkünfte umfasste, dort, wo auch unser Zelt stand, einen, der ausschließlich Vorräte enthielt, einen für Materialien wie Stoffe und Leder, Werkzeuge und Waffen, einen Waschbereich in der Nähe eines Bachs, einen für die Mahlzeiten, dort wo wir gerade herkamen, einen Bereich für Kranke und Verletzte, und einen Verwaltungsbereich. Mike erzählte mir, dass ich am Anfang im Krankenbereich untergebracht worden war und dass der Rat, den ich gestern getroffen hatte, so etwas wie die Anführer hier im Lager waren, auch wenn Mike sie vorhin so respektlos als die Alten betitelt hatte. Jetzt verstand ich auch, warum ich gestern so wenig Leute gesehen habe. Zu der Zeit waren alle noch arbeiten, in den anderen Bereichen des Lagers.
 

In jedem Bereich gibt es verschiedene Tätigkeiten, mache liegen auch außerhalb des Lagers, wie Jäger, Kundschafter oder Sammler. Wenn ich mein Training beendet habe, dann habe ich die Wahl, welchen ‚Beruf’ ich ausüben möchte. Als Mike dann anfing, einzelne Tätigkeiten genauer zu beschreiben, schaltete ich ab. Zuviel Information auf einmal.
 

***
 

Gegen Mittag sind waren mit dem Rundgang fertig. Inzwischen wusste ich in etwa, wo was lag und wie ich mich zurecht finden konnte. Hoffte ich zumindest. Das Essenszelt war jetzt viel voller. Mike begrüßte immer wieder Leute, stellte mich vor und ging dann weiter. Auch die Auswahl an Gerichten war größer. Vieles war mit Fleisch, es gab Nudeln und Brot, Eintopf, verschiedene Gemüse. Mike merkte an, dass das auch selbst angebaut wurde.
 

Beim Essen selbst lauschte ich den Gesprächen um mich herum, ohne mich auf eines zu konzentrieren. Das Stimmengewirr wirkte ein wenig einschläfernd und ich fiel wieder zurück in meine eigene Gedankenwelt. Trotz der ganzen neuen Informationen wusste ich immer noch nicht, was eigentlich der Zweck des Lagers hier war und warum es am See gebaut war. Weder der Rat noch Mike hatten es mit einem Wort erwähnt. Bevor ich zu sehr in Grübeleien verfallen konnte, wurde ich erneut von meinem Partner geschnappt und mitgeschleift.
 

„Jetzt ist es Zeit fürs Training. Ich bin schon gespannt, was du so alles kannst.“ Immer noch voll aktiv geht er zu einem der hier im kreis angeordneten Zelte und holt zwei Schwerter hervor. Eines davon reicht er mir. Es ist relativ leicht, kein schwerer Beidhänder, zweischneidig und lang. Gut balanciert. Ich schwinge es zur Probe. E ist angenehm zu führen. Ohne uns aufzuwärmen beginnen wir. Mike macht einen Ausfallschritt auf mich zu, greif an. Ohne zu überlegen verteidige ich mich, greife meinerseits an. Das hier liegt mir im Blut, oft genug haben ich die Abläufe geübt, in richtigen Kämpfen angewendet. Es tut gut, sich auf die Art die Zeit zu vertreiben. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich wohl und nicht so gleichgültig. Es erinnert mich an meine Freunde, die Übungskämpfe und die Kameradschaft. Ich merke jetzt schon, dass ich das Training mögen werde.
 

Mike ist gut, aber er ist ein Mensch. Trotzdem ist es noch ein ausgewogener Kampf. In Hochform wäre er schon lange vorbei. Wieder ist es Mike, der das Kommando zum Aufhören gibt, indem er sich zurückzieht und das Schwert senkt. Wir sind beide außer Atem, wenn auch noch längst nicht ausgepowert.
 

„Du bist gut. Hast du das früher mal gelernt oder so was?“, frag er interessiert. Was er mit früher meint, ist mir klar. Bevor ich gestorben bin. Ein komischer Gedanke, tot zu sein. Eigentlich war ich es nie wirklich, auch nicht im See der Seelen.
 

„Mein Meister war ein guter Lehrer.“, antworte ich mit einem Lächeln. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich niemandem hier wirklich erzählen kann, was ich alles durchlebt habe oder was ich bin. Ich kann mich zwar bei Tag bewegen, aber Blut brauche ich trotzdem. Es zu beschaffen ist kein Problem, schnell und leise genug bin ich auf jeden Fall. Aber meine Stärke und eben jene Schnelligkeit zu erklären wird schon schwer genug, zumal ich nicht wie ein Kraftprotz aussehen, eher wie ein junger Mann ohne größere Erfahrung. Meine Narben passen allerdings gut ins Schema; Jeder hier scheint welche zu haben.
 

Mike räumt die zwei Waffen wieder ins Zelt. Als nächstes kommt der Kampf ohne Hilfsmittel. Es endet ähnlich wie mit den Schwertern, nur dieses Mal liegt Mike am Boden. Das hier liegt mir eher als lange Schwerter, so praktisch sie auch sein mögen. Mike sieht mich inzwischen regelrecht erstaunt an.
 

„Bist du sicher, dass du erst eine Woche hier bist und nicht schon länger? So fit wie du war noch keiner! Und so gut auch nicht. Ich bin hier schon seit sechs Jahren und hab regelmäßig geübt.“ Hier fängt es also schon an. Ich muss anfangen aufzupassen, was ich tue und wie ich mit anderen umgehe. Vor allem in den Kämpfen. Ich fühle mich so, wie damals, als ich zum ersten Mal richtig zu spüren bekommen habe, was es heißt ein Halbvampir zu sein, damals bei dem Fußballspiel. Angst davor, was ich alles tun könnte und den Drang, einfach nur normal zu sein.
 

Ich überspiele den Konflikt mit einer lässigen Antwort. „Ich hatte es schon immer mit Sport. Aber normalerweise bin ich noch besser.“ Das stimmt sogar, auch wenn es nicht direkt Sport war. Ein Grinsen legt sich auf meine Lippen. „Willst du eine Revanche? Oder hast du noch was anderes für mich?“
 

„Später haben wir noch genug Zeit, dich auch mal auf den Boden zu legen.“ Er geht voraus zwischen ein paar Zelten hindurch und winkt mich hinterher. Hier bilden die Zeltreihen eine lange Gasse, an deren Ende eine Scheiben aus Stroh stehen, in verschiedenen Distanzen. Die vorderste in 10 Meter Entfernung, die zweiten in ungefähr 25 Meter, dann 50m und ganz hinten ca. 100m. Der Blonde reicht mir einen Bogen. Den ich ihm sofort zurück reiche. Vampire benutzen keine Schusswaffen. Sogar die Shuriken von Vancha waren schon hart an der Grenze. Irritiert sieht Mike mich an. Ich lächele zurück.
 

„Keine Schusswaffen.“, sage ich nur. Immer noch verwundert hängt Mike den Bogen zurück.
 

„Auch keine Pistolen oder Gewehre? Wieso denn das?“ Seine Stimme klingt jetzt wieder ganz neugierig.
 

„Keine Schusswaffen.“, wiederhole ich. „Das geht gegen meine Ehre.“ Kein Vampir würde so etwas je benutzen. Der Ehrenkodex verbietet es. Aber das kann ich ihm ja schlecht sagen.
 

„Oh.“, meint er nur. Er scheint zu überlegen, was genau daran unehrenhaft ist.
 

„Ich bin auch ohne solche Waffen stark genug. Oder findest du nicht?“ Ich grinse ihn wieder an. Dass ich zudem noch sehr schnell bin muss ich ja nicht sagen.
 

„Doch, doch.“, versichert er mich schnell, so als wollte er verdeutlichen, dass er auf keinen Fall an mit zweifelt. Dann merkt er, dass ich ihn nur aufziehen wollte und rollt mit den Augen.
 

„Hast du ein Messer für mich?“, frag ich ihn. Er greift hinten in seinen Hosenbund und zieht eine kleine Scheide heraus. Es ist ein gutes Messer, gut gefertigt, wie schon die Schwerter. Fragend sieht Mike mich an.
 

„Schau zu.“, weise ich ihn an.
 

Das Messer an der Spitze der Schneide haltend beginne ich, den Schwung abzuschätzen, den ich brauchen werde, um die vorderste Strohscheibe zu treffen. Wenigstens ist es windstill. Ich habe oft mit Vancha geübt, auch wenn ich nie so gut war wie er. Ich hole aus und werfe. Das Messer zischt los, rotiert immer wieder, bis es mit einem dumpfen Geräusche in die Scheibe einschlägt. Ein guter Wurf, wenn auch nicht ganz in der Mitte.
 

„Ok, du brauchst wirklich keine Schusswaffen.“, meint Mike, nachdem er seinen vormals offen stehenden Mund wieder geschlossen hat.
 

„Sag ich doch.“ Ein bisschen Angeben muss doch auch sein. So langsam habe ich das Gefühl, dass das Grinsen heute in meinem Gesicht festgeklebt ist.
 

Zusammen gehen wir das Messer einsammeln und dann zurück zum runden Übungsfeld. Der Trainingsplan ist anscheinend durch meine Weigerung deutlich verkürzt worden. Mike besteht jetzt doch noch auf eine Revanche, die genauso ausgeht wie die erste Runde. Kurz schmollt er, aber lange hält er das auch nicht durch. Schon auf dem Rückweg redet er schon wieder fröhlich auf mich ein.
 

Inzwischen ist es später Nachmittag. Unser Programm ist vorerst beendet, schließlich war heute noch Schontag. Morgen geht das wirkliche Training los. Zielsicher lotst Mike uns zurück zu unserem Zelt. Bis zum Abendessen dauert es noch eine kleine Weile. Also sitzen wir jeder auf seiner Pritsche und Mike eröffnet mir, dass er auch hier ist, um mir die Sprache, die hier gesprochen wird, beizubringen. Bis jetzt haben wir den ganzen Tag Englisch gesprochen. Sehr erfreut, Deutsch lernen zu müssen, bin ich nicht. Meine Begabungen liegen mehr im geographisch-praktischem Bereicht. Sprachen sind einfach kompliziert.
 

Ohne sich beirren zu lassen beginnt Mike mir ein paar Sätze zu sagen. Ich heiße... Ich komme von... Wie heißt du? Wie geht es dir? Einfach Sachen. Wenige Vokabeln. Na, zumindest den Anfang werde ich überleben, denke ich mir. Solange es so einfach bleibt. Wir üben an diesen Sätzen, bis sie flüssig über meine Lippen kommen. Und dann ist es auch schon wieder Zeit fürs Essen.
 

***
 

Schnell ist die Zeit heute vergangen. Nicht, dass mir das nicht gefallen würde. Es lenkt ab, und Spaß hat es auch gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, hier eine Weile zu bleiben, bis ich einen wirklichen Plan haben, was ich tun will. Jetzt bin ich erst mal müde. Das Wort Pritsche klingt wie Musik in meinen Ohren. Vor allem in Aussicht auf morgen.
 

Mike hat beschlossen, noch ein bisschen länger bei den anderen im Essenszelt zu bleiben und sich zu unterhalten. Ich bin mir sicher, dass ich den Weg zurück alleine finden kann und schaffe es auch... nachdem ich zweimal ins falsche Zelt gestolpert bin. Aber immerhin habe ich es dann gefunden. Ziemlich erledigt lege ich mich auf meine Pritsche. Müde schließe ich die Augen. Ich bin wirklich gespannt, was hier alles noch so passiert. Und Mike ist ein netter Kerl, auch wenn er mich heute früh ordentlich erschreckt hat. Doch, es war ein schöner Tag.

Kapitel 4

Kapitel 4
 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, dämmerte es gerade. Die Vögel erwachten gerade und begannen lautstark ihr Revier zu verteidigen. Mike schnarchte noch gemütlich vor in seiner Pritsche sich hin. Als er zurück gekommen war, musste ich schon geschlafen haben. Ich beschloss nicht länger liegen zu bleiben, sondern lieber noch ein bisschen die ‚ruhigen’ Morgenstunden zu genießen, solange noch keiner unterwegs war. Jetzt war ungefähr die Zeit, wo ich früher auch aufgestanden war, meistens um irgendwelche Dinge für Mr. Crepsley zu erledigen oder mit einfach durch die Gegend zu ziehen und etwas Essbares zu suchen. Anscheinend war mein Körper noch vollkommen auf diesen Rhythmus eingestellt.
 

Als ich die Beine von der Pritsche schwang merkte ich zum ersten Mal, dass ich einen leichten Muskelkater hatte. Das überraschte mich; so anstrengend war der Training gestern doch gar nicht gewesen! Ein erneutes Anzeichen, dass ich einfach noch nicht ganz wiederhergestellt war. Nun, das würde sich bald ändern. Der Meinung war zumindest Mike, der mir für die nächsten Wochen ein hartes Training versprochen hatte.
 

Den leichten Schmerz ignorierend kam ich auf die Beine und streifte mir kurz die Kleider über, die ich gestern angehabt hatte. Zum einen war ich es gewohnt, nicht so viele Kleider zu haben, zum anderen wusste ich nicht, wo ich Frische herbekommen sollte. Dann trat ich aus dem Zelt. Die Sonne stieg gerade über den Horizont und schien mir grell in die Augen. Draußen war es merklich kühler als im Zelt und das Gras war noch feucht vom Tau. Ich atmete ein paar Mal tief ein und genoss die Luft.
 

Dann begann ich meine eigene Entdeckungstour durch das Lager. Mike hatte mir zwar gezeigt, wo alles war, aber den wirklichen Durchblick hatte ich noch nicht und jetzt war die ideale Gelegenheit das zu ändern. Es war keiner unterwegs und ich hatte Zeit. Zumindest bis Mike aufwachte und ich wunderte, wo ich war. Bei dem Gedanken musste ich Grinsen. Tja, Rache für gestern! Der konnte sich ruhig ein wenig Sorgen machen.
 

Gemütlich lief ich durch die Zeltreihen. Mit einer imaginären Karte im Kopf erkundete ich jeden der Bereiche. Ich die größeren Zelte sah ich hinein, um zu erfahren, wofür sie genutzt wurden. So fand ich ein Zelt, in dem große Bottiche standen, die offensichtlich zum Wäschewaschen benutzt wurden. Am Eingang stand sogar ein Schild, aber lesen konnte ich es nicht. Man, nicht nur die Sprache war anders, sondern sogar auch die Schrift! Das würde Arbeit werden, das alles zu lernen. Aber jetzt wusste ich immerhin, wo ich meine Wäsche abliefern und vermutlich auch neue holen konnte. Danach würde ich Mike nachher fragen.
 

Anscheinend gab es hier ein Zelt für so gut wie alles. Ich fand eines, in dem alte Nähmaschinen herumstanden, zusammen mit einem noch älteren Webstuhl und Regalen vollen Nadeln, Fäden und Leder, und eines, das zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Interessiert besah ich mir die verschiedenen Borde; Es waren viele alte Bücher dabei, die meisten davon waren auf Englisch. Die Themen reichten von Geographie über Biologie, Chemie und Physik zu Geschichte. Alles, was heute, in dieser Zeit, nützlich sein könnte. Weniger gab es Bücher über Kunst oder Religion. Es war einfach unwichtig geworden, ein Luxus, den man nicht mehr hatte.
 

Ich verließ das Zelt. Mein Streifzug hatte mich immer näher ans Ufer des Sees gebracht, an dem kaum mehr Zelte standen. Nur in regelmäßigen Abständen waren ein paar kleinere aufgebaut, die vor allem Netze enthielten. Damit hatte man mich also aus dem Wasser gezogen. Mir fiel auf, dass sich am Ufer entlang immer wieder Schleifspuren im weichen Uferboden befanden. Und dem Anschein nach war ich nicht der einzige, der aus dem See stammte. Das warf erneut die Frag auf, warum ich hier war. Wer auch immer mich von der Unendlichkeit gerettet hatte, es war bestimmt nicht ohne Grund geschehen. Aber was für einen Sinn hatte es, Verdammte aus dem See zu ziehen? Oder wussten die Leute hier wirklich nicht, um welchen See sie hier campierten? Noch etwas, was ich später Mike fragen würde.
 

Inzwischen war die Sonne ganz aufgegangen und stand schon um einiges über dem Horizont. Beschwingt von meinen Entdeckungen machte ich mich auf den Weg zurück zu Mikes und meinem Zelt. Dieses Mal fand ich es sogar ohne größere Pannen. Zu meiner Überraschung schlief mein Mitbewohner noch tief und schnarchend ohne von meinem Verschwinden überhaupt etwas mitgekriegt zu haben. Ein fieses Grinsen huschte über mein Gesicht. Gut, dann würde ich ihn eben wecken. Auf leisen Sohlen schlich ich neben seine Pritsche. Nicht, dass er mich hätte hören können, wenn ich es nicht gewollt hätte; als Halbvampir konnte ich mich für Menschen unhörbar bewegen und dafür war meine Koordination schon wieder gut genug. Dann beugte ich mich leicht herunter, holte aus und klatschte meine Hände kräftig dicht neben seinem Ohr zusammen. Von einem Augenblick zum nächsten saß Mike kerzengerade und vollkommen wach mit aufgerissenen Augen da und schaute sich verwirrt um, während ich mich bei dem Anblick vor Lachen schon regelrecht bog. Tja, so etwas war anscheinend nicht im Training beinhaltet.
 

***
 

Nachdem sich Mike von dem Schreck am Morgen erholt hatte begaben wir uns gemeinsam zum Essenszelt. Das Frühstück gestaltete sich im Wesentlichen nicht anders als am Vortag, was hieß, dass es lecker und reichhaltig war. Es war trotz des Rundgangs noch sehr früh am Morgen, also waren erst wenige hier um zu Essen. So saßen wir alleine an einem der langen Holztische, während Mike mir erzählte, wie er den Tag zu gestalten gedachte: Zuerst noch ein wenig Sprachtraining am Vormittag.
 

„Damit du nicht zu erschöpft bist um zu denken!“, scherzte der Blonde. Ich bezweifelte, dass er mich so weit kriegen würde, auch wenn er sich anstrengen würde. So arrogant das jetzt vielleicht auch klingen mochte.
 

„Dann, nach dem Mittagessen können wir mit dem richtigen Training anfangen.“ Er schien sich schon darauf zu freuen. Vielleicht wollte er auch einfach noch eine Revanche für die Übungsgefechte gestern. Ich war selbst schon gespannt, wie schnell ich wieder mein ursprüngliches Level erreichen würde. Und spätestens dann hätte Mike keine Möglichkeit mehr, mich zu besiegen, außer durch eine List. Mein Kampf mit Arra Sails fiel mir ein. Damals hatte ich auch nur knapp gewonnen. Nun, unmöglich war es eben doch nicht. Ich musste lächeln bei dem Gedanken. Es war schon so lange her und trotzdem hatte ich es noch so gut im Gedächtnis. Mein Partner sah mich fragend an und ich erwiderte nur: „Eine Erinnerung.“ Obwohl ich bemerkte, dass Mike neugierig war, sprach ich nicht weiter. Es war Vergangenheit. Nicht, was ich letzt noch leben konnte und etwas, das andere nicht von mit wissen durften.
 

Nach dem Essen, auf dem Weg zurück gingen wir noch an der größeren Zelte vorbei, das in der Näher der Bibliothek lag. Mike erklärte, dass es hier gerade für Neue wie mich, die die hiesige Sprache nicht beherrschten, einige kleine Tafeln und Kreide gab, um das Lernen zu vereinfachen. Allein schon das Erwähnen von Tafeln reichte und es tauchten wieder Bilder von meiner kurzen Zeit in der Schule auf, sowohl vor als auch nachdem ich ein Halbvampir geworden war. Vor allem war es für mich das Wiedersehen mit Debbie gewesen, was ich mit Schule verband. Wirklich viel gelernt hatte ich nie, vor allem später nicht. Außer den Dingen, die ich als Vampirprinz wissen musste.
 

Wieder in unserem Wohn- und Schlafzelt begann Mike ohne größere Unterbrechungen den ‚Unterricht’. Er malte mit dem Stück Kreide einige Zeichen auf die Tafel und meinte dazu, dass die Buchstaben den englischen größtenteils glichen, ein paar jedoch anders wäre und auch anders ausgesprochen würden. Mir das zu merken fiel mir nicht sonderlich schwer. Es waren nur wenige Zeichen. Auch die Aussprache schien mir dieselbe wie im Englischen zu sein. Die Sprache an sich kam mir allerdings immer noch nicht bekannt vor. Deutsch schloss ich inzwischen aus; das Alphabet war dasselbe wie das meiner Muttersprache. Auf meine Frage hin meinte Mike:
 

„Das ist Esperanto*. Sie wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfunden, ist also eine künstliche Sprache. Hast du noch nie davon gehört?“ Er sah mich fast schon ein wenig überrascht an. Ich hatte Zeit meines Lebens, oder besser gesagt meines früheren Lebens, noch nicht davon gehört. Was auch nicht weiter verwunderlich war, das Leben auf Wanderschaft, im Berg der Vampire oder auf dem Schlachtfeld hatte nicht viel mit dem der Menschen zu tun. Dementsprechend hatten wir auch selten die Neuigkeiten der Menschenwelt mitverfolgt; es war einfach nicht wichtig gewesen. Ich selbst war jedoch noch überraschter als er, denn ich hatte bis jetzt fest angenommen, alle hier würden Deutsch sprechen.
 

Wir fuhren mit einfacher Grammatik fort, und übten weiter Sätze und kleinere Dialoge, bis es Mittag war. Ich hatte den Eindruck, dass Esperanto gar nicht so schwer war, wie ich mir zu Anfang ausgemalt hatte. Trotzdem hatte ich langsam genug davon immer wieder die gleichen Sätze zu wiederholen, auch wenn ich wusste, dass es nur zu meiner Übung diente. Wie geplant verließen wir das Zelt, um Essen zu gehen. Draußen war er inzwischen merklich wärmer aus heute früh. Kaum eine Wolke war am Himmel zu sehen und die Sonne schien kräftig. Auch in der ‚Kantine’, wie das Essenzelt genannt wurde, herrschte schon reges Treiben. Inzwischen schien auch der letzte Langschläfer aufgestanden und hierher geströmt zu sein. Wir suchten uns einen Platz an einem der Tische und aßen wieder einmal das köstliche Essen. Zu Mittag schien das Menü täglich zu variieren, denn es war nicht das gleiche wie am Vortag.
 

Während dem Essen stellte mir Mike ein paar Leute vor, die gegenüber oder neben uns am Tisch saßen. Er schien sowieso fast alle Bewohner des Lagers zu kennen. Eine kleine Unterhaltung entstand; sie erzählten mir, wie ihre Aufgaben aussahen und was sie von dem Leben hier hielten und ich stellte Fragen dazu. Erst jetzt ging mir auf, dass die Vielfalt an Tätigkeiten wirklich groß sein musste. Und unzufrieden waren die Männer um mich herum offensichtlich auch nicht, so wie die Stimmung in dem Zelt war. Wenn das so weiterging mit den positiven Dingen, dann ließ es sich hier wirklich gut leben.
 

Danach ging es auf zum Trainingsplatz. Auf dem Weg dorthin fielen mir meine Fragen wieder ein. Mike bestätigte mir, dass das Zelt mit den großen Bottichen für die schmutzige Wäsche gedacht war und dass man dort auch neue holen konnte. Er meinte auch, dass wir heute Abend, bevor wir uns waschen gingen, frische Kleider holen gehen würden. Ich hoffe nur, dass dafür nicht der See herhalten musste. Zu meiner zweiten Frage nach den Menschen aus dem See und dem Zweck des Lagers schwieg er eine Weile und schien zu überlegen. Ein wenig zurückhaltend gab er dann doch Antwort.
 

„Die Alten haben dir sicher gesagt, welches Jahr wir gerade haben, oder? Und vielleicht ist dir auch schon aufgefallen, dass unsere Mittel hier nicht ganz denen des 21. Jahrhunderts entsprechen, zumindest nicht, wie sie einmal waren.“ Ich nickte zustimmend. Letzteres war mir zwar bis jetzt nicht bewusst gewesen, aber ich hatte gewusst, dass das hier in keiner Weise den früheren Standarts entsprach. Es glich schon eher dem Umständen, wie wir sie im Berg der Vampire gehabt hatten. Kein Strom und kein fließendes Wasser, wenn man mal von dem unterirdischen Fluss absah.
 

„Vor einigen Jahren haben ein paar Wissenschaftler daran geforscht, wie man Tiere so manipulieren kann, dass sie das menschengewünschte tun. So etwas hat man zwar schon viel früher getan, durch Zucht oder kleinere Manipulationen, aber diese Wissenschaftler versuchten, Neues zu erschaffen. Und ein paar dieser ‚Versuche’ sind aus dem Labor entkommen. Sie haben sich vermehrt, sind gewachsen, und haben sich am Ende gegen die Menschen gewandt. Sie können fliegen, Feuer spucken und sind sehr intelligent. Darren, auch wenn du das jetzt vielleicht nicht glaubst, aber sie haben Drachen erschaffen.“ Erwartungsvoll und ein wenig unsicher schaute er zu mir herüber.
 

Die Geschichte war an sich nichts neues für mich. Mr. Tiny hatte mir damals, als ich zum ersten Mal hier gewesen war, schon erzählt, dass die Drachen die Menschheit zerschlagen würden, dass das Zeitalter der Menschen zuende ging. Und ich hatte die riesigen Wesen gesehen, und das, was sie tun konnten. Nur, damals, also eigentlich in der Zukunft, waren es viel mehr gewesen; hier hatte ich noch keinen einzigen gesehen.
 

„Darren?“ Mike sah mich jetzt fast schon besorgt an. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Zum einen wollte ich nichts über meine Vergangenheit verraten, also durfte ich nicht preisgeben, dass ich schon von den Drachen gewusst hatte. Das hieß, dass ich mich überrascht oder schockiert zeigen musste, denn diese Nachricht war einfach zu unglaublich um wahr sein zu können. Ein guter Schauspieler war ich aber auch nicht. So gut ich konnte verzog ich mein Gesicht zu etwas, dass ich für einen ungläubigen Ausdruck hielt. Mike jedenfalls schien es zu genügen, denn er sprach schnell weiter, wie um mich doch noch zu überzeugen, dass es stimmte.
 

„Die Drachen haben viele unserer Städte vernichtet, das ganze System ist zusammengebrochen und die Menschen haben sich zu Verbänden wie dem hier zusammen geschlossen. Sie versuchen noch weitere Überlebende zu finden und so einen Widerstand zu bilden. Aber wir sind einfach zu wenige. Hier kommt der See ins Spiel. Zuerst wollten wir ihn zum Fischen benutzen, aber in den Netzen waren immer nur Menschen. Wir haben keine Ahnung, warum sie im See sind und vor allem, wie sie dort überleben können. Irgendwie müssen sie das ja tun, denn wir holen ja keine Leichen aus dem Wasser. Jetzt jedenfalls ziehen wir ausgesuchte Leute heraus und gliedern sie hier bei uns ein. Wir brauchen sie für den Widerstand.“ Mike beendete seine Erklärung und blieb stumm. Meine Gedanken kreisten weiter um das Gesagte. Ich befand mich also in einem Widerstandslager. M. Tiny hatte nicht erwähnt, dass es einen Widerstand gegeben hatte. Er hatte sich vermutlich einfach nur an ihrem Leid gelabt und es für nicht weiter wichtig befunden, da es sowieso ein unmögliches Unterfangen war, die Menschheit retten zu wollen. Wie auch; die Drachen waren stärker, intelligenter und somit eindeutig im Vorteil. Und wenn sie es auch noch nicht war, bald würde ihre Zahl die der Menschen weit übersteigen. Ich hatte ja gesehen, wie es hier in ein paar Jahrhunderten aussehen würde. Aber Hoffnung war eben das, was zuletzt starb. Niemand hier im Lager würde aufgeben wollen. Mir selbst war es egal. Mein Leben war bereits zu Ende und ich wusste nicht, was mit meinem ‚Volk’ passiert war. Ich würde hier bleiben, solange, bis ich eine bessere Alternative hatte. Ich konnte auch auf mich allein gestellt überleben. Vielleicht fand ich ja noch einen meiner alten Freunde oder Kumpane, der mir sagen konnte, was passiert war. Beide in Gedanken versunken gingen wir schweigend weiter, bis wir den runden Platz erreicht hatten.
 

Heute waren wir nicht die einzigen Anwesenden. Auch noch ein paar Andere hatten sich eingefunden und übten allein oder zu zweit mit den verschieden Waffen. Vor weiter hinten hörte ich auch immer wieder das dumpfe Geräusch von Pfeilen auf den Strohscheiben. Die ernste Stimmung zwischen uns verflog schnell unter der herrschenden Vorfreude auf den Kampf. Die Sonne stand schon ein wenig geneigt am Himmel. Mike und ich wärmten uns schnell auf, dann ging es los...
 

Einige Übungskämpfe und ein paar Stunden später waren wir beide verschwitzt und völlig außer Atem. Wir hatten angefangen beim Nahkampf ohne Waffen angefangen, mit Schwertkampf weitergemacht und am Ende noch den Messerwurf trainiert. Es war anstrengend gewesen; Mike war ein starker Gegner. Trotzdem war ich überrascht, wie schnell meine Stärke und Schnelligkeit wieder zurückkehrten. Nur mit der Ausdauer haperte es noch ein bisschen. Die war wohl eindeutig verloren gegangen in den vergangenen knapp hundert Jahren. Mike jedoch war begeistert. Ich hatte sein Level innerhalb von wenigen Tagen fast schon erreicht. Mit genügend Kondition und noch ein wenig mehr Übung würde ich ihn schnell übertreffen können, was eigentlich schade war. Es gab vermutlich im ganzen Lager kaum jemanden, der sich im Kampf mit einen Halbvampir messen konnte. Ich würde mich zurückhalten müssen.
 

Mike beschloss das Training für heute zu beenden und sich waschen zu gehen. Nachdem wir frische Kleidung abgeholt hatten (ich wusste jetzt, wie das mit der Wäsche lief), liefen wir in den Hygienebereich um Seife und Handtücher zu holen. Dann ging es weiter aus dem Lager heraus in den dahinterliegenden Wald. Das wunderte mich. Im Wald konnte man sich ja schlecht waschen, womit denn auch? Zweigen und Moos?! Diese Frage klärte sich jedoch schnell, als ich in einiger Entfernung Wasser rauschen hörte. Ich hatte nicht gewusst, dass es in der Nähe des Sees einen Bach gab. Andererseits, der See musste ja auch von irgendwoher sein Wasser bekommen, auch wenn man den Zufluss nicht sehen konnte. Ein paar hundert Meter weiter stießen wir dann tatsächlich auf den Bach, eher schon einen kleinen Fluss. Auf unserer Uferseite war die Böschung soweit abgeflacht, dass man bequem heruntersteigen konnte, und die Strömung war nicht stark, sodass man ohne Probleme baden konnte. Während ich noch herumstand und den Bach ansah hatte Mike sich schon ausgezogen und war bis zu den Knie ins Wasser gewatet. Ein leichte Gänsehaut überzog seinen Körper; das Wasser war sicher kalt. Aber mit derartigen Badegewohnheiten hatte ich schon ausreichend Erfahrung. Den Fluss im Berg der Vampire hatte man schließlich auch nicht beheizt. Schnell war auch ich ausgezogen und stieg in das kalte Nass. Ein Schauder überlief mich, doch dann gewöhnte ich mich schnell daran. Trotzdem beeilte ich mich, mich einzuseifen und wieder aus dem Wasser zu kommen. Eine Unterkühlung machte keinen Spaß. Es fühlte sich himmlisch an, nach dem Abtrocknen wieder in die verhältnismäßig warmen und frischen Kleider zu steigen.
 

Auf dem Rückweg zurück zu den Zelten gaben wir die vom Training durchgeschwitzten Sachen ab und gingen dann direkt zum Essenszelt. Es dämmerte bereits. Wie schon beim Mittagessen war das Zelt schon voll. Ich sah ein paar der Leute wieder, mit denen ich mich unterhalten hatte, aber Mike bugsierte mich weiter, zu einer Gruppe, die ich nicht kannte (was ja keine Kunst war), offensichtlich seine Freunde. Trotz eines freundlichen Empfangs konnte ich mich nicht recht auf sie einlassen. Meine einzigen Nicht-vampirischen Freunde waren die Mitreisenden des Cirque-du-Freak und Debbie gewesen, die wusste, was ich wirklich war. Ich war mir im klaren, dass ich allem Menschen hier nie eben das sagen würde. So verließ ich nach dem Essen recht schnell die Gesellschaft und kehrte in mein Schlafzelt zurück (sogar ohne Pannen). Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Luft wurde langsam kühl. Irgendwie war die Zeit heute schnell verflogen. Endlich hatte ich erfahren, wie und warum ich hierher gekommen war, und es gefiel mir hier. Ich war schon gespannt, was mir die nächsten Tage hier noch alle bringen würden. Müde legte ich mich auf die Pritsche. Der Tag war auch anstrengend gewesen. Es dauerte nicht mehr lange und ich schlief ein, ich würde die Energie sicher morgen brauchen...
 

***
 

* Esperanto: ~ ist eine künstlich von einem Herrn Esperanto entwickelte Sprache, die sich aus verschiedenen Elementen von Englisch, romanischen Sprachen, ein wenig Polnisch und anderen Sprachen zusammensetzt. Die Grammatik wurde konstruiert, um einfach und leicht erlernbar zu sein und das Alphabet ist ein bisschen anders. Ich habe sie hierfür ausgewählt, weil sie heutzutage kaum gesprochen wird, die Tendenz aber steigend ist, es also gut möglich wäre, dass es mal landesweit gesprochen wird. Und Darren kommt die einfache Grammatik sicher auch zugute^^. Wen Esperanto noch mehr interessiert, hier ist der Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Esperanto

P.S.: Ich spreche es nicht selber^^.

Kapitel 5

Kapitel 5
 

In der folgenden Zeit gewöhnte ich mich an die regelmäßigen Tagesabläufe. Ich lernte nach und nach, wie das Leben hier im Lager vonstatten ging und wie die Dinge funktionierten. Nach einer guten Woche täglichen Trainings schlug ich Mike in jedem unserer Übungskämpfe und fiel abends nicht mehr erschöpft ins Bett, oder eher auf die Pritsche. Außerdem hatte ich begonnen, nicht mehr nur mit ihm zu trainieren, sondern auch mit den anderen aus dem Lager, wenn ich sie auf dem Übungsplatz traf. Ich musste meine Kräfte zurückhalten, sonst wäre schnell klar gewesen, dass ich nicht nur einfach stark und schnell war, sondern eigentlich mit Leichtigkeit jeden von ihnen ungespitzt in den Boden hätte rammen können. Aber eben diese Erfolge brachten mit Respekt ein. Ohne es aktiv zu wollen wurde ich ein Teil des sozialen Gefüges: Abends bekam ich Einladungen, mich zum Essen zu ihnen zu setzen, oder andere erboten sich, statt Mike mit mir den Tag zu verbringen. Langsam aber sicher entstand ein kleiner Kreis von Personen, die ich fast schon als Freunde betrachtete.
 

Das Leben hier entsprach etwa meiner Vorstellung von Normalität. Dieser sich täglich wiederholende Rhythmus, der sich bei mir eingependelt hatte war etwas, dass ich zuvor nur bedingt gehabt hatte. Ich hatte einen festen Wohnsitz, solange man ein Zelt ‚fest’ nennen kann, jeden Tag Essen, dass ich mir nicht zuerst selbst fangen oder sammeln musste und konnte mich jeden Tag waschen. Gut einen Monat war ich jetzt schon hier. Inzwischen hatte ich die Sprache schon recht gut drauf. Zumindest reichte es mir, um mich zu verständigen und dumme Kommentare abzugeben, wie es eben manchmal meine Art war. Meine freie Zeit verbrachte ich jetzt meistens mit meinen Freunden. Sie hatten alle ihre Aufgaben schon gewählt und waren dementsprechend beschäftigt. So hatte ich wiederum immer wieder Zeit für mich, in der ich durch das Lager und den dazugehörigen Wald streifte. Dem See blieb ich dabei jedoch meistens fern. Ich fand den Gedanken, an einem See voller Verdammter Seelen vorbeizugehen, einfach nicht sonderlich prickelnd, auch wenn ich wusste, dass alle Neuen aus dem See kamen, auch ich.
 

Mir war aufgefallen, wie wenig Frauen es hier gab. Entweder sie versteckten sich sobald sie mich sahen, oder sie waren schlicht und einfach nicht vorhanden. Nicht, dass es mich störte. Seit Debbie hatte ich nicht mehr das Bedürfnis gehabt, in Anwesenheit einer Frau zu sein. Es war einfach zu schwierig. Männer waren viel einfacher. Sie stellten keine unnötigen Fragen, sprachen nicht über unangenehme Themen und machten kein Drama, wenn man mal fünf Minuten zu spät zu einem Treffen kam. Sie hielten einem keine moralischen Vorträge und waren nicht so schnell beleidigt. Mit ihnen musste man sich nicht zurückhalten, nicht im Gespräch und auch nicht im Training, zumindest nicht so viel. Im Berg der Vampire hatte es auch kaum Frauen gegeben. Arra Sails war eine der wenigen gewesen. Bei ihr als Vampirin hatte ich mich natürlich auch nicht zurückhalten müssen. Im Gegenteil, sie war genauso derb wie die ganzen Männer um sie herum und oftmals sogar stärker.

Ich hielt nicht absichtlich Abstand zu den Frauen im Lager, aber ich beachtete sie auch nicht sonderlich. Es war schlicht und einfach so, dass mich keine von ihnen ansprach, weder äußerlich noch vom Charakter her.
 

