Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 34: 34. Kapitel ----------------------- Während sie aus der Stadt hinausfuhren, veranstaltete er für Amanda so eine Art Reiseführung. Er zeigte ihr die Schule, die er besucht hatte, das Restaurant, wo er in den Sommerferien immer gejobbt hatte, wenn er einmal von der Farmarbeit befreit war, um sich noch etwas zusätzlich zu verdienen. Auch die einen oder anderen Geheimtipps zum Spaß haben, konnte er ihr ausführlich schildern. Was das anging, hatte Nataniel wirklich nie etwas anbrennen lassen. Er war ständig mit seinen Freunden in der Gegend herumgezogen, hatte Blödsinn angestellt und gehörte dennoch zu der Sorte, die meistens ihre Hausaufgaben gemacht und ihren Eltern gehorcht hatten. Er war immer fleißig gewesen, was die Arbeit auf der Ranch anging, da er schon von klein auf die nötigen Energien und die Stärke mitgebracht hatte. Nataniel hatte keine Scheu, Amanda all das zu erzählen. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, wie es für sie sein musste, ohne die Dinge aufzuwachsen, die für ihn ganz selbstverständlich waren. Was die ganz schön wilden Abenteuer mit einigen Frauen in dieser Stadt anging, verschwieg er Amanda eigentlich alles. Nicht etwa, weil er Angst hatte, sie könne es ihm übelnehmen oder wäre gekränkt deswegen, sondern weil es einfach absolut nicht mehr wichtig war. Sie war nun sein Abenteuer und das hoffentlich für immer. Amanda mochte vielleicht keine Krallen und Reißzähne haben, aber dafür besaß sie Eigenschaften, die seine Verflossenen nie haben würden. Noch während sie auf einer endlos lang wirkenden Straße geradeaus fuhren, zeigte er ihr die vom Weiten sichtbaren, mit Wäldern bewachsenen Hügel und Felder, die bereits zum Besitz seiner Pflegeeltern gehörten. Es waren unglaublich viele Hektar und noch dazu wunderschönes, fruchtbares Land. Sie fuhren über eine Brücke, unter der sich ein kleiner Fluss immer wieder durch die Landschaft schlängelte und auch am Haus seiner Pflegeeltern vorbei floss, was Amanda natürlich noch nicht wissen konnte. Ab und zu sah man große Rinderherden auf den Weiden grasen, aber natürlich waren das noch lange nicht alle. Als sie schließlich an einer großen Pferdekoppel vorbei und durch eine Baumallee hindurchfuhren, erreichten sie das große, zwischen mehreren Kiefern stehende Holzhaus. Ein gutes Stück entfernt und durch den Fluss getrennt, stand der große Pferdestall. Die Rinder waren grundsätzlich immer nur auf den Weiden und brauchten somit kein Dach über dem Kopf. Hinter dem Haus erstreckten sich die Obstgärten mit den alten, dennoch mit köstlichen Früchten behangenen Bäumen. Auch der große Gemüsegarten lag hinter dem Haus und dahinter erstreckte sich ein riesiger Wald, in dem Nataniel schon oft in seiner tierischen Gestalt durch die Gegend gestrichen war. Von der großen Kieseinfahrt ging gegenüber dem Pferdestall ein kleiner Pfad ein Stück durch den Wald entlang. Dort lag Nataniels kleines Reich. Es war eine kleine Blockhütte, nicht einmal annähernd so groß, wie das Haupthaus, aber er lebte schon seit seinem neunzehnten Lebensjahr dort. Weshalb er auch niemals behauptet hätte, bei seinen Eltern zu wohnen. Früher war das eine Unterkunft für Sommerarbeiter gewesen, aber seit er mithalf, waren die meisten von ihnen überflüssig geworden. Schließlich parkte er den Wagen vor dem gut gepflegten Familienhaus, mit den vielen bunten Blumen vor den Fenstern und stellte den Motor ab. Sofort kamen Tiffany und Claire bellend angelaufen. Wie immer waren die zwei Border Collies lauter als gefährlich. Aber darum ging es auch. Sie waren zuverlässige Wachhunde. Mehr als anschlagen brauchten sie auch nicht, den Rest übernahm grundsätzlich die Familie, falls jemand Ärger machen wollte oder sich heimlich anschlich. Sie waren bestimmt die einzige Ranch in der Gegend, die behaupten konnten, dass weder wilde Hunde, noch Bären ihr Vieh gerissen hatte, was wieder deutlich zeigte, was für Vorteile so ein Gestaltwandlerleben mit sich brachte. Kaum, dass Nataniel die Tür des Wagens geöffnet und sich von den Hündinnen ausgiebig begrüßen hatte lassen, wurde auch schon die antike Holztür zum Haus aufgerissen und ein kleiner zehnjähriger Junge mit hellbraunen Haaren und goldenen Augen kam herausgerannt. „Groooooßer Bruuuuder!“, schrie Kyle vor Freude strahlend, als er sich auch schon gewandt wie eine Katze vom Boden abstieß und sich Nataniel in die Arme warf, um wie ein Äffchen an ihm hängen zu bleiben, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Nataniel musste sich in diesem Augenblick einen gewaltigen Schmerzenslaut verkneifen, aber er wollte seinen kleinen Bruder nicht beunruhigen. Weshalb er Sven im Geiste noch einmal für die Lederjacke dankte, die den Sprung etwas gedämpft hatte. Er unterdrückte den Schmerz, so gut es ging, ehe Nataniel seine Arme um den schlaksigen Körper schlang und somit etwas seine Schulter entlastete. „Na, alles klar bei dir?“ Kyle ließ ihn wieder los und grinste ihn überglücklich an. Der Kleine hatte schon immer sehr an ihm gehangen. Wortwörtlich. „Du bist schon wieder gewachsen. Sag Mom, sie soll dich nicht mit so viel Kraftfutter vollstopfen, sonst machst du mir bald noch Konkurrenz.“ Nataniel wuschelte seinem kleinen Bruder durch die Haare, der sich über die Worte seines großen Bruders freute und sich das breite Grinsen dabei gar nicht mehr verkneifen konnte. „Wo bist du so lange gewesen?