Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 33: 33. Kapitel ----------------------- Die Sonne knallte ihm ins Gesicht, was ihn so unwiederbringlich weckte, als hätte man ihm einen Eimer voll kaltem Wasser übergekippt. Murrend drehte er sich von der Sonne weg und stieß dabei mit seinem Gesicht gegen Amandas Hand. Leicht verwirrt und vor Schmerzen ächzend schlug er die Augen auf. Sofort musterte er argwöhnisch seine Umgebung, erkannte dann aber schnell die Hotelleinrichtung des 'Sunny Morning' Hotels. Sie mussten also endlich ganz in der Nähe seines Zuhauses sein, denn die Hotelzimmer waren ihm allesamt vertraut, hatte er doch in seinen jungen Jahren schon die eine oder andere Raubkatze hier vernascht. Immerhin sahen hier die Zimmer sowieso fast alle gleich aus. Als sein Blick wieder auf Amanda fiel, streichelte er zärtlich und vorsichtig ihre Wange. Sie schlief fest und war offenbar ebenso erschöpft, wie er sich fühlte, weshalb er sie so gut er konnte, näher an sich heranzog, sein Gesicht, wie schon so oft, nur zu gerne in ihrem Haar verbarg und schließlich wieder die Augen zumachte, um noch ein Bisschen zu schlafen.   ***   Als Nataniel nackt im Bad vor dem großen Spiegel stand bemerkte er zwar, dass ihn wohl jemand bereits gewaschen hatte, dennoch waren seine Haare voller eingetrocknetem Blut und auch die Verbände waren mehr als vollgesogen. Da Amanda auch am frühen Nachmittag noch schlief, wagte er es – vermutlich gegen jeden ärztlichen Rat – sich die Verbände wieder abzunehmen. Sie brachten ohnehin nicht mehr viel, mussten seine Wunden doch erst richtig gereinigt und dann mit sauberen Verbänden neu versorgt werden. Wenn Amanda so nett war, würde sie das vermutlich wieder übernehmen. Sie musste inzwischen schon ziemlich bewandert darin sein, so oft, wie sie ihn inzwischen zusammengeflickt hatte. Hoffentlich war nun endlich Schluss mit den ganzen Verletzungen. Die einzigen Kratzer, die er noch haben wollte, waren die von Amanda während ihres Liebesspiels. Alles andere sollte ihm bloß fern bleiben. Seine Haut sah ohnehin schon aus wie eine Patchworkdecke. Kaum noch eine Stelle, wo er nicht die eine oder andere Narbe trug. Trotzdem störte es ihn noch immer nicht wirklich. Solange er Amanda immer noch gefiel, war ihm alles egal. Die schmutzigen Mullbinden warf Nataniel in den Abfalleimer, danach ließ er lauwarmes Wasser ins Waschbecken ein und begann sich noch einmal gründlich mit einem Waschlappen zu reinigen. Dreimal musste er das blutig gewordene Wasser erneuern, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Danach wusch er sich auch noch die Haare im Waschbecken und trocknete sie mit einem Handtuch ab. Im Schrank hinter dem Spiegel fand er genau das, was er von diesem Hotel erwartete – Verbandszeug. Nicht nur kleine Pflaster oder Wundsalben, sondern eine Schere, Verbände, Tupfer und auch Klammern, um die Bandagen zu befestigen. Nataniel musste lächeln, als er daran dachte, weshalb dieses Hotel so gut in diesen Dingen ausgestattet war. Immerhin war der Hotelführer ein Gestaltwandler. Ein Grizzlybär in all seiner Pracht. Somit waren die Zimmer nicht nur mit den üblichen Vorräten an Kondomen, sondern auch an Materialien für die Wundversorgung ausgestattet. Noch dazu waren die Zimmer sehr gut versichert gegen allerlei Schäden. Was bei den meisten Hotelgästen hier auch kein Wunder war. Es konnte hier manchmal ganz schön wild zu gehen. Dabei sprach Nataniel aus Erfahrung. Nachdem er sichergegangen war, dass keine seiner Verletzungen wieder blutete, ging er nur mit einem Handtuch bekleidet zu Amanda ins Zimmer zurück, setzte sich neben sie aufs Bett und betrachtete sie, nachdem er per Telefon im Flüsterton ein anständiges Frühstück bestellt hatte. Immerhin hatte er seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen.   