Ein anderes Problem, mit dem ich mich in der Zeit oft beschäftigte, war, dass ich bald wieder Blut brauchen würde. Also, eigentlich war es kein Problem, schließlich war es nur eine kleine Menge, die ich benötigte, aber es stellte sich die Frage, wie ich an welches herankommen konnte. Mike wäre naheliegend gewesen, aber er war nach dem Abendessen meistens ziemlich dicht und ich hatte keine Lust, Blut mit 2.5 Promille Alkoholgehalt zu trinken. Bei so viel Stoff würde ich vermutlich selber betrunken und außerdem schmeckte es schlichtweg sch...schlecht. Also stellte sich die Frage, wen ich stattdessen anzapfen konnte. Leise in ein anderes Zelt einzudringen war kein Problem, aber jemanden unbemerkt kratzen und dann auch noch an der Wunde zu saugen war schon ein wenig schwieriger. Sonst hatte ich immer Mr. Crepsley gehabt, der die Leute mit seinem Betäubungsatem kaltgestellt hatte, aber das kam jetzt wohl eher weniger in Frage. Dummerweise fiel mir jedoch keine andere Möglichkeit ein, an frisches Blut zu kommen. Das erste Mal hatte ich noch ein wenig Bammel, dass ich entdeckt werden würde, aber nachdem ich ein paar Nächtelang die Schlafgewohnheiten im Lager beobachtet hatte, wurde mir schnell klar, dass einige hier trotz Training schliefen wie Steine, oder um genau zu sein, wie Gebirgsmassive. Diese Leute stellten dann überraschenderweise immer wieder kleine Schnitte an ihren Beinen fest (ich habe natürlich keine Ahnung, woher sie kommen könnten *pfeif*).
 

***
 

Nach fast zwei Monaten beschloss Mike, dass mein Training beendet war. Das hieß nicht, dass ich jetzt aufhören sollte, zu üben, aber es war nicht mehr mein Tagesinhalt. In den letzten Wochen hatte ich auch nicht mehr nur gekämpft, sonder war auch in ein paar Strategien eingewiesen worden, die die Ältesten gegen die Drachen entwickelt hatten. Ich hatte mich als Prinz der Vampire oft mit derartigen Dingen beschäftigt und selbst ein paar Feldzüge gegen die Vampyre geplant. Sogar gegen die Drachen hatte ich schon mal gekämpft, wenn auch nur mit drei Mann und mit giftgefüllten Schleimkugeln. Und ich wusste, dass zumindest dieses Lager hier nicht ewig Bestand haben würde, schließlich war in ein paar Jahrhunderten keine Spur mehr davon zu entdecken gewesen. Trotzdem studierte ich die Strategien genau, man konnte ja nie wissen.
 

Es hatte auch Übungen gegeben, die den Ernstfall erprobten, wenn auch eher selten. Es kam nicht oft vor, dass sich hier wirklich ein Drache zeigte. In meiner ganzen Zeit hier hatten ich nur einen gesehen, und da war er noch sehr weit entfernt gewesen. Ein Kleiner war es noch dazu. Ich verstand nicht wirklich, warum die Menschen zu dieser Zeit schon die Drachen als eine solch große Bedrohung ansahen. Natürlich, ich wusste, dass sie sich schnell vermehrten und mit der Zeit auch größer uns stärker wurden, aber jetzt?
 

Nach zwei Monaten jedenfalls brachte mich Mike zu den Ältesten, um ihnen zu berichten, dass mein Training hiermit vollständig abgeschlossen war, und dass sogar in relativ kurzer Zeit für einen Neuen. Jetzt war es an der Zeit, eine Aufgabe für mich zu wählen, der ich für einige Zeit nachgehen sollte. Die meisten Aufgaben kannte ich bereits, wenn auch nur vom sehen, von meinen Streifzügen und aus Gesprächen. Ich war mir nicht sicher, was ich wählen sollte. Klar, ich hatte nicht wirklich Lust, Wäsche zu waschen, oder in der Näherei zu sitzen. Am ehesten würde mich noch ein ‚Beruf’ außerhalb das Lagers ansprechen, wie die Jäger, oder die Leute, die nach anderen Überlebenden suchten. Das war es auch, was der Rat mir nahe legte, allein meiner Stärke wegen: „Du wirst dich gut verteidigen können.“ Und alleine wäre ich auch nicht. Man konnte es schließlich nicht verantworten, wenn eine Einzelperson ohne Schutz war. Also bekäme ich einen Partner.
 

Das einzige, was mich davon abhielt, sofort zuzustimmen, war, dass diese Aufgabe sehr meinem alten Leben glich; dauern unter freiem Himmel sein, selbst für sich sorgen müssen und wenigen Menschen begegnen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, das alles noch mal zu erleben. Andererseits konnte ich jederzeit abbrechen und mich für eine andere Aufgabe entscheiden... Und dann war da noch das Risiko, dass mit dieser Aufgabe kam und dass einen seltsamen Reiz auf mich ausübte. Es bestand die Möglichkeit, bei einem Auftrag zu sterben, sei es durch ein wildes Tier oder durch andere Menschen. Am Ende entschied ich mich trotzdem dafür. ‚Überlebende’ zu suchen klang doch gar nicht so schlecht.
 

***
 

Schon am nächsten Tag bekam ich einen neuen Partner zugewiesen, was hieß, dass ich in ein anderes Zelt umziehen musste. Mike war für die Neulinge, deren Eingewöhnung und Ausbildung zuständig. Er würde ebenfalls einen neuen Partner bekommen. Schon bei der Vorstellung, alle paar Monate mit der Arbeit von vorne beginnen zu müssen, gruselte es mich. Seine Aufgabe wäre sicher nichts für mich gewesen.
 

Mein neuer Partner hieß André. Er war vor ein paar Jahren aus dem See gezogen worden. Ursprünglich kam er auch Frankreich, war dann bei der Marine, und wurde schließlich in einem Krieg eingesetzt, dessen Name mir nichts sagte. Wie es im Krieg so war, hatte er einige Leute getötet, und war deshalb, wie ich vermutete, in den See der Seelen gekommen. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wie viele Seelen es dementsprechend im See geben musste.
 

Kommunikation zwischen uns war kein Problem, da ich sowohl ein wenig Französisch als auch Esperanto inzwischen ganz gut sprach. Auch wenn wir selten miteinander sprachen. Der Kerl war so wortkarg, dass er den Kleinen Leuten Konkurrenz machte. Warum das so war, habe ich bis heute nicht erfahren. Auch sonst wusste ich nicht viel über ihn. Nicht einmal sein Alter, obwohl ich ihn auf knappe dreißig Jahre schätzte. Er war nicht ganz so groß und auch nicht so muskelbepackt wie die meisten Männer im Lager, hatte hellbraune streichholzkurze Haare und er war einer der wenigen, die sich rasierten. Ansonsten hatte er Narben, aber das schien hier normal zu sein. So fiel ich mit meinen wenigstens nicht auf.
 

Alle Wunden, die Steve mir bei unserem letzten Kampf zugefügt hatte, waren verschwunden gewesen, als man mich aus dem See zog, aber alle Narben, die ich jemals im Kampf und auf unseren Reisen bekommen hatte, waren immer noch an ihrem Platz. Und das waren viele!
 

Aber ich halte mich zu lange mit André auf, schließlich war er nicht lange mein Partner. Nur zwei-, dreimal ging ich mit ihm auf Streifzug. Lange zwar, aber eben nur wenige. Es war sehr interessant, zu sehen, wie sehr die Welt sich verändert hatte. Noch waren die Unterschiede nicht übermäßig groß, worüber ich froh war, wenn ich an mein erstes Abenteuer in der Zukunft erinnerte, aber doch gut zu bemerken. Zumindest gab es noch genug Ähnlichkeiten, sodass ich problemlos genug zu Essen für uns beide fand. Wir fanden kaum Überlebende, die wir dann tatsächlich auftragsgemäß zurück ins Lager bringen konnten. Auf Dörfer stießen wir nicht. Entweder es gab erst wieder welche in größerer Entfernung, oder wir hatten sie immer verpasst. Für mein Verständnis jedenfalls war diese Aufgabe sehr brotlos.
 

Das machte mich schon bald ruhelos. Ich mochte es, in freier Natur zu sein, aber das, was wir taten kam mir so ziellos vor. Ich hatte immer ein Ziel gehabt, mein ganzen früheres Leben lang. Und jetzt irrte ich mit jemandem, den ich seit einem Monat kannte, allein durch die Gegend und suchte etwas, von dem wir nicht einmal genau wusste, wo es zu finden war. Außerdem fühlte ich mich ständig daran erinnert, wie es früher gewesen war. Ich könnte mich selbst dafür in den Ar*** beißen, dass ich der Vergangenheit so nachhing, aber es war schwer, es hier nicht zu tun, mit so viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn André ein kleines bisschen gesprächiger gewesen wäre, aber es ist sicher nicht seine Schuld. Außerdem war meine Auswahl an verschiedenen Geschmacksrichtungen hier massiv eingeschränkt, was Blut betraf. Und die Franzosen stellen zwar wirklich guten Wein her, aber an ihrem Blut müssen sie noch ein wenig arbeiten.
 

Ich beschloss, mich nach einer anderen Aufgabe umzusehen, die mir eher liegen würde, auch wenn ich eigentlich gedacht hatte, dass so etwas am meisten zu mir passen würde. Man lernt eben nie aus, auch nicht über sich selber^^. Es begann dasselbe Spielchen wie schon vorher. Ich begann, immer mehr ‚Berufe’ auszugrenzen, mit denen ich eindeutig gar nichts anfangen konnte. Dazu zählten erst einmal alle Hauswirtschaftlichen; mit denen hatte ich eindeutig am wenigsten Erfahrung. Im Berg der Vampire hatte es außer unserem Haus- und Hofmeister Seba Nile niemanden gegeben, der sich um derartige Dinge gekümmert hatte. Wirklich Lust, den ganzen Tag Wäsche zu waschen oder die Waschräume zu putzen hatte ich auch nicht so wirklich. Ich hatte auch keine Lust, etwas von ganz vorne lernen zu müssen, was noch mal eine ganze Menge ausmachte.
 

Dann strich ich alle handwerklichen Aufgaben. Klar, ich konnte aus so gut wie allem ein provisorisches Lager aufbauen, was hier mit wesentlich bequemeren Zelten nicht vonnöten war, aber Hammer und Säge kannte ich nur aus Erzählungen von anderen Vampiren. So flogen nach und nach immer mehr Aufgaben aus der Liste. Im Rückblick finde ich erschreckend, dass ich so wenige Dinge konnte, oder dass es mir in dem Moment zumindest so vorkam.
 

Am Ende blieben nur wenige Aufgaben übrig, zwischen denen ich wählen wollte. Das war zum einen Betreuer der Neulinge, was ich ja schon nach Mike für mich ausgeschlossen hatte, Pfleger auf der Krankenstation, was ich beim Gedanken an die ganzen Verletzten, die ich schon in meinem Leben gesehen hatte, ausschloss, dann war da immer noch Jäger, wobei das auf dasselbe herauslief wie meine vorherige Aufgabe, und zum Schluss noch Fischer. Auch wenn ich da nicht nach Fischen angeln würde, so schön es auch wäre. Aber zwischen den ganzen anderen Arbeiten war mir diese immer noch am liebsten. Es war nichts, was mir vollkommen unbekannt war. Der See war mir zwar nicht ganz geheuer, war er doch ein Werk Mr. Tinys, zum anderen war es doch interessant. Ich meine, wie kommen die Seelen in den See und wird es da drin nicht irgendwie eng, nach all der Zeit? Und in Ermangelung besserer Auswahl... Da blieb mir wohl nichts anderes übrig, oder^^?
 

***
 

Erstaunlicherweise verlief mein Wechsel ganz unproblematisch. Ich hatte angenommen, dass es so etwas wie Wartezeiten gab, oder dass manche Aufgaben überbelegt waren. Dinge solcher Art eben. Aber die Nachzivilisationsbürokratie schien recht einfach zu sein. So ziemlich ohne Büro eben. Ein kurzes Gespräch mit den Alten, das war es. Ich musste nicht einmal das Zelt wechseln. Mit meinem Mitbewohner hatte ich ohnehin noch nicht viel zu tun gehabt. Ich begann den nächsten Tag einfach damit, dass ich, zum ersten Mal seit meiner Ankunft, hinunter zum See ging. Ich war ein wenig später aufgestanden und hatte mit beim Frühstück ein bisschen Zeit gelassen, sodass jetzt schon ein paar der anderen Fischer am Ufer standen und gähnten. Sie empfanden es offensichtlich noch zu früh, um wirklich mit der Arbeit zu beginnen.
 

Nicht, dass es wirklich Arbeit wäre. Man musste die Seelen im See beobachten, wie sie in ihren schimmernden Blasen von den Strömungen durch das Wasser getragen wurden, mal höher, mal tiefer. Die meisten sah man nie wieder, wenn man sie einmal zwischen den anderen verloren hatte. Wieder fragte ich mich, wie viele Seelen wohl hier drin waren. Die Fischer sollten nach bestimmten Merkmalen Ausschau halten. Leute, die robust und stark genug aussahen, um im Lager und in der ‚Wildnis’ überleben zu können. Und natürlich sollten sie kämpfen, aber das sah man den Seelen ja nicht an.
 

So saßen wir in regelmäßigen Abständen auf schmalen Hockern am Ufer um den See herum, unser Netz hinter uns ausgebreitet, und starrten ins Wasser. Oder theoretisch sollten wir das. Meistens führten wir Gespräche, teilweise auch über den ganzen See hinweg, was nicht besonders schwer war; es war ja ein kleiner See, wenn auch ein wenig größer als später in der Zukunft. Auf meine Nachfrage hin, ob niemand bemerken würde, dass wir eher tratschten wie die Waschweiber anstatt trüb ins Wasser zu glotzen, bekam ich laut lachend die Antwort: „Wenn jeder hier wirklich Alle aus dem See ziehen würde, die er für geeignet hält, dann würde das Lager hier bald aus allen Nähten platzen. Stell dir das mal vor!“ Dabei musste ich ihm wirklich recht geben.
 

Täglich wurden im Durchschnitt zwischen einer und vier Seelen herausgefischt. Vier war schon ein wenig viel. Es gab auch Tage, an denen niemand blitzartig aufsprang und mit einigen hektischen, aber routinierten Bewegungen zielsicher das Netz auswarf. Die Netze waren auch nicht besonders groß. Sie dienten nur dazu, die kleineren Blasen höher zu ziehen, sodass man mit den Händen die darin zusammengerollt liegende Person greifen konnte. Die anderen Fischer, die demjenigen am nächsten waren, halfen dann, die meist noch recht bewusstlosen Körper vollends auf den Strand und in die Krankenstation zu tragen. Bei knapp zwanzig Leuten, die diese Aufgabe gewählt hatten, kam ich auch immer wieder zu der Ehre, beim Tragen zu helfen. Die Zeit, in der wir um den See wache halten mussten war auch nicht besonders lang. Alles in allem also ein seeehr entspannter Job.
 

Ich selbst war sparsam, was das Herausziehen von Leuten betraf. Auch wenn ich jetzt wusste, dass wohl die meisten von ihnen durch irgendwelche Kriege verdammt worden waren, gab es hier doch sicher auch die ganzen Mörder und andere Verbrecher. Und wenn ich im See gewesen war, dann gab es sehr wahrscheinlich auch noch andere Vampire. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen zu erwischen sehr klein, aber doch möglich. Außerdem hatten diese Menschen ihr Leben schon längst gelebt. Aber ich konnte ja schlecht nie jemanden aus dem Wasser ziehen; dann hätte ich eine andere Aufgabe wählen müssen.
 

Mein ‚erstes Mal’ kostete mich ein wenig Überwindung. Ich hatte einen jungen Mann, schätzungsweise um die fünfundzwanzig, im Auge, der so unschuldig aussah, kräftig, aber mit eher schmaler Statur, dass er sicher nur ein Kriegsopfer gewesen war. Es war ein komisches Gefühl, die kleine Blase mit dem Netz näher an die Oberfläche zu holen, wie als wenn man versucht, eine Luftblase zu bewegen. Immer wieder entglitt sie mir, verformte sich um mir auszuweichen. Schlussendlich war jedoch die größte Schwierigkeit, tatsächlich mit der Hand ins Wasser und durch die dünne Haut der Blase zu greifen. Der Rest ging schnell. Sobald ich den Arm des Manns berührte, platzte das schillernde Gebilde um ihn herum in viele glitzernde Teilchen und auf einmal hing mir ein erwachsener Körper am Arm, auch wenn er durch das Wasser leichter war. Ich war eher überrascht als dass ich von dem Gewicht überfordert war. Bald halfen mit andere fleißig beim Ziehen und wenig später lag der ‚Fisch’ auf dem trockenen.
 

Auch die folgenden Mal blieben ein kleiner Nervenkitzel für mich. Dies war etwas, was nicht viele jemals taten. Der Anblick der Blasen, je näher sie einem waren, war einfach faszinierend. Das war es auch, was mir dann den Anstoß gab, bei dieser Arbeit zu bleiben, zusammen mit den Gesprächen und des großen Anteils an Freizeit. Ich fühlte mich wohl mit dem, was ich tat.
 

***
 

Wieder verging Zeit. Ich hatte meinen Platz hier vollkommen eingenommen. Das einzige, was mich immer noch von den anderen abgrenzte, war meine wirkliche Stärke, die ich zusammen mit meiner Vergangenheit weiterhin geheim hielt, und mein Bedürfnis nach Blut. Alles keine großen Hürden, was das Zusammenleben betraf. Ich hatte meine täglichen Routinen und meine Freunde, zu denen jetzt auch die meisten der Fischer gehörten. An den Berg der Vampire dachte ich nicht mehr so oft, genauso wie an meine alten Freunde. Ich hatte ein neues Leben. In dieser Zeit schreib ich auch nicht oft in mein Tagebuch, dass ich aus Gewohnheit wieder begonnen hatte.
 

Aus das Fischen konnte ich inzwischen im Schlaf. Geübte Handgriffe, ob ich nur den Anderen half oder selbst jemanden entdeckt hatte. Aber ich hatte sonst selten Routine gehabt, also konnte ich das hier wirklich genießen. Aber wie mir schon oft bewiesen wurde können sich die Dinge schnell ändern und sind oft am Ende nicht so, wie sie scheinen.
 

Inzwischen war es tagsüber recht heiß, die Sonne schien oft den ganzen Tag und brannte auf unsere Köpfe. Sonnenbrand und Sonnenstich waren bald normal bei uns, auch wenn ich davon verschont blieb. Alle Reaktionen wurden mit zunehmender Hitze langsamer. Gespräche fanden nur noch morgens und später am Nachmittag statt, wenn es wieder ein wenig kühler wurde und der Wind auffrischte. Sonst war er einfach zu anstrengend, mehr zu tun, als da zu sitzen und seinen Gedanken nachzuhängen, während man die Blasen im Wasser beobachtete. Ich glaube, in Gedanken waren sie alle dabei, sich in voller Montur in den See zu stürzen und das Wasser zu genießen.
 

Ich döste auf meinem Hocker vor mich hin. Am Rande bemerkte ich, wie einer der Fischer neben mir aufstand und die übliche Prozedur begann, um die ausgewählte Blase an die Oberfläche zu bringen. Langsam, gaaanz langsam machte ich mich bereit, beim herausziehen zu helfen. Wie der Mann es geschafft hatte, sich jetzt dazu durchzuringen, irgendetwas zu tun, was mir schleierhaft. Sobald der Körper sich materialisiert hatte, begann ich mit den anderen zu ziehen, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Ich wusste auch so, was zu tun war.
 

Mein Gehirn tauchte allmählich wieder aus der Versenkung, beziehungsweise aus dem Backofen, auf. Ohne dem Mann vor mir wirklich Beachtung zu schenken, begann ich seine Körperfunktionen und Eigenschaften zu testen. Alles war in Ordnung; regelmäßiger Puls, keine Verletzungen, einige Narben, gut gebaut, muskulös, ... Die Atmung war ein wenig unregelmäßig, aber das war normal. Das Herausfischen war anstrengend. Ich war schon am aufstehen, als mir bewusst wurde, dass der Mann nicht ohnmächtig war, sondern mich mit klarem Blick beobachtete. Erst als ich sein Gesicht sah, erkannte ich ihn, und diese Erkenntnis ließ mich vor Schreck stocksteif stehen bleiben. Mit einem mal war ich hellwach. Mein Blut gefror. Die Welt kam zum Stillstand.
 

„Steve!“

Kapitel 6

Kapitel 6
 

Am frühen Abend des selben Tages lag ich auf meiner Pritsche, die Arme hinter meinem Kopf überkreuzt, und starrte Löcher in die Zeltdecke. Erst jetzt erschloss sich mit die Ironie der ganzen Angelegenheit, die ich jetzt am Hals hatte. Ich meine, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass unter den Millionen von Verdammten, die im See herumdümpelten, einer der wenigen Vampire oder Vampyre zum Fischen ausgewählt worden war, und dann noch ausgerechnet derjenige, der als mein prophezeiter Erzfeind und Untergang der Welt gelebt hatte. Den ich umgebracht hatte. Der mich umgebracht hatte. Eine der bösesten Kreaturen, die es überhaupt auf der Erde gab, neben Mr. Tiny natürlich. Und dann auch noch zur selben Zeit, oder zumindest fast, denn ich war ja schon ein paar Monate hier. Es war nicht zum Aushalten! Zufall konnte das fast schon nicht mehr sein, eher hatte das Schicksal seine Hände im Spiel, wortwörtlich. Reichte es denn nicht, dass dieser verdammte Kerl mich schon in meinem ersten Leben herumgeschubst hatte?
 

Eigentlich überraschte es mich nicht, dass ausgerechnet er ausgewählt worden war. Er war im richtigen Alter. Er war gut gebaut, muskulös, aber keine übertriebenen Muskelpakete. Wenige Narben, die von Kampferfahrung zeugten, ansonsten schöne, gut gebräunte Haut. Alles Merkmale, die meinen ähnlich waren. Wir fielen in dieselbe Kategorie. Natürlich waren wir beide älter, als wir aussahen, aber wir alterten ja auch langsamer. Überhaupt sah Steve gut aus, auch wenn ich mir bis jetzt noch nie Gedanken darüber gemacht hatte.
 

In unserer Kindheit waren wir uns auch sonst ähnlich gewesen. Neugierig bis zum Abwinken, Tod aller Eltern und Lehrer, Hyperaktiv. Fröhlich. Steve und ich hatten unsere kleine Gruppe oft in Schwierigkeiten gebracht. Nie war mir aufgefallen, was er für Probleme mit sich herumtrug, bis zu der Nacht, in der ich ihn und Mr. Crepsley von dem kleinen Balkon aus belauscht hatte. Das war das eine Mal, dass ich ihn so zu sehen bekam. Dann hörte ich die Prophezeiung vom Lord der Vampyre, dem Ende der Welt wir ich sie kannte und er wurde zu meinem Feind, auch wenn ich es zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste.
 

Bei unserer nächsten Begegnung war Steve Erwachsen und ich noch ein Teenager, trotz des gleichen Alters. Ich hatte zwar die Prüfungen bestanden, hatte oft gekämpft und viele Probleme gehabt, aber alleine war ich nie, auch wenn es mir manchmal so vorkam. Steve dagegen war, nachdem ich mein menschliches Leben für ihn aufgegeben hatte, allein gewesen und geblieben, egal was er tat. Gannen Harst war immer mehr sein Beschützer und Aufpasser als sein Freund, und alle anderen waren seine Untertanen oder Gegner, die vernichtet werden mussten. Als er dann meinen Mentor in die Pfähle stürzen und verbrennen lies, wurde mein ehemals bester Freund für mich ungewollt zu einem Feind.
 

Zu jedem früheren Zeitpunkt hätte ich fast alles dafür gegeben, ihn wieder meinen Freund nennen zu können und ihn bei mir zu wissen, in alter Vertrautheit. Danach zerstörte er mein Bild von ihm so gründlich, dass ich ihn nicht mehr wiedererkannte. Er wurde der Lord der Vampyre. Und jetzt war er hier.
 

Mit einem lauten Seufzen drehte ich mich auf die Seite und rollte mich zusammen. Jetzt konnte ich es sowieso nicht mehr ändern. Steve war hier, im Lager. Ich fand es immer noch erstaunlich, wie sehr die Wahrnehmung von den Gefühlen beeinflusst wird. In dem Moment, als ich Steve erkannt hatte, spürte ich die Mittagshitze und meine Müdigkeit nicht mehr; es war eher, als hätte sich alles ins Gegenteil umgekehrt.
 

*Flashback*
 

„Steve!“
 

Sämtliche Fischer in der Nähe drehten sich zu mir um. Erst jetzt merkte ich, dass ich laut gerufen und unwillkürlich einen Schritt zurück gemacht hatte.
 

„Kennst du ihn?“, stellte jemand die Frage. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es war. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Alles in mir wollte sich jetzt umdrehen und so viel Abstand wie möglich zwischen mich und diesen nackten Mann dort auf dem Boden zu bringen. Es kostete mich Mühe, auch nur den Kopf zu schütteln, und somit unsere gemeinsame Vergangenheit zu verneinen. Für meinen Ausruf hätte ich mich in den Hintern beißen können. Ich brauchte eine Ausrede für meine Reaktion. Und zwar schnell! Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es musste etwas naheliegendes sein. Etwas plausibles und etwas, was andere vom Fragen abhalten würde.
 

„Er sieht jemandem ähnlich... Sehr ähnlich...“, sagte ich schließlich. Etwas besseres fiel mir nicht ein. Angestrengt verzog ich mein Gesicht wieder zu einem Lächeln. Auch meine Körperhaltung war noch zu steif. Ich musste normal wirken. Nach einer kleinen Weile, es konnten nicht mehr als einige Sekunden gewesen sein, wandten die Anderen sich wieder ihrer Arbeit zu. Ich drehte mich um und ging wieder zu meinem Platz am Seeufer. Ein letzter Blick auf Steve sagte mir, dass er nun doch noch bewusstlos geworden war; seine Augen waren geschlossen...
 

*Flashback Ende*
 

Die ganze Szene wiederholte sich immer wieder in meinem Kopf. In diesem Moment lag Steve vermutlich auf der Krankenstation, wie jeder andere frisch Gefischte auch. Man wurde herausgefischt, dann dorthin gebracht. Die Erholungszeit war normalerweise eine bis zwei Wochen lang. Dann wurde man einem Partner zugewiesen. Die Trainingszeit folgte, das waren nochmal drei bis vier Monate. Und dann kam die Berufswahl. Bei mir waren es nur fünf Tage auf der Krankenstation und zwei Monate Training. Steve würde auch nicht viel länger brauchen, wenn überhaupt. Er würde seine Kräfte nicht hinterm Berg halten und verbergen, was er alles konnte. Er würde auffallen. Das hieß, wenn er das alles überhaupt mitmachte. Schließlich war er das böse Superhirn, dass und jahrelang an der Nase herumgeführt hatte; er hatte solche Sachen nicht nötig.
 

Ich hatte ihn umgebracht. Er würde mich jagen. Rache üben, für alles, was ich ihm angetan hatte, seiner Meinung nach. Ich hatte ihn verlassen, als wir noch Kinder waren, und hatte ihm seinen Traum gestohlen. Dann hatte ich ihm um seinen Platz als Weltherrscher gebracht. Sicher war das Grund genug, mich auseinander zu nehmen. Ich war in Gefahr. Noch nicht, aber sobald Steve wieder bei Kräften war, stand ihm nichts mehr im Weg, mich büßen zu lassen.
 

Ich wusste, dass die Leute, die mit dem Lager und den Regeln und Abläufen hier nicht zurecht kamen, gehen durften, ohne aufgehalten zu werden. Einsperren konnte man sie ja auch schlecht. Es war eine Regelung, die bis zu einem gewissen Grad auch den Frieden im Lager garantierte, denn das hieß, dass niemand in seiner Freiheit eingeschränkt war. Wen wollte konnte gehen.
 

In diesem Moment überlegte ich mir zum ersten Mal, ob ich vielleicht diese Option wählen und einfach gehen sollte. Ich wäre auf jeden Fall sicherer, wenn ich nicht ein paar Zelte neben meinem Todesengel schlafen und arbeiten würde. Sobald ich mir sicher war, dass Steve verschwunden und nicht mehr in der Gegend war, könnte ich zurück kommen. Gleichzeitig hieß das auch, dass ich jeden hier seiner Willkür überließ. Steve saß hier inmitten vieler Menschen, die keine Ahnung hatten, was er war und zu war er fähig war. Ich war vermutlich der Einzige hier, der annähernd so stark war wie er. Und irgendwann würde er Blut brauchen...
 

Weglaufen schloss ich hiermit aus. Ich wollte mit meiner Vergangenheit abschließen, aber nicht auf Kosten von den Leuten, um deren Überleben ich mein ganzes erstes Leben ich gekämpft hatte und für das ich gestorben war. Auch wenn sie es am Ende geschafft hatten, sich selbst an den Rand der Untergangs zu bringen.
 

Draußen war es inzwischen dunkel. Ich lag immer noch auf der Pritsche und konnte meine Gedanken nicht abstellen. Heute hatte ich mich länger und intensiver mit meiner Vergangenheit, vor allem mit Steve, befasst als in sonst einer Nacht zuvor hier im Lager. Heute war vermutlich auch die letzte Nacht für eine ganze Weile, in der ich ungestört würde schlafen können. In ein paar Tagen wäre Steve wieder stark genug, um aufstehen zu können, und ab da würde ich auf der Hut sein müssen, zu jeder Tagszeit. Also sollte ich die Nacht besser nutzen und mich richtig ausruhen, vielleicht noch ein wenig Blut auf Vorrat trinken, bevor ich vielleicht nicht mehr so schnell die Gelegenheit dazu hätte.
 

Mit einem erneuten lauten Seufzen schloss ich endgültig meine Augen und entspannte mich, so gut es ging.
 

***
 

In den folgenden Tagen wurde ich zunehmend wachsamer was meine Umgebung betraf. Ich wusste, ich würde Steve bald in der Mensa begegnen, wenn er sich tatsächlich an alle Abläufe hielt, die es gab, und nicht sofort den Rat der Ältesten zerlegte. Oder ich würde ihm einfach so irgendwo im Lager über den Weg laufen, auf einer Führung mit seinem Partner, oder schlimmer, alleine. Auf den Übungsplatz ging ich nur noch selten, zu Zeiten von denen ich wusste, dass wenige dort waren und noch weniger Neue. Was hieß, eigentlich fast nie. Was tat man nicht alles für die eigene Sicherheit. Am wohlsten fühlte ich mich inzwischen wirklich am Seeufer. Hierher wurde keiner der Neuen gebracht, erst am Ende ihrer Ausbildung oder wenn ihnen erklärt wurde, warum es diese Lager überhaupt gab. Also war es hier am sichersten.
 

Früher war ich es gewohnt gewesen, Nacht immer nur leicht zu schlafen und bei jedem ungewohnten Geräusch sofort wach zu sein und immer ein Messer in der Hand zu haben. Hier war es nie notwendig gewesen, deshalb hatte ich langsam damit begonnen, diese Gewohnheit abzulegen. Eigentlich war ich froh gewesen, das hinter mit zu haben. Umso enttäuschter war ich, als ich jetzt wieder damit anfangen musste. Steves Ankunft war mein ganzes Leben über den Haufen.
 

Auch die Anderen merkten, dass ich mich anders verhielt. Ich hielt mich öfter in ihrer Gesellschaft auf, beteiligte mich mehr an ihren Gesprächen und an ihren Aktivitäten, den Übungsplatz ausgenommen. Nicht, dass sie diese Veränderung schlecht aufnahmen. Eher wunderten sie sich und schlossen mich ohne groß zu fragen mehr ein als zuvor. Das war ein gutes an den neuen Umständen, das musste ich zugeben. Trotzdem wog es die Nachteile nicht unbedingt auf.
 

Je mehr die Zeit voranschritt und nichts passierte, außer dass ich durch meine langen Wachzeiten ein wenig übermüdet wurde, desto unruhiger wurde ich. Warum tat Steve nichts? Es sah ihm nicht ähnlich, einfach nichts zu tun. Oder plante er schon die ganze Zeit etwas und wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt?
 

So wie ich ihm bis jetzt die ganze Zeit aus dem Weg gegangen war, so beobachtete ich ihn jetzt, wo ich es konnte. Ich setzte mich bei den Mahlzeiten mit dem Gesicht zu ihm, lief ihm und seinem Partner hinterher, wenn sie das Essenszelt verließen, fand heraus, in welchem Zelt sie schliefen, und zum Schluss ging ich sogar dann wieder auf den Übungsplatz, wenn sie dort waren. Die ganze Zeit passte ich auf, was er tat und wie er es tat.
 

Zuerst bestätigte sich mir nur, was ich schon vermutet hatte. Er ließ sich auf das Training ein. Es waren jetzt fast drei Wochen vergangen, also hatte er inzwischen seine ganzen Kräfte wieder hergestellt und benutzte sie auch bei den Kämpfen ohne sie zu verstecken. Hier fielen mit zwei Dinge auf: Er war zwar stark, aber alle seine Bewegungen, die er in den Übungen machte, waren seltsam ungeschliffen, manchmal fast schon eckig, wie die eines Anfängers und er achtete wirklich darauf, seinen jeweiligen Übungspartner nicht zu verletzen. Das war etwas, was ich bei dem älteren Steve nie gesehen hatte, in keinem unserer Kämpfe damals. Und er benutzte den Bogen, was vielleicht die größte aller Überraschungen war. Er verstieß gegen den Kodex der Vampyre, wenn auch mit einem leidigen Gesichtsausdruck.
 

Nach und nach wurden mir auch andere Dinge bewusst, die sich eindeutig vom früheren zum jetzigen Steve unterschieden. Dinge, die ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Genau genommen, seit wir Kinder gewesen waren.
 

Wenn er beim Essen saß und sich fröhlich so gut es ging an den Unterhaltungen beteiligte (auch er musste die neue Sprache erst lernen), dabei offen lachte und sich offensichtlich gut mit seinem Partner und seinen Freunden verstand, oder wenn er sich tatsächlich entschuldigte und mit großen Augen lächelte, wenn er einen Fehler gemacht hatte; alles in allem war der alte Steve nicht wiederzuerkennen. Keine bissigen Kommentare, kein wichtigtuerisches Gehabe, keine Gnadenlosigkeit und Grausamkeit mehr in seinem Blick.
 

Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Je länger ich ihn beobachtete, desto verwirrter wurde ich. Langsam begann ich zu denken, dass er wirklich eine andere, mir unbekannte Person war, jemand beliebiges, der aus dem See gezogen worden war, und nicht Steve selbst, auch wenn jeder ihn Steve rief. Aber ich konnte ja schlecht zu ihm gehen und einfach fragen, ob er wirklich einmal der böse Halbvampyr gewesen war, der mir nach dem Leben getrachtet hatte. Es musste eine Falle sein, die er mit seinem Verhalten stellte.
 

Es gab nur eine Möglichkeit, mit Sicherheit herauszufinden, ob er es wirklich war. Ich hatte das Glück, nur kleine Mengen an Blut zu brauchen, um für längere Zeit über die Runden zu kommen. Er hingegen würde einen Menschen töten müssen, um seinen Durst befriedigen zu können... Und darauf wartete ich, auch wenn es noch eine Weile dauern würde, bis es tatsächlich soweit war, und er das Blut brauchen würde.
 

Mittlerweile kreiste der Großteil meiner Gedanken kontinuierlich und die ganze Zeit um Steve. Wenn ich die Möglichkeit hatte, beobachtete ich ihn. Das ging soweit, dass mir meine Freunde schon belustigte Blicke zuwarfen, wenn sich mich sahen, wie ich ihm nachlief. Aber man muss ja auch zugeben, dass mein Verhalten für Außenstehende zweideutig sein musste, auch wenn das absolut nicht der Fall war, sondern eher das Gegenteil.
 

Auch Steve hatte mich inzwischen bemerkt. Wann immer er mich sah, lächelte er mir zu, fast schon ein wenig schüchtern, und beeilte sich dann, entweder so schnell wie möglich an mir vorbeizulaufen oder seiner jeweiligen Tätigkeit mit neuem Eifer nachzukommen. Wenn er bei seinen Freunden saß und sich mit ihnen unterhielt, wurde er augenblicklich nervös, sobald sich unsere Blicke trafen, und seine Freunde grinsten breit und zwinkerten. Aber er sprach mich nie an und machte auch sonst nie eine Bewegung auf mich zu. Ich verstand nicht, warum er das tat. Gehörte das zu seiner Täuschung oder warum verhielt er sich wie ein Mädchen? Es war einfach merkwürdig. Ich beschloss, nicht darauf zu reagieren.
 

So verging die Zeit, seit Steve hier war. Ich wartete ständig darauf, dass etwas passierte, was mir zeigte, was er plante, oder zumindest ein Zeichen seines alten Charakters. Aber nichts passierte. Nichts. Alles ging seinen gewohnten Gang.
 

***
 

Seit drei Wochen hatte ich jetzt ein Auge auf meinen alten ‚Freund’. Ich weigerte mich, mich der Illusion hinzugeben, dass er keine Gefahr war.
 

Gerade war er auf dem Übungsplatz und trainierte mit seinem Partner mit dem Schwert. Auch ich hatte mich in einen Kampf verwickeln lassen, auch wenn es für mich keine Herausforderung war und ich noch genug Konzentration übrig hatte, um ihn wie immer im Blick zu haben.
 

Steve brauchte nur ein paar wenige Minuten, um Arson, seinen Partner, völlig außer Atem zu bringen und ihn schließlich zu entwaffnen. Fast er wartete ich, dass er ihn jetzt mit einer leichten Bewegung des Übungsschwertes töten würde, aber stattdessen ließ er die Waffe zu Boden gleiten und streckte dem älteren Mann mit lachend die Hand hin. Die meisten anderen wussten schon, dass es kaum noch jemanden gab, der ihn besiegen konnte, und wenn, dann nur noch mit Mühe. Ich hatte bis jetzt immer den Großteil meiner nicht-menschlichen Kräfte verborgen und verlor bisweilen absichtlich einen Kampf. Trotzdem wurde ich als guter Kämpfer geachtet und immer wieder herausgefordert.
 

Mit einer kleinen Drehung meines Handgelenks schlug ich meinem Gegner das Übungsschwert aus der Hand. Es landete auf dem Boden und rutschte noch ein Stück, bis es in der Nähe von Steve zum liegen kam. Außer Atem und verschwitzt richtete sich mein Herausforderer auf und bedankte sich für den Kampf. Ich nickte nur geistesabwesend. Viel mehr beschäftigte mich ein gewisses blondes Wesen, welches jetzt das gefallene Schwert aufhob und sich uns zuwandte. Sofort wurde ich wachsam. Mit zusammen gekniffenen Augen fixierte ich ihn, während Steve näher kam und meinem vorigen Gegner freundlich das Schwert reichte. Dieser bedankte sich abermals und ging dann von dem runden Platz, um sich einen neuen Partner zu suchen.
 