“, wollte der Kleine aus großen Augen wissen, ehe dieser Amanda bemerkte. Doch bevor Nataniel seiner Gefährtin Kyle vorstellen konnte, kam auch schon ein großgewachsener, muskulöser Mann mit demselben honigfarbenem Haar wie Kyle über die Brücke geritten und brachte den fuchsbraunen Wallach mit einem leichten Schenkeldruck vor ihnen zum Stehen. „Dad“, begrüßte Nataniel seinen Vater nun etwas ernster, denn auch dessen Miene war alles andere als freundlich, als er sich leichthin vom Rücken des großen Tiers schwang und direkt auf seinen Sohn zustürmte, als wäre er eine Dampfwalze auf Kollisionskurs. Doch anstatt gewalttätig zu werden, was man anhand des Gesichtsausdrucks eigentlich vermuten hätte müssen, nahm er seinen Sohn herzlich an die Brust. Herzlich ging bei Gestaltwandler auch meistens mit kräftig einher, weshalb Nataniel nun wirklich ein „Autsch“ nicht mehr unterdrücken konnte. Sofort ließ sein Dad ihn wieder los. Prüfend sah dieser ihn an, fischte ihm die schwarzen Stirnfransen aus dem Gesicht, um die neue Narbe über Nataniels Auge besser sehen zu können. Mehr brauchte er auch nicht zu wissen. „Darüber reden wir später noch“, versprach sein Dad ihm, begann aber nun warm zu lächeln und drückte ihn daraufhin noch einmal. Dieses Mal jedoch ganz vorsichtig. „Ich bin froh, dass du endlich wieder da bist, mein Sohn. Deine Mutter hat mir die Hölle heißgemacht!“ „Das habe ich dann ja wohl auch zurecht. Wie du aussiehst, Nataniel! Mit wem hast du dich jetzt schon wieder geprügelt? Ich wusste doch, dass du und dein Vater etwas vor mir verheimlichen. Konntest du nicht wenigstens einmal anrufen?“ Der sanfte, aber zugleich besorgte Tonfall seiner Mutter ließ ihn sich umdrehen. Sie stand groß und schlank im Türrahmen. Ihr Haar war zu einem langen Zopf bis zu ihrem Hintern geflochten. Sie trug ein weißes Leinenkleid, das hervorragend zu der Bräune ihrer Haut passte und in ihren Armen hielt sie ein kleines Berglöwenbaby. Lucy hatte es also tatsächlich geschafft, sich endlich das erste Mal zu verwandeln. Anstatt groß auf die Worte seiner Mutter einzugehen, kam er auf sie zugeeilt und schloss sie sanft in seine Arme. „Tut mir leid, Mom.“ Wie immer schien sie klein und zerbrechlich in seinen Armen. Auch ihr Haar war wie goldbrauner Honig, aber das war nicht das einzige Merkmal, durch das er sich deutlich von seinen Pflegeeltern unterschied. Er war auch um einiges größer und kräftiger. Aber das hatte hier noch niemanden gestört. Die Schultern seiner Mutter bebten, doch als er sich wieder von ihr löste, hatte sie gerade die Träne weggewischt, die sich davonstehlen wollte. Weshalb sie ihm auch einen kleinen Klaps auf die Schulter gab. „Wehe, du bleibst noch einmal so lange weg, ohne dich zu melden“, drohte sie liebevoll, während ihre Finger das kleine schnurrende Knäuel in ihren Armen kraulte. An Nataniel vorbei erspähte sie Amanda. „Nanu? Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte sie neugierig und mit einem gewissen Lächeln, weil Nataniel noch nie Frauenbesuch mit nach Hause gebracht hatte. „Oh.“ Nataniel zuckte zusammen. Bei dem ganzen Andrang hatte er Amanda doch tatsächlich einen Moment lang vergessen. Was er sofort damit wieder gut machte, dass er zu ihr ging und einen Arm um sie legte, um noch deutlicher zu machen, wie sehr sie zusammengehörten. Leider war der Geruch an ihr nur sehr schwach, aber seine Familie hatte auch Augen im Kopf. Das Strahlen in Nataniels Augen konnte sie nicht übersehen, als er Amanda jedem einzeln vorstellte. „Das ist meine Mom Mary. Das kleine Schnurrmonster in ihrem Arm ist meine Schwester Lucy.“ Seine Mutter nickte Amanda lächelnd zu. „Der stramme Bursche hier heißt Kyle.“ Kyle grinste Amanda an. „Hi.“ „Zu guter Letzt das Familienoberhaupt – Steve. Und das hier ist Amanda – meine Gefährtin.“ Ein merklicher Ruck ging durch die Körper seiner Eltern. Sein kleiner Bruder Kyle wusste noch nicht genau, was das heißen sollte und Lucy war ohnehin gerade damit beschäftigt, ihre Pfote zu lecken. Weshalb es sie noch weniger kümmerte. Sein Vater wusste wohl nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Immerhin wussten die Anwesenden auf den ersten Atemzug, dass Amanda ein Mensch war. Aber bei seinem Vater kam hinzu, dass er auch noch mehr Hintergrundinformationen über Nataniels Verbleib hatte als der Rest seiner Familie. Das machte ihn gleich automatisch noch skeptischer. Dennoch ging er zu Amanda und reichte ihr seine große Hand, während er freundlich lächelte. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ „Mich ebenfalls“, mischte sich Nataniels Mom mit ein und auch sie reichte Amanda die Hand. „Ihr beiden seht müde aus. Wollt ihr euch vielleicht etwas ausruhen, oder vorher lieber etwas essen? Nataniel, du hast eindeutig ein paar Kilo verloren. Ich weiß wirklich nicht, was du angestellt hast, aber wenigstens das lässt sich schnell wieder ändern.“ Wie auf Stichwort meldete sich bei ihm auch schon der Hunger, was seiner Mutter natürlich nicht entgangen war. „Na kommt rein ihr beiden. Das Essen ist gleich fertig. Kyle, deck schon mal den Tisch, während dein Vater das Pferd in den Stall bringt, und wascht euch die Hände vor dem Essen.“   Die Landschaft, durch die sie eine Weile gefahren waren und die Nataniel, als das Land seiner Familie auswies, war wirklich wunderschön. Es wunderte Amanda nicht im Geringsten, dass er hier glücklich aufgewachsen war. Mit so viel Platz und frischer Luft konnte es einem Kind doch nur gut gehen. Als sie vor dem Haus seiner Eltern hielten und die Hunde an den schwarzen Wagen heran gerannt kamen, zog sich Amanda so gut sie konnte von der Bildfläche zurück. Das wurde ihr keine Sekunde später noch durch den Jungen erleichtert, der aus dem Haus gerannt kam, um Nataniel überschwänglich zu begrüßen und ihn anzuspringen. Bei Nataniels kurzem Zusammenzucken machte Amanda reflexartig einen Schritt nach vorne, doch sie brauchte ihn nicht zu stützen. Schon jetzt konnte sie sehen, wie gut es ihm tat, zu Hause zu sein. Offensichtlich hatte er seine Begleiterin schon vollkommen vergessen, denn er stellte sie seinem kleinen Bruder nicht vor. Das konnte allerdings auch an dem Mann liegen, der soeben zu der Willkommensszene gestoßen war. Was Amanda sofort auffiel, war das Gespür und die Verbundenheit des Reiters zu seinem Pferd. Es sah so aus, als brauche der Mann seinem Reittier nur mit einem winzigen Druck seines Beins zu befehlen, stehenzubleiben. Nataniels Pflegevater war zwar ein Stück