Die Matratze bog sich ein wenig durch und Amanda fühlte Wärme neben sich, die sie wohl vorher vermisst hatte. Denn es zog sie genau auf diese Wärme zu und sie tastete mit ihrer Hand nach der Quelle. Als sie auf weichen Stoff traf, runzelte sie zuerst die Stirn, bevor sie ein Auge öffnete. Schlagartig war sie wach und setzte sich so schnell auf, dass ihr schwindlig wurde. Aber ihre Besorgnis galt ganz Nataniel, der neben ihr auf dem Bett saß. Amandas Stimme versagte immer wieder, weil sie so aus dem Schlaf hochgefahren war, trotzdem sprach sie schnell und besorgt. „Kannst du nicht schlafen? Tut mir leid, dass ich nicht aufgewacht bin. Warum hast du mich nicht geweckt? Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen? Wir können einen Arzt holen, wenn’s dir nicht gut geht!“ Amandas Puls schien sich vor Panik beinahe zu überschlagen. Wie hatte sie nur schlafen und nicht bemerken können, dass er aufgestanden war? Aber als sie ihn nun prüfend und besorgt ansah, bemerkte sie, dass er sich wohl gewaschen und neu verbunden hatte. Woher er die Verbände hatte, wusste sie nicht, aber das war auch nicht wichtig. Langsam beruhigte sich Amanda wieder und rückte ein Stück zur Seite, um Nataniel Platz zu machen. Nach Amandas Meinung sollte sich Nataniel wirklich noch etwas Ruhe gönnen. Immerhin hatte er gestern noch so ausgesehen, als wäre er dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen.   Von Amandas heftiger Reaktion überrascht, blieb er einfach wortlos sitzen und ließ sie erst einmal ausreden, ehe er auch nur daran dachte, sie zu beruhigen. Verdammt, er hatte sich selbst im Spiegel gesehen, aber sah er für andere schlimmer aus, als er sich selbst wahrnehmen konnte? Okay, ihm tat noch immer alles weh, als hätte er nicht nur einen gewaltigen Muskelkater, sondern teilweise zog und brannte es auch. Aber da war auch das altbekannte Jucken, das den Heilungsprozess anzeigte und immerhin, er hatte die Wunden in absolut frischem Zustand gesehen. Dagegen sahen sie jetzt wirklich schon gut aus. Er musste zwar noch vorsichtig sein, aber in Watte packen, brauchte ihn nun wirklich niemand. Das mochte er im Grunde ganz und gar nicht, weshalb er neben Amanda auf dem Bett sitzenblieb und sie stattdessen beruhigend anlächelte, obwohl sie ihm mit ihrer Geste klargemacht hatte, er solle sich wieder hinlegen. „Ich hab uns Frühstück bestellt. Genug für uns beide, also wenn du was essen willst …“ Ihre ganzen Fragen ignorierte er einfach. Dafür gab er sich lieber damit zufrieden, ihr einen Kuss auf die Lippen zu hauchen und wieder ihre Hand zu nehmen. Inzwischen roch sie schon wieder etwas mehr nach ihm, aber lange nicht so sehr, wie er es sich wünschen würde. Dazu hätte es schon etwas mehr gebraucht, als Küsse und Händchenhalten. Es klopfte leise an die Tür und die Stimme eines Jungen war zu hören, der das Frühstück ankündigte. „Amanda, wärst du so nett, die Tür aufzumachen? Ich glaube nicht, dass ich mich so blickenlassen will.“ Nataniel sah demonstrativ an sich herab. Außerdem war er nicht sicher, ob er den Pagen kannte, der ihnen da das Essen brachte. Im Augenblick wollte er noch keine vertrauten Gesichter sehen. Seine Eltern sollten von ihm persönlich erfahren, dass er wieder da war und nicht aus zweiter oder gar dritter Hand.   