Nun wandte sich Steve mir zu. Das war das erste Mal, dass wir uns so nahe waren, seit unserer letzten wirklichen Begegnung unten am See und zuvor in der ‚Entscheidungsschlacht’. Auch wenn ich immer noch nicht wusste, was danach aus dem Krieg der Narben geworden war.
 

Er benahm sich wie immer; mit einem schüchternen Lächeln stand er vor mir, den Blick ein wenig gesenkt. Zögerlich öffnete er den Mund und schien ein wenig um die richtigen Worte zu ringen. Die Zeit schien mal wieder auf die Bremse gedrückt zu haben, denn die paar Sekunden, die er brauchte, um sich zum sprechen zu überwinden, kamen mir unangemessen lang vor.
 

„Würdest... würdest du auch mit mir kämpfen?“, fragte er schließlich ganz leise. Schnell setzte er hinzu: „Natürlich nur, wenn du willst, ich meine, vielleicht... na ja... Ich würde gerne mal...“ Erwartungsvoll sah er mich an.
 

Bei mir zeigte sich einmal mehr das Phänomen der rasenden Gedanken. Zwei unterschiedliche Meinungen stritten um die Vorherrschaft. Einerseits schien dies eine normale Herausforderung zu sein, wie sie von jedem hätte kommen können, das mädchenhaft Verhalten einmal ausgenommen, aber andererseits könnte dies auch die Gelegenheit sein, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte, nämlich mich zu zerlegen. Und das auch noch in einem Rahmen, in dem er es als Unfall tarnen konnte. Nur, welches der beiden Möglichkeiten war es. Mit seinem verhalten hatte er mich inzwischen soweit, dass ich nicht mehr mit Überzeugung wusste, ob es jetzt ein Schauspiel oder sein Charakter war, der hier vor mir stand.
 

Aber ich war mindestens genauso stark wie er. Wir waren gleichschnell und gleichstark. Wenn er mich wirklich herausfordern wollte, dann würde ich annehmen. Ich konnte mich selbst verteidigen. Mit einem knappen Nicken nahm ich seine Aufforderung an. Scheinbar aufrichtig erfreut machte Steve ein paar Schritte zurück und nahm eine Kampfpose ein. Ich stellte mich ebenfalls auf, die Beine leicht gespreizt um einen besseren Stand zu haben. Jetzt würde ich herausfinden, was Sache war!
 

Schon schwang er das Holzschwert. Noch ein wenig schüchtern zwar, aber das gab sich schnell. Ich machte eine Ausfallschritt und ließ den Hieb ins Leere gehen. Sofort zog er das Tempo an. Ohne zu zögern stieß er erneut hervor. Mich der Geschwindigkeit anpassend blockte ich ab und griff jetzt selber an. Er parierte und brachte wieder ein wenig Abstand zwischen uns. Kurz standen wir beide still da, die Schwerter erhoben, und warteten auf die nächste Reaktion des jeweils anderen.
 

Ich ahnte den nächsten Angriff eher, als dass ich ihn sah. Fast gleichzeitig stürzten wir wieder aufeinander los. Er versuchte meine Grenzen zu finden und ließ einen Schlag sofort auf den anderen folgen, attackierte mich ohne Pause und versuchte mich in die Defensive zu drängen. Wir wurden immer schneller. Ich genoss es, mich seit langer Zeit mal wieder nicht zurückhalten zu müssen. Keiner von uns beiden konnte wirklich die Oberhand gewinnen, auch wenn jeder immer wieder einen Streich einstecken musste. Atemlos nutzte ich meine ganze Kampferfahrung, die ich über die Jahre gesammelt hatte, der Schweiß rann mir über den Körper. Aber alle Regungen, die ich in seinem Gesicht finden konnte, waren Spaß an der Herausforderung und angestrengte Konzentration. Kein Hass oder andere negative Emotionen.
 

Die Minuten vergingen und ich merkte, wie Steves Konzentration immer mehr nachließ. Und er wurde langsamer. Jetzt zahlte es sich aus, kontinuierlich meine Ausdauer wieder aufzubauen. Steve begann Fehler zu machen. Immer angestrengter versuchte er, mich zurückzudrängen, ohne etwas zu erreichen. Ich Finte später lag sein Schwert auf dem Boden und ich hatte mein Stück Holz an seinem Hals. Ohne uns zu rühren starrten wir uns an, bis Steve sich schließlich mit einem lauten Seufzen auf den Boden fallen ließ.
 

„Du bis genauso stark wie ich!“, rief er mit Erstaunen in der Stimme aus. Ich ließ mein Übungsschwert sinken. Mich überraschte eher, dass er nicht versucht hatte, mich umzubringen, und dass ich während des ganzen Kampfes an nichts gedacht hatte, was mit eben damit zu tun hatte. Drei Wochen lang hatte ich mich fast vierundzwanzig Stunden am Tag damit beschäftigt, wie und wann er mich wohl töten wollte und jetzt ließ er diese absolut geeignete Gelegenheit verstreichen?! Konnte es wirklich sein, dass er nicht schauspielerte, so abwegig es auch klang?
 

Ich antwortete nicht, sondern suchte in seinen Zügen die Wahrheit, die dort doch irgendwo verborgen sein musste, ohne sie zu finden. So verwirrt war ich selten gewesen. Steve konnte gut täuschen, das hatte er mir oft bewiesen, aber das hier war einfach... zu gut und gespielt zu sein. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Wenn das sein Ziel gewesen war, so hatte er es hiermit erreicht.
 

Er schien mir meine Verwirrung anzusehen, denn er stand wieder auf und sah mich besorgt an. „Geht es dir gut?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.
 

Einen Schritt zurück machend wandte ich meinen Blick von ihm ab. „Ja... es ist nichts. Danke für den Kampf.“ Dann ging ich schnellen Schrittes vom Platz und ergriff die Flucht.

Kapitel 7

Kapitel 7
 

Ziemlich kopflos lief ich vom Platz. Abstand war es, was ich jetzt brauchte, um meiner Verwirrung Herr zu werden. Abstand... Ich lief zurück ins Lager und geradewegs hindurch auf der anderen Seite wieder hinaus. Außer Atem von dem Kampf und der Rennerei hierher fand ich mich im Wald wieder, was an sich nicht schwer war, denn der ganze See war von Wald umgeben. Hier war es fast schon dämmerig, eher dunkel für diese Tageszeit. Schon allein durch die Anstrengung, die ganze Strecke vom Übungsplatz hierher gerannt zu sein, wurde ich ruhiger und das Licht tat sein übriges, um das noch zu verstärken. Ich wusste, dass in nicht allzu weiter Entfernung der Bach war, der den See speiste. Der Gedanke an frisches, kühles Wasser war verlockend. Schon deutlich langsamer ging ich weiter. Steve war noch immer das Hauptthema, um das meine Gedanken kreisten, aber inzwischen war ich soweit, wieder logisch an die Sache herangehen zu wollen, anstatt mich sinnlos in wirren Eindrücken von ihm zu verlieren.
 

Am Ufer angekommen kniete ich mich an die Wassergrenze und schöpfte mir mit der Hand das kalte Wasser ins Gesicht. Ich seufzte laut auf, so gut fühlte sich die eisige Kälte auf meiner noch erhitzten Haut an. Ohne groß zu zögern steckte ich einfach meinen ganzen Kopf ins Wasser. Das Wasser ließ wie ein Schock kurz alle meine Gedanken einfrieren, nur um dann wieder in erfrischender Klarheit umso schneller weiterzulaufen. Wen kümmerte es da schon, wenn man ein wenig nass wurde? Man wurde schließlich von alleine wieder trocken. Ein wenig des Wassers ausspuckend zog ich meinen Kopf aus dem Bach und streifte meine tropfenden Haare nach hinten. In dünnen Rinnsalen rann das Wasser aus meinen Haare über meinen Rücken und durchnässte jetzt wirklich meine Kleider. Ein frischer Windstoß ließ mich ein wenig frösteln. Es hieß nicht umsonst, dass alle Wärme vom Kopf ausging, und der hatte bis vor ein paar Sekunden noch im kalten Bach gesteckt. Dafür war ich jetzt wieder vollkommen klar.
 

Die Ursache für Steves Verhalten war mir noch unklar, aber ich würde mich auf keinen Fall von seinem netten Getue täuschen lassen. Er war ein viel zu guter Schauspieler, um ihm diese Farce glauben zu können. Es war schlicht unmöglich, dass es wirklich wahr war. Das letzte Mal, dass ich Steve vertraut hatte, war Mr. Crepsley dafür gestorben, und ich hatte selbst nur mit Glück und mit Hilfe meiner verbliebenen Freunde entkommen können. Zwar hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass Steve inzwischen ein Halbvampyr und der Lord der Vampyre war, aber das machte die Sache nicht besser. Damals hatte ich daran geglaubt, dass er mir meinen angeblichen Verrat verziehen hatte, aber es war nur eine geschickte Falle gewesen; ein Rachefeldzug... Nein, ich würde nicht nochmal den gleichen Fehler machen und ihm vertrauen, auch wenn ich mir lange Zeit gewünscht hatte, und es zu meiner eigenen Schande immer noch tat, dass Steve wieder mein Freund werden würde, auch wenn es ein völlig irrationaler Wunsch war. Besser, ich würde wachsam bleiben und ihn weiter im Auge behalten. Irgendwann, da war ich mir sicher, würde ich einen Riss in seiner Maske finden. Und wie sein Verhalten mit seinem früherem Ich zusammen passte und was Steve damit bezweckte, das würde ich auch noch herausfinden.
 

Lange saß ich im Kies und beobachtete die seichten Wellen, die der Bach in seinem schnellen Fluss warf, und dachte über Steve nach. Hier im Wald war er jetzt tatsächlich schon dunkel. Im Westen blitzte die Sonne noch zwischen den Baumstämmen hindurch, wo sie schon fast den Horizont berührte und in weniger als einer Stunde untergegangen sein würde. Die Tage waren schon merklich kürzer als zur Zeit seiner Ankunft. Es wurde schon langsam Herbst, auch wenn die Blätter sich noch nicht rot und gelb färbten. Ich nahm an, dass sie das noch taten, aber genau wusste ich es in dieser veränderten Welt nicht. Inzwischen war mir sogar ein bisschen kalt. Kein Wunder, hatte ich doch bestimmt eine gute Stunde in nassen Kleidern herumgesessen, ohne mich merklich zu bewegen.
 

Kurzerhand entledigte ich mich meines Hemds. Das weiche Leder war in trockenem Zustand zwar wirklich angenehm auf der Haut, aber im Moment war es ohne es wärmer als mit ihm. Ich hatte für meine Flucht keine Wechselkleider mitgenommen, also würde ich eben so zurück ins Lager gehen. Bevor ich mich in mein Zelt zurückzog (André war momentan nicht im Lager sondern unterwegs) machte ich noch einen kurzen Umweg über die Wäscherei und holte mir gleich frische Kleider für den morgigen Tag. Das Abendessen hatte ich wohl in meiner Grübelei verpasst, also würde ich heute nicht mehr fortgehen, es sein denn, ich musste noch ein paar dringende Geschäfte erledigen, wie mir die Nase zu pudern.
 

Die Sonne stand tatsächlich nur noch eine Handbreit über dem Horizont, als ich endlich bei mir‚ zu Hause ankam. Seufzend setzte ich mich auf mein Bett. Ich war schon fast erleichtert, wieder hier zu sein. In der Zeit, die ich jetzt schon hier wohnte, hatte ich mich an all das hier gewöhnt; ein Ort, an dem ich nach dem Haus meiner Eltern und dem Berg der Vampire die längste Zeit meiner Lebens an einem Fleck verbracht hatte. In Anbetracht dessen, dass ich erst ein paar Monate hier war, eine fast schon bestürzende Erkenntnis. Bevor ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, machte sich mein Magen fordernd bemerkbar. Ich wollte schon dazu ansetzen, ihn mit ein paar Worten darauf aufmerksam zu machen, dass er heute kein Essen mehr bekommen würde, und er sich deshalb sein Grummeln sparen konnte, als eine leise, durch das Leder des Zeltes ein wenig verzerrte Stimme, meinen Namen rief. In der Vermutung, es wäre einer meiner Freunde, sagte ich einfach nur laut: „Komm rein.“, ohne noch lange zu zögern. Umso überraschter war ich, als die mir so bekannte Gestalt Steves die Plane vor dem Eingang zur Seite schob und vorsichtig eintrat.
 

Sofort spannten sich unwillkürlich meine Muskeln an und mit unbeweglicher Miene sah ich ihm zu, wie er auf mich zu trat, aber hätte er mich angreifen wollen, dann hätte er mich sicherlich nicht durch höfliches Anklopfen vorgewarnt. In einer Hand balancierte er einen Teller. Und auf dem Teller lagen ordentlich arrangiert eine Auswahl von Häufchen der verschiedenen Speisen, die es Abends im Essenszelt immer gab. Wenn Steve mir den Teller nicht um die Ohren schlagen, oder mich mit Essen bewerfen wollte, dann fiel mir keine Möglichkeit ein, was mir damit antun wollen könnte.
 

Unsicher von einem Bein auf das andere trippelnd stand Steve vor mir. Ich sah ihn einfach nur an. Ein paar Sekunden herrschte eine laute Stille, bis der Hellhaarige anscheinend genug Mut aufgebracht hatte, seinen Mund aufzumachen. Dann hielt er mir schüchtern mit beiden Händen den Teller hin und begann leise und fast schon unverständlich zu sprechen:
 

„Ich... Ich hab dich heute Abend beim Essen nicht gesehen und da dachte ich... na ja, dass du vielleicht, äh, vielleicht Hunger hast...!“, haspelte er schnell herunter. „Und ich wollte mich entschuldigen, wenn ich vorher... du weißt schon, wenn ich was falsch gemacht hab und du deshalb sauer warst, oder... ich dich irgendwie... ach, ich weiß auch nicht... auf jeden Fall, es tut mir Leid!“
 

Immernoch den Teller haltend senkte er den Blick in Richtung seiner Schuhe und eine leichte Rotfärbung erschien in seinen Wangen. Alles in allem sah er in diesem Moment aus wie die Unschuld in Person und nur eine scharfe gedankliche Zurechtweisung meinerseits hielt mich davon ab, jetzt den Teller zu nehmen, und ihm zu sagen, dass er nichts falsch gemacht hatte und dass er sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Stattdessen schwieg ich. Wieder wurde es ein paar Sekunden still im Raum, bis sich mein Magen wieder lautstark zu Wort meldete, und damit den ganzen Effekt verdarb. Ich schwor ihm innerlich, dass er sich nachher auf eine Lektion gefasst machen konnte.
 

Obwohl Steve den Kopf immer noch abgewandt hatte, zeichnete sich jetzt ein kleines Lächeln in seinem Gesicht ab. Sorgsam stellte er den Teller auf dem kleinen Tisch ab und platzierte eine Gabel daneben.
 

„Ich hab die Sachen genommen, die du sonst auch gerne isst. Ich hoffe, es schmeckt dir...“, nicht mehr ganz so unsicher richtete er wieder das Wort an mich, wenn auch immer noch leise und ein wenig hastig. Zuletzt brachte er noch ein hastiges: „Gute Nacht!“ hervor, bevor er mit schnellen Schritten aus dem Zelt stürzte. Ich hatte die ganze Zeit über weder ein Wort gesprochen, noch einen Muskel bewegt (außer vielleicht meinen Magen, aber das sicher nicht freiwillig).
 

Ich war völlig überfordert mit der ganzen Situation. Mein größter Feind hatte mir gerade Abendessen gebracht, sich für etwas entschuldigt, dass er nicht getan hatte und sich benommen wie ein kleines, verliebtes Mädchen. Ein paar Minuten saß ich einfach nur da und sammelte die Scherben meines Weltbilds wieder ein. Irgendwo in meinem Hinterkopf regte sich der Gedanke, dass das alles nur gespielt war, und dieser Gedanke eignete sich hervorragend dafür, es sorgsam wieder zusammenzukleben. Kritisch den Teller beäugend stand ich auf, und ging zum Tisch hinüber. Sowohl der Teller als auch die Gabel lagen perfekt auf Kante. Und Steve hatte tatsächlich alle Gerichte herausgesucht, die ich auch ausgewählt hätte. Ein wenig perplex über diese Tatsachen setzte ich mich wieder, diesmal auf den Stuhl. Mir war nicht bewusst gewesen, dass Steve mich so genau beobachtet hatte.
 

Dies regte natürlich sofort mein Misstrauen an. Warum sollte mir STEVE etwas zu Essen bringen? Wohl kaum einfach aus gutem Willen oder weil er sich Sorgen um mich machte. Aber er hatte mich nicht angegriffen... Vielleicht hatte er ja das Essen vergiftet. Im angrenzenden Wald gab es genug Pflanzen, die ich während seinen Touren auf der Suche nach anderen Überlebenden als giftig abgestempelt hatte, und ein paar Tropfen von Steves Blut im Essen würden mir auch schon Schmerzen bereiten, schließlich war es zur Hälfte Vampyrblut und somit giftig für alle Vampire. Auf jeden Fall würde ich das Essen nicht anrühren, so schade es auch darum war. Wieder knurrte sein Magen. Leicht missgestimmt hob ich die Gabel an und stocherte ein wenig in den kleinen Häufchen herum. Es roch wirklich lecker und Hunger hatte er auch... Mit einem genervten Seufzer warf ich die Gabel auf den Teller und stand auf. Mit aller Macht verbannte ich alle Gedanken an Steve aus meinem Kopf, während ich mich für die Nacht fertig machte, und legte mich schließlich ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis mich ein nicht ganz leises Grummeln wieder auf meinen Magen aufmerksam machte. ‚Nein, heute gibt es nichts zu Essen mehr, egal wie viel du grummelst, und jetzt gib Ruhe!’, schickte ich als stumme Botschaft zu dem Organ, bevor ich endgültig meine Augen schloss, und ich einen wachsamen Schlaf fiel.
 

***
 

Am nächsten Morgen erwachte ich wie üblich mit der Sonne, wenn auch meine Nacht nicht ganz so erholsam gewesen war. Immer wieder war ich aufgewacht, wenn sich der Hunger im Traum mal wieder besonders deutlich hervorgetan hatte. Deshalb blieb ich noch ein wenig liegen, nur um die Wärme meines Betts zu genießen und noch ein wenig Ruhe zu haben, bevor ich mich in der morgendlichen Kälte umziehen und mich wieder der Welt stellen musste. Bei dem letzten Gedanken lächelte ich leicht. Die Welt war momentan nicht das Problem, eigentlich musste ich mich nur dem sonderbaren Steve stellen.
 

Schließlich begab ich mich dann doch schwungvoll aus dem Bett in meine frischen Kleider und anschließend auf direktem Weg ins Essenszelt, um endlich das verpasste Abendessen nachzuholen. Den Teller, den ich nicht angerührt hatte, stellte ich einfach auf die Geschirrablage. Es war wirklich schade um das Essen. Dafür nahm ich mir jetzt besonders reichlich von allem. An diesem Morgen bleib ich länger in dem großen Zelt, schon allein deshalb, weil ich die größere Essensmenge bewältigen musste, und so war es schon ziemlich voll, als ich endlich fertig war. Steve und sein Partner waren noch nicht aufgetaucht. Stattdessen tippte mir gegen Ende meines Gelages ein Mann auf die Schulter, den ich nur vom sehen kannte und mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte, und teilte mir mit, dass die Alten mich sehen wollte. Warum man mich zum Ältestenrat zitierte war mir schleierhaft. Wegen dem Teller verschmähten Essen würde es doch wohl nicht sein, auch wenn alle Bewohner des Lagers dazu angehalten wurden, nicht verschwenderisch zu sein. Als ich mich von meinem Platz erhob und mein Geschirr aufräumte, hatte die Sonne die Luft draußen schon leicht erwärmt. Ich machte mich auf den Weg zum Zelt der Alten.
 

Obwohl ich langsam ging, wer wurde schon gerne zur Obrigkeit zitiert, brauchte ich keine zehn Minuten. Aber auch in den zehn Minuten fand ich keinen plausiblen Grund, warum meine Anwesenheit im Ratszelt erwünscht werden könnte. Die Alten selbst waren immer noch dieselben, wie sie es bei seinen letzten Besuchen gewesen waren; warum sollten sie sich auch verändert haben? Die Ratsmitglieder, die anwesend waren, saßen im Zelt verteil auf Stühlen. Es waren nicht alle da, sehr zu meiner Erleichterung, denn dann konnte das Anliegen nicht so wichtig sein. Nach meinem Eintreten grüßte ich alle zusammen mit einem Nicken und einem „Guten Morgen.“, wie es eben zum guten Ton gehörte. Die Alten erwiderten das Nicken, manche lächelten sogar, was ich als gutes Zeichen deutete. Dann begann einer der Männer, der relativ zentral vor mir saß, zu sprechen:
 

„Guten Morgen, Darren. Wir haben dich heute hierher rufen lassen, weil wir eine Bitte an dich richten wollen. Uns ist zu Ohren gekommen, dass du dem Neuling Steve ebenbürtig bist, was die Kraftverteilung angeht. Er ist ein sehr starker junger Mann. Sein derzeitiger Partner, Arson, kann ihm nicht mehr viel entgegen halten, obwohl seine Technik noch nicht sehr ausgereift ist. Deshalb wollen wir dich bitten, ab jetzt seine Ausbildung fortzusetzen. Natürlich steht es dir frei, dieses Angebot anzunehmen oder nicht, wie du willst.“
 

Stumm lauschte ich den Worten des Mannes, dessen Name mir unbekannt war. Mein erster Impuls war, sofort abzulehnen. Aber wenn ich das tat, würde ich meine Entscheidung begründen müssen, und meine Gründe konnte ich nicht preisgeben, ohne mich selbst zu verraten. Es war schon schlimm genug, dass ich meine Kräfte so offenbart hatte. Zum anderen konnte ich mein Misstrauen nicht belegen, denn Steve hatte sich, bis jetzt, nichts zuschulden kommen lassen, außer vielleicht ein paar blaue Flecke während der Übungskämpfe. Außerdem würde ich definitiv in einem schlechten Licht dastehen, wenn ich einen anscheinend extra für mich ausgewählten Job einfach so ausschlagen würde. Die Alten warteten noch immer auf meine Antwort. Zischend entließ ich die Luft durch meine zusammengebissenen Zähne, bevor ich schließlich antwortete.
 

„Ich nehme an.“, meinte ich nur. Mehr zu sagen war auch nicht nötig. Erfreut sprach jetzt wieder der Alte, der schon vorher das Wort an mich gerichtet hatte.
 

„Gut. Sehr gut. Wir werden mit Arson sprechen und ihm unsere Entscheidung mitteilen. Er hat sich schon erkundigt, ob es nicht einen geeigneteren Partner für Steve geben würde. Dass du zugestimmt hast, wird ihn sicher freuen. Darren, du solltest mit Arson das Zelt tauschen und in Zukunft mit deinem neuen Partner zusammen wohnen.“ Bei dieser verdeckten Aufforderung rollte ich innerlich die Augen. Jetzt hatte ich wirklich keine ruhige Minute mehr, wenn ich den ganzen, lieben, langen Tag mit Steve verbringen musste.
 

„Natürlich wirst du von deiner jetzigen Arbeit freigestellt.“, fuhr der Alte fort. „Ich hoffe, du kannst Steves Ausbildung erfolgreich fortsetzen. Deine Fähigkeiten im Kampf werden von vielen gelobt, also sollte es eigentlich kein Problem sein, diese zu vermitteln.“ Er machte eine kurze Pause, dann fügte er mit einem kleinen Lächeln an: „Und du solltest nicht so leichtfertig mit den Nahrungsmitteln umgehen. Ich wünsche dir noch einen guten Tag, Darren.“ Mit diesen Worten und einem erneuten Nicken entließ mich der Rat. Auch ich grüßte zurück, und ging dann zielstrebig nach draußen. ‚Na super’, gratulierte ich mir zu meiner neuen Arbeit. ‚Jetzt hast du genau den Job, den du nie wolltest, mit genau der Person, mit der du am wenigsten zu tun haben willst. Und woher wissen die Alten von dem Teller?!’ Dieser Tag begann ja wirklich super. Nun, ändern konnte ich es jetzt nicht mehr, zumindest nicht in diesem Moment. Resigniert machte ich mich auf den Weg zurück zu meinem Zelt, um meine Sachen zu holen, viele waren es ja nicht, und sie in meine neue Behausung zu transportieren.
 

Die ganze Zeit, während ich lief und später, als ich meine Sachen packte, dachte ich über meine neue Situation nach. Natürlich würde ich Steve jetzt die ganze Zeit um mich haben, aber dafür hatte ich dann mehr Möglichkeiten, ihn zu beobachten und seinem Verhalten auf den Grund zu gehen. Er hätte keine Minute mehr, in der ich ihn nicht im Blick hätte, also keine Gelegenheit, auch nur für eine Sekunde seine Maske abzulegen. Und das würde es ihm sicher schwerer machen, sie auf Dauer und vor allem ohne Pause aufrecht zu erhalten. Nachteil an der ganze Sache war natürlich, dass ich selber auch noch viel mehr auf der Hut sein musste, denn jetzt hatte auch Steve mehr Möglichkeiten, an mich heranzukommen. Ganz kurz meldete sich eine leise Stimme, dass Steve da schon längst hätte tun können, wenn er es wirklich darauf angelegt hätte, und niemand hätte ihn verdächtigt. Aber diesen Gedankengang ignorierte ich geflissentlich.
 

Jetzt hatte ich alle meine Sachen zusammengepackt. Ich wusste natürlich, wo Steves und Arsons Zelt lag – nicht umsonst hatte ich sie die ganzen letzten drei Wochen beobachtet – und machte mich auf den Weg dorthin. Innerlich machte ich mich schon auf die nächste Begegnung mit Steve gefasst. Die würden in nächster Zeit eindeutig mehr werden, also konnte ich mich auch gleich an seine Anwesenheit gewöhnen, solange meine Aufmerksamkeit nicht nachließ. Es stellte sich heraus, dass ich mir das gefasst machen hätte sparen können, denn weder Steve noch Arson waren in dem Zelt, beziehungsweise sah es so aus, als würde Arson auch nicht mehr hierher kommen, denn eine Seite des Zelts war schon leer geräumt und mit neuem Bettzeug bestückt worden. Umso besser, dann konnte ich in Ruhe meine eigenen Habseligkeiten einräumen. Mir fiel auf, dass das jetzt schon das dritte Mal war, dass ich hier im Lager umzog. Ursprünglich hatte ich erwartet, in Zukunft ein ruhiges Leben zu haben, aber irgendwie hatte das bis jetzt noch nicht ganz so geklappt, wie ich mir das vorgestellt hatte. War es nicht Ironie, dass er jetzt fast so viel umherzog, wie in seinem früheren Leben?
 

Nachdem ich erfolgreich ausgepackt hatte, beschloss ich, meinem neuem Posten als Ausbilder gerecht zu werden, und nach meinem Schützling zu suchen. Wenn Steve noch mit Arson zusammen war, dann gab es nicht viele Möglichkeiten, wo er sein konnte, allerdings war es nicht unbedingt notwendig, dass Arson sich Steve noch verpflichtet fühlte, war er jetzt doch nicht mehr sein Partner, und dann konnte Steve tun, was er wollte und wo er wollte. Trotzdem ging ich zuerst zum Übungsplatz.
 

Dies war die richtige Entscheidung, denn eben dort befand sich tatsächlich auch Steve. Er war schon in einen Kampf mit dem Schwert verwickelt und schien Spaß an der Sache zu haben. Wie schon am Tag zuvor folgte ich ihm in seinen Bewegungen mit den Augen. Doch auch heute konnte ich nur pure Freude und ein offenes Lachen erkennen. Keine Risse in der Maske. Und das während einem Kampf. Entweder Steve hatte in der Zeit im See die absolute Selbstbeherrschung erlernt, oder... aber das konnte nicht sein, dass er wirklich nur genau das empfand, was sich da in seinem Gesicht abzeichnete. Es würde so gar nicht zu dem Wesen passen, das jahrelang der Schatten über meinem Leben gewesen war.
 

Ein paar Minuten lang sog ich intensiv jede von Steves Bewegungen in mich auf. Kraftvoll und mit rasanter Geschwindigkeit teilte er die Schläge aus, und wirkte doch immer noch ein wenig ungeschliffen, fast schon plump. Ja, seine Kraft hatte er offensichtlich wiedererlangt, aber seine Form war eine ganz andere als früher. Ob das an seiner Maske lag? Konnte man denn einfach so seine ganzen Kampfgewohnheiten ändern?
 

Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte ich Arson, der genau wie ich einfach nur dastand und den Kampf beobachtete. Langsam ging ich in einem großen Bogen um sämtliche Kämpfenden herum (Steve war schließlich nicht alleine auf dem Platz) und stellte mich zu Arson. Stumm standen wir eine Weile nebeneinander.
 

„Er ist gut, sehr schnell.“, begann schließlich Steves Partner. „Er wird nichts neues mehr lernen, wenn niemand ihm Paroli bieten kann, und bei solchem Talent wäre das schade.“ Also war Arson aus dem Grund Ausbilder geworden, weil er das Lehren an sich mochte. Er sah mich kurz direkt an, bevor er sich wieder dem Kampfgeschehen widmete. „Du bist genauso schnell wie er, aber du zeigst es nicht so offen. So gesehen passt ihr perfekt zueinander. Das wird ihn umso mehr fordern und dich auch.“ Bei seinen Worte musste ich lachen. Steve und ich passten nicht perfekt zueinander, wir waren eher zwei Seiten der gleichen Medaille. Licht und Dunkelheit, auch wenn wir beide dasselbe Schicksal teilten, den Untergang über die Menschheit zu bringen.
 

Arson wirkte sichtlich zufrieden mit Steves Leistung, denn dieser entwaffnete gerade seinen Übungspartner. Gespannt erwartete ich, was Steve mit dem Mann tun würde, aber es passierte nichts, außer dass er ihm freundlich die Waffe aufhob und reichte und sich für den Kampf bedankte. Dies entschärfte in meinen Augen die Situation, sodass ich nicht mehr erwartete, Steve jede Sekunde davon abhalten zu müssen, über den Mann herzufallen. Ein wenig außer Atem und mit einen zufriedenen Lächeln drehte Steve in unsere Richtung. Kaum dass er mich sah, zögerte er jedoch kurz in seinem Schritt, und schien unsicher, wie er sich jetzt verhalten sollte, kam dann aber doch auf uns zu. Mit einem lauten „Gut gemacht!“ winkte Arson ihn die letzten paar Meter heran. Ich sagte nichts, sondern beobachtete ihn nur. Steve erwiderte ein leises „Danke.“.
 

„Steve, ab heute ist Darren dein neuer Partner.“, meinte Arson mit einem fast schon bedauernden Lächeln. Steve entgleißten kurz die Gesichtszüge, nur um dann einem halb entsetzten, halb erfreuten Ausdruck Platz zu machen.
 

„Warum?“, hauchte er und sah Arson mit fragenden Augen an. Immer wieder wechselte sein Blick zwischen mir und seinem Ex-Partner hin und her, offensichtlich nicht sicher, was er von der Situation halten sollte.
 

„Ich kann dir mit meinen jetzigen Fähigkeiten nichts mehr beibringen. Darren hingegen ist ein besserer und schnellerer Kämpfer, also viel geeigneter, dich weiter Auszubilden. Die Alten haben dem Vorschlag schon zugestimmt. Wenn du also nichts dagegen hast, dann seid ihr jetzt Partner.“, schloss Arson seine Ausführungen. Steve blickte mich, inzwischen fast schon freudig, an und versuchte das Strahlen und die leihte Röte, welche jetzt in sein Gesicht traten, erfolglos zu verstecken. Aber als er wieder zu seinem Ex-Partner blickte, sah er kurz traurig aus.
 

„Wenn Darren mein Partner ist, was wird dann aus dir?“ Es kostete ihn ein wenig Überwindung, meinen Namen auszusprechen. Der Angesprochene lachte nur: „Ich werde ebenfalls einen neuen Partner bekommen. Aber das ändert ja nichts daran, dass du immer noch mein Freund bist, Steve, also sei unbesorgt. Und ich bin sicher, dass du für eine Weile erst mal mit Darren beschäftigt sein wirst.“ Bei seinem letzten Satz zwinkerte er Steve zu, was diesen noch röter werden und seinen Kopf leicht abwenden ließ. Der Sinn dieser Bemerkung blieb mir schleierhaft, aber Steve benahm sich schon wieder wie ein kleines Mädchen, und das war im Moment der Fokus meiner Aufmerksamkeit.
 

Arson wandte sich wieder mit zu, nachdem Steve stumm blieb. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte er mich. Da es inzwischen fast nach Mittag und schon lange Essenszeit war, erwiderte ich: „Wir sollten zurück gehen. Ich habe Hunger und bald macht die Küche dicht.“ Auch die anderen Kämpfer hatten sich in den letzten Minuten verabschiedet. Ich nahm das zum Anlass, mich einfach zum Gehen zu wenden und es Arson und Steve zu überlassen, mir zu folgen oder es zu lassen. Ich war nicht besonders scharf darauf, schon jetzt immer Steve um mich zu haben, also konnte dieser ruhig noch ein wenig Zeit mit seinem Ex-Partner verbringen, zumindest bis nach dem Mittagessen. Tatsächlich hörte ich bald darauf Schritte und eine leise Unterhaltung, die ich nicht weiter belauschte, hinter mir.
 

Beim Essenszelt angekommen ließ ich die zwei Nachzügler zu mir aufschließen. Beide lächelten mich an und gingen an mir vorbei, direkt zu ihren üblichen Plätzen. Mit einem Seufzer wählte ich einen Platz ihnen gegenüber. Während der ganzen Mahlzeit sprachen die beiden miteinander und ich lauschte schweigend, auch wenn es nur um Banalitäten ging. Viel zu schnell ging das Essen vorbei, denn Arson hatte schon einen anderen Neuling zugewiesen bekommen und damit wäre ich dann mit Steve allein. Vorteile hin oder her, ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen und was ich machen sollte. Vielleicht hatte ich die Bitte der Alten doch zu schnell angenommen...
 

Dann war es soweit; Arson verabschiedete sich und zog von dannen. Wir standen fast schon einträchtig nebeneinander und sahen ihm nach. Klebrig langsam zogen die Minuten ins Land. Keiner von uns machte den ersten Schritt, aber immer wieder spürte ich Steves Blicke in meinem Gesicht, die er aber stets schnell wieder abwandte, und sein nervöses Hin- und Hertippeln. Irgendwann wurde mir das Schweigen zuviel und ich drehte mich zu ihm um. Ich fing seinen letzten Blick aus den großen Augen ab, den er nicht mehr rechtzeitig senken konnte. Sofort war die inzwischen schon wohlbekannte Röte in seinen Wangen wieder da. Aber so sehr ich auch suchte, in seinen tiefen, klaren Augen konnte ich ebenfalls keine verräterische Regung finden.
 

Nach ein paar Sekunden löste ich mit einem erneuten Seufzer den intensiven Blick (irgendwie war ich seit gestern Abend sowieso nur noch am Seufzen, warum auch immer...). Langsam musste ich irgendetwas tun; das Herumstehen machte mich selbst ganz hibbelig und Steve wurde auch immer unruhiger. Nach kurzem Nachdenken beschloss ich, zurück in unser jetzt gemeinsames Zelt zu gehen. Mal sehen, wie Steve reagierte, wenn wir tatsächlich einmal alleine waren. Dass das gestern Abend schon der Fall gewesen war, schob ich in Gedanken beiseite.
 

Ihn auffordernd ansehend meinte ich nur: „Ich gehe jetzt zurück zu meinem... unserem Zelt.“, und ging los. Es fühlte sich sehr eigenartig an, ‚unser Zelt’ zu sagen, hatte ich mich doch immer noch nicht mit dem Gedanken abgefunden, jetzt mit ihm zusammen zu wohnen. Nach ein paar Metern stand Steve wieder neben mir, und folgte mir den Rest des Weges stumm wie mein persönlicher Schatten. Nur seine Blicke spürte ich die ganze Zeit deutlich auf mir brennen.

Kapitel 8

Kapitel 8
 

Die ganze Zeit des kurzen Weges zum Zelt starrte Steve mich an. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich behaupten, er stünde unter einem Zwang, der seine Augen an mich fesselte, aber so etwas würde allerhöchstens Evanna mit einem ihrer seltsamen Zauber schaffen. Nur, warum Steve dann so auf mich fixiert war, das erschloss sich mir definitiv nicht. Auch dann nicht, als wir endlich – immer noch schweigend – am Zelt ankamen und ich zielsicher hineinschritt, während er im Eingang stehen blieb, seine Augen immer noch auf mich geheftet, wie ich deutlich spüren konnte. Aber jedes Mal, wenn ich ihn ansah, wandte er seine Augen schnell ab und starrte zur Abwechslung mal auf seine Füße oder an die Zeltwand.
 

Ein paar Minuten später hatte ich mich auf mein Bett gesetzt und wartete darauf, dass er endlich hereinkommen würde. Aber bis jetzt war er noch angestrengt damit beschäftigt, direkt unter der Zeltklappe Wurzeln an seinen Füßen zu bilden und dort festzuwachsen. Mit einem erneuten Seufzer sprach ich ihn nun doch direkt an:
 

„Sag mal, willst du nicht endlich reinkommen, Steve? Es zieht.“ Auf meine Worte hin sprang er regelrecht schon hinein, der Rotschimmer auf seinen Wangen ein wenig dunkler. Ich rollte mit den Augen. Das, was Steve hier spielte, konnte ich beim besten Willen nicht mit der Person verbinden, die mich so lange zu vernichten gesucht hatte. Steve setzte sich zögerlich auf sein Bett, seinen Blick abwechlungsweise auf mich gerichtet, auch wenn er dieses Mal fast schon unsicher aus der Wäsche guckte. Und wieder erhielt das Schweigen Einzug in unser Zelt. (Wie das schon wieder klang: ‚unser Zelt’! Gruselig!)
 

Nach ein paar Minuten der Stille wandte ich meine Aufmerksamkeit von Steve ab und legte mich vollends hin. Es war erst kurz nach Mittag, aber ich fühlte mich jetzt schon erschöpft. Meine Augen schließen wollte ich nicht, aber der Rest meines Körpers konnte sich ruhig ein wenig entspannen. Ich würde es ja sofort hören, sollte Steve irgendetwas tun, was mich gefährden könnte.
 