kleiner, aber trotzdem noch beeindruckend groß und vor allem nicht weniger breitschultrig als sein Sohn. Außerdem strahlte er eine gewisse Lebenserfahrung aus, die ihn härter erscheinen lassen konnte und die Nataniel noch fehlte. Der Mann gefiel Amanda sofort. Auch deshalb, weil sie wusste, dass er ihr einen Heidenrespekt würde einflößen können, wenn er es denn wollte. So eine Vaterfigur wünschte sich wohl jedes Kind. Außerdem war Nataniel anscheinend auch noch mit dem Bild einer Mutter gesegnet, die gerade mit einem kleinen Kätzchen auf dem Arm aus dem Haus kam. Ihre Stimme war warm und samtig und stellte fast das Gegenteil zu dem etwas rauen Bass von Nataniels Vater dar. Überhaupt schien Nataniels Mutter von feiner Art zu sein, wobei sie aber auf keinen Fall zerbrechlich wirkte. Sie war auf eine natürliche Weise schön und strahlte gleichzeitig sehr viel Kraft aus. Amanda ließ ihren Blick einmal über die versammelte Familie und Nataniel in deren Mitte schweifen und lächelte. Ja, hier gehörte er hin. Es war seltsam so etwas aus ihrer Position zu sehen, als jemand, der seine eigene Familie früh verloren hatte und der Elternersatz für einen kleinen Bruder hatte sein müssen. Es war einfach so ... perfekt. Fast fühlte sich Amanda von dem warmen Gefühl, das die Familie zwischen einander verströmte und der Willkommensfreude richtig wohl. Das verflüchtigte sich allerdings schlagartig, als Amanda die Reaktion von Nataniels Eltern sah. Ihr selbst war nicht sehr wohl dabei, dass Nataniel sie gerade seine 'Gefährtin' genannt hatte. Hatte er ihr nicht beschrieben, was es mit dieser Bezeichnung auf sich hatte? Das kam einer menschlichen Ehe gleich und jetzt lernte Amanda ihre Schwiegereltern kennen. Und die waren unverkennbar nicht gerade begeistert. Amanda fühlte richtig, wie ihr Lächeln gleichzeitig mit ihrer Haut erblasste. Ihr Fluchtinstinkt schlug so intensiv hoch, dass es bloß gut war, dass Nataniel seinen Arm um sie gelegt hatte. Außerdem hatte er die Autoschlüssel. Amanda konnte den Wagen aber kurzschließen ... Erstaunt schüttelte Amanda die große, kräftige Hand von Nataniels Vater, die seiner Mutter und dann noch die seines kleinen Bruders, bevor sie von Nataniel ins Haus geschoben wurde. Drinnen war es angenehm kühl und gemütlich eingerichtet. Sobald man das Haus betrat, stand man in einem großen Raum, an dessen Wänden Bücherregale standen und auch ein relativ alt wirkendes Klavier. Außerdem gab es zwei nicht zueinander passende Sessel und eine große Couch. Alles um einen kleinen Tisch gruppiert, der aus einem riesigen Baumstamm geschnitzt und dann poliert worden war. Amanda sah sich um und versuchte so gelassen zu wirken, wie sie konnte. Natürlich misslang die Aktion, als ihr wieder bewusst wurde, dass jeder Anwesende genau riechen konnte, wie nervös sie war. Das brachte Amanda nur noch mehr ins Schwitzen. Gerade hier, in den vier Wänden von Nataniels Familie, kam sie sich wieder einmal wie ein schwacher Mensch vor. Gefährtin?! Seine Eltern würden Nataniel diese Dummheit schon ausreden, und wenn nicht bald etwas passierte, das ihr die Panik nahm, würde Amanda sie dabei noch tatkräftig unterstützen. „Möchten Sie vielleicht was trinken, Amanda?“ Nataniels Mutter stand hinter der Küchenzeile, die hinter einer offenen Theke an das Wohnzimmer anschloss, und lächelte warm. „Ja, Wasser wäre gut, danke.“ Amanda beobachtete bewundernd, wie die Frau Wasser aus einem Krug in mehrere Gläser schüttete, ohne das Berglöwenbaby in ihrem Arm dabei zu stören oder gar fallenzulassen. Denn die kleine Lucy war anscheinend gerade richtig aufgewacht und regte sich spielerisch in der schützenden Umarmung ihrer Mutter. Um sich nicht bedienen zu lassen, kam Amanda Mary entgegen und nahm ihr das Glas ab. Dabei wanderte ihr Blick automatisch auf Nataniels kleine Schwester. Das Schmusekätzchen blickte Amanda mit riesigen Augen entgegen und rührte sich kein Bisschen. Vielleicht machte ihr der Menschengeruch Angst. Immerhin war sie bestimmt noch nie mit einem Menschen in Kontakt gekommen. Vielleicht machte Amanda einen großen Fehler, aber es geschah ganz automatisch, dass sie ihre Finger langsam zu Lucys Schnauze ausstreckte, um die Kleine daran riechen zu lassen. Das tat diese auch sehr ausgiebig, bis sie blitzschnell ihre kleinen Pfoten um Amandas Hand schlang und einmal in ihre Hand biss. Es war nicht fest und zwickte nur leicht. Amanda vermied es, ihre Hand zurückzuziehen, weil sie Lucy nicht noch mehr erschrecken wollte, und wurde im nächsten Moment dafür belohnt. Der kleine Berglöwe schnurrte mit neu erwachtem Enthusiasmus los und leckte über die Stelle, in die sie gerade gebissen hatte. Na, wenn das Amanda nicht bekannt vorkam. Ein breites Lächeln kam auf ihr Gesicht und sie stupste an Lucys Nase, bevor sie sich ihrem Klammergriff entwand. Kyle war bereits mit Tischdecken fertig, was Amandas Magen auf den Plan rief. Sie hatten zwar spät gefrühstückt, aber es war für ihren ausgehungerten Körper anscheinend nicht genug gewesen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Mary?“ Nataniels Mutter lächelte und drückte ihrem Mann das Baby in den Arm, bevor sie sich daran machte, riesige Mengen Essen aus dem Kühlschrank auf Servierplatten zu häufen. Amanda wurde nur dazu abgestellt, das Ganze dann zum Tisch zu tragen und irgendwo einen Platz dafür zu finden. Nachdem das gemeistert war, versammelten sich alle und nahmen an dem großen Holztisch Platz. Erst jetzt, da die Blicke aller wieder auf Nataniel und ihr ruhten, wurde Amanda wieder nervös. Am liebsten hätte sie unter dem Tisch seine Hand genommen, aber das kam ihr kindisch und albern vor. Trotzdem tat Amanda es nur deshalb nicht, weil sie vor Nataniels Eltern nicht das Bild des schwachen Menschen bestätigen wollte. Gott, sie kam sich wirklich vor, wie auf dem Prüfstand. Was musste sie sich auch nicht nur irgendeinen Wandler, sondern auch noch ein Alphatier aussuchen? Amandas Blick wanderte kurz zu Nataniels Gesicht und sofort wusste sie wieder warum. Sie lächelte und ihr Herz schlug eine Spur schneller.   