Amanda nickte und sprang mehr oder weniger aus dem Bett. Erst als sie mit nackten Füßen auf dem hellen Teppich stand und ebenfalls an sich herabsah, stellte sie fest, dass sie sich so auch nicht vor dem Pagen zeigen sollte. Der Slip war zwar hübsch, aber das hieß ja nicht, dass ihn jeder sehen durfte. Hinter der Tür an einem Haken hingen zwei flauschige, weiße Bademäntel, von denen Amanda sich einen schnappte, ihn sich überwarf und schließlich mit einem Lächeln die Tür öffnete. Vor ihr stand ein lächelnder junger Kerl in einer roten Uniform, hinter einem Wägelchen, auf dem drei große Platten unter Metalldeckeln standen. Daneben eine Thermoskanne und zwei Tassen sowie eine kleine Vase mit einer einzelnen Blume darin. „Guten Tag, Miss. Wo soll ich ihr Essen hinstellen?“ Amanda warf einen Blick über ihre Schulter und wandte sich dann mit freundlichem Gesichtsausdruck an den jungen Pagen. Sie wollte ihn nicht weiter ins Zimmer lassen, weil Nataniel sich noch niemandem zeigen wollte. Also griff sie, statt den Zimmerkellner hereinzubitten, nach ihrer Jeans, die über einen Stuhl hing, und zog einen Geldschein heraus, den sie dem Jungen in die Hand drückte und sich bedankte. „Ich werde mich selbst darum kümmern. Vielen Dank.“ Es war etwas knifflig die Tür über den Wagen hinweg zu schließen und dabei weder die kleine Vase umzuwerfen oder einem vorbeigehenden Hotelgast doch noch einen guten Einblick in den Bademantel zu gewähren. Wobei das wahrscheinlich egal gewesen wäre. Immerhin war nur ihr Rudel hier und die würden sich nichts aus Amandas nacktem Anblick machen. Die meisten wären bestimmt eher überrascht, dass sie sich den Bademantel übergeworfen hatte. Es klapperte leise, als Amanda das Wägelchen auf das große Bett zuschob und sich dann über die drei Deckel beugte. Sie ließ ihre Hände über den beiden äußeren Griffen schweben und sah Nataniel mit einem freudigen Lächeln an. „Welche Platte wählen Sie, mein Herr? Sie haben die freie Wahl“, sagte sie grinsend. Das Aroma, das aus der leicht geöffneten Thermosflasche aufstieg, ließ ihr Herz höherschlagen. Nataniel hatte an sie gedacht und gleich eine riesige Portion Kaffee bestellt.   Wachsam sah er Amanda dabei zu, wie sie dem Pagen entgegenkam und ihn dann gleich mit einem Trinkgeld wegschickte. Zum Glück hatte sie vorher noch einen Bademantel angezogen. Ob verletzt oder nicht, hätte der Kerl sie nur in Unterwäsche gesehen, wäre er ziemlich ungemütlich geworden. Das war auch noch so ein Thema, bei dem sie vielleicht eine Krise bekommen würden. Seine verdammt gewaltige Eifersucht. Mit dem Unterschied zu einigen menschlichen Geschlechtsgenossen würde er dabei nicht einmal im Traum daran denken, handgreiflich gegenüber seiner Gefährtin zu werden. Umso übler konnte es für den Typen werden, der ihr dabei zu nahegekommen war. Ob nun gewollt oder nicht. Da machte er nur selten einen Unterschied, sofern es für ihn offensichtlich war. Aber dagegen hatte Amanda dieses Mal immerhin vorgebeugt und schnell war es das Essen, um das sich seine Gedanken drehten. „Wie wär’s, wenn du gleich alle Deckel abnimmst und zusiehst, dass ich dir nicht alles wegfuttere? Den Rest übernehme dann schon ich.“ Grinsend sah er sie dabei an, ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Bettkante zu rühren, um sich etwas zu Essen zu nehmen. Was für ihn bedeutete, dass sie hier eindeutig wichtiger war, als jedes Lebensmittel im Raum. Noch hatten sie nicht die Zeit gehabt, über alles zu sprechen, was vorgefallen war und wenn es nach Nataniel ging, würde er auch gerne über vieles schweigen, doch, noch bevor er sie seinen Pflegeeltern vorstellen konnte, müssten sie noch einige Dinge besprechen. Bestimmt würde ihm Palia auch weiterhin eine große Hilfe sein, was die Verteilung der möglichen Aufenthaltsorte für die nähere Zukunft der anderen Rudelmitglieder anging. Sven hatte da sicher auch noch das eine oder andere mitzureden. Bis jetzt schien es zumindest den Anschein zu haben, als wäre er noch immer einer der Besten