Ich war schon am Einschlafen, als Steve die Frage stellte. Leise, fast schon geflüstert setzte er an: „Warum...?“ Dann schien ihn der Mut zu verlassen. Ich drehte meinen Kopf zu ihm und sah ihn direkt an. Seine Augen fixierten den Boden, während er nach Worten suchte. „Warum hast du mich Steve genannt, unten am See?“, kam es schließlich vorsichtig aus seinem Mund.
 

Die Frage verwunderte und erschreckte mich gleichermaßen. Man wusste doch wohl seinen eigenen Namen, oder? Oder spielte Steve jetzt seine Spielchen weiter, nur diesmal auf einen ganz anderen Level? Jeder wusste schließlich seinen eigenen Namen, das war einfach so!
 

„Es ist nur... ich weiß nicht... mein Name... ich weiß nicht, wie ich heiße, also... aber Steve gefällt mir, wirklich! Ich wollte nur wissen... warum du... du weißt schon.........“, haspelte er dann einen Tick lauter weiter. Er klang so ernst und verzweifelt, dass ich tatsächlich geneigt war, ihm zu glauben, aber es schien mir einfach zu unwirklich, dass ausgerechnet er seinen Namen vergessen hatte. Natürlich, wir waren beide lange im See gewesen, jeder allein mit sich selbst. Aber ich wusste schließlich auch noch wer ich war und was ich alles getan hatte.
 

Mein erstes Gespräch mit den Alten fiel mir wieder ein. Sie hatten mich auch gefragt, ob ich noch wusste, wer ich war. Ich hatte der Frage keinen Bedeutung beigemessen, weil sie mir so trivial vorkam, aber jetzt? Konnte es sein, dass man über die vielen, vielen Jahre, die man im See verbrachte, allein mit sich und seinen Erinnerungen, sein ganzes Leben vergaß? Es hatte natürlich Dinge gegeben, an die ich mich nicht gerne erinnert hatte und die ich so gut es ging in die hintersten Ecken meines Bewusstseins gedrängt und am liebsten vergessen hatte, aber ich meine schönen Erinnerungen hatten mit Halt gegeben. In ihnen hatte ich die ganze Zeit gelebt.
 

So böse Steve in seinem Leben auch gewesen war, man musste zugeben, dass er es ungemein schwerer gehabt hatte als ich, auch wenn er sich selbst für dieses Leben entschieden hatte. Ich hatte immer Freunde, die mich begleiteten, während Steves bester Freund ihn schon als Kind scheinbar verriet, und zu Hause hatte er auch keine liebende Familie gehabt. Und danach war alles Krieg gewesen. Wo waren also Steves gute Erinnerungen? Und dann hundert Jahre alleine, wahrhaftig alleine, verfolgt von Kämpfen, Blut, Verrat... ich konnte verstehen, wenn er nur noch vergessen wollte. Alles war so gründlich verdrängt, dass am Ende nichts mehr übrig geblieben war... Vorrausgesetzt natürlich, dass dies tatsächlich der Fall war, und nicht nur ein geschickter Schachzug seitens Steve.
 

Ich beendete diesen erschreckenden Gedankengang und merkte erst jetzt, dass ich sicher sekundenlang nur dagesessen und ins Leere geblickt hatte. Steve hatte auf seinem Bett die Arme um seine Knie geschlungen und seine Augen glänzten leicht feucht.
 

„Du musst es nicht sagen...“ Seine Stimme zitterte und er schien sich nur mit Mühe vom Weinen abhalten zu können. „Es tut mir Leid... ich wollte dich nicht verärgern...“
 

Ich seufzte nochmal laut. Schon allein Steves schauspielerische Leistung musste gelobt werden, wenn es denn eine war. Ich würde es nicht schaffen. Gut, fürs erste würde ich mitmachen, und sei es nur, um zu sehen, wohin sein Spiel führen würde. Irgendetwas musste er schließlich mit seinem Gehabe bezwecken! Und wenn es tatsächlich echt war – was ich mich weigerte zu glauben – dann verdiente er so oder so eine Antwort.
 

„Entschuldige, ich war in Gedanken. Dein Name... Steve... du siehst aus wie jemand, den ich früher einmal kannte. Unten am See war ich so erschrocken, dass ich nicht einmal nachgedacht habe.“ Während ich sprach beobachtete ich sorgsam sein Gesicht, suchte nach einer Regung, die mir verriet, ob er sich wirklich nicht erinnern konnte oder nicht, oder Triumph, dass er mich in der Falle hatte, irgendetwas. Aber ich sah nichts dergleichen. Nur ein wenig Neugierde mit einem Hauch Verzweiflung und Tränen in den wieder gehobenen Augen.
 

„Kannst du dich nur nicht an deinen Namen nicht erinnern?“, fuhr ich fort. Ich wollte wissen, wie weit sein ‚Gedächtnisverlust’ reichte. Steves Kopf senkte sich.
 

„Nicht nur mein Name... ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich weiß nichts mehr über mein Leben, nur sprechen... das konnte ich noch...“ Er zögerte einen Moment, dann wandte er sich mir zum ersten Mal direkt zu, ohne jegliches Zeichen von Verlegenheit oder Unsicherheit.
 

„Kennst du mich? Von früher meine ich, aus deinem alten Leben? Kannst du mir sagen, wer ich bin?“ Wie automatisch öffnete ich meinen Mund, um ihm zu antworten und alles zu erzählen. Aber... wenn Steve sich wirklich an gar nichts erinnern konnte, dann würde ihm das, was ich ihm über sich selbst erzählen müsste, sicher nicht gefallen. Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, dass er mich und ich ihn ungebracht hatte, dass er der Anführer aller Vampyre war, und dazu bestimmt war, die Menschheit auszulöschen. Und wenn Steve all das nur stellte, dass wusste er auch so, was er alles getan hatte, und welche Rolle ich dabei gespielt hatte.
 

Aber was sollte ich ihm stattdessen erzählen? Die Hälfte der Wahrheit? Dass wir beste Freunde gewesen waren, bis ich die Stadt verlassen musste? Dass ich ihn danach nie wieder gesehen hatte? Zumindest das stimme nicht, auch wenn Steve später seinem kindlichen Selbst nicht mehr ansatzweise ähnelte. Ein solche Lüge würde ihn beruhigen... und dafür sorgen, dass er glaubte, ein normales Leben gehabt zu haben. Andererseits würde diese Lüge Steve in Rage versetzen, wenn er sich an alles erinnerte. Er würde glauben, ich würde wieder verraten, wie schon zuvor, auch wenn ich das nie getan hatte. Aber dann würde er vielleicht sein wahres Gesicht zeigen...
 

„Als wir Kinder waren, waren wir befreundet. Wir haben in der gleichen Kleinstadt gewohnt, sind zusammen zur Schule gegangen. Du fandest alles übernatürliche faszinierend, vor allem Vampire... und ich liebte Spinnen. Schon allein deshalb haben wir viel zusammen gemacht. Als ich dann zwölf Jahre alt war, musste ich die Stadt verlassen, aus familiären Gründen. Ich habe dich später nicht mehr oft gesehen, nur noch ein paar mal, als wir dann beide erwachsen waren. Das ist alles, was ich dir über dich erzählen kann.“ Zumindest alles, was ich ihm erzählen konnte, ohne sein Weltbild zu zerstören. Obwohl, Drachen sind auch schon ziemlich heftig, warum also nicht auch noch ein ausgewachsener Vampirkrieg...?
 

Steve hatte mir gebannt zugehört. Jetzt, da ich aufgehört hatte zu reden, saß er immer noch da, und schien in Gedanken zu sein. Ich hatte mir erhofft, zumindest jetzt etwas aus ihm lesen zu können, dass ihn verriet. Aber seine Gesichtszüge waren, mal abgesehen von nachdenklich, die eines normalen Menschen, ohne Anzeichen von Wut oder Ärger.
 

Wieder entwich mit ein Seufzen. So langsam wurde das bei mir zur Gewohnheit... Jetzt war ich genauso weit wie vorher. Noch immer war ich hin- und hergerissen ihm glauben zu wollen und andererseits so misstrauisch zu sein, dass ich es einfach nicht konnte. Was, wenn gerade das sein Plan war, mich mit seiner Geschichte einzulullen? Nach allem, was Steve mir schon Glauben gemacht hatte, warum nicht auch das? Nein, noch hatte er mich nicht überzeugt!
 

Steve starrte weiterhin gedankenverloren ins Nichts, schien die ‚neue’ Information erst verdauen zu müssen. Meinen eigenen Gedanken nachhängend legte ich mich auf die Seite. Ganz entspannen konnte ich mich immer noch nicht, aber wenn Steve sein Schauspiel bis zu diesem Grad durchzog, dann würde er es wohl nicht gerade jetzt, genau in diesem Augenblick, aufgebe, oder?
 

Auch wenn ich versuchte, meine Aufmerksamkeit etwas anderem zuzuwenden, streifte ich immer wieder in Richtung den Gedächtnisverlustes ab. Was wäre, wenn ich mich an absolut gar nichts mehr erinnern könnte, nicht einmal meinen Namen? Ich glaube, ich würde mich von grundauf anders verhalten. Viel lockerer, ohne meine Erinnerungen verstecken zu müssen, entspannter, fröhlicher, aber auch leerer, ohne all die Erlebnisse, die mich zu dem gemacht hatten, was ich jetzt war. Vielleicht auch einsamer, ohne das Wissen um all die Freunde, die ich im Lauf meines Lebens gehabt hatte... Ich wüsste auch nichts über Vampire und den Krieg, die ganzen Schlachten, die Verluste. Ich wüsste vermutlich nicht einmal mehr, dass ich Blut brauchte, um zu leben, und dass ich stärker war als jeder Mensch.
 

Bei diesem Gedanken blieb mir die Luft weg. Wenn Steve wirklich nichts mehr wusste über das, was er war, dann hatte er keine Ahnung, dass er Blut brauchte, und dass er Menschen tötete, während er ihnen das Blut stahl! Er hatte keine Ahnung, was es bedeutete ein Vampyr zu sein! Das hieß, Steve würde von sich aus nie auf die Idee kommen, Blut zu trinken, weil er schlicht nicht wusste, was sein ‚Durst’ zu bedeuten hatte, und wie er ihn stillen konnte.
 

Ich begann wieder zu atmen. All das stimmte natürlich nur, wenn Steve sich nicht erinnerte, beruhigte ich mich. Und das war unwahrscheinlich, ganz sicher. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Denn wenn nicht, dann würde Steve gar nicht wissen, was ihn da überfuhr, wenn der Drang nach Blut zu stark wurde. Dann würde er sicher mehr als einen Menschen töten...
 

Ich überschlug schnell, wie lange Steve jetzt schon aus dem See draußen war. Es war jetzt sicher schon über einen Monat. Ich wusste nicht, in welchen Zeitabständen Vampyre und Halbvampyre Blut brauchten, schließlich tranken sie jedes Mal mehr als ein Vampir, aber langsam würde es doch sicher schon zu merken sein, oder? Vampire brauchten etwa alle ein bis zwei Wochen ein paar Schlucke Blut, ich noch seltener. Steve hatte den anderen Menschen noch keine hungrigen Blicke zugeworfen. Also konnte es noch nicht so schlimm sein.
 

Aber wenn Steve sich noch erinnerte, dann würde er früher oder später verschinden und eine Leiche zurücklassen. Dann wusste ich, woran ich war. Mein ultimatives Indiz. Darauf würde ich warten...
 

***
 

Den Rest des Nachmittags verbrachte wir weiterhin schweigsam, jeder für sich mit neuem Material zum Grübeln. Ich hatte nicht wirklich das Bedürfnis, an diesem Nachmittag noch etwas anderes zu tun, als hier im Zelt zu sitzen und nichts zu tun, und auch Steve machte keinerlei Anstalten was das betraf. Erst am Abend wieder, als mein Magen sich mit einem leichten Ziehen meldete, schlug ich vor, zum Abendessen zu gehen, wobei mir sofort die seltsame Begegnung mit Steve gestern Abend in den Sinn kam (Warum zum Teufel hatte er mir etwas zu Essen gebracht?!). Steve nickte nur stumm und folgte mir ins Freie.
 

In der ‚Kantine’ angekommen stellte sich mir eine weitere Frage, allerdings eine von viel trivialer Natur: Wo sollten wir sitzen? Das Problem löste sich jedoch ziemlich schnell von selbst, als Arson herüberwinkte und Steve zu sich dirigierte. Pflichtgetreu lief ich einfach hinterher. Es konnte nicht schaden, zu wissen, worüber andere Leute beim Essen redeten, auch wenn es am Ende derselbe Klatsch war, der auch bei meinen Kollegen kursierte.
 

Zu meiner Überraschung war Steve heute auch bei seinen Freunden nicht besonders redselig, auch wenn er sonst bei den Mahlzeiten oft lachte. Den Blicken nach zu urteilen, die der Rest des Tisches mir zuwarf, war es gut möglich, dass das an meiner Anwesenheit lag. Denn wo Steve jetzt meinen Anblick mied, da sahen die Anderen jetzt umso genauer hin. Etwas Prüfendes lag in ihren Augen, als ob sie mich testen wollten. Und im nächsten Augenblick würden sie sich Steve zuwenden und ihn leise etwas fragen, woraufhin er rote Wangen bekommen und noch leiser Antworten würde. Die Fragen schienen definitiv etwas mit mir zu tun zu haben... und nicht mit Steves eventuellen Plänen.
 

Aber die Geheimniskrämerei machte mich irgendwie ärgerlich! Warum wurde ich beobachtet, jede meiner Bewegungen auf die Waagschale gelegt, als ob ich etwas verbrochen hätte?! Nachdem ich ungefähr die Hälfte meines Tellers geleert hatte, hatte ich genug. Mit einem betont falschen Lächeln entschuldigte ich mich, brachte meinen Teller weg, und ging. In diesem Moment war er mir herzlich egal, ob das vielleicht genau die Reaktion gewesen war, die Arson und die anderen provoziert hatten.
 

Vor mich hingrummelnd machte ich mich auf den Weg zur Wäscherei. Erst meine neue ‚Arbeit’, dann das seltsame Gespräch mit Steve am Nachmittag, jetzt diese eigenartige Stimmung... Ich brauchte Ablenkung, und warmes Wasser war auf jeden Fall ein guter Anfang. Nicht mehr weit von besagtem Zelt entfernt hörte ich schnelle Schritte hinter mir näherkommen.
 

„Darren, warte!“ Eindeutig Steves Stimme. Konnte ich jetzt nirgendwo mehr hingehen, ohne dass es mir nachlief? Klar, ich musste ihn beobachten, aber jetzt waren sowieso noch alle beim Abendessen und somit in relativer Sicherheit. Ich beachtete ihn gar nicht und setzte meinen Weg fort.
 

„Darren, bitte... es tut mir Leid, was beim Essen war! Warte doch mal...!“ Ohne im geringsten außer Atem zu sein (natürlich, wofür war man ein übernatürliches Wesen?), kam er bei mir an und lief jetzt neben mir her. Meine Aufmerksamkeit galt immer noch ungeteilt dem Zelt auf dem Weg vor mir.
 

„Entschuldige... sie haben es nicht böse gemeint. Es ist... Weißt du, ich wollte wissen, woher du mich kanntest und hab sie gefragt, weil... ich hab mich nicht wirklich getraut, dich selber zu fragen... und sie denken auch, dass ich in d-“, haspelte er flehentlich, bis er plötzlich abbrach und sein Gesicht, mal wieder, in schönem Rot erstrahlte.
 

Mein Ärger war verflogen. Wie konnte man auch auf jemanden sauer sein, der sich SO bei einem entschuldigte, für etwas wofür er noch nicht mal etwas konnte. Außerdem hatte ich echt größere Probleme als die übliche Neugierde.
 

„Ist schon gut“, meinte ich einfach und sah ihn kurz an, bevor wir die Wäscherei erreichten. Ich trat ohne zögern ein, Steve direkt hinter mir. Es dauerte nicht lange, mir neue Kleider zu besorgen, darin hatte ich inzwischen Routine. Als ich das Zelt verließ wartete ich nicht darauf, ob er mir nachkam. Wenn er wollte, würde er das so oder so tun.
 

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich hinter mit ein weiteres Mal die Zeltklappe hob und er mir nachlief. Schweigend lief er mir nach, bis wir bei den ‚Duschen’ ankamen. Hier im Lager war es üblich, sich im Fluss mit kaltem Wasser zu waschen, aber es gab behelfsmäßige Apperate, die den Duschen ähnlich waren, wie ich sie noch von früher, vor allem aus meiner Kindheit, kannte. Tatsächlich waren es Schläuche, die an Holzpfosten in ungefähr zwei Meter Höhe angebracht worden waren und aus deren Ende ein dicker Wasserstrahl floss, wenn man an der richtigen Leine zog. Es gab keine Brauseköpfe. Ich verstand nicht wirklich, wie der Mechanismus funktionierte, aber ich wollte das ganze ja auch nicht bauen, sondern benutzen.
 

Die ganze Konstruktion erinnerte mich mehr an die Mannschaftsdusche, die ich einmal in dem Fußballstadion gesehen hatte, kurz bevor Allan (oder Tommy?) von Steves Vampyren umgebracht worden war. Nur ohne Wände. Das Wasser musste von den Benutzern selbst erwärmt werden. Dazu stand ein ziemlich großer Kessel über einer Feuerstelle, aus dem alles Wasser bezogen wurde. Nachgefüllt wurde ebenfalls manuell. Alles in allem war der Aufwand, wenn man warmes Wasser wollte, nicht gerade gering. Schon allein deshalb wurde diese Möglichkeit nicht allzu oft genutzt. Aber jetzt war mir das eigentlich ganz recht, würde ich doch meine Aufmerksamkeit endlich anderen Dingen zuwenden können/müssen.
 

Das Wasser im Kessel war angenehm warm, vermutlich noch von unseren Vorgängern, als wir den Platz endlich erreichten. Es war auch noch genug davon da, um sich anständig damit waschen zu können. Wassernachschub konnte ich auch noch später holen.
 

Meine Wechselkleider legte ich in sicherer Entfernung vom Wasser ins Gras und begann mich auszuziehen. Erst die Schuhe, dann das weiche Lederoberteil zusammen mit dem leichten Stoffhemd, dass im jetzt schon fortgeschrittenen Jahr ausgegeben wurde, und zuletzt die Hose und die Gamaschen. Mich fröstelte es ein wenig, so ganz entblößt mitten auf dem grasbedeckten Rondell zu stehen, daher ging ich flotten Schrittes auf die nächstbeste Dusche zu, und griff nach dem zugehörigen Seil, um das Wasser zum fließen zu bringen.
 

„Darren?“, hörte ich eine etwas hilflos klingende Stimme ein Stück weiter rechts. Steve. Immernoch. Tief ausatmend drehte ich mich zu ihm und erstarrte erst einmal. Ich hatte nicht bedacht, was es bedeutete, wenn Steve mir zu den Duschen folgte... Dementsprechend unerwartet traf mich jetzt der Anblick eines vollkommen nackten Steve, der mich aus großen Augen bittend ansah, und offensichtlich keine Ahnung hatte, was er mit den Duschkonstruktionen anfangen sollte.
 

In all den Jahren, die ich ihn verfolgt hatte, um ihn zur Strecke zu bringen, war das, was jedes Mal in meinem Kopf auftauchte, wenn ich an ihn dachte, ein von Hass gezeichnetes Gesicht gewesen, und die paar Male, die ich ihn tatsächlich gesehen hatte, war er immer bekleidet gewesen. Davon abgesehen waren Dinge wie die, die mir jetzt durch den Kopf gingen, zu dem Zeitpunkt nicht relevant in meinem Leben.
 

Steve war in etwa so groß wie ich. Er war schlank und durchtrainiert. Seine Muskeln passten perfekt in das Gesamtbild, nicht zu ausgeprägt und nicht zu schwach, und Figurproblem war vermutlich ein Wort, dass er nicht einmal kannte. Sein Körper war genauso von Narben gezeichnet wie meiner, wenn nicht sogar noch mehr, doch das war seinem Aussehen wahrlich nicht abträglich, sondern definierten ihn sogar noch mehr. Seine Hüften waren schmaler als meine und wenn er sich drehte, dann sah man, wie seine Bauchmuskeln sich unter der glatten Haut bewegten. Seine glatten Haare reichten gerade bis zu seinen Schultern. Später, wenn sie nass waren, würde sie sich sicher weich und glänzend um seinen schlanken Hals legen und...
 

Ich gab mir eine mentale Ohrfeige. Wie kam ich dazu, auf diese Weise SO über Steve nachzudenken?! Für ein paar Sekunden war ich total in meinen Gedanken versunken gewesen, und hatte überhaupt nicht darauf geachtet, was um mich herum geschah. Das durfte nicht passieren, schließlich handelte es sich bei meinem Gegenüber um meinen erklärten Feind, auch wenn dieser sich zurzeit seeehr seltsam benahm. Auch nicht, wenn er nackt vor mir stand und zugegebernermaßen unverschämt gut aussah.
 

„Darren? Zeigst du mir, wie das geht?“
 

Inzwischen mit einem deutlichen Rotschimmer auf den Wangen drehte sich Steve vollends zu mir um. In diesem Moment wurde mir klar, was es wirklich bedeutete, ab jetzt rund um die Uhr mit Steve zusammen zu sein, auch unter der Dusche...

Kapitel 9

Kapitel 9
 

Ich versuchte den unteren Teil von Steves Körper so gut es ging nicht zu beachten, nachdem mein Blick zuerst unwillkürlich direkt zu seiner Körpermitte gewandert war. Natürlich zogen derartige Regionen immer Aufmerksamkeit und Neugierde auf sich, aber es war mehr meine Reaktion darauf, die mich irritierte. Schließlich schlug einem nicht alle Tage das Herz höher, wenn sein nackter Feind einen mit großen Augen hilflos ansah, und vor allem dann nicht, wenn man seine ‚Größe’ prinzipiell fast schon im Gesicht hatte, freiwillig oder unfreiwillig. Auf jeden Fall mied ich es hinterher, mich auch nur in die Nähe dieses gefährlichen Gebiets zu begeben. Zum meiner Schande musste ich zugeben, dass ich in diesem Moment selbst ein wenig rot anlief...
 

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns ging ich dann doch zu ihm hinüber, um ihm zu zeigen, wie er das Wasser der Dusche zum fließen brachte. Ich verstand zwar nicht, wie die Konstruktion zu schwer sein konnte, um nicht von selbst auf die Idee zu kommen, einfach an der Leine zu ziehen, aber ich war ja auch schon länger hier und hatte es beim ersten Besuch hier auch gezeigt bekommen.
 

Den ganzen, glücklicherweise kurzen Weg zu ihm, sah Steve mich unentwegt an, bis er peinlich berührt den Kopf abwandte, als ich bei ihm ankam. Mit wenigen Worten erklärte ich ihm den Mechanismus und ging dann zurück zu meiner eigenen Dusche. Im Nachhinein fiel mir auf, dass ich auch zu einer anderen, weiter entfernt liegenden hätte gehen können, aber vermutlich war ich einfach nicht ganz bei mir. Mir fiel auch auf, dass Steve während meiner ganzen Erklärung gebannt an meinen Lippen hing ohne sich zu rühren, nur mit auf mein Gesicht gebannten Blick lauschte und alles in allem aussah, als würde er nicht ein Wort von dem mitkriegen, was ich sagte.
 

Ohne weiter unterbrochen zu werden zog ich an der Leine und genoss das warme Wasser, nach dem es mich so dringend verlangt hatte. Ich war schon längst nicht mehr in der Stimmung, die mich hierher geführt hatte; sie hatte sich irgendwann im Laufe meines Kontakts mit Steve verflüchtigt. Oder sie war von den Bildern, die Steves Anblick mir beschert hatte, einfach weggebrannt worden, das konnte natürlich auch sein. Aber so genau wollte ich darüber nicht nachdenken. Trotzdem war das Gefühl der Wärme auf meiner Haut sehr willkommen. Ich fühlte, dass Steve mich beobachtete. Aber ich hatte keine Lust, mich umzudrehen und zurückzustarren, in der Hoffnung er würde aufhören, oder mich anderweitig jetzt mit ihm zu beschäftigen.
 

Eine gute Zeit später, in der ich kein Wort gesagt hatte, sondern regelrecht in meinen Bewegungen versank, war ich sauber gewaschen, merklich erfrischt und das Wasser alle. Fast schon entspannt ging ich zu dem Stück Gras, auf dem ich meine Kleider und das Handtuch zurückgelassen hatte. Steve folgte meinem Beispiel. In seltsamen Einigkeit trockneten wir uns beide ab und zogen die frischen Sachen aus groben Stoff und Leder an. Inzwischen war es dunkel, aber ich bezweifelte, dass das Fehlen von Licht einen von uns stören würde, schließlich war die Nacht unser eigentliches Territorium anstelle des Tages. Der Mond war eine kaum am Himmel zu sehende Sichel, bald war Neumond. Nicht, dass das für uns etwas bedeutete. Vielleicht für Werwölfe, aber ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen gesehen, also hielt ich es für gut möglich, dass es keine gab.
 

In Schweigen gingen wir zurück zu unserem jetzt gemeinsamen Zelt. Langsam und schleichend kehrten auf dem Weg meine Gedanken und meine Zweifel wieder zu mir zurück. Während der Dusche war ich angreifbar gewesen, doch es war nichts passiert, auch wenn ich sicher Brandspuren auf dem Rücken von seinen Blicken bekommen hatte, aber Schlafen war eine gänzlich andere Sache. Ich konnte Steve nicht trauen. Zu unsicher war ich, auch wenn bisher alles darauf hingedeutet hatte, dass Steve sich wirklich in dem Zustand befand, den ich die ganze Zeit beobachten konnte. Andererseits hatte er es schon einmal geschafft, mit und sogar Mr. Crepsley etwas vorzuspielen... Also was sollte ich tun?
 

Bis wir angekommen waren, war meine Wachsamkeit vollständig wieder aufgebaut und ich hatte den Entschluss gefasst, diese Nacht beim Schlafen so viel Aufmerksamkeit wie es ging auf Steve zu konzentrieren. Er würde es nicht schaffen, sich im Traum auch nur umzudrehen, ohne dass ich es bemerken würde, und schon gar nicht so nahe an mich herankommen, um irgendetwas zu versuchen! Ich würde auch nicht zulassen, dass er sich aus dem Zelt schlich, um Leute des Lagers anzugreifen. Nicht, wenn ich es verhindern konnte!
 

Steve trat als erster ein, nur um mir hinterher die Zeltklappe aufzuhalten. Er hatte schon die ganze Zeit ein fröhliches Lächeln auf den Lippen gehabt und strahlte mich auch jetzt offen an. Unwillkürlich erwiderte ich seine Geste, bis ich mich wiedervöllig unter Kontrolle hatte. Aber dieses Lächeln war auch ohnegleichen gewesen. Wie als hätte es die Macht, andere Menschen zu verzaubern, so schön war es gewesen, so seltsam das jetzt auch aus meinem Mund klingen mag.
 

Beschwingt wandte Steve sich um, nachdem er den Eingang wieder geschlossen hatte, und sprang munter auf sein Bett, von wo er mich auffordernd ansah.
 

„Wollen wir noch ein bisschen üben? Die Sprache meine ich. Ich bin schon recht gut, aber so schwer ist es auch nicht. Sogar unterhalten kann ich mich schon ein bisschen!“
 

Ach ja, hier sprach man ja eine andere Sprache. Das hatte ich fast vergessen, nachdem ich den ganzen Tag mit Steve und Arson Englisch geredet hatte. Mir würde ein wenig Übung ganz sicher auch nicht schaden.
 

„Na gut.“, stimmte ich mit einem begleitenden Nicken zu und setzte mich Steve zugewandt auf mein eigenes Bett. Den Rest des Abends verbrachten wir dann noch in friedlicher Stimmung während des Lernens. Steve war wirklich schon überraschend weit fortgeschritten, sodass wir kaum noch Englisch brauchten, um ein anständiges Gespräch zu führen. Ich war froh darüber, dass ich nicht wirklich versuchen musste, Esperanto jemand anderem beizubringen. Damit hätte ich mich eindeutig überfordert gefühlt.
 

Die Nacht war schon ein wenig fortgeschritten, als Steve sind hinlegte und verkündete, dass er jetzt schlafen würde. Ich zog meine Decken unter mit hervor und deckte mich zu. Ein leises „Gute Nacht“ vom Nachbarbett, das ich unbeantwortet ließ, war das letzte, was ich von Steve vernahm, wenn man von seinen immer tiefer und gleichmäßiger werdenden Atemzügen einmal absah. Offensichtlich war Steve eine der Personen, die schnell einschlafen konnten. Ich hingegen lag noch lang wach, innerlich unruhig, und voller Gedanken, die ich nicht auf einen Punkt bringen konnte. Jetzt stand mir mein voriger Entschluss, wachsam zu bleiben, eindeutig im Weg.
 

Einerseits war ich davon überzeugt, dass es gefährlich war, einfach zu schlafen, mit Steve nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Ich wäre so angreifbar, wie sonst selten, und dadurch wäre alle anderen hier auch verwundbar. Andererseits versuchte eine immer lauter werdende Gegenstimme in meinem Inneren mit klarzumachen, dass Steve keineswegs gefährlich war, sondern einfach nur jemand, der mit seinem Gedächtnis alle Konflikte und bösen Erinnerungen einfach vergessen hatte. Und dass das damit einhergehende Vampyrproblem sicher ganz einfach gelöst werden könnte.
 

Und so lag ich da, konnte mich weder für die eine noch für die andere Seite entscheiden, während Steve seelenruhig, entspannt und mit einem Engelsgesicht neben mir schlief. Und im Schlaf sah er wirklich so aus, wie als wäre er gerade an einem Ort, der besser war, als ich es je erlebt hatte. Menschen würden in ihrer kitschigen Art vielleicht ‚Himmel’ dazu sagen, aber das ist nichts, woran ich glaube. Der See schien mir da wesentlich realer.
 

Und irgendwann zwischen all diesen Gedanken schlief ich ein...
 

***
 

Der nächste Morgen brachte keine Überraschungen. Steve war noch nicht wach, als ich aufstand, und er sah aus, als hätte er die ganze Nacht ruhig geschlafen. Zumindest hatte ich nichts bemerkt, was auf etwas anderes hinwies.
 

Mein Tagesablauf änderte sich nur geringfügig. Frühstück, Arbeit, Mittagessen, Trainingsplatz, Abendessen, Schlafen. Die geringfügige Änderung bestand nur darin, dass ich statt Arbeit jetzt auch auf den Trainingsplatz ging, und dass ich die ganze Zeit Steve um mich hatte.
 

In den folgenden Tagen (oder Wochen, zu der Zeit verlor ich ein wenig den Überblick) versuchte ich meinem neuen Partner so gut ich konnte, die Kunst des Kämpfens nahe zu bringen. Im Gegensatz zu den abendlichen Sprachübungen lernte er hier nicht so schnell, und brauchte mehr Zeit, als ich in meinen Anfangszeiten. Aber es machte ihm immer Spaß, egal wie oft ich ihn mit einem zu lernenden Griff niederrang, das Holzschwert aus der Hand schlug, oder ihn dieselbe Übung immer wieder machen ließ.
 

Wirklich schockierend war jedoch, dass Steve mich fragte, ob ich nicht auch mit ihm Schießen üben wollte. Natürlich lehnte ich ab, das gehörte zum Kodex. Steve jedoch nickte meine Antwort enttäuscht ab und begann dann, mit einem der anderen Anwesenden die Strohscheiben zu malträtieren. Wenn ich als Halbvampir schon keine Schusswaffen in die Hand nahm (die Wurfmesser waren schon grenzwertig), wie kam dann der Anführer der Vampyre, die den Kodex noch viel strenger nahmen als die Vampire, dazu, Schusswaffen zu benutzen? Konnte ich das als Zeichen werten, dass Steve mir wirklich nichts vorspielte? Oder war es nur eine über alle Maßen geschickte Täuschung?
 

Mit all diesen Hintergedanken versuchte ich, trotz meiner halben Überzeugung Abstand zu ihm zu wahren, mich zu distanzieren und immer sein Beobachter zu sein. Steve schien es nichts auszumachen, dass ich ihn beobachtete, im Gegenteil, er hieß es oft mit einem absolut hinreißenden Lächeln willkommen (man verzeihe mir meine Wortwahl, aber anders lässt es sich einfach nicht beschreiben) und oft fing ich seinen Blick auf, wenn ich mich gerade ihm zuwandte. Genauso oft drehte er schnell seinen Kopf, wenn er merkte, dass ich es bemerkt hatte.
 

Neben diesem seltsamen Verhalten blieb Steve, wie er schon die ganze Zeit gewesen war: ruhig, freundlich und fröhlich bei seinen Freunden, gleichzeitig schüchtern und schweigsam in meiner Anwesenheit. Letzteres war ein wenig seltsam, war ich doch den Steve gewohnt, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Stattdessen sprach er eher leise, und schien oft seinen Mut zusammen nehmen zu müssen, bevor er überhaupt zu sprechen begann. Vor allem interessierten ihn Dinge, die sein altes Leben betrafen, und was ich alles erlebt hatte. Vieles davon hatte mit ihm zu tun, aber das verschwieg ich weiterhin. Entweder er wusste es schon, oder es war besser, wenn er nicht davor erfuhr. Wieso also alles erzählen?
 

Zusätzlich zu seiner Schüchternheit war da noch das seltsame Rotwerden, wann immer er mit mir zu tun hatte. Es war fast schon so, als wäre das sein neues Hobby, oder eine Angewohnheit. Bei niemand Anderem im Lager hatte er eine dermaßen gute Wangendurchblutung. Manchmal fragte ich mich, ob ich etwas besonderes im Gesicht hatte, oder irgendwelche Flecken. Aber das war nie der Fall. Was also machte mich besonders, dass er so reagierte? Ich spürte auch immer wieder seine Blicke, wenn wir uns Abends am Fluss wuschen, oder wenn ich mich umzog. Nicht, dass mich das gestört hätte, schließlich hatte ich prinzipiell mein ganzes Leben in Gesellschaft von Männern verbracht, die von Privatsphäre nur selten gehört hatten, aber es schien mir doch ein wenig eigenartig.
 

Sonst gab es nichts außergewöhnliches zu berichten, was Steve betraf, auch wenn ich über die Sache mit dem Bogenschießen wirklich verwundert war...
 

***
 

Steve war schon seit gut zwei Monaten hier im Lager, also war ich ungefähr ein Monat lang schon sein Partner, als er begann, unruhiger zu werden. Er war nicht plötzlich da, nein, es war eher schleichend: erst immer wieder unaufmerksame Momente bei den Übungskämpfen, bei denen er über die Zeit laufen besser geworden war, dann kleine Augenblicke, in denen er erstarrte und sein Blick in ganz weit entfernte Bereiche entflüchtete, und das immer nervöser werdende Herumwälzen im Schlaf, wie als würde er zu lebendig Träumen. Es begann sogar so schleichend, dass er zuerst nicht einmal ich bemerkte, bis Arson ihn einmal nach den täglichen Übungen beiseite nahm, und ihn fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. Steve versicherte ihm, dass es ihm gut ginge, dass er nur in letzter Zeit nicht ganz so gut schlafe, was bei seinem ehemaligen Partner ein freches Grinsen hervorrief und er nur meinte, dass dann ja wirklich alles in Ordnung sei. Steves Mund klappte auf und ein sogar für seine Verhältnisse kräftiger Rot-Ton zierte sein Wangen. Ein paar Sekunden rang er um Worte, dann drehte er sich mit einem frustrierten Schnauben um und ging zurück auf den runden Platz, um mit Eifer weiter seine Gegner fertig zu machen. Was er inzwischen fast so gut konnte wie ich, in dem Fall war ich stolz auch mich selbst. Nur aus dem Dialog der beiden wurde ich nicht so recht schlau.
 

Danach jedenfalls bemerkte auch ich die kleinen Veränderungen, die sich in Steves Verhalten zeigten. Sie waren nicht groß, aber ich beobachtete ihn jetzt schon lange genug, um sie klar zu sehen. An dem Abend des Tages, an dem Arson mit ihm gesprochen hatte, fragte Steve mich, ob es kein Mittel gäbe, dass ihn ruhiger schlafen ließe. Einen Besuch in einem der Krankenzelte später hatte er ein paar Kräuter in der Hand, die ihn als Teeaufguss beruhigen sollten, und der kurze Check von einem der Anwesenden Pfleger hatte auch nichts feststellen können, was die Schlafstörungen hervorrief. Es stellte sich heraus, dass der Aufguss leider nichts an Steves Unruhe hatte ändern können, denn er schlief weniger denn je und war sogar früher wach als ich. Ich war immer noch wachsam und bemerkte es auch im Schlaf. Er fluchte leise, aber er blieb bis zum Morgengrauen im Bett und wartete, bis ich aufgewacht war.
 

Als ich meine Augen öffnete, traf mein Blick direkt seinen.
 

„Du hast wieder nicht schlafen können, oder?“, wollte ich eine Bestätigung von ihm. Steve nickte nur. Er schien geknickt, dass etwas nicht mit ihm stimmte und er war wohl ein wenig angespannt wegen des Schlafmangels.
 

„Wir machen einen Tag Pause mit dem Training. Deine Fortschritte sind gut genug. Vielleicht hilft dir die Ruhe, damit du dich entspannen kannst.“, schlug ich vor.
 

„Darren, es geht mir gut... Ich bin nur irgendwie... Ich fühle mich seltsam.“ Nach eine kleinen Pause fuhr er fort: „Vielleicht hilft eine Pause ja wirklich... Aber nur, wenn es nichts ausmacht! Ich meine, wenn es wirklich Ok ist für dich, dann vielleicht....“
 

Irgendwie konnte ich nicht anders, als bei diesen Worten zu schmunzeln: „Es ist in Ordnung. Ich hätte es nicht vorgeschlagen, wenn es Probleme geben würde.“
 

Auf Steves Gesicht breitet sich ein erleichterter Gesichtsausdruck aus und ein absolut niedliches Lächeln schmückte seinen Mund. „Dann ist es ja gut.“, meinte er nur.
 