Nataniel ließ Amanda keine Sekunde aus den Augen, während er seinem kleinen Bruder beim Tischdecken half. Natürlich bekam er wie alle anderen mit, wie nervös sie war. Doch das war nur zu verständlich, weshalb auch niemand etwas sagte. Was das anging, konnte er sich voll und ganz auf seine Eltern verlassen. Das wäre nicht das erste Mal, dass sie mit einem Menschen zu tun hätten, und würde auch sicherlich nicht das letzte Mal sein. Denn zu ihrer Überlebensstrategie gehörte es nun einmal dazu, sich anzupassen und einfach zu versuchen, so menschlich zu wirken, wie nur möglich. Weshalb es Kyle auch verboten war, sich im Haus zu verwandeln, oder irgendwo draußen, wo ihn schnell jemand entdecken könnte. Lucy war da die Ausnahme. Sie konnte es noch nicht kontrollieren. Aber sollte wirklich einmal menschlicher Besuch eintreffen, der keinerlei Ahnung von der Existenz von Gestaltwandlern hatte, würde sie einfach derweil in ihrem Bettchen bleiben müssen. Apropos, seine kleine Schwester schien Amanda ausnehmend gern zu haben. Sie hatte sie schon auf ihre Weise markiert, was doch wohl nur als ein gutes Zeichen zu werten war. Allerdings erinnerte es Nataniel daran, dass seine Eltern ihm wohl nicht wirklich vollkommen zu glauben schienen, was die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle für Amanda anging. Sie roch zwar nach ihm, aber eben nur so, wie jeder andere Mensch nach ihm riechen würde, den er ein paar Mal mehr angefasst hatte. Ganz anders als die Bindung zwischen seinen Eltern. Der Duft der beiden war meistens immer sehr deutlich als das anzusehen, was er bedeutete. Nämlich, dass sie zusammengehörten. Noch etwas, was Nataniel Amanda noch nicht erzählt hatte. In den 'Ehen' von Gestaltwandlern ließ der Sex mit der Zeit nicht nach, sondern kam in den meisten Fällen sogar noch erhöhter vor als vor einer Bindung. Natürlich spielte dabei auch das Alter mit der Zeit eine Rolle, aber wenn jemand noch so jung war wie seine Pflegeeltern, konnte man in keinem Haus mit dünnen Wänden leben. Man bekäme fast jede Nacht etwas zu hören, nicht selten auch am Tag. Als sie schließlich alle am Tisch saßen und für gewöhnlich nun die heiklen Fragen gestellt wurden, welche die Betroffenen am liebsten vermeiden würden, war Nataniel dankbarer denn je, dass er hier nicht mit einer normalen Familie am Tisch saß. Denn natürlich wurden Fragen gestellt, aber da seine Eltern und zu einem gewissen Grad auch sein Bruder sehr deutlich spürten, dass es da Dinge gab, über die Nataniel im Moment nicht reden wollte, waren es leichte Fragen. Zum Beispiel: Wie die Fahrt hierher so war? Wie lange Nataniel und Amanda sich schon kannten? Ob ihr die Gegend gefiel? Im Gegenzug versuchte Nataniel auch den Frageschwall zu unterbinden, in dem er seine Mom über Lucys Entwicklung ausfragte. Offenbar verwandelte sich seine Schwester nun alle paar Tage in die jeweils andere Gestalt zurück, was seine Mutter etwas nervte, weil sie dann immer die Milchpumpe verwenden musste, wenn Lucy mal wieder scharfe Zähnchen besaß und seine Mutter nicht einsah, sich zum Stillen ebenfalls in ein Tier zu verwandeln. Immerhin wollte sie seine Schwester nicht zu sehr verwöhnen. Gerade in diesem heiklen Alter musste die Verwandlung immer wieder angeregt werden, weil die Kinder sonst versucht waren, dem Schmerz dadurch zu entgehen, dass sie einfach nicht mehr die Gestalt wechselten. Doch je öfter sie es taten, umso leichter wurde es. Lernen war eben nicht immer einfach. „Ich hab vor einer Woche ganz alleine zwei Bisamratten erlegt!“, verkündete Kyle seinem Bruder stolz zwischen kaltem Roastbeef und einem Bissen Kartoffelpüree. Daraufhin musste Nataniel natürlich in das Gespräch einhaken und sich die näheren Details erzählen lassen, auch wenn sie ihn in Wahrheit nicht so sehr interessierten. Aber er hatte seinen kleinen Bruder lange nicht mehr gesehen, weshalb er froh war, dem unermüdlichen Redeschwall wieder einmal zuhören zu können. Während also Kyle mit reden beschäftigt war, versuchte Nataniel das Auftreten seiner Familie aus fremden Augen zu sehen. Ihm fiel auf, wie oft sie sich gegenseitig berührten. Kyle zum Beispiel strich ihm immer wieder über den Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Vater saß sogar Schulter an Schulter mit seiner Mutter, während jeder der beiden verschiedene Speisen auf dem Teller hatte und damit den jeweils anderen Partner fütterte, als wäre es das natürlichste der Welt. Ab und zu kicherten seine Eltern über ein paar zugeflüsterten Zärtlichkeiten, woraufhin verliebte Blicke folgten, ehe sie sich wieder vollkommen auf Nataniel konzentrierten und ihm und Amanda ein warmherziges Lächeln schenkten. Auch wenn er in den Augen seiner Mutter sehen konnte, dass ihr nicht entgangen war, wie viel Abstand zwischen ihm und Amanda bestand und dass er sie weder fütterte, noch sonst irgendwie berührte. Es war nicht so, dass Nataniel nicht wollte. Gerne hätte er sie sogar auf seinen Schoß gezogen, um ihr kleine Leckerbissen zwischen die Lippen zu schieben. Aber sie war ein Mensch. Er wusste nicht, wie weit sie mit so etwas klarkam, weshalb er nichts anderes tun konnte, als seinen Blick immer wieder zu ihr schweifen zu lassen, sie anzusehen und ihr ein Lächeln zu schenken, als gehöre sie alleine zu seiner ganz persönlichen Welt. Irgendwann, als sie es schadlos bis zum Dessert geschafft hatten, fing Lucy in ihrer Wiege zu jammern an. Erst war es nur ein Fiebsen, dann ein Wimmern und schließlich weinte sie aus vollem Leibe mit der Stimme eines Babys. „Oh, oh. Da hat sich wohl wieder jemand verwandelt“, meinte Nataniels Mutter leichthin. „Jetzt kann ich ihr wenigstens wieder Windeln anlegen.