Nach diesem Beschluss ließen wir den Tag langsam angehen, blieben beim Frühstück länger sitzen, liefen einfach nur durch die sonnenbeschienene Gegend (namentlich der Bereich zwischen Lager und Wald) ohne dabei viel zu reden und kehrten dann zum Mittagessen zurück. Den Nachmittag schaffte Steve es endlich, sich so weit zu entspannen, dass er unter einem Baum auf einem Stück moosigen Grases einschlief, wenn auch immer noch nicht ganz ruhig. Wir waren ein gutes Stück vom Lager entfernt. Niemand war zu sehen. Für eine Tag im Spätherbst war es warm. Die Vögel, die die Invasion der Drachen bis jetzt erfolgreich überlebt hatten, sammelten sich, um noch weiter in den Süden zu ziehen. Es waren nur wenige Wolken am Himmel. Ohne eine Beschäftigung legte ich mich einfach ein wenig entfernt von Steve ebenfalls ins Gras begann zu dösen.
 

So verging auch der Nachmittag ohne weitere Ereignisse. Ich muss sagen, dass dieser Tag auch für mich entspannend war. So friedlich war es schon lange nicht mehr gewesen. Normalerweise sorgten die Trainingskämpfe dafür, dass ich nie ganz zur Ruhe kam. Doch jetzt kam es mir so vor, als wäre alles einfach nur so, wie es immer sein sollte. Und wenn ich gewusst hätte, was bald passieren würde, dann hätte ich Steve sicher nicht schon am frühen Abend geweckt, um ihn zum Abendessen mitzunehmen...
 

Steve war nach seinem Mittagsschlaf so erfrischt, dass seine sprühende, gute Laune fast schon ansteckend war. Er war so energiegeladen, dass er am Tisch fröhlich mit seinen Freunden redete, und fast gar nicht zum Essen kam. Ich war irgendwie froh, dass es Steve gut ging. Einerseits hieß es, dass er wohl diese Nacht ruhig schlafen würde, was auch gut für mich war, andererseits hatte dieses Erleichterungsgefühl irgendwie nichts mit mir zu tun, sondern bezog sich gänzlich auf Steve. Während ich also am Tisch saß und meinen Partner beobachtete, versuchte ich, herauszufinden, warum ich so seltsam erleichtert war und was das mit Steve zu tun hatte, kam aber zu keinem Ergebnis.
 

Auch später am Abend, nach dem Essen, als wir schon zurück in unserem Zelt waren, nicht. Steve war nach seinem Gute-Laune-Ausbruch schnell müde geworden und hatte sich schon bald hingelegt, um weiter Schlaf nachzuholen. Ein Weile beobachtete ich ihn einfach wie er so dalag. Ein wenig unruhig drehte er sich immer wieder um, aber nicht so schlimm, wie es in den letzten Tage gewesen war.
 

Ich versuchte, noch ein bisschen wach zu bleiben, indem ich meine Kleider nach dem umziehen sorgsam in meine Kiste einordnete, aber das stellte sich als eine nicht besonders spannende Tätigkeit heraus, also kroch auch ich bald in mein Bett und schlief ein.
 

Mitten in der Nacht wachte ich auf, als sich Steve plötzlich heftig bewegte und mit einem lauten Geräusch, das tief aus seiner Kehle zu kommen schien, aus seinem Bett sprang. Bevor ich auch nur reagieren konnte, war er aus dem Zelt und nach draußen gelaufen. All seine Bewegungen erinnerten mich an ein Tier auf Beutezug. Langsam wurde mir auch bewusst, was hier eigentlich gerade geschah. Die Anzeichen waren deutlich gewesen, auch wenn Steve sie sicher gut versteckt hatte. Aber die Nervosität in der Nähe von Menschen, die Unruhe, das alles hatte deutlich darauf hingewiesen.
 

So schnell ich konnte stand ich auf und rannte ich Steve hinterher. Ich musste zu ihm, bevor er denjenigen fand, den seine schlafenden Vampyinstinkte ausgewählt hatten. Ich musste ihn zuerst finden. Ich musste ihn beschützen. Beide.
 

Das Geräusch von reißendem Leder lenkte mich in die richtige Richtung. Die vielen Zelte, die in diesem Moment einfach nur im Weg waren, verlangsamten mich. Ich trauerte um die verlorenen Sekunden. Fieberhaft dachte ich nach, um eine Lösung zu finden, wie ich es verhindern konnte, dass Steve...
 

Ich bog um eine Zelt, dessen Seite lange Risse aufwies. Mein Geruchssinn sagte mir, dass Steve genau dort war. Zusammen mit einer zweiten Person. Einem Menschen. Es war leise. Eigentlich hörte ich nur mein vom Adrenalin klopfendes Herz und meine schnellen Atemzüge. Und genau das ließ jetzt, wo ich doch schnell reagieren müsste, alle meine Glieder schwer werden. Was, wenn ich zu spät war? Wenn es schon passiert war? Wenn Steve schon...?
 

Es kostete mich viel Mühe, mich langsam auf das Zelt zu zu bewegen bis in durch die Risse sehen konnte. Und was ich sah ließ meine Gedanken gefrieren. Alles stand still, bis auf dieses eine Bild, das sich vor meinen Augen auftat.
 

Steve. Ein Körper in seinen Armen, rot von Blut. Sein Gesicht gierig an einen tiefen Schnitt an dessen Hals gepresst. Das Auf und Ab seines Adamsapfels, während er trank, mehr und immer mehr. Seine geschlossenen Augen. Die kleinen Tropfen, die aus seinem Mundwinkel rannen.
 

Für ein paar Sekunden war das alles, was für mich existierte. Dann setzte mein Herz wieder ein, Luft wurde in meine Lungen gesogen und meine Lider flatterten kurz. Und obwohl das der Moment war, auf den ich jetzt so lange gewartet hatte, auf den ich meinte vorbereitet gewesen zu sein, war die einzige Reaktion, die ich hervorbrachte, mit zittriger Stimme seinen Namen zu rufen.
 

„Steve...?“
 

Die Schluckbewegungen hörten auf. Wie im Traum öffneten sich seine Augen. Tranceartig drehte er seinen Kopf, bis er mich bemerkte. Das war der Moment, in dem das Bewusstsein wieder in seine Augen zurückkehrte.

Kapitel 10

Kapitel 10
 

„Darren?“ Seine Stimme war verwundert.
 

Dann rutschte der blasse, blutleere Körper mit einem dumpfen Schlag von seinen Knien zu Boden. Sein Kopf zuckte herum, sah hinab auf seinen Schoß, das Blut an seinen Händen, auf dem Boden, auf seinen Kleidern, und dann zum Hals des toten Manns, wo die Wunde klaffte.
 

Stocksteif saß er da, erstarrt, sein Blick fest fixiert auf die Leiche auf dem Boden vor ihm. Langsam begann er zu zittern. Seine blutbeschmierten Hände krampften sich krallenartig zusammen. Sein Mund stand leicht offen, Unverständnis schimmerte in seinen Augen.
 

„Darren...?“, fragte er mit zittriger Stimme. „Was... ich ha-?“ Er musste schlucken und seine Lider blinzelten hektisch.
 

„Wa- War ich das? Darren?!“ Inzwischen leuchteten Angst und Panik wie Leuchtfeuer in ihm. Er schrie förmlich stumm nach Hilfe. Doch ich konnte mich nicht rühren, war bewegungsunfähig. Gedanken waren mit fremd in diesem Moment, Gefühle taub.
 

„Darren!“ Steve schrie jetzt wirklich. Er drehte sich um und rüttelte an dem Körper, wie um zu sehen, ob doch noch Leben in ihm war. Aber das war unmöglich. Er hatte ihn vollkommen leer getrunken.
 

„Bitte! Sag was! Bitte bitte bitte bitte!!!! Wach auf!“ Ein Schluchzen kam über Steves Lippen, laut und meine Starre zerreißend. Er schüttelte immer noch den Mann, der vor ihm lag, und zitterte selbst heftig. Mit steifen Schritten ging ich näher, durch die Risse in das Zelt hinein und trat zu Steve, mit der absoluten Gewissheit, dass ich nichts tun konnte.
 

Er weinte laut, herzzerreißend, verzweifelt. Es tat mir weh, ihn so zu sehen, obwohl er gerade einen der Menschen getötet hatte, die ich geschworen hatte zu beschützen. Doch fühlte ich keine Wut. Nur eine seltsame Schwingung tief in mir, die mich dazu brachte, mich neben Steve auf den Boden zu knien. Ich fühlte mich so hilflos wie noch nie. Es drängt mich, etwas zu tun, ihm zu helfen, doch ich wusste nicht wie, konnte es einfach nicht. Und doch reichte meine stumme Anwesenheit, dass Steve sich immer noch weinend und zitternd an mich klammerte und immer wieder meinen Namen rief, während ich ihn festhielt.
 

Stille umgab uns wie ein Grab, nur von den Schluchzern Steves durchbrochen. Es war fast ein Wunder, dass noch niemand gekommen war, um nachzusehen war los war. Eine Weile lang knieten wir so, bis mir meine Instinkte befahlen, endlich diesen Ort zu verlassen und zu verschwinden. Ich löste Steves Klammergriff um aufzustehen und zog ihn ebenfalls auf die Beine. Er wehrte sich nicht, war noch ganz versunken in dem, was gerade geschehen war.
 

Er stolperte hinter mir her, als ich mich von dem Zelt wegbewegte. Ich wusste nur, dass wir hier nicht bleiben konnten, nicht nur wegen Steve, auch wegen der Menschen hier. Wir mussten weg. Ganz weg. Heraus aus dem Lager. Weit fort von den Menschen.
 

Langsam begannen sich meine Gedanken wieder in klarere Bahnen zu ordnen. Wir würden Dinge brauchen, draußen im Wald, um zu überleben. Vor allem jetzt im nahenden Winter. Decken, Kleider, Messer... Automatisch steuerte ich das Waschzelt an. Dort würde es Decken und warme Kleider geben. Und dann zum Kampfplatz für die Waffen. Außerdem lag der nahe am Wald...
 

Angekommen raffte ich schnell ein paar Sachen zusammen, so viel, dass ich sie gut tragen konnte, und schleifte Steve in raschem Tempo dann weiter hinter mir her. Ein paar Messer und ein kleines Beil später waren wir auf den Weg in den Wald. Steve weinte noch immer, hielt meine Hand fest umklammert während ich uns einen Pfad durch den dunklen Wald bahnte. Die Zweige, ungesehen in der Nacht, fügten uns beim Gehen immer wieder Kratzer zu, aber das bemerkte ich erst am nächsten Tag. Wurzeln waren auf einmal große Hindernisse für unsere Füße. Aber auch diese Abschürfungen spürte ich nicht.
 

Irgendwann, wir waren sicher schon ein paar Stunden unterwegs oder zumindest kam es mir so vor, hörte ich Rauschen nicht allzu großer Entfernung. Steves Weinen war nach einer Zeit verstummt und danach lief er mir einfach nur weiter hinterher, ohne zu sprechen oder einen anderen laut von sich zu geben. Aber meine Hand ließ er nicht los. So führte ich ihn in Richtung des vermuteten Wassers. Ein kleiner Bach floss durch den Wald. Ohne groß zu zögern schob ich Steve in das sicher nicht warme Wasser und begann damit, das längst eingetrocknete Blut in seinem Gesicht, auf seinen Händen und Kleidern so gut es ging, abzuwaschen. Sogar seine schönen Haare waren zum Teil verklebt damit.
 

Es dauerte lange, bis ich alles entfernt hatte und nur noch ein paar dunkle Flecken auf seinem hellen Hemd zurück blieben. So lange, dass Steve vom knien in dem kalten Wasser mit den nassen Kleidern blaue Lippen bekommen hatte. Dafür schien er den Schock überwunden zu haben, denn seine Augen waren nicht mehr trüb und entfernt. Stattdessen sah er einfach nur erschöpft aus. Verständlich, oder?
 

Ohne ein Wort zu wechseln standen wir auf und ich begann in alter Gewohnheit mit Ästen und Blättern einen behelfsmäßigen Unterschlupf zu errichten. Ich hatte wahrlich schon besseres zustande gebracht, aber in diesem Moment wollte ich nichts lieber, als mich einfach in eine der Decken zu wickeln und zu schlafen. Steve ging es wohl ähnlich, denn er hatte sich schlicht seiner nassen Sachen entledigt, die jetzt mehr oder weniger ausgebreitet auf einer Wurzel lagen, und wickelte sich nun ebenfalls ein. In gegenseitigem Einverständnis krochen wir beide unter das Dach aus Zweigen. Dies war die erste Nacht seit langem, in der ich so tief schlief, wie es sonst nur Steine konnten.
 

***
 

Am Morgen weckte mich grelles Licht, welches mir direkt durch die Lider schien. Das Aufwachen war dieses Mal ein langsamer Prozess; erst als der Sonnenstrahl sich durch sämtliche Schichten meines traumlosen Schlafs gebohrt und mein Bewusstsein wieder aus dessen dunklen Schwingen befreit hatte, kehrte ich zögerlich auf diese Welt zurück. Zögerlich deshalb, weil das bedeuten würde, mich allem zu stellen zu müssen, was geschehen war.
 

Der Winter war nicht mehr allzu weit entfernt, die Tage waren merklich kürzer als noch im Sommer und immer wieder lag Frost in der Luft. Wenn nicht die kälter werdenden Sonnenstrahlen an dem heute wolkenlosen Himmel jeden Morgen die kleinen Flecken von Reif getaut hätten, dann wäre jetzt schon alles mit einer glitzernden Schicht überzogen, aber so war nur alles ein wenig klamm.
 

Es war eine kurze Nacht gewesen. So weit entfernt ich im Schlaf auch gewesen war, es war nicht erholsam gewesen. Mein Körper fühlte sich nach der ungewohnten Anstrengung schwer an, mein Geist huschte rastlos über einzelne Gedankenfetzen, die ich in diesem Moment noch nicht richtig greifen und zu Ende denken konnte. Langsam richtete ich mich auf. Die Decken, in die ich mich gewickelt hatte, glitten von meinen Schultern. Die kühle Luft war angenehm auf meiner Haut. Steve schlief noch, stellte ich fest, nachdem ich meinen Kopf zur Seite gewandt und ihn ein paar Augenblicke lang betrachtet hatte.
 

Im heller werdenden Tageslicht sah er sehr blass aus, außer an den geröteten Stellen, an denen ich viele Male darüber reiben musste, um auch jeden Rest des Bluts von seinem Gesicht zu waschen. Aber er war ruhig. Keine im Traum verkrampften Muskeln oder hinter den Lidern zuckende Augen. Einfach nur Schlaf.
 

Ich war froh darüber, dass er noch nicht wach war. Das gab mir Zeit, Zeit zum Nachdenken, was ich jetzt tun sollte. In dieser Nacht war mir bewusst geworden, dass Steve wirklich nichts wusste über das, was er war und was es bedeutete. Denn wenn er es gewusst hätte, dann wäre er nie willentlich das Risiko eingegangen, von mir getötet zu werden, nachdem ich ihn bei der ‚Nahrungsbeschaffung’ erwischte. Und vor allem wäre er hinterher niemals so zusammengebrochen, wie es diese Nacht der Fall gewesen war.
 

Und was sollte ich mit dieser nicht unbedeuteten Erkenntnis anfangen?
 

Meine bloßen Arme wurden langsam kalt, also legte ich mich wieder zurück unter meine Decken und stützte meinen Kopf auf einen Arm. Ich war jetzt wieder klarer, das Chaos wieder in die hinteren Ebenen meines Bewusstseins gedrängt.
 

Die ganze Zeit über hatte ich gewusst, was Steve war und was er irgendwann sicher brauchen würde. Aber ich hatte geschwiegen und ihm misstraut, letzteres zu Recht, der Überzeugung war ich noch immer. Aber jetzt war mir klar, dass ich durch Steves Unwissenheit immerzu die Sicherheit der Lagerbewohner gefährdet hatte. Und jetzt war ein Mann getötet worden. Durch mein Verschulden. Ich hatte nicht verhindern können, was passiert war.
 

Aber was wäre, wenn ich mit Steve gesprochen hätte, wenn ich die alten Zeiten überwunden und mein Misstrauen abklingen lassen hätte? Wäre es dann anders gekommen? Aber letzten Endes brachte es nichts über Eventualitäten nachzudenken. Dafür war es jetzt zu spät.
 

Wie sollte ich Steve erklären, was vor unserer Flucht geschehen war? Das war jetzt viel wichtiger. Er hatte mich oft nach seiner Vergangenheit gefragt, doch das hatte ich immer verschwiegen. Wenn ich es ihm jetzt sagen würde, wie würde Steve reagieren? Ich konnte es nicht beurteilen... Aber ich würde es sagen, das war eins der wenigen Dinge, die ich tun konnte, um ihm zu helfen, wenn ich ihm schon nicht früher hatte helfen können. Auch wenn er dann Abstand zu mir nehmen würde...
 

Der letzte Gedanke löste in mir ein leichtes Gefühl der Traurigkeit aus. Den Kopf seitlich auf meine Arme gelegt ruhte mein Blick auf Steves entspanntes Gesicht. Ich verstand nicht, warum mich die Idee beunruhigte, dass er vielleicht gehen könnte. Er brauchte mich nicht, das hatte er nie. Er würde auch in dieser Welt leicht überleben können. Wenn er es wollte, dann könnte er sich später einfach umdrehen und in den Wald hinein verschwinden. Die Chance, dass ich ihn dann wiedersehen würde, waren gering, verschwindend gering.
 

Das Atmen wurde auf einmal ein wenig schwerer. Schnell sah ich mich um, konnte aber keinen Grund für die Veränderung finden. Und so überraschend wie das Gefühl gekommen war, verschwand es auch wieder. Vielleicht hatte ich mir es auch nur eingebildet.
 

Ich sah wieder zurück zu Steve. Inzwischen war es später Morgen. Kleine Muskelbewegungen verrieten mir, dass er bald aufwachen würde; ein Zucken seiner Nase, das Verschieben eines Arms unter den Decken, ... Lange konnte es nicht mehr dauern.
 

Dann hoben sich seine Lider und verschlafene Augen sahen mich an. ‚Er hat wirklich schöne Augen’ schoss es mir in diesem Augenblick seltsamerweise durch den Kopf. Mit langsamen Bewegungen schälte sich Steve aus seinem Lager und richtete sich ein bisschen auf, sodass es mit mir auf gleicher Augenhöhe lag.
 

„Guten Morgen...“, murmelte er, als sei dies ein Morgen wie jeder andere, und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sobald sein Mund sich wieder geschlossen hatte, schien er endlich die Umgebung wahrzunehmen, in der er sich befand. Der verschlafene Gesichtsausdruck wich und machte Platz für einen entsetzten.
 

„Ich habe das nicht geträumt, oder?“, fragte er leise mit einem schmerzlicher Unterton in seiner Stimme, während er immer noch die Bäume um uns herum betrachtete.
 

„Hast du nicht.“, antwortete ich nur. Was sollte ich mehr dazu sagen?
 

Verzweifelt schloss er seine Augen, wie um die ganze Welt auszuschließen, und ließ sich wieder ganz in eine liegende Position sinken. Eine Weile verharrte er einfach nur so, regungslos und in Gedanken wohl wieder in der gestrigen Nacht. Doch dann begann er gefasst, fast schon ruhig, zu sprechen:
 

„Ich habe jemanden getötet... und ich weiß nicht einmal, wieso. Ich bin einfach aufgewacht und dann... es war, wie als würde ich immer noch träumen, alles ganz unwirklich, weit entfernt von mir. Als wäre eine Glaswand zwischen mir und allem anderen. Nur alle Gerüche waren viel intensiver und manche Geräusche auch. Ich konnte den Puls von jedem einzelnen Menschen im ganzen Lager hören... und mein einziger Gedanke war, so schnell wie möglich einen bestimmten zu finden. Aber sie klangen alle so verlockend... ist das nicht krank? Ich konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich zu erwischen, ihn zu kosten und mein Hals hat die ganze Zeit gebrannt wie verrückt.“
 

Er richtete sich ein wenig auf. Seine Hand legte sich an seinen Hals strich unbewusst ein paar Mal über seine Kehle. Nach einer kurzen Pause sprach er weiter, ein wenig schneller als zuvor.
 

„Dann hab ich ihn gehört... und ich konnte an nichts anderes mehr denken, als das Pulsieren in meinen Ohren und wie gut es sich anfühlen würde, das warme Blut zu kosten und das Herz langsamer schlagen zu spüren...“
 

Tränen traten in seine Augen und ein Blinzeln löste eine der glitzernden Tropfen von seinen langen Wimpern. Der kleine Kristall fiel in seinen Schoß und wurde schnell von dem Stoff aufgesogen, bis nur noch ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Fleck übrig blieb.
 

„Dann war ich in dem Zelt, hab ihm einfach die Kehle aufgerissen, sein Blut getrunken... Es war wirklich köstlich und mein Hals hat endlich aufgehört zu brennen. Er ist nicht einmal aufgewacht. Ich habe einfach getrunken, bis ich seinen Puls nicht mehr an meinen Lippen gespürt habe. Und es war so gut...“
 

Bei den letzten Worten löste sich ein lautes Schluchzen. Weitere Tränen strömten über seine Wangen und tropften herab. Dieser Anblick tat mir in der Seele weh, dabei sollte ich ihm jetzt zustimmen und ihm die Schuld an meinen ganzen Leben geben. Aber ich konnte nicht. Ich war ihm nicht einmal böse, war es seit Wochen nicht mehr gewesen, wie ich jetzt feststellte. Nur seinen Schmerz fühlte ich gerade, als wäre es mein eigener.
 

„Ich bin ein Monster, Darren. Das muss es sein. Nur Monster mögen so etwas. Ich bin ein Monster. Ein Monster! EIN MONSTER!“ Dann war er still, sogar sein Weinen war bar jedes Lauts. Nur seine zuckenden Schultern verrieten, dass seine Verzweiflung ihn noch fest umklammert hielt.
 

Ich kannte Gedanken wie die seinen. Früher hatte ich mich auch für ein Monster gehalten, ein Freak, dass Blut brauchte, um zu leben. Nur war diese Vorstellung mit den vorbeiziehenden Jahren auf der Strecke geblieben. Es war nun einmal so. Den Menschen schadete es nicht. Aber ich musste auch keine Menschen töten.
 

Jetzt war es an der Zeit zu reden, das wusste ich. Aber es kostete mich all meinen Mut, überhaupt nur meinen Mund zu öffnen und zum Sprechen anzusetzen.
 

„Steve...“
 

Das war das einzige, was ich hervorbrachte. Er hob seinen Kopf und blickte mich aus geröteten und ein wenig geschwollenen Augen an. Dieser Blick, dieses ganze Bild, war es, der mich dazu brachte, die kurze Distanz zwischen uns zu überwinden und meine Arme um seinen Körper zu legen. Er war wunderbar warm und seine Haare so weich, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Fast augenblicklich wurde er ruhiger und krallte seine Hände in den Stoff meines Hemdes, wie um Halt zu suchen und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab.
 

„Du bist kein Monster. Das bist du nicht, Steve! Du kannst nichts dafür. Du hast es nicht gewusst.“
 

Ich musste schlucken. Selten hatte ich ein dermaßen schweres Gespräch vor mir gehabt wie jetzt.
 

„Es ist nicht deine Schuld. Ich habe gedacht, du würdest es sicher wissen...“
 

Wie sollte ich jetzt weitermachen?
 

„Was wissen?“, kam es geflüstert von Steve, begleitet von einen kleinen Hicksen. Ich schloss kurz meine Augen, nicht wirklich bereit, ihm dies zu offenbaren.
 

„Was du bist...“
 

Steve sah mich an, verständnislos. Die Tränenspuren auf seinen Wangen waren noch nicht getrocknet und glänzten im Schein der Sonne.
 

„Du bist ein Vampyr, Steve...“, sagte ich schlicht.
 

Für einen Augenblick bewegte sich keiner von uns beiden. Dann ließen seine Hände mein Hemd los und alle Emotionen wichen aus seinen Zügen. Ich konnte beim besten Willen nicht beurteilen, was er gerade dachte. Aber ich wusste, dass die der Moment war, in dem sich sowohl Steves als auf meine Zukunft entschied. Wie würde Steve jetzt reagieren?
 

Und mit jeder Sekunde, die verstrich, krampfte sich etwas in mir immer mehr zusammen...

Kapitel 11

Kapitel 11
 

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass er mich anschreien würde, oder in Panik ausbrechen. Er hätte nach mir schlagen können, oder einfach aufstehen und weggehen, für immer gehen können. Es gab so viele Möglichkeiten, wie er hätte reagieren können. Und für was entschied sich Steve...?
 

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um seinen Mund. Er drehte seinen Kopf zur Seite, neigte ihn ein wenig, wie um die Tränen zu verbergen, die ihm erneut stumm über die Wangen rannen. Einer seiner Arme schlang sich um seinen Körper.
 

„Darren... ich glaube nicht an Märchen und Fabelwesen. Es gibt keine Vampire. Und auch wenn, dann wäre ich immer noch ein Monster, nicht?“
 

Er saß ganz ruhig da, mit dem kleinen Lächeln und einem fast schon fröhlichen Tonfall. Wenn ihm nicht zwei kleine Bäche aus den Augen fließen würde, hätte man denken können, wir führten ein normales Gespräch über alles und nichts, wie jedermann es zu jeder Zeit tat.
 

„Und Monster sollten nicht leben, oder? Ich sollte nicht leben.“
 

Sein Gesicht hob sich und er sah mich direkt an. Seine Augen, die Tränen am versiegen, strahlten eine Zärtlichkeit aus, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Es raubte mir den Atem, ließ mein Herz flattern und meine Beine schwach werden. Dieser Blick traf mich so tief, wie nichts anderes je zuvor.
 

Vorsichtig streckte er eine Hand aus und legte sie zart an meine Wange. Die Berührung war warm, wunderbar warm, eine Sommerbrise auf meiner Haut. Und während ich in seinen wunderschönen Augen versank lehnte er sich ein wenig vor, zog meinen Kopf näher zu sich, bis seine Lippen schließlich meine fanden.
 

Es war ein Gefühl, dass mich in sofort schmelzen ließ. Seine Lippen waren so weich, so unglaublich gut, in diesem Moment gab es nicht anders für mich auf dieser Welt, als ihn und die Stellen, an denen sich unsere Körper berührten. Steves Augen waren sofort zugefallen, seine Hand schob sich langsam weiter nach hinten, bis sie sich leicht in meinen Haaren vergruben.
 

Dies war ein Moment für die Ewigkeit. Er hätte unendlich lange andauern können, ich hätte es nicht gemerkt, dafür war ich zu weit weg, mit ihm alleine weit fort. Jedoch endet alles einmal, sogar die nicht endende Unendlichkeit, ebenso wie dieser Kuss...
 

Langsam lösten sich seine Lippen, nur ein leichtes Kribbeln blieb auf meinen zurück, aber er zog sich nicht zurück, sondern lehnte sich noch ein bisschen weiter nach vorne und lehnte mit seinen weichen Haaren gegen meinen Kopf. Ein paar Sekunden hörte ich nur seinen leisen Atem und spürte seine intensive Nähe.
 

„Darren... du musst mich töten.“, flüsterte er schließlich leise an meinem Ohr, während seine Hand meine Haare zu streicheln begann.
 

Dieser Satz war es, der meine Sinne wieder anspringen ließ.
 

„Das werde ich nicht.“, sprach ich ruhig und griff nach seinen Schultern, schob ihn ein wenig weg, damit ich ihn ansehen konnte.
 

„Du bist kein Monster. Was passiert ist, was nicht deine Schuld. Es liegt nur an deinem Blut.“, redete ich ihm eindringlich zu. Dann zog ich ihn wieder zu mir, um ihm den Halt zu geben, den er gestern verloren hatte.
 

„Beruhige dich ein wenig. Ich kann es zwar nicht gut, aber ich versuche, es dir zu erklären, in Ordnung?“
 

„Warum? Warum denkst du immer noch so gut von mir?! Du hast es doch gesehen, was ich getan habe! Ich habe den Mann umgebracht, einfach so, und sein Blut...“ Er krallte sich wieder in mein Hemd, dicht an mich gedrückt, den Kopf an meiner Schulter. Ich holte tief Luft.
 

„Das Blut hat dir geschmeckt. Es war das einzige, was dich in dem Moment interessiert hat. Der Geruch hat dich wie magisch angezogen, so sehr, dass es du nichts anderes mehr wahrgenommen hast, bis du es in großen Schlucken trinken konntest.“
 

Sein Schluchzen wurde lauter und er versuchte, sich von mir zu lösen, doch ich hielt ihn fest bei mir. Ich wusste, dass dies sicher nicht die sanfteste Methode war, aber anders würde er mir nicht glauben.
 

„Du hast das Blut getrunken und es war gut. Ich kenne das Gefühl. Ich bin wie du. Nur weiß ich, wie ich damit umgehen muss, damit es nicht so aus mir herausbricht wie diese Nacht bei dir passiert ist.“
 

Steve lag jetzt ruhiger in meinen Armen, die Tränen versiegten. Er hörte zu.
 

„Du hast nicht gewusst, was du bist, und hast die Vorzeichen nicht erkannt: das Brennen im Hals, die Unruhe, wenn Menschen in der Nähe sind, die Schlafstörungen, die Erschöpfung. Ich dachte, du wüsstest es, und habe nichts gesagt. Aber es wird nicht wieder passieren. Weißt du, man kann es kontrollieren...“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Dass er vermutlich trotzdem würde töten müssen hatte ich ihm verschwiegen.
 

„Ich wusste es nicht. Es klingt so... unwirklich, dass es wirklich Vampire geben soll... und ich einer von ihnen bin... und du auch...“, flüsterte er, das Gesicht immer noch in meinem Hemd vergraben. Ich korrigierte ihn nicht. Noch wollte ich ihm nicht klarmachen, wo genau der Unterschied zwischen Vampiren und Vampyren lag.
 

„Bin ich deshalb so stark? Aber warum können wir dann tagsüber in der Sonne sein? Müssten wir dann nicht verbrennen oder so? Und ich bin mir sicher, dass im Essen immer wieder auch Knoblauch gewesen ist! Warum müssen wir überhaupt essen?“
 

Bei diesen Worten musste ich lachen. So langsam kam der alte Steve wieder zum Vorschein, lebendig und neugierig, wie er es früher gewesen war.
 

„Auch Vampire müssen essen, wenn auch viel weniger als normale Menschen, und die Sache mit dem Knoblauch ist ein Gerücht, genauso wie Weihwasser und Kreuze. Wir können sogar in die Kirche gehen, zumindest wenn wir wollen. Die Frage mit der Sonne ist allerdings berechtigt. Wir können nur deshalb am Tag draußen sein, weil unsere Zellen noch nicht alle verwandelt sind. Mein Mentor hat mich zu einem Halbvampir gemacht. Du bist ebenfalls noch nicht vollständig verändert. Wir altern fünfmal so langsam wie ein Mensch, dass wir sehr stark und schnell sind hast du bereits festgestellt. Wir heilen auch schneller als Menschen. Unsere Knochen sind härter als die meisten Steine und Metalle, ebenso unsere Fingernägel. Ich bin damit schon Häuserfassaden hochgeklettert.“
 

Während meines Vortrags hatte Steve sich ein wenig zurück gelehnt und starrte mich jetzt mit leicht geöffnetem Mund an. Das Erstaunen floss ihm förmlich aus jeder Pore.
 

„Wow...“
 

Es kostete mich meine verbliebene Kraft, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Steve war einfach zu niedlich.
 

„Ja, es hat viele Vorteile. Aber Blut trinken müssen wir trotzdem. Ich habe mich sehr lange geweigert, einen Menschen anzuzapfen, so lange, dass ich fast gestorben wäre... aber man gewöhnt sich daran. Es ist nicht schlimm.“
 

Steve war wieder ernst geworden, als ich das Blut erwähnte. Ich war mir sicher, dass er, wie auch ich früher, noch eine Weile Hemmungen haben würde, Blut zu trinken. War ja auch verständlich, oder? Aber wir würden es schaffen.
 

Ich seufzte und strich ihm mit einer Hand über die weichen Haare. Der Morgen war schon seit einer Weile vorbei und hatte der warmen Mittagssonne Platz gemacht, die ihre Strahlen durch das Blätterdach schickte. Es wurde Zeit, wieder aufzubrechen und noch ein gutes Stück Strecke zwischen uns und das Lager zu bringen. Also stand ich auf und zog Steve mit mir.
 

„Puh, das war anstrengend. Komm, ich hab Hunger, lass uns endlich was zu essen suchen.“, sagte ich lächelnd. Seine Hand lag immer noch in meiner.
 

Ein zaghaftes Lächeln war mit Bestätigung genug, also gingen wir los, die Lichtung und die umliegenden Bäume nach etwas Essbarem zu durchsuchen...
 

Erst eine Weile nach dem Gespräch wurde mir klar, dass ich soeben die ganze Zeit meinen Erzfeind im Arm gehalten und ihn getröstet, seine Nähe genossen und den Kuss atemberaubend gefunden hatte...
 

***
 

So begann unser Leben zu zweit in den Wäldern. Nach ein paar Tagen machte ich mir keine Sorgen mehr, dass uns irgendjemand aus dem Lager weiter verfolgen würde, wenn sie es überhaupt getan hatten. Die Distanz war schlicht zu groß und sie hatten keinen Anhaltspunkt, wohin wir gegangen sein könnten, hatte ich doch dafür gesorgt, dass wir möglichst wenig Spuren hinterließen.
 

Die Erfahrung meines ersten Jobs kam mir jetzt sehr zugute. Ich kannte die meisten essbaren Pflanzen und konnte sie von den ungenießbaren und giftigen unterscheiden. Ein Lager zu errichten hatte ich schon in meinem ersten Leben auf den vielen Reisen mit Mr. Crepsley gelernt. Jagen war mit unserer Stärke und Schnelligkeit ebenfalls kein Problem.
 

Während wir ziemlich planlos in der Weltgeschichte herumwanderten, einfach in den Tag lebten, nur so viel taten, dass es zum Leben reichte, brachte ich Steve die Dinge bei, die ich vor vielen Jahren von Mr. Crepsley gelernt hatte; nicht nur alls, was für unsere Reise wichtig war, sondern auch den Vampirkodex (Steve sagte mir später, dass er sich beim Bogenschießen immer unwohl gefühlt hatte), von welchen Tieren wir Blut trinken konnte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das in dieser Zeit immer noch Gültigkeit besaß und ich erzählte ihm von meinen Prüfungen. Alles, was den Krieg der Narben oder Konflikte mit Vampyren betraf, ließ ich hingegen wohlweislich aus.
 

Auch mein Misstrauen Steve gegenüber legte ich jetzt vollkommen ab. Das Ereignis dieser einen Nacht und sein Verhalten danach schienen mir Beweis genug für seine Unschuldigkeit. Und nie gab Steve mir Anlass, diese Entscheidung zu überdenken.
 

In den ersten Tagen nach unserer Flucht schwebten die Schatten der Traurigkeit noch über uns, aber mit jedem neues Sonnenaufgang besiegte das Licht mehr dieser Dunkelheit. Steve wurde wieder zu der Person, die er nach dem Herausfischen gewesen war, ein wenig schüchtern, aber fröhlich und lebenslustig. Es gab immer wieder Momente, in denen er in trüben Gedanken versank, aber nie über lange Zeit und nie wieder in dem Ausmaß. Ich hätte mir mehr Sorgen gemacht, wenn er gar nicht mehr über den Vorfall nachgedacht hätte. Ein Menschenleben war eine schwere Bürde...
 

Wir trennten uns selten in dieser Zeit, nicht einmal um zu jagen. Trotzdem waren wir uns nicht mehr so nahe gekommen wie an dem Morgen. Steve wurde immer noch hin und wieder rot, wenn er mich mit Herzchenblick ansah und ich es bemerkte, aber er war nicht mehr so hibbelig. Ein paar Mal war es passiert, dass ich am Morgen aufwachte und Steve sich an mich geschmiegt hatte, ein seliges Lächeln auf den Lippen. Aber er hatte es nie angesprochen und war auch sonst nicht auf mich zugekommen. Und mich störte es nicht... seltsamerweise.
 

***
 

Ungefähr drei Wochen nachdem wir das Lager verlassen hatten, befanden wir uns nach meiner Schätzung irgendwo im Südosten Deutschlands. Es war fast schon Spätherbst und der Winter würde sicher kommen. Und wenn es kalt wurde, wollte ich nicht auf irgendeinem Gebirge sitzen. Lieber ein nettes, geschütztes Tal, wo der Schnee und das Eis uns nicht so leicht würden erreichen können. Wir waren immer noch im Wald; sowieso schien es mehr Wald zu geben, als ich in meinem ganzen Leben auf meinen Reisen gesehen hatte. Der Baumbestand musste nach der Vernichtung des größten Teils der Menschheit drastisch zugenommen haben. Menschen begegneten wir nämlich im Vergleich zu Bäumen eher selten.
 

Gegen Abend hatten wir eine Lichtung gefunden, die auf der windzugewandten Seite von einem Gebüsch geschützt wurde, und sie als idealen Lagerplatz für die Nacht auserkoren. Wir hatten gerade einen Hirsch gefangen, dessen Blut zwar nicht ideal aber doch fürs erste ausreichend gewesen war. Beide gesättigt waren wir jetzt dabei, einen Unterschlupf zu bauen, zu polstern und uns langsam zum Schlafen fertig zu machen.
 

Es wurde schon dunkel, als wir fertig waren, und ein klarer Sternenhimmel kam über uns zum Vorschein. Ich kroch in mein mit Laub gepolstertes ‚Bett’ und gratulierte mir zum bestimmt hundertsten Mal, dass ich vor der Flucht noch daran gedacht hatte, Decken und Kleider mitzunehmen. Sonst würde das sicher eine sehr, sehr kalte Nacht werden. Steve tat neben mir dasselbe. Das zu Bett gehen meine ich, nicht das Gratulieren. Der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten...
 

Mitten in der Nacht wurde ich durch lautes Rascheln geweckt. Im ersten Moment dachte ich, ein Tier oder ein Mensch würde sich unserem Lager nähern, aber kein Angreifer wäre jemals dermaßen laut gewesen. Im zweiten Moment bemerkte ich Steve, der sich in seinem ‚Bett’ herumwälzte, die Augen fest zusammengepresst und das Gesicht angstvoll verzogen. Ein leises Wimmern entkam seinen Lippen.
 

‚Ein Albtraum...’, wurde mir klar. Ein paar Sekunden überlegte ich, ob es klug wäre, ihn zu wecken, aber ein weiteres gepresstes Stöhnen nahm mir die Entscheidung ab. So etwas konnte ich doch nicht einfach mit anhören. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und berührte seine Schulter. Nichts geschah. Ich griff ein wenig fester zu und gab ihm einen leichten Stoß.
 