“ Gerade als sie aufstehen wollte, nutzte Nataniel die Chance um Amanda und sich von noch möglichen unangenehmen Gesprächen zu befreien. Wenn er über alles reden wollte, dann bitte alleine. Amanda musste nicht von allem etwas mitbekommen, außerdem wusste seine Mutter noch immer nicht, was vorgefallen war. Auch wenn ihr sicherlich der Blutgeruch an seinem Körper nicht entgangen war. „Lass nur, Mom. Ich kümmere mich schon darum. Amanda? Willst du Lucy mal als nacktes, unbehaartes Baby sehen?“ Er schnappte ihre Hand, zum ersten Mal an diesem Abend, und zog sie hoch. Es war inzwischen schon finster geworden und bestimmt war Amanda genauso müde wie er. Heute wollte er sich keinen Gesprächen mehr stellen. Sie garantiert auch nicht. Weshalb er zusammen mit Amanda zu der Babywiege ging, in der Lucy noch immer wie eine Sirene heulte und seine kleine Schwester vorsichtig hochnahm. Er schlang die weiche Decke um ihren nackten Körper und trug sie aus dem Zimmer, während er Amanda noch immer nicht losließ. Im ersten Stock legte er das inzwischen wieder etwas beruhigte Strampeltier im Badezimmer auf eine Wickelmatte, um der kleinen Lucy nicht nur ein paar Windeln umzuschnallen, sondern ihr auch gleich einen Strampelanzug anzuziehen.   Sie waren alle wirklich furchtbar nett. Amanda beantwortete die Fragen von Nataniels Eltern, erzählte ein wenig mehr – zumindest so viel, wie sie bedenkenlos erzählen konnte – und bemühte sich ihre Nervosität einigermaßen abzulegen. Aber das war nicht unbedingt einfach. Hier ging es so anders zu, als Amanda es seit dem Tod ihrer Eltern gewohnt war. Die Familienmitglieder schenkten einander so viel Aufmerksamkeit, dass Amanda von Zeit zu Zeit erstaunt das Kauen vergaß und sich immer wieder selbst daran erinnern musste, dass sie eigentlich gerade aß. So viel geballte Zuneigung, die auch noch vor allen anderen gezeigt wurde, war wirklich Neuland für Amanda und sie fühlte sich, als würde sie sich selbst immer mehr ausschließen. Die Blicke von Mary entgingen Amanda nicht im Geringsten, und wenn man die beiden Paare verglich, konnte Amanda die Sorge der Mutter nur zu gut verstehen. Immerhin verhielten sich Nataniel und sie nicht unbedingt so, wie man es von Verliebten erwarten würde. Konnte Amanda wirklich Fehler machen, indem sie nichts tat? Um einen kleinen Seufzer zu verbergen, tupfte sie sich mit einer der großen Stoffservietten den Mund ab und atmete einmal tief durch. Das hier war eine ganz andere Herausforderung, als es das Rudel gewesen war. Dort hatte Amanda nur darauf achten müssen, Nataniel nicht vor allen anderen zu nahe zu kommen, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass sie hinten anstehen mussten. Hier schien genau das Gegenteil von ihr verlangt zu werden. In den Augen von Nataniels Familie musste Amanda wirklich wie ein Eisbrocken wirken, weil sie sich nicht an ihm hängte. Aber obwohl sie kurz daran dachte, es zu tun, kam es ihr nicht richtig vor. Sie wusste nicht einmal, ob genau das von ihr erwartet wurde oder etwas völlig anderes. Oder vielleicht erwartete auch niemand irgendetwas von ihr, weil sie schon durch ihr Menschsein durch die Prüfung gefallen war. Setz dich nicht selbst so unter Druck!, versuchte sich Amanda zu ermahnen. Niemand hatte Forderungen an sie gestellt. Alle waren freundlich. Noch gab es keinen Grund zur Panik, außer, dass sie so gern einen guten Eindruck auf Nataniels Familie gemacht hätte und genau das gerade den Bach hinuntergehen sah. Obwohl die Stimmung nicht schlecht war – eigentlich ganz im Gegenteil – war Amanda Lucy und Nataniel gleichermaßen für den Ausweg dankbar. Bereitwillig ließ sie sich von ihrem Platz hochziehen und folgte Nataniel in den ersten Stock und dort ins Badezimmer. Sie konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie die kleine Lucy in ihrer menschlichen oder ihrer Berglöwengestalt mehr zum Anbeißen fand. Die Kleine zauberte Amanda ein Lächeln aufs Gesicht, als sie mit ihren winzigen Fingern ihre Hand ergriff und an ihrem Zeigefinger herumnuckelte. „Ich hoffe, es war nicht zu schlimm für dich“, meinte Nataniel plötzlich. Überrascht sah Amanda zu ihm hoch. „Nein, ganz und gar nicht. Ich ...“ Etwas frustriert ließ sie den Kopf hängen und sah Lucy an, die beinahe einschlief, während sie Amandas Finger als Schnullerersatz verwendete. „Ich fühle mich nur so, als würde ich alles falsch machen. Deine Familie ist so herzlich und nett. Irgendwie komme ich mir vor, als ... als sollte ich auch freundlicher und netter sein. Das tun, was eine Wandlerin an meiner Stelle tun würde.“ Amandas Stimme war leise geworden und sie lehnte sich vorsichtig an Nataniels Seite, wobei sie schutzsuchend seinen Arm um sich legte und seine Hand streichelte. „Wahrscheinlich ist das alles, nur selbstausgedachter Blödsinn, aber ich wollte einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Und mir kommt es so vor, als wäre es mir nicht unbedingt geglückt.“ Lucy schien eine gleichzeitig beruhigende und hypnotische Wirkung zu haben. Vielleicht lag es aber auch an Nataniels Wärme und seinem Geruch, der in Amanda immer Wohlbehagen auslöste, dass sie auf einmal unglaublich schläfrig wurde. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle auf dem flauschigen Badezimmerteppich zusammengerollt und hätte einen Monat lang durchgeschlafen. Da sie das nicht konnte oder zumindest nicht tun würde, hielt sie sich nur die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verstecken und blinzelte müde mit den Augen.   Da Amanda Lucy so gekonnt zum Einschlafen bewegte, war es für Nataniel leicht, ihr den Strampelanzug über zu streifen, da sie so brav stillhielt. Danach nahm er das kleine Baby hoch und legte es für einen Moment Amanda in die Arme. Das Ergebnis verfehlte auf keinen Fall seine Wirkung. Nataniels Herz schien heißer als die Sonne zu glühen, als er Amanda mit seiner kleinen Schwester im Arm sah. Es war ein wunderschönes, harmonisches Bild. Wie konnte sich Amanda überhaupt darüber Sorgen machen, dass sie etwas falsch machte? Wenn Nataniel an ihrer Stelle wäre, er hätte es garantiert geschafft, alles zu verbocken, aber sie hielt sich wirklich gut. Während Amanda Lucy in den Armen wiegte, räumte Nataniel die Babysachen weg. „Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken darüber, was du tun sollst und was nicht. Ich liebe dich, wie du bist und nicht wie andere dich vielleicht gerne hätten. Du musst dich für mich nicht verbiegen und verstellen. Sei einfach, wie du dich am wohlsten fühlst, hab aber bitte auch keine Scheu, mich zu fragen, wenn dir etwas seltsam vorkommt. Es gibt immerhin viele Dinge, die du garantiert noch nicht über uns Gestaltwandler weißt, eben weil du noch nie diese Art von Kontakt mit uns hattest.“ Nataniel schlang den Arm um sie und führte sie zusammen mit Lucy über den Flur durch eine Zimmertür, an der ein kleiner Berglöwe aus Holz hin und her baumelte. Lucys Kinderzimmer war früher auch einmal seines gewesen. Danach das von Kyle und nun eben das von dem jüngsten Nachwuchs. Nach Kyles Geburt hatte man noch nicht viel ändern müssen. Doch seit Lucy hier schlief, waren die Wände in weiblicheren Farbtönen verziert. Auch die Babydecke war von einem wärmenden Gelb, wohingegen Nataniels von einem leuchtenden Rot gewesen war. Er hatte diese Farbe damals sehr geliebt. Hatte ständig seine Decke im Mund, bis er sie so zu Tode gelutscht hatte, dass kein Nähversuch seiner Mom sie mehr hatte retten können. „Hier. Leg sie ins Bettchen. Sollte sie doch noch einmal hungrig werden, wird Mom sich schon um sie kümmern.“ Nataniel hatte zu flüstern begonnen, da seine kleine Schwester die Augen geschlossen hatte. Bestimmt war sie bereits auf dem besten Weg ins Land der Träume. Nachdem Amanda das Baby in das selbst gebaute Holzbettchen gelegt hatte, deckte Nataniel sie gründlich zu und schlang dann abermals einen Arm um Amanda. Seinen Kopf lehnte er gegen ihren, während er seine kleine schlafende Schwester betrachtete. „Irgendwie eine gute Idee. Findest du nicht? Komm. Lass uns ‚Gute Nacht‘ sagen. Danach zeige ich dir mein eigenes kleines Reich.“   Nataniels Mom räumte gerade die Essensreste weg, während Kyle seinem Vater beim Abwasch half. Es war ein für Nataniel sehr vertrautes Bild und ließ ihn wieder lächeln. Er hatte dieses Gefühl sehr vermisst. Wie sehr, wurde ihm dadurch erst jetzt klar. „Lucy liegt bereits im Bett und schläft. Wir werden ihrem Beispiel folgen“, verkündete Nataniel und versuchte dabei ein Gähnen zu unterdrücken. Sofort ließ seine Mutter die Käseplatte stehen und kam auf ihren Sohn zu. „Tut das. Ihr seht auch wirklich müde aus.“ Sie lächelte fürsorglich, ehe sie zuerst Nataniel umarmte, ihm einen Kuss auf die Stirn gab und sich dann an Amanda wandte. „Es war wirklich nett dich kennenzulernen, meine Liebe. Sag einfach bescheid, wenn du noch etwas brauchen solltest. Bis dahin wünsche ich euch beiden eine gute Nacht.“ Nataniel überraschte es nicht wirklich, dass seine Mutter auch Amanda kurz umarmte, ehe sie sich lächelnd von ihr löste. Das gemeinsame Abendessen hatte nicht nur aus einem Sie ein Du gemacht, sondern wohl noch mehr gelockert. Wenigstens war sein Dad nicht gar so überschwänglich, sondern klopfte ihm nur ganz sachte auf die Schultern und wünschte ihnen beiden ebenfalls eine gute Nacht. Kyle war noch kürzer angebunden, aber so war er nun einmal. Schließlich waren sie endlich wieder an der frischen Luft, weshalb er Amanda wieder dicht an sich heranzog. „Also, ich weiß ja nicht, was du für einen Eindruck hast, aber ich bin mir sicher, dass dich meine Eltern mögen.“   Ob es nun die kleine Lucy war oder die Tatsache, dass sie gleich ins Bett gehen würden, war Amanda nicht klar, aber auf jeden Fall schienen ihre Augenlider bereits Tonnen zu wiegen, als sie die Holztreppe wieder hinunter in den Wohnraum ging. Wieder bot sich ihr ein familiäres Bild und eigentlich wollte Amanda, trotz ihrer Müdigkeit, ihre Hilfe anbieten. Da kam ihr Nataniel jedoch zuvor, indem er mitteilte, dass sie ins Bett verschwinden würden. Erst als sie draußen vor dem Haus standen, wurde Amanda wirklich klar, wie herzlich man ihr gerade eine gute Nacht gewünscht hatte. Nataniels Mutter hatte sie sogar umarmt. Und doch … Nataniel riss sie mit seiner Feststellung aus ihren inzwischen ziemlich langsamen Gedankengängen. Ein wenig zuversichtlicher als zuvor im Bad, lächelte sie ihn an, sagte aber nichts dazu.   Obwohl es schon fast stockfinster war, führte er sie zielgerichtet und mit Bedacht den Pfad zwischen den Bäumen entlang. Vor der kleinen Blockhütte angekommen, tastete er über dem Türbalken nach dem Schlüssel und sperrte die Tür auf. Sofort schlug ihm der wohlvertraute Geruch seiner eigenen Behausung entgegen. Es war eine Mischung aus ihm selbst, getrockneten Kräutern, frischen Kiefernnadeln und dem Öl, mit dem das Holz der Wände, den Böden und der Decken eingelassen war. Als er das Licht anknipste, wurde alles in einen warmen Schein gehüllt. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein einziger großer Raum. Mit einer gemütlichen und sehr großen Couch, einer eigenen kleinen Küchenzeile, die er eigentlich nur für kleine Snacks benutzte, einem Esstisch, einem Fernseher, Regalen voll mit Büchern, DVDs und seinen alten Computerspielen. Hinter einem mit rotem Stoff bezogenen Paravent stand das große Holzbett gut verborgen, vor den ersten Blick und daneben lag eine große Fensterfront mit einer Terrassentür. Er mochte es nun einmal sehr, wenn er im Bett lag, und durch das Fenster den Fluss zwischen den Bäumen hindurch schlängeln sah. Notfalls hatte er relativ blickdichte Vorhänge zum Schließen. Auch wenn er das eigentlich nie tat. Neben der Küche war noch eine Tür, wo er sein kleines, aber gut ausgestattetes Badezimmer hatte. Zwar ohne Badewanne, aber dafür mit einer großen Dusche. Immerhin war er auch ein großer Mann. „Fühl dich wie zu Hause“, flüsterte er ihr leise zu, ehe er Amanda einen Kuss gegen ihre Schläfe hauchte.   