Steves Augen flogen auf. Mit einem Ruck saß er stockgerade auf seinem Bett und atmete hastig aus und ein, der Blick geradeaus ins Nirgendwo gerichtet. Ich blieb stumm und bewegungslos neben ihm sitzen, um ihm Zeit zu geben, wieder hierher zurückzufinden. Nach ein paar Sekunden sank er in sich zusammen, Tränen schossen ihm in die Augen und er fing an, leise zu weinen. Wie selbstständig legte sich meine Hand auf seinen Rücken und strich tröstend auf und ab. Erst jetzt bemerkte Steve mich.
 

„Darren...“, weinte er, bevor er seine Arme um mich schlang und sich an mich klammerte. „Ich hab was schreckliches geträumt.“
 

Ich blieb stumm, hielt ihn einfach fest, während er sich langsam wieder beruhigte. Das Schluchzen ebbte ab, es fielen keine Tränen mehr.
 

„Ich war in einem großen Tunnel unter der Erde. Es war dunkel da und in der Mitte vom Tunnel ist braunes Wasser geflossen.“, begann Steve immer noch ein bisschen zittrig. Ich war überrascht, dass er nicht, wie ich zuerst vermutet hatte, von seinem... Unfall geträumt hatte.
 

„Ich bin den Tunnel entlanggelaufen, bis er in eine große Halle mit vielen Pfeilern gemündet ist. In der Halle hat ein Feuer gebrannt, wie ein Lagerfeuer, und viele Leute sind drumherumgesessen. Im Traum hab ich die Leute gekannt, also bin ich zu ihnen hingelaufen. Erst als ich schon ganz nahe bei ihnen war hab ich bemerkt, dass sie alle ein bisschen seltsam ausgesehen haben. Irgendwie waren sie

ganz rot. Alles war rot an ihnen, ihre Haare, ihre Haut, ihre Fingernägel, ihre Augen... es war so gruselig.“ Er schauderte merklich als er sich daran erinnerte. Ich dagegen war erstarrt.
 

„Alle von ihnen waren Männer. Und sie schienen mich auch zu kennen. Zumindest ist einer aufgestanden und zu mir gekommen. Er hat sich sogar vor mir verbeugt. Dann hat er gemeint, dass sie schon gegessen hätten, aber dass noch etwas für mich übrig wäre. Er ist zu einer der Säulen hingegangen hat etwas Großes aufgehoben, dass ich erst dann bemerkt hab, und hat es zu mir gebracht. Es war ein junges Mädchen mit drei Kratzern auf der Wange. Es hat geschlafen. Der rote Mann hat sie mir hingehalten und gemeint, das wäre das beste Stück und ich solle es genießen.“
 

Im Laufe seiner Erzählung hatte Steve wieder angefangen zu schluchzen, während ich in meinem Grauen so gefangen war, dass ich kein Wort hervorbrachte. Das, was Steve hier gerade erzählte, entsprach dem, was Späher den Prinzen immer wieder berichtet hatten. Die unterirdischen Abwassertunnel waren die beliebtesten Verstecke der Vampyre, unübersichtlich, dunkel und kaum jemand anderes trieb sich dort herum.
 

„Darren...“, fuhr Steve weinend fort. „Ich hab sie umgebracht, einfach so, genau wie den Mann im Lager. Ich hab so lange getrunken, bis sie tot war, und dann hab ich sie einfach fallen lassen, auf den Boden, und bis zu den anderen gegangen.“
 

Seine Hände krallten sich in mein Hemd, während er verzweifelt schluchzte.
 

„Es war nur ein Traum.“, sagte ich fast schon automatisch und drückte ihn an mich. Dann schloss ich die Augen und flüsterte, wie um mich selbst zu überzeugen: „Es war nur ein Traum, es ist nicht passiert. Nur ein Traum.“

Kapitel 12

Kapitel 12
 

Natürlich konnte es kein Traum sein. Dazu war es viel zu detailreich und realistisch gewesen. Aber Steve glaubte mir und das war zuerst einmal alles, was wichtig war. Er hatte in den letzten paar Wochen wahrlich genug... ‚Dramen’ gehabt und ich war der Meinung, dass es langsam mal genug sein könnte. Ein für mich seltsamer Gedanke, schließlich hatte ich ihm früher jahrelang eben so ein Leben gewünscht. Aber irgendwie hatte sich das allmählich geändert.
 

Während ich mir also prinzipiell fast jeden Tag Gedanken über Steves Traum von seiner Vergangenheit machte, taute dieser immer mehr und mehr auf. Dauernd war er auf Achse und so aufgekratzt, dass es mich manchmal fast schon nervte. Andererseits wieder freute ich mich darüber. Es war wirklich lange her, dass ich ihn das letzte Mal so gesehen hatte.
 

Wir wanderten weiter, nicht unbedingt in eine bestimmte Richtung, mehr auf der Suche nach einem geeigneten Platz, wo wir den langsam fühlbaren Winter verbringen und gleichzeitig unsere Zehen und Finger behalten konnten. Ich hatte wenig Ahnung, was die Geographie von Deutschland betraf, dafür hatte ich mich definitiv zu wenig dort aufgehalten, aber ein bisschen wusste ich noch. Dieses Bisschen reichte für uns alles zu meiden, was einem Gebirge auch nur nahe kam.
 

In den Tälern glich der Waldbestand je weiter wir aus dem Nord-Osten in den Süd-Westen kamen immer mehr einem Urwald. Das störte uns nicht wirklich, war es doch merklich wärmer ohne den Wind, der uns zu verfolgen schien. Die Bäume sahen auch anders aus. Es gab wesentlich weniger Nadelbäume und dafür viel mehr großblättrige Gewächse. Fast wie in einem Urwald eben. Und die Blätter erwiesen sich als einiges regendichter als die Nadeln der Nadelbäume...
 

***
 

Steve ‚träumte’ immer wieder seine alten Erinnerungen. Er glaubte, es seihen seine Ängste, die er immer noch vor dem ‚Vampir’ in ihm hatte. Aber ich war schlicht und einfach froh, dass ich noch nicht in ihnen vorgekommen war. Spätestens dann würde Steve sicher darauf kommen, dass es Erinnerungen waren, die ihn in den Nächten so quälten, dass er oft zitternd und oft auch weinend aufwachte. Das waren die Nächte, in denen er zu mir kam und sich so dicht er konnte an mich schmiegte, den Kopf auf meinen Arm gelegt und meistens noch eine Weile schniefend. Es war schön warm, ihn so nahe bei mir zu haben, und seltsamerweise machte es mir gar nichts aus.
 

Meistens erzählte er mir am nächsten Tag, was er geträumt hatte. Es war interessant zu hören, was die Vampyre die ganzen Jahre über getrieben hatten, was ihre Gewohnheiten waren, wie sie sich untereinander verhielten, ... Sie waren nicht so, wie die Prinzen sie dargestellt hatten, eher zivilisierter (wenn man das Töten von Menschen einmal außer acht ließ) und genauso umgänglich, wie wir Vampire es in unseren Hallen gewesen waren.
 

Trotz dieser ab und zu sogar positiven‚ Träume’ machte es es nicht besser, dass ich langsam merkte, dass ich bald Blut brauchen würde. Ich war mir sicher, dass Steve jetzt um nichts in der Welt noch einmal einen anderen Menschen anrühren wollen würde. Ich selbst hatte seeehr lange gebraucht, um mich dazu durchzuringen und ich hatte weder davor versehentlich einen Menschen umgebracht noch musste ich es tun, um meinen Durst überhaupt stillen zu können.
 

Es stellte sich außerdem die Frage, wo wir einen oder zwei Menschen herbekommen sollten. Schon seit mindestens drei Wochen waren wir nicht mehr an einem Dorf oder einer Siedlung vorbeigekommen. Eigentlich seltsam, schließlich war hier das Klima noch besser als im Norden, und die Bäume trugen auch jetzt noch Früchte, die sich gut als Nahrung eigneten.
 

Jedenfalls war ich mir sicher, dass wir unseren Durst nicht so schnell würden löschen können. Und ich hatte recht.
 

Inzwischen waren wir, wenn ich richtig schätzte, irgendwo an der Deutschen Grenze an Frankreich. Es ließ sich wörtlich keine Menschenseele blicken. Nur ein paar wenige Dörfer hatten wir gesehen, jedoch waren sie alle verlassen. Auch der Wald war stiller, als ich es sowohl von früher als auch von meinem jetzigen Leben gewohnt war. Ich beobachtete auch weniger Tiere mit Ausnahme von kleinen Nagetieren, Reptilien und Vögeln.
 

An sich war das nicht schlimm, zumindest nicht für uns. Aber es war wirklich seltsam, schließlich fehlte hier ein relativ breites Spektrum der Nahrungskette. Nach den Kleintieren kam direkt... nichts. Kein Rotwild, keine Füchse, keine Wölfe, keine anderen Jäger, kein gar nichts oder zumindest sehr wenig. Einfach merkwürdig.
 

Warum das so wahr, merkten wir eher durch Zufall. Es war einer der Tage, an denen wir auf eins der Dörfer trafen, die so verlassen auf einer kleinen Lichtung im Wald standen. Es war ein wirklich kleines Dorf. Ich hatte seit ein paar Tagen das Gefühl, als ob uns etwas folgen würde. Ich konnte beim besten Willen nicht benennen, was es war, nur, dass es definitiv kein Mensch sein konnte. Also beschlossen wir, uns einfach eine Hütte auszusuchen, bei der das Dach noch vollständig war, und darin zu übernachten. Wie legten beide unser Gepäck darin ab und machten uns dann daran, die übrigen Hütten eine nach der anderen zu durchsuchen, die kreisförmig um den zugegeben ziemlich kleinen Dorfplatz gruppiert waren. Manchmal fanden sich noch brauchbare Dinge darin.
 

Wir gingen getrennt. Es war ja nicht so, als ob wir beide hilflos ohne den anderen wären. Steve hatte in den letzten Wochen einiges seiner früheren Geschicklichkeit wieder zurückgewonnen. Ich war zwar immer noch ein wenig besser als er, aber wann immer wir kämpften kam es doch immer häufiger vor, dass er gewann.
 

Ich hatte schon ein paar Hütten hinter mir, als ich Steve laut rufen hörte. Das an sich war kein Zeichen der Aufregung, es war eher, wie er es tat: Ein wenig erschrocken und ungläubig. Auf jeden Fall nichts weswegen ich Panik bekommen würde.
 

„Darren!“, schallte es ein zweites Mal schon ein wenig ungeduldiger.
 

„Ich komm ja schon!“, schrie ich zurück und verließ die Hütte. Der Dorfplatz war schnell überquert. Ich betrat die Hütte, in der Steve sich gerade befand. Er stand mitten im Raum, ein großes, gesplittertes Stück Holz in der Hand, dass er fasziniert anstarrte. Es war allem Anschein nach die zweite Hälfte des halbierten, massiven und sicher auch schweren Tisches, der unbeachtet hinter Steve auf dem Fußboden lag.
 

„Guck mal, Darren!”, hielt er mir die Platte hin. Ich nahm sie ihm ab. In dem Moment, als Steve sie losließ wurde mir das Gewicht der Platte erst wirklich bewusst. Ein normaler Mensch hätte die Platte niemals einfach so heben können, geschweige denn den ganzen Tisch. Und trotzdem lag er hier, in der Mitte durchgebrochen. Das war das erst, was mir auffiel.
 

Das Zweite waren die großen Bissspuren und die langen Kratzer, die tief in das massive Holz eingegraben waren. Und mit groß meine ich groß. Die Spuren des Gebisses hatten etwa die Ausmaße meines Kopfes. Der Rest des Schädels dürfte also noch ein bisschen größer sein, genauso wie der Körper, der an dem Kopf dranhing. Das einzige was mit einfiel und diese Größe und vor allem Stärke hatte, war ein Bär. Aber es gab hier keine Bären und außerdem stimmten die Spuren sowieso nicht mit denen eines Bären überein. Die Eckzähne und die Backenzähne waren zu ausgeprägt dafür, da hätte ich eher auf ein katzenartiges Raubtier getippt. Ihr wundert euch jetzt sicher, woher ich das weiß, aber glaubt mir, wenn ihr einem Bären mal so nah wart, dass ihr sein Gebiss derartig gut beobachten konntet, dann würdet ihr das auch nicht wieder vergessen.
 

Aber was es sonst sein könnte... da war ich ratlos.
 

„Darren...! Und, was hältst du davon? Jetzt sag schon!“ Steve war schon ganz ungeduldig ob meines langen Schweigens.
 

„Das, was das hier gemacht hat, war sicher ganz schön groß.“, war das beste, was mir in diesem Moment einfiel. Nicht besonders geistreich.
 

„Das ist mir auch klar, Darren.“, rollte Steve mit den Augen. „Aber WAS ist es? Könnte es sein, dass es deswegen so wenig Tiere hier im Wald gibt und dass die Dörfer so verlassen sind?“
 

Denselben Schluss hatte ich gerade auch gezogen. Und das war der Moment, in dem bei mir alle Jagdinstinkte ansprangen. Gab es etwas besseres, als die Herausforderung, ein wirklich gefährliches Raubtier zu jagen?
 

„Steve, lass uns auf die Jagd gehen, was meinst du?“, sagte ich nur, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
 

***
 

Wir machten das Dorf zu unserer Basis. Obwohl, ‚Basis’ ist eigentlich zuviel gesagt. Wir hielten uns nur zum Schlafen und ab uns zu für die Mahlzeiten dort auf, sonst durchkämmten wir den Wald, um irgendeine Spur des riesenhaften Biests zu finden. Das gestaltete sich ein wenig schwierig. Auf dem Boden fanden sich selten Spuren, außer in großen Abständen an dem kleinen Fluss, den wir schon am ersten Tag entdeckt hatten. Dafür erspähten wir hoch oben in den Bäumen immer wieder abgerissene Äste, abgerissene Fellhaare, die im Übrigen schwarz waren, oder Kratzspuren in der Rinde. Aber diese Spuren gab es überall, wahllos verteilt im ganzen Gebiet.
 

Natürlich musste es einen Ort geben, an dem das Tier schlief, aber noch hatten wir dahingehend keine Spuren gefunden. Überhaupt hatten wir das Vieh noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Oder es gehört. Es schien schlicht unsichtbar zu sein. Und nach anderthalb Wochen fruchtloser Suche waren wir schon fast geneigt, die Jagd abzublasen.
 

Das waren wir so lange, bis wir am Abend zum Fluss gingen, um uns endlich mal wieder den ganzen Dreck der Suche abzuwaschen. Das Wasser war kalt, aber für den Luxus der Sauberkeit konnte man das schon ein paar Minuten in Kauf nehmen. Zumindest war das der Plan. Was dass wirklich passierte, was etwas anderes.
 

Es war schon längst Nacht, als wir an dem Wasserlauf ankamen, der sich still durch den Wald wand. Wir waren beide müde und wechselten wenige Worte auf dem Weg hierher. Im nachhinein muss ich sagen, dass das wohl ein glücklicher Umstand war, denn sonst hätte das Tier uns wohl gehört. Aber so stand es seelenruhig am Ufer und beugte seinen großen Schädel wieder und wieder ins Wasser um zu trinken. In der Dunkelheit war es wirklich fast nicht zu sehen, wenn es nicht im hellen Mond einen blassen Schatten geworfen und das Kräuseln des Wassers es nicht verraten hätten, denn es war so schwarz wie die Nacht selbst.
 

Sobald wir es sahen, hielten wir in unseren Bewegungen inne, um es auf keinen Fall aufzuschrecken, auch wenn ich nicht glauben konnte, dass es uns nicht bemerkt hatte. Dafür war es uns in der letzten Woche einfach zu gut aus dem Weg gegangen. Es war ein wirklich schönes Tier mit glänzendem Fell, elegant geschwungenem Schwanz und im Dunkeln leuchtenden Augen, mit denen es uns kurz anblitzte, bevor es mit einem gewaltigen Satz in einen der umliegenden Bäume sprang und ins Dickicht verschwand.
 

Ein paar Sekunden blieben wir beide stumm und regungslos stehen, den Blick gebannt auf die Stelle gerichtet, in der das Tier so plötzlich verschwunden war.
 

„Wow... Was war denn das?“, durchbrach Steves Flüstern zuerst die Stille.
 

„Wenn ich das wüsste...“, erwiderte ich schwach. „Aber es hat mich irgendwie an eine Katze erinnert.“
 

„Stimmt, irgendwie...“
 

„... ... ...“
 

„Komm, wir sollten uns jetzt waschen.“ In diesem Moment war der Bann gebrochen, den das Tier so gekonnt über uns ausgeworfen hatte.
 

Ohne weiter zu zögern entkleideten wir uns und stiegen in den Fluss, um endlich das zu erledigen, weshalb wir eigentlich hierher gekommen waren. Und in der Dunkelheit bemerkte ich Steves rote Wangen und sein Starren auf meinen Rücken und Hintern nicht, zu sehr war ich in Gedanken bei dem wilden und doch so eleganten Biest, das sich uns so provokant offenbart hatte.
 

***
 

Am nächsten Tag waren wir wieder mit vollem Elan bei der Sache. Wie hätten wir das auch nicht sein können. Die Begegnung war schließlich fast wie ein Wink des Schicksals. Und das war sie wohl auch...
 

Wirklich neue Anhaltspunkte hatten wir nicht, bis auf die Vermutung, dass das Tier ein Katzenwesen war. Aber allein schon das war schon ein Fortschritt. Katzen hatten einen festen ‚Wohnsitz’, einen Platz, an dem sie sich gerne Aufhielten. Außerdem hatten sie, obwohl sie sehr liberale Tiere waren, doch einen Hang zu Bequemlichkeit. Das grenzte die Suche ein wenig ein. Ein klein wenig.
 

Außerdem hatten wir jetzt einen konkreten Ansatz. Die Spuren am Fluss. Wenn wir ein wenig Glück hatten und ein bisschen Geschick bewiesen, dann hatten wir jetzt eine reale Chance, das Tier zu fangen und zu überwältigen.
 

So war es schließlich auch. Wir folgten der Spur durch die Bäume, was ganz schön anstrengend und nicht sehr spannend war, auch ohne die ganzen Sackgassen und Kreise, die das Viech für uns ausgelegt hatte. Es musste ein sehr intelligentes Tier sein und ein sehr guter Jäger noch dazu.
 

Die Spur endete ziemlich abrupt auf einem niedrig hängenden Ast. Wir wollten schon umkehren, und den Punkt suchen, auf dem wir anscheinend wieder einmal auf einen falschen Weg gekommen waren, als unter uns ein tiefes, vibrierendes Knurren uns innehalten ließ. Ich sah Steve an, er sah mich an. Dann sahen wir beide am Stamm hinunter. Unten unter der Wurzel hervor leuchtete uns ein großes Augenpaar an.
 

Augenblicke lang regte sich weder das Tier noch bewegten wir uns, bis wir uns langsam und vorsichtig weiter auf den Ast hinaus tasteten, um einen besseren Blick und Winkel zu haben. Auch das Tier pirschte sich Zentimeter um Zentimeter aus seiner Höhle hervor. Mein Hirn blendete alle Geräusche des Waldes aus, außer denen des schwarzen Biestes, welchem wir jetzt so gegenüber standen. Meine Konzentration galt allein dem Wesen, von dem ich bis jetzt nur die Augen und den schwarzen Schatten kannte.
 

Und wie auf Kommando schossen wir alle drei los. Kraftvoll sprang der schwarze Schatten mit ausgefahrenen Krallen an den großen Pranken und gebleckten Zähnen unter dem Baum hervor, direkt auf uns zu. Steve sprang ebenfalls, um das Tier noch im Sprung zu erwischen, während ich auf dem Ast blieb und in Angriffsposition ging. Aber Steve war schneller und krallte sich in den Rücken des Wesens, das mit einem lauten Knurren den Kopf nach hinten warf, um seine Fangzähne in Steves Arme zu schlagen. Es wurde aus seiner Flugbahn geschleudert und flog Richtung Boden. Steve löste sich vom dem Tier und landete auf den Füßen. Was wir beide nicht erwartet hatten, was, dass das Tier ebenfalls auf seinen vier Pfoten landete, kurz inne hielt, knurrte und sofort wieder in die Offensive ging.
 

Es sprang erneut, diesmal direkt auf Steve zu. Ich stand immer noch auf dem Ast, doch dieses Mal aus einem anderen Grund. Das Schicksal hatte wieder zugeschlagen. Ich suchte nach einer Erklärung für das, was ich hier sah, denn es war einfach nicht möglich. Eins jedoch war mir klar!
 

„Steve, halt, STOPP!!! Du darfst es nicht umbringen! STEVE!“, brüllte ich so laut ich konnte. Wenn er das Tier umbrachte, dann würde das Konsequenzen haben, die keiner von uns vorhersehen konnte.

Kapitel 13

Kapitel 13
 

Steves Kopf zuckte zu mir herum. Dem schwarzen Wesen schien das eine geeignete Gelegenheit, sich einem seiner Gegner zu entledigen und sprang mit zwei langen Sätzen erst hinter Steve und dann auf seinen Rücken. Steve ging unter dem Gewicht zu Boden, während sich der Kopf des Tieres mit weit aufgerissenem Maus sich seinem empfindlichen Hals näherte.
 

Das war der Moment, in dem meine Instinkte die Steuerung meines Körpers übernahmen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern nahm ich Anlauf und verließ in einem weiten Bogen den Ast, auf dem ich bis jetzt gestanden hatte. Mit sogar für meine vampirischen Verhältnisse schnellen Bewegungen sprintete ich auf das ringende Paar zu. Steve lag noch immer bäuchlings auf dem Waldboden und wurde von dem Tier dort festgehalten, indem es sich mit zweien seiner Pranken auf seinem Rücken abstützte. Das hinderte Steve natürlich nicht daran, seine scharfen Fingernägel einzusetzen, sich immer wieder durch das Fell des Tiers zu bohren und es schmerzhaft zu verletzen, oder mit wild um sich schlagenden Fäusten nach der Schnauze mit der rosa Nase zu schlagen. Trotzdem blieben seine Aktionen dich mehr eine verzweifelte Notlösung als eine wirklich effektive Verteidigung.
 

Die zwei Sekunden, die ich brauchte, um zu Steve zu gelangen, begann mein Herz zu rasen. Adrenalin rauschte durch sämtliche meiner Adern. Mein ganzen Sein war darauf konzentriert, dieses riesige Biest von meinem Steve herunter zu kriegen, auch mit Gewalt, wenn es sein musste.
 

Ein kräftiger Tritt gegen die mir zugewandte Schulter und das Tier flog ein paar Meter weit, bis es ziemlich abrupt von einem Baum gestoppt wurde. Es regnete ein paar Blätter, das Tier lag still und regte sich auch nach ein paar Augenblicken noch nicht wieder. Steve fuhr mit einem tiefen Knurren vom Boden hoch und blickte sich hektisch nach seinem Angreifer um. Ich packte ihn an seinem Oberarmen.
 

„Es hat dich nicht erwischt, oder?“, fragt ich ihn und sah ihm forschend in die Augen.
 

„Nein, nur fast. Du warst schnell genug.“, erwiderte Steve ein wenig außer Atem. Ich ließ ihn wieder los. Steve war nichts passiert. Erst jetzt, als sich meine angespannten Muskeln wieder lösten, merkte ich, wie angespannt ich gewesen war. Sogar mein Herz hatte sich verkrampft, insofern das überhaupt möglich war. Auf jeden Fall hatte es sich so angefühlt.
 

„Tut mir leid, dass ich dich abgelenkt habe.“, ein wenig schuldbewusst sah ich zu dem großen Tier, das immer noch vor dem Baum lag. Ich musste es ziemlich heftig getreten haben, dass es jetzt bewusstlos war.
 

„Es ist ja nichts passiert. Du hast mich ja gerettet.“ Bei diesen Worten trat ein leichter Rotschimmer auf Steves Wangen. „Aber warum willst du nicht, dass wir es töten?“ Ich schwieg kurz, um die richtigen Worte zu finden.
 

„Steve, kannst du erkenne, was das für ein Tier ist?“
 

Verwundert sah Steve mich an, trat dann aber ein paar Schritte auf das Tier zu. Ein paar Augenblicke später sah er überrascht zu mir.
 

„Ich das ein Panther? Ich dachte die ganze Zeit, weil es so groß ist, müsste es etwas anderes sein. Ein Tier, dass sich verändert hat, nachdem die Drachen erschaffen worden sind.“
 

„Es ist tatsächlich ein Panther.“ Ich war neben Steve getreten, während dieser immer noch mit aufgerissenen Augen das riesenhafte Tier anstarrte. Vorsichtig tastete ich erst über das glatte Fell an dessen Hals, um mich zu vergewissern, dass es nicht tot war. Dann kniete ich mich neben seinen Kopf und hob leicht seine Lefzen an. Die scharfen Zähne des Tiers schimmerten in reinem Weiß. Auch die Innenseiten waren makellos. Keine Buchstaben. Nicht mal Karies.
 

„Ähm, Darren... was machst du da?“, fragte mich Steve mit einem Ton, der sich so anhörte, als zweifele er ein wenig an meinem Verstand. Kaum verwunderlich, schließlich saß ich hier vor dem Kopf eines Tieren, der in etwa die Ausmaße meines halben Oberkörpers hatte, und spielte Zahnarzt.
 

„Ich habe etwas gesucht.“
 

„Darren, was hast du erwartet im Maul eines Panthers zu finden? Ich meine, es ist ein Tier, und nicht eine Tasche oder so.“, meinte er nur kritisch, aber ein wenig Sorge mischte sich in seine Stimme, als er fortfuhr: „Und was ist, wenn es aufwacht? Du sitzt da wie ein Snack auf dem Präsentierteller. Komm da bitte weg!“
 

Mit einem hörbaren Klacken klappte ich den Kiefer des Panthers wieder zu. Steve hatte natürlich Recht. Falls er wirklich aufgewacht wäre, dann hätte ich ein Problem gehabt. Aber es war die Gelegenheit gewesen, mich zu vergewissern. Ich stand auf und gesellte mich wieder zu Steve, der sich ein paar Meter zurückgezogen hatte und mich immer noch besorgt ansah.
 

„Sieht so aus, als hätte ich dich umsonst in Gefahr gebracht, Steve. Tut mir Leid.“, seufzte ich schließlich. Ich hatte einfach überreagiert, als ich den Panther als einen solchen erkannt hatte. Aber wenn ich jetzt darüber nachdachte, dann war es klar, dass dieser Panther nicht der sein konnte, den ich damals getroffen hatte... oder in der Zukunft treffen würde. Bis dahin waren es sicher noch über hundert Jahre, und so alt wurden nicht einmal Riesenpanther.
 

Ich seufzte erneut. Sanfte Hände strichen mir über die Haare. Verwundert sah ich zu Steve, der mich mit einem leichten Lächeln und einem seltsamen Funkeln in den schönen Augen ansah.
 

„Komm, lass uns zurückgehen. Die Verfolgung war nicht leicht und der Kampf auch kein Kinderspiel. Und ich habe Hunger. Auf dem Weg zurück finden wir bestimmt noch was Kleines und ein paar Nüsse und Früchte. Ein kleiner Gang zum Fluss wäre sicher auch mal wieder angenehm. Was meinst du?“ Steve hatte mir die ganze Zeit in die Augen gesehen, während er mit mir sprach. Ein leichtes Kribbeln durchfuhr meinen Körper, dabei war es gar nicht kalt. Aber vielleicht war es wirklich einfach mal wieder nötig, sich ausgiebig in dem kleinen Bach zu waschen. Ich brach zuerst unseren Blickkontakt.
 

„Gut, lass uns zurückgehen.“ Mit einem letzten Blick auf den Panther wandte ich mich um, um die Lichtung in die Richtung zu verlassen, aus der wir gekommen waren. Steve folgte mir wenig später.
 

Ich setzte gerade zum Spruch in das Geäst der Bäume an, als mich ein leises Rascheln mich umsehen ließ. Mein suchender Blick führte mich zu dem Baum, unter dem sich der Panther seine Höhle gegraben hatte. Die vor dem Eingang aufgeschichteten Blätter bewegten sich leicht.
 

„Das ist noch was.“, flüsterte Steve aufgeregt, als er meinen Augen gefolgt war.
 

Aus den dunklen Tiefen der Höhle kletterte etwas hervor. Sowohl ich als auch Steve spannten unsere Muskeln an, in Erwartung dessen, was uns erwarten könnte, während wir angestrengt versuchten, zu erkennen, mit was wir es diesmal zu tun hatten. Vielleicht war der Panther ja nicht alleine gewesen...
 

Die Spannung wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Dann erschein ein kleiner, schwarzer Kopf in der Öffnung der Höhle, dicht gefolgt von einem ebenso kleinen, schwarzen Fellknäuel. Die angespannte Stimmung zerriss vollends, als Steve sich mit dem Aufschrei: „Oh, wie süß!!!“ auf die Knie fallen ließ, und lockend seine Hand nach dem wuscheligen Kätzchen ausstreckte. Beim Anblick seiner leuchtenden Augen und dieser so absurden Situation musste ich unwillkürlich lachen.
 

„Du hast Recht, es ist wirklich süß.“, kicherte ich, als es leise maunzte.
 

„Mach dich nicht lustig über mich. Ich kann auch nichts dafür.“, schmollte Steve und versuchte immer noch, das Kleine zu sich zu locken, das sich auf zu großen Pfötchen tappsig auf ihn zu bewegte.
 

Mit einem Sicherheitsabstand von etwa zwei Metern setzte es sich auf dem Boden und starrte uns beide mit schief gelegtem Köpfchen neugierig an. Dann gähnte es mit weit aufgerissenem Mäulchen. Ein kleiner Schock durchfuhr mich. Da waren sie. Die Buchstaben, nach denen ich gesucht hatte. H A R K A T - M U L D S oder K U R D A - S M A H L T, je nachdem, wie man sie legen würde. Auf den kleinen Zähnen des Pantherjungen. Ganz so falsch hatte ich mit meiner Vermutung also doch nicht gelegen...
 

Ich wandte mich endgültig von der Lichtung ab. Das Wichtigste war, dass das Kleine lebte. Es war wichtig für meine Zukunft... oder meine Vergangenheit. Steve war noch immer ganz versunken in dem Anblick des kleinen Kätzchens.
 

„Lass uns gehen. Die Mutter wacht sicher gleich auf. Und sie wird sich nicht freuen, dass wir dem Jungen so nahe sind.“
 

„Ich hätte es sooo gerne gestreichelt. Es sieht so weich und flauschig aus.“, seufzte Steve ein wenig enttäuscht.
 

Dann verließen wir beide die Lichtung in Richtung Dorf, nicht ohne unterwegs noch etliche Bäume um ein paar ihrer Früchte und Bewohner zu erleichtern.
 

***
 

Nachdem wir gegessen hatten war die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden. Dunkelheit senkte sich über die Welt. Es war noch zu früh für die Sterne. Einzig das Lagerfeuer, das wir vor einer der Hütten, der Unbeschädigtsten, aufgebaut hatten, gab noch ein wenig Licht. Sowohl Steve als auch ich waren müde von den langen letzten Tagen. Den Panther zu verfolgen hatte uns zwar nicht das eingebracht, was wir uns erhofft hatten, aber für mich war es so etwas wie ein Weckruf gewesen. Bis jetzt hatte ich kein Ziel gehabt, außer zu überleben. Jetzt... hatte ich zwar immer noch keines, aber zumindest eine Idee, wie es weitergehen könnte... Ein Ast knackte laut.
 

„Wir sollten noch baden gehen. In den letzten Tagen sind wir echt schmutzig geworden, und von dem Viech in den Dreck gedrückt zu werden, hat es auch nicht besser gemacht.“, sprach Steve in die nächtliche Stille.
 

„Na, dann lass uns gehen.“, meinte ich nur und stand auf. Ich freute mich schon auf mein Bett, oder zumindest das, worauf ich in letzter Zeit geschlafen hatte.
 

Der Weg zum Fluss dauerte nicht lange. Wir sprachen kaum miteinander. Wortlos zogen wir uns aus, jeder für sich, und stiegen in das kalte Wasser, das dabei leise plätscherte. Der Mond spiegelte sich tausendfach in den Wellen, die wir warfen.
 

Ich fühlte Steves brennende Blick auf meinem Rücken. Keine Sekunde ließen seine Augen von mir ab, nicht einen einzigen Augenblick. Trotz des kühlen Wassers wurde mir immer wärmer. Wieder spürte ich das eigenartige Kribbeln, das mich schon auf der Lichtung durchfahren hatte. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus.
 

Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich Steves Hand auf meiner Hüfte fühlte. Die Gänsehaut verstärkte sich noch.
 

„Darren...“, flüsterte Steve nahe an meinem Ohr.
 

„Ja...?“, war das einzige, was ich herausbrachte. Mein Herz schlug so schnell, dass ich es an meinen Rippen spüren konnte.
 

„Darren...“ Seine zweite Hand schlang sich um meine Taille. Dann schmiegte sich Steve an meinen Rücken, das Gesicht an meinem Hals vergraben. Warm spürte ich seinen Atem auf meiner Haut. Warm war es an jedem Punkt, an dem er mich berührte. Sogar meine Atmung hatte sich beschleunigt.
 

„Würdest du... vielleicht...?“ Es war lange her, dass ich Steve zum letzten Mal so unsicher erlebt hatte. Seine Umarmung wurde kräftiger. Ich hörte ihn tief Lust holen.
 

„Würdest du mich vielleicht... ... ... küssen... wenn du willst...?“, nuschelte er so leise, dass ich ihn fast nicht verstehen konnte. Und doch machte mein Herz in diesem Moment einen Satz, nur um anschließend doppelt so schnell weiterzuschlagen. Kurz bekam ich nicht einmal mehr Luft.
 

Ich wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, aber es war da. Ich wollte Steve küssen. Es wurde mir in diesem Moment klar. Nichts war jetzt klarer als das. Und ich war vollkommen überwältigt von dieser Tatsache.
 

Vorsichtig drehte ich mich ein wenig in Steves Umarmung und schlang ebenfalls meine Arme um ihn. Er fühlte sich so gut an, alles an ihm. Seine schönen Augen leuchteten im Mondlicht. Sein Mund war leicht geöffnet. Erwartungsvoll und ein wenig ängstlich sah er mich an. Er sah so niedlich aus, so atemberaubend, so... es gab keine Worte dafür. Ich vergaß alles um mich herum, außer ihn.
 

Langsam senkte ich meinen Kopf, ohne meinen Blick von seinem zu lösen, bis unsere Lippen sich trafen.
 

Es war ein sanfter Kuss. Wir waren beide ein wenig unsicher. Aber er war so intensiv wie kaum etwas, dass ich je zuvor gefühlt hatte.
 

Unsere Zurückhaltung brach, als Steve leise in meinen Mund keuchte. Meine Hände bewegten sich fast schon wie selbstständig über seinen Rücken, die Wirbelsäule entlang, seine Seiten, den muskulösen Bauch, seine starken Arme, die Narben entlang. Ich wollte ihn einfach spüren. Alles von ihm. Seine Hände erkundeten meinen Körper auf dieselbe Weise. Und wir küssten uns weiter. Immer wieder trafen sich unsere Münder, immer heftiger und verlangender pressten wir uns aneinander. Es hätte mich nicht gewundert, wenn das Wasser um unsere Beine angefangen hätte zu kochen, so warm wurde mir, so heiß.
 

Erst nach einer gefühlten Unendlichkeit lösten wir uns langsam voneinander. Wir waren beide außer Atem und keuchten ein wenig. Wieder trafen sich unsere Blicke. Das leuchten in Steves Augen hatte zugenommen, er strahlte regelrecht. Er war einfach nur wunderschön.
 

Steve nahm meine Hand. „Lass uns zurückgehen.“, wisperte er und lächelte mich an. Nur zu gerne ließ ich mich aus dem Bach ziehen. Der Rückweg schien mir viel kürzer als vorhin, was vielleicht auch daran lag, dass ich meine ganze Konzentration auf das Wesen gerichtet hatte, das hier vor mir lief und meine Hand immer noch in Beschlag genommen hatte.
 

Das Feuern, das wir errichtet hatten, glühte noch ein wenig vor sich hin und gab kaum noch Wärme ab. Dafür war Steves Körper umso wärmer, als er sich zu mir auf mein Lager legte und sich an mich kuschelte. So seltsam es auch war, es fühlte sich richtig an, ihn so nahe bei mir zu haben, auch wenn ich mir das vor ein paar Wochen noch nicht einmal im Traum hätte vorstellen können.
 

Ich drehte mich zu Steve um und zog ihn noch ein wenig näher an mich heran. Steve seufzte wohlig. Er hob einen Arm und legte ihn auf meinen Bauch, wie um sich zu überzeugen, dass das alles auch wirklich echt war. Ich strich ihm durch die Haare und über die Wange, hob sein Gesicht ein wenig an, nur um ihm einen kleinen, gehauchten Kuss zu geben. Ein Lächeln schlich sich auf Steves Lippen, dass sich auch dann noch hielt, als sich seine Augen schlossen und er in den Schlaf überglitt. Dieses schöne Bild vor mir dauerte es auch bei mir nicht lange, bis ich eingeschlafen war.

Kapitel 14

Kapitel 14
 

Ein paar Stunden später, als es schon längst nach Mitternacht war, löste ich mich vorsichtig aus Steves Umarmung. Leise zog ich meine Kleider an. Auf Schuhe verzichtete ich: Es war viel einfacher, sich unbemerkt durch den Wald zu bewegen, wenn man tatsächlich fühlte, auf was man trat, als nur ein etwaiges Gefühl durch harte Sohlen zu spüren. Unser Feuer glimmte nur noch vor sich hin, ohne viel Wärme oder Licht abzugeben. Aber der Mond schien hell genug, dass ich den Weg zurück auf die Lichtung trotzdem ohne Schwierigkeiten fand.
 

Der Panther hob seinen Kopf aus seiner liegenden Position, als ich aus dem Wald heraus trat. Seine Augen leuchteten aus der Höhle unter dem Baum hervor, in die er sich nach seinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit zurückgezogen haben musste. Ich stand regungslos an der Stelle, an der ich die Lichtung betreten hatte, aber der Panther zeigte keine Anzeichen von Anspannung oder irgendetwas anderem, das auf eine baldige Attacke hindeutete.
 