Der Weg, den Nataniel sie entlang führte, lag im Dunkeln. Natürlich brauchte er keine Lampe, um den Weg zu finden. Seine gute Nachtsicht erübrigte die Beleuchtung. Amanda musste ihm – einmal mehr – relativ blind folgen. Aber diesmal war der Pfad eben und gleichmäßig und sie schaffte es, ohne jedes Stolpern oder Zögern an der kleinen Hütte anzukommen. Der Mond war eine winzige Sichel. In zwei Tagen würde es Neumond sein. Amanda hörte einen Schlüssel im Schloss und dann sprang die Tür vor ihr auf. Nataniel schob sie in das kleine Haus und schaltete das warme Licht ein. Zunächst sah Amanda sich um. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Eigentlich hatte sie sich darüber, wie Nataniels 'Reich' aussehen mochte, noch gar keine Gedanken gemacht. Es hatte ein wenig von einer typischen Junggesellenbude, da nirgendwo irgendwelche Blumen standen oder auch nur ein Bild an der Wand hing. Das brauchte er bei dieser Aussicht auch bestimmt nicht. Das Bücherregal, in dem DVDs, CDs, Bücher und Zeitschriften in einer für Amanda nicht erkennbaren Ordnung standen, hatte seinen ganz eigenen Charme. Insgesamt hatte Nataniel es wirklich sehr gemütlich und vor allem geräumig. Auf Nataniels Angebot hin, sich wie zu Hause zu fühlen, küsste Amanda ihn auf die Wange. „Das werd ich.“ Sie sah ihn an und ging um ihn herum, damit sie sich gegenüberstanden. Amanda war nicht entgangen, dass Nataniel sich immer wieder etwas schonend bewegt hatte, um seine Verletzungen nicht zu sehr zu belasten. Er war hier bestimmt einigermaßen ausgestattet. Nach den Worten seiner Mutter und den Narben auf seinem Körper konnte man davon ausgehen, dass das nicht die ersten tieferen Kratzer und Bisse waren, die er versorgen musste. Mit beiden Händen schob Amanda sein Shirt ein wenig hoch und musterte prüfend den Verband, der zum Vorschein kam. Auf den ersten Blick war kein Blut zu sehen, aber bis jetzt waren die Wunden nicht wirklich richtig behandelt worden. Amanda wäre wohler gewesen, wenn sie zumindest die Kleineren hätte desinfizieren können. „Darf ich mich ein wenig um deine Verletzungen kümmern? Ich weiß, dass sie unglaublich schnell heilen, aber sie machen mir trotzdem Sorgen.“ Sie wollte sich selbst davon überzeugen, dass die Wunden sich sauber schlossen und sich nicht doch noch entzündeten. Bei Nataniel hätte sie äußerlich wahrscheinlich viel zu spät bemerkt, wenn er Fieber bekommen hätte.   Als Amanda sich vor ihn stellte und ihm das Shirt hochziehen wollte, zuckte er automatisch etwas zurück. Hielt dann aber still, weil er doch wusste, dass sie vorsichtig sein würde. Außerdem konnte er von ihren Berührungen ohnehin nie genug bekommen. „Wenn du dafür nicht schon zu müde bist? Ansonsten können wir das auch ruhig auf Morgen verschieben. Ich werde es bestimmt überleben.“ Zwar lächelte er leicht amüsiert, löste sich dann aber von Amanda, um sich auf dem Weg zum Bad schon einmal die Lederjacke auszuziehen, die er über einen der Barhocker hängte, die an der Theke standen. Im Badezimmer selbst war auch alles so aufgeräumt, wie er es verlassen hatte. Nataniel gehörte vielleicht nicht zu den superordentlichen Männern, aber wenn er wusste, dass er bald verreisen würde, machte er grundsätzlich sauber, damit alles in Ordnung war, wenn er wieder Heim kam. Gerade an Abenden wie diesem wollte er schließlich nicht noch den ganzen Müll wegräumen müssen, der im schlimmsten Fall vielleicht auch noch pelzige Füße bekommen hatte. Im Bad warf er sein Shirt in den leeren Wäschekorb und holte eine große Schachtel aus einem der Regale. Sie hatte ungefähr die Größe eines durchschnittlichen Umzugskartons und war bis zum Rand voll mit der feinsten Erste-Hilfe-Ausstattung, die man für den normalen Hausgebrauch von Gestaltwandlern finden konnte. Zurück bei Amanda stellte er den Karton auf dem hölzernen Couchtisch ab und legte den Deckel zur Seite. „Es müsste alles da sein, was du brauchst und ein bisschen mehr. Immerhin glaube ich nicht, dass du mich gleich operieren willst.“ Dieses Mal grinste er tatsächlich amüsiert. Zwar fühlten sich die Schmerzen keinesfalls komisch an, aber das war nun einmal Gestaltwandlerhumor. Nachdem er sich gesetzt hatte, begann er mit einer Schere schon einmal die Verbände durchzuschneiden. Am Rücken klebten sie etwas fest, weshalb er sie dort noch einfach so lose hängen ließ, bis sich Amanda darum kümmern würde. Den Rest machte er sich jedoch selbst ab und unterzog sich gleich einer genauen Prüfung. Die Kratzspuren waren allesamt schon recht gut verschlossen, bis auf die am Rücken, die wohl durch die Umarmungsorgien etwas gelitten hatten. Aber alles nicht allzu schlimm. Wie schon gesagt, er würde es überleben und in ein paar Tagen könnte er sich bestimmt schon wieder uneingeschränkt bewegen. Das Einzige, was wirklich noch nicht sehr gut aussah, war die Bisswunde an seiner Hand. Sie begann auch sofort wieder leicht zu bluten, als er den Verband abnahm. Aber da hätte Amanda sie frisch nach dem Kampf sehen sollen. Da war er sich noch nicht einmal sicher gewesen, ob Nicolai ihm mit seinen Zähnen nicht irgendwelche wichtigen Venen durchtrennt hatte, so stark hatte die Wunde geblutet. Dagegen sah sie jetzt schon sehr schön aus. Fleischig und saftig, aber keinesfalls mehr wie eine undefinierbare Fleischmasse.   Okay, sie durfte sich über nicht allzu viele Sachen wundern, aber jetzt hatte Nataniel sie doch etwas kalt erwischt. Die Größe seiner Verbandskiste war wirklich beeindruckend – oder war erschreckend eher das Wort, das Amanda gebrauchen würde? Während Nataniel sich selbst, so gut es ging, von seinen Verbänden befreite, ging Amanda zur Küchenzeile hinüber, öffnete ein paar Schränke und fand schließlich eine Schüssel, die sie mit lauwarmem Wasser füllte. Zunächst nässte sie die Mullbinden etwas an, die noch an seinem Körper hafteten, damit sie sie einigermaßen schmerzlos entfernen konnte. Amanda hatte gleich den Mülleimer von unter der Spüle mitgebracht, um allen Abfall darin verschwinden zu lassen. Das wurde nach einer Weile des Abwaschens, Desinfizierens und Verbindens eine ganze Menge Müll. Nataniels Handgelenk hatte es wirklich schlimm erwischt, aber entgegen Amandas Befürchtung schien nichts zu eitern oder auch nur ungewöhnlich Hitze abzugeben, was auf eine verdeckte Infektion hätte schließen lassen. Als sie jeden kleinen Riss, Biss und Kratzer versorgt hatte, stand sie auf und sah Nataniel auffordernd an. Der schien im ersten Moment gar nicht zu kapieren, was sie von ihm wollte. Mit einem kecken Lächeln deutete sich ein kurzes Nicken an. „Hosen runter.