Im Gegenteil, das Leuchten der Katzenaugen verschwand kurz in den Tiefen des Baus und tauchte Sekunden später wieder auf. Dieses Mal bewegte sich die große Katze anmutig aus seinem Bau heraus, das schwarze Fell reflektierte das Mondlicht und verschmolz in den Schatten mit der Dunkelheit. Im Maul trug es sein Junges. Bis zur Mitte der Lichtung lief der Panther, dann blieb er stehen, seinen Blick direkt auf mich gerichtet.
 

Ich zögerte. Der Panther war intelligent. Steve und ich hatten ihn die vergangenen Tage gejagt und immer wieder hatte er es geschafft, sich unserem Zugriff zu entziehen. Und jetzt stand er einfach so da und wartete auf mich?
 

Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Sowohl jetzt als auch in der Zukunft hatte ich den Panther gejagt. Jetzt jedoch war meine Absicht den Panther zu suchen eine gänzlich andere als die Jagd. Konnte es sein, dass der Panther das erkannt hatte?
 

Ich wagte einen Schritt nach vorne. Der Panther rührte sich nicht. Ein weiterer Schritt und noch immer passierte nichts. Mit neuem Mut überwand ich die letzte Distanz zwischen mir und der riesigen Katze. Vorsichtig legte sie ihr Junges ab und sich selbst dahinter auf den Boden der Lichtung.
 

Noch immer nicht ganz überzeugt kniete ich mir vor das Junge und berührte zum ersten Mal sein weiches Fell. Ich war überrascht, wie warm es war. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Mutter des Kleinen. Langsam griff ich mit einer Hand hinter meinen Rücken und zog eines der Messer aus meinem Hosenbund, das ich aus dem Lager mitgenommen hatte. Es war sehr scharf. Aber auch, als ich es schließlich in der Hand hielt und wieder auf das Junge zu bewegte, rührte der Panther sich nicht.
 

Ich begann, das Fell am Bauch des Jungen so sanft ich konnte ab zu rasieren. Die darunter liegende Haut war weich und glatt und fast noch wärmer als das Fell, das sie bis eben noch bedeckt hatte. Ich strich ein paar Mal darüber in dem Wissen, was als nächstes kam.
 

Die ganze Zeit bis jetzt hatte das Junge still dagelegen, die Augen geschlossen, wie als würde es schlafen, doch jetzt öffnete es seine Augen, die genauso strahlten wie die seiner Mutter. Und in beider Augen konnte ich lesen, dass sie ebenfalls wussten, was ich jetzt tun würde, tun musste.
 

Tief Luft holend rief ich mir das Bild der Karte ins Bewusstsein. Die Karte, die mich und Harkat in der Zukunft weiter auf unsere Reise geführt hatte. Das war das Bild, dass ich jetzt zeichnen musste. In die Haut eines jungen Panthers, damit ich sie später entdecken konnte.
 

Ich hatte mich immer gewundert, wer eine Karte auf der Haut eines lebenden Tieres hinterlassen würde. Jetzt wusste ich es.
 

Als ich den letzten Schnitt getan hatte, ließ ich erschöpft das Messer fallen. Eine Weile blieben wir alle drei still liegen, ohne uns zu bewegen. Es war sehr still. Nur mein eigenes Herz schlug laut in meiner Brust. Ich hatte gerade den ersten Stein meiner Zukunft und meiner Vergangenheit gelegt...
 

Schließlich stand der Panther auf. Ich hob meinen Arm und strich vorsichtig über sein Fell, bevor es sein Junges wieder am Genick nahm und es zurück in die Höhle trug. Ein letzter Blick auf mich, ein letztes Blitzen der grünen Katzenaugen, dann waren beide verschwunden.
 

***
 

Zwei Wochen und viele Kilometer später spürte ich zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder ein leichtes Brennen tief in meiner Kehle. Es war also einmal mehr soweit, dass ich bald wieder Blut benötigen würde. Wo genau Steve und ich uns gerade befanden, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, aber inzwischen war das Land merklich hügeliger geworden, im Vergleich zu dem doch recht flachen Wald, den wir erst vor ein paar Tagen in südwestlicher Richtung verlassen hatten.
 

Ich hoffte, dass wir in der nächsten Zeit auf ein Dorf stoßen würden, in dem ich meinen Durst mit ein paar Schlucken stillen konnte. Was passierte, wenn ich mich dem verweigerte, hatte mir mein Körper in der Vergangenheit deutlich genug gemacht, und gerade in dieser Welt, die so anders war als früher, konnte körperliche Schwäche sich doch ziemlich fatal auf die Lebensqualität auswirken, so im Sinne des getötet und gefressen Werdens. Aber noch eilte es nicht.
 

Wie es um Steve stand, wusste ich nicht, denn zum einen widerstrebte es mir, ihn direkt danach zu fragen, und zum anderen wusste ich nicht genug über Vampyre, um zu wissen, in welchen Zeitabständen sie Blut brauchten. Ich hatte nicht einmal einen Anhaltspunkt, außer, dass er im Lager nach gut zwei Monaten fast Amok gelaufen wäre vor Durst. Aber davor war er aus dem See gefischt worden und hatte seitdem nichts mehr gehabt. Ich selbst hatte nach meiner „Wiedergeburt“ auch schneller Blut gebraucht als es sonst normal war. Und Vampyre tranken naturbedingt wesentlich größere Menge Blut als Vampire. Ich konnte schlicht nicht einschätzen, wie sich das auf ihr Trinkverhalten auswirkte.
 

Jedenfalls machte mir die Frage, was wir tun sollten, wenn Steve das nächste mal Durst bekam, doch einige Sorgen. Ich konnte ihn schließlich nicht einfach einen Menschen umbringen lassen. Aber andererseits würde er sehr geschwächt werden, wenn er sich oder ich ihm dies und dadurch seine Nahrungsaufnahme verweigerte. Und das wollte ich wiederum auch nicht... irgendwie.
 

Ich investierte einige Zeit in Überlegungen, wie ich dieses Dilemma durchbrechen können würde, doch eine Antwort fand ich nicht. Also beschloss ich, diese Angelegenheit ruhen zu lassen. Trotzdem saß die Gewissheit, dass ich mich dem Problem würde stellen müssen, immer direkt unter der Oberfläche meiner Gedanken.
 

Seit der Nacht im Fluss schliefen Steve und ich in stiller Übereinkunft jede Nacht zusammen in einem Bett, meist dicht zusammengekuschelt. Für mich war es immer wieder ein seltsames Gefühl, so nahe bei ihm zu sein, schließlich war ich lange genug überzeugt gewesen, ihn zu hassen. Inzwischen war ich mir jedoch sicher, dass ich das nicht mehr tat. Doch das Gefühl, was an dessen Stelle getreten war, konnte ich nicht wirklich zuordnen. Oder besser, ich wagte nicht, es genau zu bestimmen, aus Angst, was ich dann an mir selbst erkennen würde. Denn es war klar, dass ich spätestens dann einen großen und wichtigen Teil meiner Vergangenheit zu den Akten legen konnte, den ganzen Zwiespalt, den Antrieb, den einzigen, den mein Leben eine lange Zeit gehabt hatte: die Verfolgung des Herrn der Vampyre.
 

Ich hatte kein Problem damit, dass sowohl Steve als auch ich Männer waren. Derlei Beziehungen hatte es auch im Berg der Vampire gegeben, wohl aus dem offensichtlichen Mangel an Vampirinnen, und niemand Zwang einen dazu, in lebenslanger Abstinenz zu leben.
 

Nein, was mich wirklich beunruhigte war die Tatsache, dass ich mich beziehungsweise meine Denkweise sich drastisch geändert haben musste, damit ich ein harmonisches Beisammensein mit Steve überhaupt in Betracht ziehen konnte. Was war geschehen, dass ich mich so verändert hatte?
 

Und auch das war eine Frage, die ich mir beim besten Willen nicht beantworten konnte...
 

„Darren, jetzt komm endlich rein! Es ist wirklich wunderbar!“, rief Steve aufgeregt ein paar Meter von mir entfernt.
 

„Ich komm ja gleich.“, rief ich zurück ohne mich umzudrehen. Das Notizbuch, das bis jetzt offen auf meinem Schoß gelegen hatte, klappte ich zu, nicht ohne vorher mit dem schmalen Band, das oben am Einband befestigt war, die Seite zu markieren. Es war schon lange her gewesen, seit ich meine letzte Eintragung gemacht hatte. Aber ich wollte der Gewohnheit, Tagebuch zu führen, auch in diesem Leben treu bleiben, wenn ich schon meine alten nicht mehr hatte. Sorgsam verstaute ich das Buch in einer der Taschen, die wir mehr oder weniger professionell aus gerissenen Kleidern und anderen Materialien, die wir im Laufe der Reise gefunden hatten, hergestellt hatten. Den kratzigen Kohlestift, den ich aus einem der verlassenen Dörfer hatte mitgehen lassen, warf ich hinterher. Dann lief ich auf die Stelle zu, aus der Steves Stimme kam.
 

Es war schon Abend und die Sonne verschwand langsam Hinter dem Horizont. Trotz der fortgeschrittenen Zeit des Jahres waren die Temperaturen noch einmal leicht gestiegen, was wir beide sehr begrüßten. Was nicht hieß, dass es Nachts nicht frierend kalt wurde. Wenigstens wehte der Wind hier, im Tal, nicht besonders stark.
 

Von der Absenkung, in der sich Steve befand, stiegen durchscheinende Dampfschwaden auf, die sich in der kühler werdenden Luft langsam verflüchtigten. Leises Plätschern erfüllte die Luft.
 

„Darren!“, tönte es jetzt schon ungeduldiger. Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen entledigte ich mich schnell meiner Klamotten und legte sie auf einen größeren Stein in der Nähe des Beckens, bevor ich mich so leise ich konnte hinter Steve schlich, nur um mit einem lauten Platschen neben ihm ins Wasser zu springen. Lautes Kreischen war meine Belohnung, das schließlich von den von mir aufgewirbelten Wassern jäh beendet wurde.
 

Eine kurze Weile war es still. Zumindest so lange, wie Steve brauchte, um das Wasser wieder auszuspucken oder auszuwürgen, denn so schön warm es auch war, so ungenießbar schmeckte es.
 

„Mensch Darren, musste das sein?!“ Auch wenn Steve sich alle Mühe gab, ernsthaft beleidigt auszusehen, wurde der Eindruck irgendwie durch die Tropfen zunichte gemacht, die ihm immer noch über das Gesicht und den entblößten Oberkörper liefen und mit den letzten Sonnenstrahlen um die Wette glitzerten.
 

Immernoch grinsend hob ich eine Hand und wischte stupste dem schmollenden Steve auf die Nasenspitze, an der sich ein kleiner Tropfe festgesetzt hatte und sich weigerte, endlich runter zu fallen. Dann lehnte ich mich ein kleines Stück nach vorne und meinte fast ein bisschen spöttisch: „Ich sollte mich doch beeilen, oder nicht?“
 

„Pfff.“, machte Steve nur, musste dabei aber leicht lächeln. Entspannt ließen wir uns zurück in das angenehm beheizte Wasser sinken, das gerade tief genug war, um uns bis zum Hals zu stehen, wenn wir uns auf den Grund setzten.
 

So gut ich auch in Geographie gewesen war, ich hatte nicht gewusst, dass es in dieser Gegend heiße Quellen wie diese gab. Dementsprechend überrascht war ich gewesen, als uns zum ersten Mal eine über den Weg lief (nicht ganz wörtlich gemeint). Es konnte natürlich schlicht sein, dass es in den Ausläufern der Alpen schon immer die eine oder andere Quelle gegeben hatte, oder aber das Klima musste sich im Vergleich zu früher um einiges geändert haben, um solche Phänomene hervorzubringen.
 

Aber meine Verwunderung hielt weder mich noch Steve davon ab, diese Möglichkeit, uns in nicht eisigem Wasser ausgiebig zu baden, ausgiebig zu nutzen. Schade war nur, dass das Wasser, das die heißen Quellen ausspuckten, meist ziemlich ungenießbar schmeckte.
 

Minutenlang saßen wir nur stumm in Zweisamkeit da und genossen die Wärme, die uns umgab. Meine Gedanken schweiften ab. Zu dem Panther, den wir getroffen hatten. Dem See der Seelen. Und was all das für mich zu bedeuten hatte...
 

Warum war ich hier? Nicht im Sinne, warum ich geboren worden war, nein, das wusste ich, schließlich hatte Mr. Tiny mir alles auf die Nase binden müssen. Nein, warum war ich hier, in dieser Zeit, noch vor meiner letzten Ankunft?
 

War der Panther ein Zeichen? Und wenn ja, wofür? War es etwa meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich in der Zukunft, oder in der Vergangenheit, je nachdem, aus welcher Perspektive man meine Geschichte betrachtete, den Weg für mich selbst und das Gelingen meines Auftrags bereiten sollte?
 

Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mr. Tiny sich so etwas ausdenken würde, nur um mein Leben noch komplizierter zu machen.
 

Ich stieß ein leises, resigniertes Seufzen aus. Nicht, dass es noch wesentlich komplizierter gehen würde...
 

„Darren, was ist los?“ Steve sah mich von der Seite an, seine Augen glänzten ein wenig von der Wärme, aber auch ein wenig Sorge stand darin.
 

„Ich hab über alles mögliche nachgedacht. Nichts bestimmtes.“, wich ich seiner Frage aus.
 

Leises Plätschern erklang, als Steve sich im Wasser bewegte und sich schließlich rittlings auf meinen Schoß setzte.
 

„Es ist gerade so schön ruhig und entspannt.“ Sanft fühlte ich seine Lippen auf meinen.
 

„Du solltest jetzt nicht nachdenken.“ Ein weiterer, leichter Kuss landete auf meinem Mund.
 

„Oder denk wenigstens über mich nach.“ Lächelnd sah er mir ins Gesicht. Ich schlang einen Arm um seine Hüfte und legte den anderen auf Steves Rücken, um ihn näher zu mir zu ziehen, was unter Wasser ganz leicht war.
 

„Gerade kann ich gar nicht anders, als an dich zu denken.“ Und ein weiterer Kuss folgte.
 

„Das ist gut! Ich werde dich jetzt nämlich von allem anderen ablenken.“ Bei diesen Worten schoss Steve ein wenig Röte in die Wangen. Dabei sah er so süß aus, dass ich nicht anders konnte, als seinen Kopf zu mir herunter zu ziehen und ihn so lange in eine Knutschrei zu verwickeln, bis wir beide nur noch nach Luft schnappten, immer noch eng umschlungen im warmen Wasser.
 

***
 

Lautes Rascheln nahe an unserem Lagerplatz weckte mich in der Nacht. Auch wenn es nicht das erste Mal war, dass sich ein Tier Nachts herangeschlichen und versucht hatte, die Überreste unserer Mahlzeiten zu ergattern, so war dies doch das erste Mal, dass es so nahe an uns heran gekommen war, ohne dass ich früher aufgewacht und es verscheucht hatte. Dementsprechend angespannt und hellwach saß ich aufrecht in meinen Decken und sah mich um.
 

Nichts.
 

Ich hörte nichts, es bewegte sich nichts, und sehen konnte ich auch nichts Ungewöhnliches, nicht mal in den Bäumen. Es war schlicht nichts anders als am gestrigen Abend. Nicht einmal Steve hatte sich bewegt, sondern weilte immer noch im Traumland. Er lag noch genauso da, wie wir eingeschlafen waren: Auf der Seite, ein Bein über meine gelegt und die Arme um mich geschlungen.
 

Bei dem Anblick schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Er war schon unglaublich. So stark und gleichzeitig so... niedlich? süß? liebenswert? Ich konnte nicht genau sagen, was es war.
 

Ein erneutes Rascheln zog meine Aufmerksamkeit auf sich und ich drehte meinen Kopf in diese Richtung. Aber ich konnte immer noch nichts ausmachen, was einen Hinweis auf die Quelle des Geräuschs gab.
 

Direkt neben ertönte ein tiefes, lautes quaken. Ich zuckte zusammen und fuhr mit gezogenem Messer herum, bevor mit klar wurde, was ich da gerade gehört hatte...
 

Ein QUAKEN ?!!!
 

Entgeistert starrte ich den braunen Haufen an, den ich bis vor ein paar Sekunden noch für einen mit Erde bedeckte Stein gehalten hatte. Einen zugegebenermaßen recht großen mit Erde bedeckten Stein, aber trotzdem. Und eben jener Stein starrte aus zwei großen, runden und wässrigen Augen zurück.
 

„Nee, jetzt!“, stieß ich mit einen Schwall angehaltener Luft aus. Das konnte nicht war sein. So eine Panik für einen kleinen... ok, nicht ganz so kleinen Frosch.
 

„Was isn los...?“, nuschelte Steve neben mir ganz verschlafen.
 

„Nichts ist los. Nur ein Frosch.“ Augenblicklich war Steve wach.
 

„Uhh“, machte er angeekelt. „Aber nicht im Bett oder?“
 

„Nein, knapp daneben.“, seufzte ich nur. „Und solange er den Rest der Nach ruhig ist, kann er da wegen mir auch bleiben.“
 

„Aber was, wenn er mir ins Gesicht springt?“, fragte Steve mit einem leicht entsetzten Unterton in der Stimme.
 

„Das wäre lustig!“, grinste ich nur. Sofort bekam ich einen recht festen Schlag gegen die Schulter.
 

„Steve, wir schlafen seit Wochen unter freiem Himmel, wo es viele wilde Tiere gibt von denen manche sogar gefährlich sind, und du hast Angst vor einen Frosch?“
 

„Ich hab keine Angst...“, nuschelte Steve ein bisschen beleidigt. „Aber Frösche sind kalt und feucht und einfach eklig...“ Ich seufzte erneut. Der Frosch machte einen große Sprung von unserem Lager weg.
 

„Keine Sorge, wenn dir tatsächlich einmal ein Frosch zu nahe kommen sollte werde ich dich mit meinem Leben verteidigen, ok? Und jetzt sollten wir noch ein bisschen schlafen.“
 

Damit legte ich mich wieder hin. Steve grummelte nur unverständlich und rückte noch ein bisschen näher. Den Rest der Nacht verschliefen wir beide ungestört von Fröschen und anderen Gefahren ähnlicher Natur.

Kapitel 15

Kapitel 15
 

Wir begegneten weder in dieser noch in den darauf folgenden Nächten weiteren Fröschen oder anderen ‚ekligen’ Tieren, die Steve so sehr verabscheute. Trotzdem bestand Steve vehement darauf, dass wir unser Lager in Zukunft nicht mehr in der Nähe der heißen Quellen aufschlugen.
 

Ich hingegen wusste nicht so recht, ob ich das gut fand oder nicht. Erst am nächsten Morgen war mir klar geworden, dass die Begegnung mit dem Frosch, oder war es doch eine Kröte gewesen?, vielleicht der nächste Hinweis auf meine Aufgabe gewesen war. Natürlich, ich war müde gewesen, und nach dem Schreck auch vollgepumpt mit Adrenalin, aber trotzdem hätte ich die seltsame Parallele doch bemerken müssen.
 

Jetzt jedenfalls musste ich entscheiden, was ich tun sollte. Steve wäre sicher nicht begeistert, wann ich ihm eröffnen würde, dass wir ab jetzt eine Kröte jagen würden, und dazu noch die größte und ‚ekligste’ Kröte überhaupt. Aber einfach nichts tun konnte ich auch nicht.
 

Dazu kam das Problem, dass ich absolut nicht wusste, wo ich mit der Suche anfangen sollte. Hätte ich die Kröte in dieser Nacht verfolgt (Klingt das nicht bescheuert? Eine Kröte verfolgen...), hätte sich das vermutlich erledigt, aber das war ja keine Option mehr. Mein bester Hinweis war also, in der Nähe der Quellen zu bleiben und nach weiteren Fröschen, Kröten und dem ganzen Getier Ausschau zu halten.
 

Wohin ich die Kröte bringen musste, wusste ich immerhin schon. Oder zumindest wusste ich, wie es dort in Zukunft aussehen würde – ein Sumpf mit einer Insel in der Mitte. So viele Möglichkeiten blieben also nicht übrig. Wenn es in Zukunft ein Sumpf war, dann musste es heute entweder schon ein Sumpf sein, was ich nicht glaubte, dafür war es zu trocken, oder erst noch einer werden. Und wenn es noch einer werden sollte, dann war es jetzt ein See. Wenn meine Erinnerung gut genug war, dann konnte ich allein durch die Maße, die der Sumpf haben würde, in etwa bestimmten, wie groß der See war. Und solche See gab es nicht viele. Vor allem nicht mit einer Insel in der Mitte. Ich war richtiggehend stolz auf mich selbst, auf diese Lösung gekommen zu sein.
 

Und das beste war, dass, wenn ich den See erst einmal gefunden hatte, ich einfach nur den Weg noch einmal gehen musste, den ich damals gegangen war, um automatisch alle anderen Punkte zu finden. Auch den Berg der Vampire.
 

***
 

„Darren, wie lange bleiben wir denn noch hier? Ich glaube nicht, dass wir hier noch einen geeigneten Platz finden.“, fragte Steve fast schon ein wenig wie ein trotziges Kind. Und ich konnte ihn verstehen. So angenehm die Quellen auch waren, hier gab es schlicht nichts, was einen zum Bleiben bewegen konnte. Und obwohl dem so war hatten wir jetzt fast schon drei Wochen hier verbracht. Mir kam es so vor, als hätte ich jeden verdammten Stein in dieser Gegend umgedreht, nur um diese Kröte zu finden.
 

„Glaube ich auch nicht.“, seufzte ich nur resigniert. Nein, ich war mir sicher, dass wir hier weder irgendwelche Kröten noch einen geeigneten Unterschlupf finden würden. Zumindest nicht, wenn nicht irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen würde. Es war Zeit, weiter zu ziehen.
 

***
 

Nach meiner Zeitrechnung müsste es langsam aber sicher Winter werden. Seltsam ist nur, dass es schon seit Wochen nicht mehr kälter geworden ist. Manchmal hat es zwar Frost, aber mehr auch nicht. Kein Schnee, kein Eis, kein schneidender Wind. Es ist, als wäre die Zeit bei Mitte Herbst stehen geblieben. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, als würde es schon wieder wärmer werden. Gibt es hier denn keinen Winter?
 

Klar, ich hab gewusst, dass sich die Erde in der Zukunft ordentlich verändert haben würde, aber so sehr? Nicht nur die Tiere und die Pflanzen, sondern alles?
 

Natürlich würde es einiges erklären. Zum Beispiel, wie Harkat und ich vom Berg der Vampire zum See der Seelen reisen konnten (auch wenn wir es damals nicht wussten), ohne über den Kanal schwimmen zu müssen, der England vom Rest des Kontinents trennt. Oder warum die Wälder ein tropischer Dschungel sind. Oder warum es immer so heiß war. Die Drachen erklärt es allerdings nicht.
 

Drachen sind wir schon seit einer Weile nicht mehr begegnet. Über den Wäldern und in den Bergen scheinen sie sich selten aufzuhalten, aber schon in den großen Ebenen. Vermutlich können sie dort besser jagen, aber wer weiß, was in den Köpfen dieser Wesen vorgeht. Es gruselt mich immer noch, wenn ich mich an seine Augen erinnere, intelligent und böse.
 

Momentan sind Steve und ich wieder auf dem Weg in die Täler, runter von den Bergen. Ich habe die Hoffnung, dass es bei den Seen in den Ebenen ein paar Hinweise gibt.
 

***
 

So vorsichtig ich konnte hob ich den Stock, an dessen Ende ich eines von den Netzen aus den verlassenen Dörfern gebunden hatte, von hinten über den Stein, auf dem die Kröte saß. Das Netz war groß und ich musste aufpassen, dass die Kröte nicht seinen Schatten sah, bevor ich überhaupt in ihre Nähe gekommen war. Die Erfahrung hatte ich bereits hinter mir.
 

Es war ein warmer Tag und der Schweiß lief mir wörtlich aus allen Poren. Ich saß in der prallen Sonne am Rande eines Teichs. In einer Haltung, die im positivsten Falle als ziemlich anstrengend zu bezeichnen war. Ich hätte eher nervenzerfetzend anstrengend gesagt. Und das sagt ein Halb-Vampir. Der Schweiß brannte in den zwei Striemen, wo diese verdammte Kröte mich mit ihrer Zunge erwischt hatte, als sie mich zum ersten Mal bemerkt hatte.
 

Aber ich wollte diese Kröte haben! Sie war größer als normal, hässlicher als normal und definitiv gemeiner als normal! Es konnte nur diese eine Kröte sein! Zumindest wenn sie in ein paar Jahren auf die Größe eines Hauses gewachsen war. Warum also war es so verdammt schwer, sie zu fangen?!
 

Ein Muskel in meinem Handgelenk zuckte, als er sich verkrampfte. Die Bewegung übertrug sich auf den Stock, welcher natürlich, wie könnte es anders sein, in das Sichtfeld des blöden Viechs geriet. Mit einem lauten Platschen machte es einen Satz in das Wasser des Teichs, in dem es hauste. Mit einem ebenso lauten Platschen fiel ich hinterher, als mich ein Tritt in den Hintern traf.
 

Prustend und ein paar Wasserpflanzen wieder hochwürgend tauschte ich wieder auf.
 

„Steve!!!!“, kreischte ich, inzwischen so mit der Geduld am Ende, dass ich zum Abreagieren unbedingt etwas zum Kaputtmachen brauchte.
 

„Du sahst aus, als würdest du eine Abkühlung brauchen. Oder wäre dir eine Abreibung lieber?“ Steve saß grinsend an genau der Stelle am Ufer, auf der ich Sekunden zuvor gekauert hatte.
 

Ich knurrte und mit einem großen Sprung war ich aus dem Wasser heraus und auf Steve drauf. Wenn auch nicht lange. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte sich Steve schon mit meinem Schwung herum gerollt und einfach unsere Positionen vertauscht.
 

„Heute bist du ja ganz wild.“, neckte mich Steve. Inzwischen hatte er meine Arme effektiv über meinem Kopf festgeklammert und so sehr ich gerade auch einen richtigen Kampf wollte, in diesem Moment war ich schlicht zu überhitzt und erledigt, um mich wirklich wehren zu können. Vor allem nicht, als Steve seinen Kopf senkte und mir sanft in den Hals biss.
 

„Ich glaube, du brauchst wirklich eine Abreibung, was?“ Sein Flüstern allein reichte, um bei mir eine Gänsehaut zu verursachen. Vor allem in Verbindung mit seiner Hand, die langsam ihren Weg über meine Brust in tiefere Regionen strich und seinem wunderbar muskulösem Körper auf mir.
 

Steves Lippen fanden meine und schafften es innerhalb von Sekunden meine ganze Aufregung über die vergeblichen Versuche verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne sie mit einer ganz anderen Art der Aufregung zu ersetzen...
 

***
 

„Was willst du überhaupt mit dem ekligen Viech?“, fragte mich Steve einige Zeit später, immer noch ziemlich unbekleidet am Seeufer sitzend. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung um den Teich herum gesenkt.
 

„Klar, du hast gesagt, dass du es zu einem anderen See bringen willst - was nebenbei eine irgendwie hirnrissige Idee ist – aber das würde doch so oder so nichts bringen. Kröten und Frösche kommen zum Laichen immer zu ihren, äh, Geburtsgewässern zurück.“
 

Ich war damit beschäftigt im umliegenden und mannshohen Schilf meine Kleider zusammenzusuchen. Steves Worte brachten sorgten allerdings dafür, dass meine Kleider erst einmal dort bleiben konnte, wo sie waren.
 

„Was?“, fragte ich vollkommen entgeistert. Steve stand auf und begann sich ebenfalls anzuziehen. Seine Kleider waren mysteriöserweise nicht so sehr verstreut worden, wie meine es waren.
 

„Sag bloß, das hast du nicht gewusst? Sowas lernt man doch schon ganz früh oder nicht?“
 

Dafür, dass Steve alles vergessen hatte, was sein früheres Leben ausmachte, wusste er manchmal erstaunliche Dinge. Andererseits war er auch viel länger in der Schule als ich, auch wenn ihm das nicht klar war.
 

„Nein, das hab ich nicht gewusst...“, nuschelte ich. Warum sollte man so etwas auch wissen wollen? Außer natürlich, man versuchte Kröten zu entführen, dann brachte einem dieses Wissen tatsächlich etwas.
 

„Hättest du das nicht ein bisschen früher sagen können. Ungefähr dann, als ich damit angefangen hab, die blöde Kröte zu fangen?“, fragte ich Steve ein kleines bisschen verärgert.
 

„Aber Darren, dann wäre mir doch diese lustige Vorstellung entgangen. Vor allem mit dieser Zugabe.“, meinte Steve nur mit einem Grinsen auf den Lippen, das sein Gesicht hätte spalten können. Ich seufzte. Wenn man bedachte, wie schüchtern Steve bei unseren ersten Begegnungen gewesen war, und sein jetziges Verhalten damit verglich... Manchmal tat ich mir selber Leid. Andererseits waren seine schärferen Kommentare besser als das unsichere Schweigen, mit dem Steve mich am Anfang begleitet hatte. Ein lautes Gähnen ließ mich zu Steve herüberschauen.
 

„Wir sollten uns langsam hinlegen. Der Tag war wirklich anstrengend.“
 

„Gute Idee. Ich schlaf gleich schon im Stehen ein.“
 

Steve ging auf die Bäume zu, neben denen wir unser heutiges Lager aufgeschlagen hatten. Ich hatte inzwischen alle meine Kleider gefunden. Wie Steve es geschafft hatte, sie so weit zu verteilen, war mir schleierhaft. Und vor allem, wann er es getan hatte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern.
 

Meine Gedanken schweiften ab, wieder zurück zu meinen missglückten Versuchen, an die Kröte heranzukommen. Ich war froh, dass ich das zumindest nicht mehr tun musste. Wenn die Kröte ohnehin wieder hierher, an ihren Geburtsort, zurückkehren würde, dann brauchte ich sie erst gar nicht zu fangen. Allerdings blieb dann die Frage, wie ich dann eine riesige Mutantenkröte zum See meiner Wahl kriegen sollte...
 

Eine Weile saß ich einfach nur da, und versuchte irgendeine Idee zu bekommen, was ich jetzt tun sollte. Wenn Kröten immer wieder zum Laichen zurückkehrten... dann brachte es nichts, die Kröte zu bewegen. Ich bezweifelte, dass sich Kröten von Zäunen oder Käfigen auf Dauer festhalten ließen. Und ich hatte weder das eine noch das andere in der Zukunft gesehen. Im Gegenteil, der Kröte schien es auf ihrer Insel gut zu gefallen. Sie hatte ein Nest oder wie man das nannte und unser Auftrag war es gewesen, die Glitschkugeln einzusammeln, die sie gelegt hatte...

Ich stutzte. Sie hatte Eier gelegt, oder in anderen Worten, gelaicht. Und wenn sie dafür immer wieder zurückkehrte, dann war sie dort geboren... Wenn ich also einfach die Eier dort hin brachte... Oh man, es war so einfach, dass es fast schon peinlich war, dass ich die Idee nicht früher gehabt hatte.
 

Kopfschüttelnd stand ich auf und ging zu Steve hinüber. Um die Ausführung des neuen Plans konnte ich mich morgen kümmern. Jetzt war es wirklich Zeit, schlafen zu gehen.
 

***
 

Vorsichtig schraubte ich das Glas auf, in dem ich die Kröteneier transportiert hatte, und ließ die Gallertkugeln ins Wasser flutschen. Steve stand mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck schräg hinter mir und sah zu.
 

An den Laich der Kröte heranzukommen war weitaus weniger schwierig gewesen, als die Kröte selbst zu fangen. Dementsprechend schnell waren Steve und ich zu dem See aufgebrochen, den ich als den richtigen vermutete. Und genau hier waren wir jetzt.
 

Es war ein schöner See und gleich doppelt so schön im Vergleich zu dem Sumpf, der er mal werden würde. Das Wasser war klar und am Ufer stand Schilf. Die Insel in der Mitte des See war mit Bäumen bewachsen, deren Äste teilweise weit in den See hineinragten. Auch um den See herum standen Bäume, die angenehmen Schatten spendeten. So ganz anders als in meiner Erinnerung. Mir schauderte bei dem Gedanken, dass es hier in Zukunft auch Krokodile geben würde. Die würde ich hier sicher nicht herbringen.
 

Das letzte Ei glitt ins Wasser und trieb mit allen anderen an der Oberfläche. In Ihnen konnte man schon leicht die Formen erkennen, die sie einmal annehmen würden. In ein paar Wochen würden die Kaulquappen schlüpfen (Steve hatte gesagt, dass man sie so nannte) und dann war der Stamm der Mutantenkröten geboren. Ich war mir sicher, dass sich die riesigen Viecher gegenseitig ausrotten würden, wenn sie einmal zu groß waren, um sich den See zu teilen. Fies genug waren sie ja.
 

„So, erledigt.“, meinte ich und betrachtete zufrieden mein Werk. Steve schüttelte sich.
 

„Endlich. Ich kann die Teile langsam nicht mehr sehen. Aufzuwachen und als erstes auf einen Haufen sich bewegender Glitschkugeln zu starren ist sicher nicht meine Lieblingsaufwachmethode.“
 

„Ich kann auch nichts dafür, dass du es geschafft hast, dich im Schlaf mit dem Kopf zu den Füßen zu drehen.“
 

„Und was, wenn sie in der Nacht geschlüpft wären? Dann wären überall kleine, glitschige...“ Steve schüttelte sich erneut. Ich sah ihn an und fragte mich zum wiederholten Mal, wie Steve es in all den Jahren geschafft hatte, unserer Jagd auf dem Fürst der Vampyre zu entkommen.
 

„Jetzt sind sie weg und du hast deine Ruhe.“, erwiderte ich schlicht.
 

***
 

War der Panther auch noch kein Hinweis auf Steves und meine weitere Reiseroute gewesen (schließlich konnte er immer sein Revier ändern), so war der See doch ein deutlicher Wegweiser. Alle weiteren Stationen meiner Reise mit Harkat und Spit waren Orte gewesen, denen es deutlich schwer fallen würde, mal eben den Standort zu wechseln.
 

In der Zukunft war der Tempel des Grotesken als nächstes an der Reihe. Das versprach auf jeden Fall interessant zu werden. Ich hatte mich damals schon gefragt, wie das Grotesk wohl entstanden war.
 

Und vom Tempel führte der unterirdische Tunnel – ich hoffte sehr, dass wir den nicht selbst graben mussten – zu der Wohnung im Berg. Und von dort war es nicht mehr sehr weit bis zum See der Seelen.
 

Schon seltsam. Unsere Flucht weg vom See führte uns am Ende genau dorthin zurück...

Ich schloss mein Tagebuch und verstaute es wieder in meinem Bündel. Jetzt, da unser Kurs bestimmt war, wurde ich richtiggehend aufgeregt. Die ganze Zeit war ich ohne Aufgabe gewesen, ohne Ziel und das war etwas, das mich in den Wahnsinn treiben konnte. Natürlich hatte Steve mich oft davon abgelenkt, schon allein durch seine Anwesenheit, aber wenn ich Nachts wach lag, oder einfach meinen Gedanken nachhing, dann hatte ich immer ein nagendes Gefühl verspürt, dass ich etwas tun sollte, ohne genau zu wissen, was es war. Und jetzt...
 

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Jetzt hatte ich eine Aufgabe.
 

„Komm Steve, lass uns gehen.“, rief ich fröhlich über meine Schulter und machte den ersten Schritt vorwärts.
 

„Ja, ich komm gleich.“, antwortete Steve.
 

Und so oft ich es mir später auch gewünscht habe, den bohrenden Blick in meinem Rücken bemerkte ich nicht.

Kapitel 16

Kapitel 16
 

Mein Mund stand offen. Etwas weiter oben in meinem Gesicht drohten meine Augen gerade direkt aus ihren Höhlen zu fallen. Mein Hirn hatte derweil beschlossen, auf Kurzurlaub zu gehen, daher auch mein überaus intelligenter Gesichtsausdruck. Alles in allem muss meine körperliche Verfassung (stockender Atem, Versteinerung, etc.) Steve beunruhigt haben, den als ich nicht auf meinen Namen reagierte, schubste er mich an der Schulter an.
 

Nicht, dass es große Auswirkungen gehabt hätte: Ich schwankte nur ein wenig, um dann wieder in meine Ausgangsposition zurückzukehren. Aber ich hatte auch alles Recht dazu. Ich meine, dieser Anblick war schlicht irgendwie... seltsam.
 

Steve und ich waren von dem zukünftigen Moor direkt in die Richtung gewandert, in der ich den Tempel des Grotesken wusste, also in die Berge. Wie lange genau ich damals mit Harkat und Spits gebraucht hatte, um den Tempel zu erreichen wusste ich nicht mehr. Deshalb war ich umso erstaunter, als Steve und ich ungefähr knapp zwei Wochen später einem Pfad über den Hang eines Berges folgten und... sich plötzlich dieser Anblick vor uns auftat.
 

Unter uns breitete sich eine Stadt aus, die sich den gegenüberliegenden Hang hinaufwand. Nicht besonders groß, aber auch nicht klein, augenscheinlich verlassen. Die Stadt an sich wäre ja nichts allzu besonders gewesen, es gab schließlich sicher auch noch andere Städte in den Bergen, aber es war die erste Stadt, die wir auf unserer gesamten Reise gesehen hatten. Und am oberen Rand dieser Stadt befand sich ein großes, weißes Gebäude, dass von hier aus gesehen gut und gerne der Tempel sein konnte.
 

Steve brauchte noch ein paar Minuten, um mich wieder aus meiner Starre zu lösen.
 

„Endlich! Noch ein bisschen länger, und dein Gesicht wäre in der Position eingefroren.“ Steves Hand wedelte noch immer vehement vor meinem Gesicht hin und her, auch als ich schon längst geblinzelt und einen Schritt zurück gemacht hatte.
 

„Aber, da ist eine Stadt!“, rief ich ein wenig einfältig. Offensichtlich musste mein Hirn erst noch seine Koffer wieder auspacken.
 

„Ja, Darren, eine Stadt, genau.“ Steves Tonfall glich dem, den Eltern für ihren kleinen Kinder verwendeten. „Aber ich bin sicher, dass wir dort ein paar nützliche Dinge finden können. Was meinst du?“
 

Mein Nicken war Bestätigung genug.
 

***
 

Sobald wir die Stadt erreicht und uns eines der besser erhaltenen Häuser als ‚Hauptquartier’ ausgesucht hatten, teilten Steve und ich uns auf, um die Stadt zu erkunden und alles einzusammeln, was uns auch nur im Entferntesten nützlich erschien. Ich sah Steve nach, bis er um eine Häuserecke verschwand. Viel lieber wäre ich mit ihm gegangen, aber das war schlicht unproduktiv bei dieser Größe der Stadt.
 

Sie war wirklich verlassen. Und zwar so verlassen, als wären die Menschen, die hier gelebt hatten, von einer Sekunde auf die andere geflüchtet. Auf manchen Küchentischen standen noch die benutzten Teller, auch wenn das Essen sich inzwischen verflüchtigt oder wieder lebendig aus seinem Behältnis gewandert war. Ein paar Jahre früher hätte ich dabei wohl noch zusehen können.
 

Auch ehemalige Kleidung, die aus den Schränken herausquollen, und andere Dinge, die aus Stoff oder Leder bestanden, waren inzwischen nichts weiter als ein Haufen zerrissener Lumpen. Schade eigentlich. Es wäre schön gewesen mal wieder ein paar Kleider anzuziehen, die ich nicht schon seit Wochen trug.
 

Meine Ausbeute an scharfen Messern jedoch war recht groß. Die Familien schienen keinen Wert darauf gelegt zu haben, ihr Besteck und ihre Hackmesser auf die Flucht mitzunehmen. Ich fand auch ein paar Pistolen und Gewehre, aber da ich diese nach dem Vampirkodex sowieso nicht benutzen durfte...
 

In den Kellern fand ich einige Konserven, natürlich alle schon Jahre über dem Verfallsdatum. Aber ich öffnete eine mit einem kleinen Schnitt mit meinem Fingernagel und der Inhalt schien durchaus noch essbar. Das schrie förmlich nach einem Festmahl heute Abend, dass nicht ausschließlich aus frisch gejagtem Fleisch bestand.
 

Je näher ich dem Zentrum der Kleinstadt kam, desto größer wurde das Chaos in den Häusern. Auch die Schäden an Dächern und den Hauswänden würden zunehmend beachtlicher. Von vielen Scheiben waren nur noch Splitter übrig, die leeren Fenster schmückten noch einzelne Scherben. Die Straßenlaternen waren umgeknickt oder ganz aus ihrer Verankerung gerissen, genau wie die Ampeln und die vereinzelten Bäume an den Straßenrändern. Alles in allem sah es so aus, als wäre eine mittelgroße Bombe hier eingeschlagen, wäre nicht der Asphalt seltsam unbeschädigt gewesen, minus an den Stellen, an denen die Natur langsam ihren Weg zurück in die Stadt fand.
 

Im exakten Zentrum der Stadt war ein mit Pflastersteinen bedeckter Platz, in dessen Mitte ein großes Gebäude stand. Und wäre dieses Gebäude einer Kirche nicht absolut unähnlich, dann hätte es die Ausmaße einer Kathedrale gehabt. Es überragte die umliegenden Häuser um einige Stockwerke. Die Konstruktion bestand im Wesentlichen aus Metall und weitläufigen, verspiegelten Glasfronten, auch wenn diese große, ausgefranste Löcher aufwiesen. Das Logo über dem nicht mehr vorhandenen Eingangsportal war mir nicht bekannt, aber das war auch nicht weiter schwer.
 

Hier und um den Platz herum war die Zerstörung am massivsten. Es gab kaum Häuser mit einer intakten Außenwand, manche hatten noch nicht einmal die Hälfte ihres Dachs. Alles wies darauf hin, dass das Metall- und Glasgebäude das Zentrum war, nicht nur in der geografischen Hinsicht.
 

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich fühlte mich, als würde ich beobachtet werden. Steve war es nicht, ich kannte das Gefühl seiner Anwesenheit. Nein, etwas anderes... Mit einem Ruck drehte ich mir um. Die Straße, aus der ich gekommen war, war leer. Ebenso die Fenster der Häuser und die Türen. Nichts.
 

Eine Bewegung in meinem linken Augenwinkel ließ mich meinen Kopf drehen. Etwas Rotes verschwand in einer kleinen Seitengasse. Ein Vampyr?! Doch als ich in der Gasse ankam war auch dort nichts zu sehen. Nur ein kleiner Fetzen roten Stoffes, der immer wieder mit dem Wind hin und her wehte... Erleichtert atmete ich aus. Den Schatten über mir sah ich nicht.
 

Im Laufe der Zeit, die ich in der Stadt herumirrte, war ich immer neugieriger geworden. Was war hier passiert? Die einfachste Möglichkeit, dies herauszufinden, schien mir in der Erkundung des Gebäudes in der Mitte des Platzes zu liegen.
 

Zu meiner Enttäuschung war der Eingangsbereich gähnend leer, nur das Rezeptionspult stand noch in der Nähe des Eingangs. Auch in den oberen Stockwerken fand sich nichts außer ein paar leeren Aktenschränken, wenigen Schreibtischen und aufgequollenem Parkett. Ein Bürotrakt, aber das half mir auch nicht weiter.
 

Erst als ich den Eingang in die ganzen acht (!) Untergeschosse fand wurde es interessant. In der ganzen Stadt hatte es keine Spur von Menschen gegeben, außer den Überbleibseln ihrer Wohnstätten. Ich hatte zumindest ein paar Leichen, oder eher Skelette, vermutet, nach dem grad der Zerstörung, aber ich hatte keine gesehen. Hier unten jedoch... Hier stieß ich immer wieder auf welche, manche mit zerschmetterten Knochen, andere vollkommen unversehrt. Die meisten fand ich in der Nähe von Wänden, die mit roher Gewalt zerschmettert worden zu sein schienen. Aber auch hier gab es sonst nichts Nennenswertes zu sehen. Jemand hatte hier gründlich aufgeräumt.
 

Das einzige, dass mich davon abhielt, die Erkundung einfach aufzugeben, war das leichte Flackern der Lampen. Es gab Strom! Das war das erste Mal seit Monaten, dass wir auf Elektrizität stießen, die funktionierte. Das Lager hatte einen eigenen Generator gehabt, aber auch diesen hatten sie nur für Notfälle verwendet.
 

Im ungefähr dritten Untergeschoss stieß ich auf das erste Labor. Natürlich war auch dieses verlassen und leer, aber immerhin gab es Aufschluss darüber, was der Sinn dieses Gebäudes gewesen war. Eine Forschungsstation mitten in den Bergen. Je tiefer ich ging, auf desto mehr und größere Laborräume traf ich. Aber auch diese waren leer und verlassen (nur um es nochmal gesagt zu haben).
 

Die ersten Geräusche hörte ich im siebten Kellergeschoss. Leises Klicken auf dem harten Fußboden, manchmal ein schleifendes Geräusch, Klappern. Alles sehr dezent und mein Gehör sagte mir, dass es auch noch weiter entfernt war.
 

Ein paar Minuten später drückte ich mich neben einer der vielen Öffnungen an die Wand und schielte um die Ecke. Kleine, blasse Gestalten huschten auf dem dort liegenden Gang hin und her, manchmal mit Kisten oder anderen Gegenständen, von denen ich keine Ahnung hatte was es war, in der Hand. Ihr Ziel schien ein bestimmtes Labor schräg gegenüber von der Position zu sein, auf der ich mich gerade befand. Hier waren sie also, die Wächter des Blutes...
 

Eine große Glasscheibe erlaubte es mir, einen Blick auf das zu werfen, was sie in dem Labor taten. In der Mitte des Raums stand ein durchsichtiger Behälter, ungefähr so hoch wie ich es war, gefüllt mit einer rosafarbenen Flüssigkeit. Ein kleiner Körper schwamm darin, kleiner noch als die Wächter, zusammengerollt wie ein Kind im Bauch seiner Mutter. So etwas Ähnliches schien es auch zu sein, denn ein Schlauch (?) führte von der Wand des Gefäßes in den Körper des Wesens. Es bewegte sich nicht, nur die Wächter wuselten um das Behältnis herum. Sie schienen das, was sie dort... ausbrüteten, zu versorgen, wie auch immer sie das taten.
 

Ich löste mich von der Wand und wollte gerade einen Schritt in den Gang tun, als sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte. Reflexartig fuhr ich herum, sofort kampfbereit, nur um in das fette Grinsen eines ebenso fetten Mannes im Tweedanzug zu starren. Mr. Tiny!
 

„Hallo, mein Sohn.“ Sogar seine Stimme klang so heiter und gleichzeitig beunruhigend wie immer.
 

„Ich sehe, du hast endlich deinen Weg hierher gefunden. Du hast länger gebraucht als erwartet, aber das hast du ja schon immer.“ Eine kurze Stilleblase entstand. Die knochige Hand Mr. Tinys lag noch immer auf meiner Schulter und hinderte mich erfolgreich daran, meine unwilligen Beine von ihm weg zu bewegen. Aber mein ‚Vater’ hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, Leute vor Schock einfrieren zu lassen.
 

„Ein bisschen sauer bin ich immer noch auf dich, Sohn, dafür, dass du meine schönen Pläne mit den Vampiren und den Vampyren zunichte gemacht hast. Aber wie du siehst haben meine neuen Pläne genauso gut funktioniert.“ Der Atem stockte in meiner Kehle.
 

„Was für Pläne?“, war das einzige, was ich hervorkrächzen konnte.
 

„Aber, aber Darren! Hast du nicht gesehen, wie schön die Erde jetzt aussieht?“, tadelte er mich mit einem noch breiteren Grinsen, dass seine Zähne gefletscht wirken ließ.
 

„Ich habe meine Schöpfung der Nacht immer für die effektivere gehalten, aber die Menschen waren fast noch besser! Ein kleiner Schubs hier und ein bisschen Überredungskunst da und alles lief wie am Schnürchen. Oder hast du etwa gedacht, deine Trotzaktion damals würde die Erde retten?“ Er machte eine Wirkungspause. „Kleiner Darren, sei nicht so anmaßend. Du hast den Untergang vielleicht ein klein wenig herausgezögert, aber mehr auch nicht.“
 

„Nein...! Das kann doch nicht sein...!“
 

„Sei nicht so schockiert. Du bist der Sohn des Schicksals: mein Sohn. Niemand kann das Schiksal aufhalten.“ Endlich nahm Mr. Tiny seine Hand von meiner Schulter und tätschelte ein paar Mal meinen Kopf. Dann griff er meinen Arm am Ellenbogen, wandte sich um, und ging den Gang entlang, weg von dem Labor, mich hinterher ziehend. Dabei spracht er weiter in seiner Singsang-Stimme.
 

„Die Menschen waren wesentlich leichter zu lenken als deine Art es jemals war. Ein bisschen Starthilfe, sonst musste ich nicht viel tun. Sie haben ihren Planeten von ganz alleine zugrunde gerichtet in ihrer Gier nach Macht und Reichtum. Natürlich gab es immer wieder Stimmen, die etwas dagegen tun wollten, aber sie sind bald untergegangen oder... verschwunden.“ Inzwischen befanden wir uns im untersten Stockwerk und Mr. Tiny hatte mich losgelassen. Aus den Gängen vor uns glimmt das Licht in einer anderen Schattierung als auf den anderen Etagen, einen Tick heller und gleichzeitig irgendwie schärfer.
 

„Hier unten haben die Menschen ihren eigenen Untergang besiegelt. Sie haben Wesen geschaffen in ihrer Gier, ihrem Wahn,...“ Ein kurzes Kichern und alle Haare auf meinem Körper stellten sich auf. „Die sie nicht kontrollieren konnten und die intelligenter waren als sie selbst. Du kannst es dir denken, oder, mein Sohn?“
 

„Die Drachen...“, konnte ich nur flüstern.
 

„Genau, die Drachen. Sind es nicht beeindruckende Geschöpfe? Sie haben es geschafft, innerhalb von Jahren eine Dynastie zusammenbrechen zu lassen, die in der Steinzeit vor ungefähr 3 Millionen Jahren begann und die fast genauso lange seine Vorherrschaft behalten hat.“
 

Wir bogen um eine Ecke und vor uns tat sich ein breiter Gang auf, in dessen entfernter Wand viele Glasscheiben montiert waren. Und jede einzelne der Scheiben gab die Sicht frei auf eine mit diesem seltsamen Licht beleuchtete Zelle. Es war wie in einer Menagerie des Abnormalen und Widernatürlichen, wahrhaftig würdig einer Freakshow. Außer, dass bärtige Damen und knochige Männer oder solche mit zwei Mägen dagegen wie putzige Leute wirkten.
 

In den Zellen waren Wesen, die es nicht geben sollte, mit zu vielen Gelenken oder Gliedmaßen an den falschen Stellen, mehreren Köpfen oder verzerrten menschlichen Gesichtern.... Sie alle waren schlicht... grotesk. Die Drachen waren dagegen schon tauglich für einen Schönheitswettbewerb. Das Grotesk befand sich auch in einer der Zellen, nicht so groß, wie es einmal sein würde, aber beweglicher, und das Gift, dass es bei meinem Anblick gegen seine Zellenscheibe spuckte hinterließ einen breite Furche in dem Glas.
 

In diesem Moment fragte ich mich, ob die Fantasie eines einzelnen Mannes dazu ausreichte, sich so viele Deformationen auszudenken, oder ob Mr. Tiny tatsächlich einen Bruder haben könnte. (‚Lord Loss’ schoss es mir durch das Hirn, aber der Name verschwand, so schnell er gekommen war.) Aber das liebevolle Grinsen, das Mr. Tiny den Kreaturen zuwarf, sagte deutlich, dass das hier allein sein Werk war.
 

„Warum tun Sie das?“ sagte ich leise, ohne den Blick von den Zellen abzuwenden.
 

„Kannst du dir das nicht denken, kleiner Darren? Weil es Spaß macht natürlich! Nichts ist interessanter als das Chaos und wer mag schon Langeweile?“ Der kleine Mann seufzte. Dann drehte er sich schon fast tänzelnd zu mir herum, die Geste sehr seltsam anmutend.
 

„Aber leider sind auch mir Grenzen gesetzt, deshalb muss ich dich jetzt gehen lassen, auch wenn ich sicher noch viel Spaß mit dir haben könnte. Die Wächter würden sich sicher über ein neues Subjekt freuen.“ Seufzen.
 

„Du hast deine Sache gut gemacht bis jetzt, kleiner Darren. Um diese Stadt hier werde ich mich kümmern, aber deine Aufgabe ist noch nicht beendet.“ Das Grinsen Mr. Tinys wurde einen Tick breiter, gerade so viel, dass es bedrohlich war. „Es wird mir sicher genauso viel Spaß bereiten, euch weiter zu beobachten, Sohn.“
 

Ohne weitere Worte drehte er sich um und verschwand, ohne mir Gelegenheit zu lassen, etwas zu erwidern.
 

***
 

Ich wälzte mich auf den Stoffteilen aus denen unser ‚Bett’ bestand herum und versuchte eine Position zu finden, in der ich einschlafen können würde. Das versuchte ich schon seit Stunden, aber es wollte einfach nicht klappen. Der Mond war inzwischen wieder am Untergehen, die Sterne verblassten langsam. Man konnte die Gedanken gut wandern lassen, wenn man den Himmel beobachtete, auch wenn man es durch eine Lücke in dem Dach über einem tat.
 

Als ich aus den Kellergewölben heraus und zurück zu Steves und meinem Treffpunkt zurückgekehrt war, hatte Steve schon freudestrahlend auch mich gewartet. Vor ihm lag ein großer Haufen Konservendosen aller Art, daneben ein nicht minder großer Metalltopf, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Weiter hinten stapelten sich Aststücke und Zweige an einer Wand und warteten darauf, zu einem Lagerfeuer umgeschichtet zu werden. Falls es hier noch Menschen gegeben hätte, dann wäre ihnen bei dem Anblick eines Kochfeuers mitten auf der Straße sicher die Kinnlade heruntergefallen.
 

Das Essen selbst war eins der besten, die ich seit Wochen gehabt hatte. Es war abwechslungsreich! Das und Steves gut gelauntes Geplapper und seine Anschmiegsamkeit schafften es trotzdem nicht ganz, meine Gedanken von dem Gespräch mit Mr. Tiny wegzuholen. Zu sehr beschäftigte mich, was der alte Bast- Herr gesagt hatte. Ich gab mir nicht die Schuld daran, dass die Erde jetzt so war wie sie war. Aber bis jetzt war ich der Meinung gewesen, dass mein Tod zumindest etwas bewirkt hatte. Was nicht der Fall war. Und das traf mich dann doch irgendwo. Nur ändern konnte ich es nicht. Die Zeit, in der in etwas hätte ändern können, die Zeit, als ich die Prophezeiung noch hätte beeinflussen hätte können, war vorbei, gestorben.
 

Ich drehte mich erneut um, sodass ich mein Gesicht in Steves inzwischen langen Haaren vergraben konnte. Es roch gut, nach Steve eben. Und weich war es auch. Beruhigend.
 

Morgen würden wir weiterziehen, weg aus der Stadt, über die Berge auf die andere Seite (der Tunnel war noch in Bau), weg von Mr. Tiny, weg von diesen Gedanken und zurück zum See der Seelen. Und von dort zum Berg der Vampire.
 

***
 

Wir kamen nicht so schnell voran, wie sonst. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen mussten wir, je näher wir dem Lager kamen, auch vorsichtiger sein. Wir wussten schließlich nicht, was nach unserer Flucht dort geschehen war und wie man uns empfangen würde. Zum anderen hatten Steves Albträume, die in den letzten Wochen fast vollständig aufgehört hatten, wieder begonnen. Steve selbst schien das nicht allzu viel auszumachen, aber ich wurde täglich ein wenig müder, weil ich Nachts oft wach wurde. Es war auch bald wieder Zeit für mich, wieder einmal Blut zu trinken, auch wenn es scheinbar nur mir so ging.
 

Tatsächlich stießen wir auf einen Menschen, aber der trug weder die lagertypische Kleidung noch hatte er irgendwelche Ausrüstung dabei und nach einer gewissen Zeit der Beobachtung, in der nichts auch nur entfernt seltsames geschah, nahmen Steve und ich Kontakt auf. Er war ein netter, junger Mensch. Sein Name war Luis und er war auf der Jagd gewesen, aber leer ausgegangen. Steve und ich hatte nie Probleme mit dem Jagen gehabt, also saßen wir am Abend zu dritt um ein Feuer und aßen von unseren Vorräten. Und ein paar Stunden später, als er endlich schlief, zapfte ich ihn an. Ein leckerer Zeitgenosse^^. Nichts desto trotz trennten sich unsere Wege in Laufe des nächsten Tages, als wir die Berge verließen.
 

Im Nachhinein hätten wir uns diese Reise eigentlich sparen können, denn je näher wir dem See kamen, desto dichter wurde der Rauch, und als wir schließlich die Lichtung betraten, war vom Lager schon nichts als Asche übrig...

Kapitel 17

Kapitel 17
 

Als wir schließlich – nach fast einem ganzen Jahr – wieder zum See zurückkehrten, waren von den vielen Zelten um ihn herum nur noch Rauchsäulen und Aschehaufen übrig. An ein paar Stellen flackerten noch kleine Feuer, doch die meisten schwelten nur noch leicht vor sich hin, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
 

Ein leichter Wind ließ die dichten Rauchschwaden über dem See verschwinden und offenbarte uns das volle Ausmaß der Zerstörung. Nichts regte sich mehr, nicht einmal Insekten waren zu hören, geschweige denn menschliche Lebenszeichen. Alles war einfach nur... tot.
 

Steve sank auf die Knie. Seine Augen schwammen in Tränen und sein Gesicht war eine Maske des Schocks. Ich selbst fühlte mich... leer. Eigentlich müsste ich Trauer empfinden, oder zumindest Verlust oder Schock wie Steve. Aber da war nichts. Nur diese seltsame Leere. Wir waren zu spät gekommen. Ich hatte gewusst, dass es in der Zukunft kein Lager gegeben hatte. Aber niemals hätte ich mir sein Verschwinden so ausgemalt...
 

Wie in Trance zog ich Steve hoch und in meine Arme, verbarg sein Gesicht in meinen Kleidern. Er hatte genug verloren, er musste das hier nicht auch noch sehen. Geschwind hob ich ihn hoch und verließ die Lichtung um den See, weg von dem Rauch, weg von den Ruinen ohne zurück zu blicken. Wir konnten nichts mehr tun.
 

***
 

Eine Weile trug ich Steve, bis dieser sich wieder genug gefasst hatte, um selbst gehen zu können. Es war fast wie bei unserer ersten Flucht, nur dieses Mal aus gänzlich anderen Gründen. Und mit einem Ziel. Der letzte Halt auf dieser Reise war der Berg der Vampire.
 

Steve sprach während der ganzen Reise kein Wort, sondern schien gänzlich in seinen eigenen Gedanken zu versinken. Die Mauern, die er um sich herum aufbaute, sperrten auch mich aus. Manchmal sah er gequält aus, manchmal so traurig, dass es mich schmerzte ihn anzusehen, dann wieder so gelassen und gefasst als wäre nichts passiert. Wie als wäre er in einem Traum gefangen, oder in einem Kampf mit sich selbst. Aber egal was es bedeutete, ich war kein Teil davon. Und das tat noch mehr weh.
 

Schließlich erreichten wir die Berge. Vor hier aus war es nicht mehr so weit bis zum Berg der Vampire, nicht, wenn man wusste, wie man dorthin kam. Und auch wenn man nach der Tradition keine Abkürzungen oder Hilfsmittel benutzen durfte, so war dies doch so etwas wie ein Notfall... Ich erinnerte mich an den Tunnel, durch den ich gekommen war, als ich zum ersten Mal in der Zukunft gelandet war. Mr. Tiny hatte behauptet, er sei noch nicht fertig, aber die Höhle, in die er mündete war ein Teil des Gängesystems unter dem Berg. Das war unser Eingang. Und sie war auf der Karte verzeichnet gewesen, die ich damals am Bauch des Panters gefunden hatte.
 

In gemeinsamem Schweigen machten wir uns auf den Weg durch die Berge.
 

***
 

Die Höhle sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Eine große, moderne Küche, komplett mit Kühlschrank mit Postkarten darauf, Spülbecken, Schränken, Brotdose, Wasserkocher, Geschirr, Gläsern, Besteck und einer Uhr über dem Küchentisch, die aufgehört hatte zu ticken. In einigen von den Schränken fand ich die mir schon bekannten Dosen und Flaschen ohne Etikett, die Essen und Trinken enthielten. Ich wusste, wenn der Tunnel hierher fertiggestellt wurde, würde er hinter dem Kühlschrank enden. Einzig die Notiz von Mr. Tiny unter dem Salzstreuer auf dem Tisch fehlte noch.
 

Hier endete unsere Reise. Oder zumindest hatten wir keine weiteren Anhaltspunkte, die ein mögliches nächstes Ziel betrafen.
 

Steve hatte sich stumm auf einem der Küchenstühle niedergelassen. Er wollte immer noch nicht wieder sprechen. Ich war dazu übergegangen einfach mit ihm zu reden, ob er antwortete oder nicht, weil mich die Stille zwischen uns einfach... störte. Ich fühlte mich einfach unwohl. Steve war jetzt so lange ein Teil meines Lebens gewesen, zuerst als meine Nemesis und jetzt als der Mensch, der mir am Wichtigsten war auf diese neuen Welt. Wir würden es schaffen, zusammen.
 

***
 

Tatsächlich schien sich Steve nach ein paar Tagen wieder von dem erholt zu haben, was ihn nach dem Anblick des zerstörten Lagers so tief getroffen zu haben schien. In diesen Tagen hatte ich mich um all das gekümmert, was wir uns an Aufgaben sonst teilten, und war deshalb oft außerhalb der Küche gewesen, um zu Jagen, Wasser zu holen, manchmal auch ein paar Früchte zu sammeln. Jedes Mal, wenn ich zurückgekehrt war, hatte Steve noch an genau der selben Stelle gesessen, auf der ich ihn zuletzt gesehen hatte, meist mit einem gänzlich abwesenden Blick. Wir hatten unsere ‚Betten’ einfach auf dem Boden ausgebreitet. In einer Küche zu wohnen war sogar für mich etwas, dass ich vorher noch nicht erlebt hatte, aber es war definitiv angenehmer als auf hartem Fels oder feuchtem Boden.
 

Ich kam gerade mit einem vollen Eimer Wasser von dem kleinen Back zurück, der ein paar hundert Meter hinter der Höhle den Berg herab floss, als Steve zum ersten Mal wieder seinen Mund öffnete. Er fragte nur nach einem Glas Wasser, nichts besonderem, und trotzdem machte es mich glücklich, endlich wieder seine Stimme zu hören. Es war einfach zu leise gewesen, ohne sein dauerndes Geplapper. Und noch glücklicher war ich, als er mich festhielt, als ich ihm das Glas reichte, und mich zu sich zog.
 

„Du bist wieder für mich da... Das warst du doch immer.“, flüsterte er in meinen Nacken. Ich schloss meine Augen und sog seinen vertrauten Geruch ein. Endlich war Steve wieder bei mir! Ich bemerkte nicht, dass der Kühlschrank nicht ganz an seinem Platz stand...
 

***
 

Inzwischen war Steve schon fast wieder zu seinem normalen Selbst zurückgekehrt. Er war munter, schwatzte am laufenden Band und war so fröhlich wie eh und je. Nur noch selten trat wieder dieser abwesende Blick in seine Augen. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, das irgendetwas anders war als zuvor. Nicht, dass es nicht zu erwarten gewesen, schließlich waren all die Bindungen, die er, nachdem er aus dem See gefischt wurde, plötzlich verschwunden. Aber irgendwie schien mir das nicht die Erklärung für alles sein zu können.
 

Aber ich kam einfach nicht darauf, was es sein könnte, und ich wollte Steve nicht daran erinnern, was auch immer es war. Ich war einfach froh, dass es besser zu werden schien. Wir schliefen wieder zusammen in einem Bett, immer wieder tauschten wir kleine Berührungen, die bewiesen, dass wir mehr als nur Freunde waren, und Steve zu küssen war etwas, dass meine Laune jedes Mal auf unbekannt hohe Level heben konnte. Und ich war endlich bereit, es mir vollkommen einzugestehen: Ich liebte ihn.
 

***
 

Es war Morgen. Nicht besonders früh, aber jetzt, wo wir nicht mehr reisten mussten wir auch nicht mehr schauen, dass wir so viele Kilometer wie möglich am Tag zurücklegten. Steve lag neben mir, eines seiner Beine um mich geschlungen. Er schlief noch. Wir wohnten jetzt seit gut zwei Wochen in der Küche. Es war angenehm hier, doch auf Ewigkeit konnten wir hier auch nicht bleiben. Vielleicht sollten Steve und ich uns ein schönes Plätzchen irgendwo im Wald suchen und uns eine eigene Hütte bauen... Das wäre schön.
 

Sanft löste ich mich aus Steves Umklammerung und stieg von unserem Bett. Noch ein wenig dösig ging ich zum Spülbecken und schöpfte mit einer der Tassen ein wenig Wasser aus dem Wassereimer, oder versuchte es zumindest, der er war so gut wie leer. Ich seufzte. Dann würde ich eben zuerst zum Bach gehen. Wenigstens war die Luft jetzt noch schön frisch draußen. Langsam zog ich meine Kleider an und bewegte mich in Richtung Tür.
 

„Wohin gehst du?“, fragte Steve schläfrig. Er war also auch aufgewacht. Mit einem Lächeln kniete ich mich neben ihn auf den Fußboden.
 

„Nur kurz Wasser holen. Ich bin gleich wieder da.“ Ich beugte mich herunter und fing für einen Moment seine Lippen ein, bevor ich wieder aufstand und diesmal wirklich durch die Tür schritt. Ich warf noch einen Blick auf Steve, der sich wieder zurück in die Decke gewickelt hatte, dann schloss ich die Tür hinter mir und ging los.
 

Den Weg zum Bach kannte ich inzwischen in- und auswendig, so oft war ich ihn schon gegangen in den letzten Tagen. Also ließ ich meine Gedanken schweifen. Ich würde mit Steve über den ‚Umzug’ reden müssen. Vermutlich wäre er nicht so begeistert von der Idee, die wind- und wettergeschützte Küche hinter sich zu lassen, aber irgendwann würde Mr. Tiny uns sowieso rauswerfen. Und ich konnte wirklich darauf verzichten, diesen Bastard noch einmal zu treffen. Und ich hatte Steve noch ein anderes Geständnis zu machen...
 

Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen. Ich hatte es schon vor einer Weile realisiert, aber bis jetzt noch nicht den Mut gefunden, die Worte auch auszusprechen. Trotzdem hatte ich mir versprochen, Steve heute zu sagen, dass ich ihn liebte. Es war längst überfällig. Und ich war mir sicher, dass Steve auch so empfand.
 

Endlich am Bach angekommen hielt ich den Eimer in das kalte Wasser. Es gab viele Flüsse, die aus den Bergen kamen. Ich erinnerte mich an den einen, in den ich mich gestürzt hatte, um Kurda Smahlt, dem Verräter, und den Vampyren zu entkommen. Er war viel reißender gewesen, viel tiefer und voller spitzen Felsen... Es gab so viele Tage in meinem Leben, an denen ich hätte sterben können. Hoffentlich gab es in Zukunft keine dieser Art mehr...
 

Den vollen Eimer auf meinem Kopf balancieren zu wollen hatte schon die Wochen zuvor noch nie geklappt, also trug ich das Wasser eben einfach so zurück zur Höhle. Ich war schon gespannt, was Steve für ein Gesicht machen würde, wenn ich es ihm endlich sagen würde. Volle Vorfreude malte ich mir im Geiste seine Reaktionen aus. Vielleicht würde er überrascht sein, oder vielleicht würde er sich mir in die Arme werfen, oder vielleicht...
 

Ich öffnete die Tür und trat wieder in die Küche.
 

„Steve, ich bin-“ Mein Worte blieben mir im Hals stecken. Rote Haare, rote Haut, rote Fingernägel, alles war rot! Die Gestalt fuhr herum. Ich ließ den Eimer fallen und duckte mich so schnell ich konnte. Das Messer blieb zittern an der Stelle der Tür stecken, wo sich vorher noch mein Kopf befunden hatte. Ein Vampyr! Und nicht irgendeiner. Es war Gannen Harst, Vanchas Bruder!
 

„Immernoch so flink wie ein Wiesel, was, Darren?“ Gannens Stimme tropfte nur so vor Spott.
 

„Wo ist Steve?“, zischte ich. Hoffentlich war Steve nichts passiert!
 

„Mir geht es gut.“ Steve trat hinter Gannen hervor, ein Lächeln im Gesicht. Ich starrte ihn an. Wie konnte Steve so ruhig sein?! Wir wurden gerade angegriffen! Ich machte einen Schritt nach vorne, auf ihn zu. Ein scharfer Schmerz ließ mich zu meiner rechten Schulter blicken. Ein zweites Messer steckte darin. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie Gannen es geworfen hatte.
 

„Gannen, tu ihm nicht zu sehr weh, ja? Ich möchte mich noch ein wenig mit ihm unterhalten.“ Steve legte eine Hand auf Gannens Arm.
 

„Steve? Was...?“ Ich konnte nicht begreifen, was gerade geschah. Warum war Steve so ruhig und warum sprach er mit einem Vampyr, als ob sie sich... Sie kannten sich. Steve hatte seinen Namen gekannt!
 

„Aber Darren, verstehst du es immer noch nicht?“ Er seufzte und schüttelte seinen Kopf. „Gannen würde mir nie etwas tun. Er war doch schon immer mein persönlicher Leibwächter. Du hingegen... du hast mich belogen.“ Ein verachtender Blick traf mich. In diesem Moment war nichts mehr von dem Steve übrig, den ich im letzten Jahr kennen gelernt hatte.
 

„Aber so ist es nun mal, wenn man der Person vertraut, die einen verraten hat, nicht wahr? Sie verrät einen wieder, und wieder und am Ende bringt sie einen um. So wie du mich verraten und umgebracht hast, stimmts Darren?“
 

„Nein...“, flüsterte ich. Das konnte nicht wahr sein!
 

„Ich habe es geträumt, alles, was du mir angetan hast! Die ganzen Albträume, sie waren alle wahr! Und du! Du hast alles gewusst! Und nie hast du auch nur ein Wort gesagt! Du hast mich schon wieder belogen, die ganze Zeit über!“ Er stand jetzt direkt vor mir, seine wütenden Augen in meine gebohrt. Doch auf einmal wurde seine Stimme sanft, so wie ich sie von ihm gewohnt gewesen war.
 

„Oder wolltest du mich nur beschützen? Den armen, kleinen Stevie, der sich an nichts mehr erinnern konnte?“ Das hatte ich gewollt. Dass er den Schmerz seine Vergangenheit nicht mehr spüren musste. Steve legte eine Hand an meine Wange und strich leicht darüber.
 

„Hast du wirklich gedacht, ich würde dich lieben?“, fragte er liebevoll, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Dann kehrte die wütende Maske zurück.
 

„Hast du vergessen, dass wir Brüder sind?! War ich so gut, dass du nicht anders konntest, als es immer wieder mit mir zu tun?! Oder hast du dich etwa in mich verliebt, kleiner Darren?“ Steve lachte hämisch auf.
 

„Ja, das würde zu dir passen! Du hast noch nie die Realität gesehen, sondern immer nur dich selbst! Genauso wie du erst meinen Traum gestohlen hast, meine Mission und dann auch noch mein Leben, alles dafür, dass du das bekommst, was du willst. Es geht immer nur um dich!!! Ich hasse dich!“ Mit einem Blick grausamer Verachtung drehte er sich zu Gannen um.
 

„Mach ihn fertig, aber bring ihn nicht um. Er soll ruhig noch eine Weile leiden, bevor er sein wertloses Leben endlich aushaucht und endlich von dieser Welt verschwindet.“ Ohne weitere Worte, ohne noch einen einzigen Blick zurück zu werfen, schob Steve den Kühlschrank zur Seite, trat in den Tunnel, der sich dahinter auftat, und verschwand in der Dunkelheit.
 

Ich wehrte mich nicht, als Gannen auf mich zu kam. Es hatte keinen Sinn. Ich war verletzt. Steve hatte genau das erreicht, was er schon immer haben wollte. Mich töten. Das hatte er geschafft. Ich fühlte mich so tot, dass ich nichts weiter wollte, als zu sterben. Nicht mehr zu leben. Endlich gehen zu dürfen... Es tat so weh! Kein körperlicher Schmerz könnte mich jemals so tief treffen, wie er es getan hatte. Es war mir egal, wie oft mich Gannens Schläge trafen, egal, wie oft seine Messer sich in mein Fleisch bohrten und mein Blut auf dem Boden verteilten. Es war einfach egal. Und dann kam die Dunkelheit...
 

***
 

Mir tat jeder Knochen im Leib weh. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Schon bei einem normalen Atemzug schossen mir weißglühende Blitze durch sämtliche Nervenbahnen. Das war schon das dritte Mal, dass ich aufgewacht war, und noch immer fühlte ich mich, als hätte man mich durch einen sehr fein mahlenden Fleischwolf gedreht.
 

Ich war nicht gestorben, genau wie Steve es verlangt hatte. Nicht einmal das hatte er mir gegönnt. Stattdessen hatte Gannen mich einfach liegen gelassen. Zu schwach, um mich zu bewegen. Mein Hals brannte vor Durst – ich konnte nicht einmal sagen, ob es Durst nach Wasser oder Durst nach Blut war. Vermutlich beides, so schwer, wie ich verwundet war. Ich wollte einfach nur noch schlafen und nie wieder aufwachen... Wenigstens wusste ich jetzt, warum Mr. Tiny gemeint hatte, es würde ihm noch Spaß machen, mich weiter zu beobachten. Wenn es nach ihm ging, dann würde sich die ganze Welt vor Schmerzen winden.
 

„Darren? Oh mein Gott, Darren?! Was ist hier passiert?!“ Eine bekannte Stimme hielt mich effektiv vom Einschlafen ab. Jemand tastete nach meinem Hals und stieß dann erleichtern Luft aus.
 

„Du lebst noch! Trotz dem ganzen Blut hier...“ Als ob mich so ein bisschen Blutverlust umbringen würde. Lautes Rascheln drang an meine Ohren. Es interessiert mich nicht wirklich, was dieser Jemand gerade tat, aber konnte er es nicht leiser tun? Dann merkte ich, dass es kein Rascheln, sondern eher ein Rauschen war, das immer lauter wurde. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis ich wieder in Ohnmacht gefallen war.
 

***
 

Ich sitze am Fluss. Es hatte lange gedauert, bis Luis mich wieder soweit aufgepäppelt hatte, aber ich war nicht umsonst ein Vampir. Ein paar Mal hatte ich ihn heimlich angezapft, von da an war meine ‚Wunderheilung’ noch einiges schneller vorangeschritten, als es bei einem Menschen jemals möglich war. Trotzdem hatte ich mehr als drei Wochen auf dem Krankenbett verbracht, ständig überwacht und umsorgt von dem jungen Mann, den wir Wochen zuvor im Wald getroffen hatten.
 

Vor mir liegen alle Sachen, die ich während unserer Reise bei mir gehabt hatte. Ich habe beschlossen, mit alldem abzuschließen. Nie wieder an IHN zu denken. Das tut immer noch zu sehr weh. Ich werde alles verbrennen, was mich noch mit ihm verbindet. Meine Kleider, meine Tagebücher, alles...
 

Ein Neubeginn. Das ist es, was ich brauche. Ich muss alles vergessen. Deshalb werde ich alles verbrennen. Das hier sind die letzten Worte, die ich jemals in mein Tagebuch schreiben werden.
 

„Darren, kommst du? Wir sollten langsam los, sonst wird es zu dunkel!“ Luis ruft mich. Er weiß nicht, was ich bin. Er wird mich mitnehmen zu seinen Leuten. Wie gesagt, ein vollkommener Neuanfang.
 

Darren stand auf, nahm die Fackel in die Hand, die bis jetzt neben ihm im Boden gesteckt hatte, und ließ sie auf den Haufen fallen, den seine ganzen Habseligkeiten bildeten. Das Papier fing zuerst Feuer, dann das Leder, dann alles andere... Stumm wandte er sich ab. Es war vorbei...
 

***
 

Sieben Jahre später...



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tooru
2012-02-06T21:03:49+00:00 06.02.2012 22:03
Ohhh T.T
Ich wünsch mir ein wiedersehen zwischen den Beiden und dass Steve doch noch seinen Hass überwindet
Von:  Tooru
2012-02-06T19:48:50+00:00 06.02.2012 20:48
Ich find es toll, wie du den Panther mit einbezogen hast ^^


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