“ Jetzt war Nataniels Blick so erstaunt, dass Amanda lachen musste. Sie beugte sich zu ihm hinunter, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Lippen, bevor sie ihn tadelnd ansah. „Leider nicht das, was du denkst, mein Schmusekater. Ich befürchte, die Verletzungen beschränken sich nicht nur auf die obere Hälfte deines Körpers.“ Sie half ihm hoch und sah ihm dabei zu, wie er sich von der Jeans befreite, bevor sie sich wieder seiner Verletzungen annahm. Allerdings waren es hier auffällig weniger als an seinem Torso. Sie mussten also beide wenig Geduld aufbringen, bis Amanda ihn zufriedenstellend versorgt hatte. Bevor sie sich ganz aufrichtete, konnte sie sich einen winzigen Kuss auf seine Hüfte nicht verkneifen. Etwas müde lächelte sie Nataniel schließlich an. „Alles klar, du darfst jetzt offiziell schlafen gehen.“ Ein Gähnen zeigte, dass sie selbst liebend gern mit ihm ins Bett gehen wollte. Bloß noch kurz Zähne putzen, sich ein wenig Waschen und dann nichts mehr tun, als sich ausruhen.   Während Amandas Behandlung wurde Nataniel noch ruhiger, als er es heute ohnehin schon war. Immerhin musste er sich sehr darauf konzentrieren, stillzuhalten, während Amanda ihm die Wunden reinigte, desinfizierte und neu verband. Ihm kam dabei kein Laut über die Lippen, aber hätte sie ihm ins Gesicht gesehen, wäre ihr aufgefallen, wie blutleer sie waren, weil er sie so fest aufeinanderpresste. Er war wirklich kein Jammerlappen, aber das hier war schon ganz schön heftig. Als es dann um sein Handgelenk ging, musste er sogar den Kopf wegdrehen, um Amanda sein schmerzverzerrtes Gesicht nicht zu zeigen. Das stärker werdende Zittern seines Körpers konnte er jedoch nicht unterdrücken. Umso überraschter war er darum, als sie ihm befahl, die Hosen runterzulassen. Tatsächlich war er einen Moment lang so verwirrt, dass er gar nicht begriff, was sie von ihm wollte. Was sie allerdings mit ihren nächsten Worten klarmachte. Zwar würde er es nie zugeben, aber in diesem Augenblick war er erleichtert, dass sie lediglich auch die Wunden an seinen Schenkeln und auch die paar Kratzer auf seinem Hintern versorgen wollte. Im Augenblick wäre nämlich seine Einsatzbereitschaft völlig unmöglich gewesen. Leicht zittrig zog er also die Jeans aus und warf sie über die Couchlehne. Natürlich hatte er wie immer keine Unterwäsche getragen, aber das störte ihn im Augenblick weniger denn je. Mit all den Verbänden am Körper fühlte er sich auf gewisse Weise sogar angezogen. Obwohl er sich nach Amandas fürsorglicher Behandlung nun wieder sauberer und erfrischter fühlte, tat ihm doch alles erneut ziemlich weh, weshalb er tatsächlich nur einfach in sein Bett und eine Runde schlafen wollte. „Danke, fürs Verarzten.“ Sanft küsste er ihre Lippen. „Dein Rucksack ist noch im Auto, aber im Schrank hinter dem Badezimmerspiegel findest du alles, was du brauchst.“ Mit diesen Worten betrachtete er die Schachtel etwas skeptisch und entschied einfach nur den Deckel daraufzulegen. Im Augenblick hätte er sie nicht mehr tragen können, weshalb er einfach nur den Müll wegräumte, und sein Bett bezog, während Amanda im Bad war. Danach stellte er die rote Lavalampe auf dem Nachttisch an und schaltete das große Licht aus. Mit dem Gesicht zur Glasfront gerichtet, legte er sich völlig erschöpft und leise ächzend ins Bett. Die Decke konnte er gerade noch bis über seine Hüften ziehen, da war er auch schon eingeschlafen, obwohl er gerne noch auf Amanda gewartet hätte.   Es war nicht das erste Mal, dass Amanda sich in einem fremden Badezimmer für die Nacht fertigmachte. Immerhin hatte sie schon vorher einmal bei einem Mann übernachtet. Aber das hier war etwas anderes. Amanda betrachtete sich eingehend im Spiegel und rief sich noch einmal in Erinnerung, was sie gerade getan hatte. Gefährtin ... Ihre Lippen formten das Wort, allerdings entkam ihr dabei kein Ton. War sie das wirklich? Nataniels Gefährtin? Langsam schob sie ihr Oberteil hoch und zog es schließlich über ihren Kopf, um es auf den Rand des Waschbeckens abzulegen. An ihrem Bauch, unter dem schwarzen BH, waren noch immer die inzwischen verheilten Bisswunden des Geparden zu sehen. Nein, schwach war sie nicht. Sie hielt sogar einiges aus, was sie wohl ein paar Mal bewiesen hatte, seit Nataniel und sie sich kannten. Aber würde das reichen? Amanda war sich sicher, dass Nataniels Familie das endgültige Urteil über seine neue Eroberung noch nicht gefällt hatte. In diesem Moment hätte sie sehr interessiert, mit wem sie da alles konkurrierte. Oder auch nicht. Mit einem kleinen Seufzer sah Amanda zur Badtür hinüber und überlegte, ob sie sich darauf gefasst machen sollte, Kratzer an der Wand hinter Nataniels Bett zu sehen. Oder am Bettrahmen. Ihr Seufzer war so schwer, dass er sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Sie führte sich lächerlich auf. Als sie endlich aus dem Bad kam, musste sie sich in dem einigermaßen dunklen Raum erst einmal zurechtfinden. Glücklicherweise zeigte ihr die rote Lavalampe auf dem Nachttisch den Weg. Amanda knipste sie aus, als sie sich neben Nataniel aufs Bett gesetzt hatte. Dass er bereits eingeschlafen war, konnte Amanda ihm nicht verdenken. Sie war so müde, dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Also kuschelte sie sich so eng, wie sie es sich aufgrund Nataniels Verletzungen erlauben konnte, an ihn und sah nur einen Moment aus dem Fenster, bevor sie neben ihm einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)