seines Fachs. Somit musste Nataniel sich um ein paar Dinge weniger Sorgen machen, dennoch hatte er ein paar Dinge von Nicolai erfahren, die ihn verdammt beunruhigten. Dem würde er früher oder später nachgehen müssen. Im Augenblick jedoch wollte er sich etwas erholen und seinen gewaltigen Hunger stillen. Was das Frühstück anging, war er kein Risiko eingegangen und hatte gleich alles bestellt, was auf der Speisekarte zu finden war. Weshalb er sich Orangensaft einschenkte, Amanda eine große Tasse Kaffee eingoss und sich dann gleich mit den Fingern über die Blaubeerpfannkuchen hermachte. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, gestand er ihr zwischen zwei Bissen. „Morgens neben dir aufwachen und dann so richtig ausgiebig frühstücken.“ Sein Lächeln war echt und ungetrübt, auch wenn er absichtlich alles vermied, was an ihre derzeitige Lage erinnerte. Immerhin waren sie Flüchtlinge in einem Hotel. Das konnte man noch so schön reden. Nachdem er seinen gröbsten Hunger gestillt und Amanda sich ihrer Tasse Kaffee gewidmet hatte, begann er für sie ausgewählte Fruchtstücke zurechtzumachen. Orangenschnitten, Apfelspalten, Bananenscheiben. Das alles fütterte er ihr häppchenweise mit den Fingern, damit sie wieder einmal eine ordentliche Portion Vitamine zu sich nahm. Nach dem ganzen Fleisch würde es ihn nicht wundern, wenn sie zu den Vegetariern wechselte. Das würde sich zum Glück bei seinen Pflegeeltern ändern. Sie hatten zwar eine Rinderfarm aber auch selbst angebautes Gemüse und alte Obstgärten. So wurde jeden Tag auf ausgewogene Ernährung geachtet, auch wenn sie in ihrer tierischen Gestalt Fleischfresser waren.   Es tat richtig gut, nach der Zeit im provisorischen Lager und der langen Wanderung einmal wieder frisches Obst zu essen. Noch dazu, wenn es mit so viel Bedacht dargereicht wurde. Amanda genoss jeden einzelnen Happen, den Nataniel ihr in den Mund steckte, und kaute ausgiebig, um jedes bisschen Geschmack auszukosten. „Ja, da kann ich dir nur zustimmen. Vor allem, wenn jemand anders das Frühstück macht.“ In diesem Moment dachte Amanda zum ersten Mal daran, wie schwierig es für Nataniels Mutter gewesen sein musste und es immer noch war, ein so großes Frühstück auf den Tisch zu bringen, dass es Nataniel jedes Mal sattmachen konnte. Das erschien Amanda als ziemlich große Herausforderung. Wenn sie daran dachte, wie leer ihr Kühlschrank zu Hause immer gewesen war, weil sie kaum mehr als einen Kaffee und ein wenig Müsli zu sich nahm, bevor sie in die Zentrale fuhr. Bei ihr wäre Nataniel verhungert oder vorher vermutlich streikend abgehauen.   Schließlich gesättigt und zufrieden lag er wieder neben Amanda im Bett und streichelte gedankenverloren über ihren Arm. Nataniel zog Kreise darauf, fuhr unsichtbaren Linien nach und genoss es, beständig ihren Duft in der Nase zu haben, den er am allermeisten vermisst hatte. Weshalb er sich schließlich so hinlegte, dass sein Ohr an ihrer Brust lag und er mit einer Strähne ihres blonden Haares vor seinen Augen spielen und immer wieder daran riechen konnte. „Ich liebe dich …“, flüsterte er leise und schloss zufrieden die Augen für einen Moment. Es fühlte sich so richtig an, diese Worte zu sagen, auch wenn er früher nie ein Vertreter vom ständigen Gebrauch genau dieses Satzes gewesen war. Eigentlich hatte er nie einer seiner Freundinnen gesagt, dass er sie liebte. Gemocht ja. Aber lieben? Jetzt, wo er die Bedeutung wirklich kannte, war alles andere nur eine absolut billige Imitation davon gewesen. Nicht zu vergleichen mit dem kostbaren Original. Das Leben war manchmal wirklich noch für Überraschungen gut. Er und eine menschliche Frau. Wer hätte das gedacht.   Als er es sich neben ihr im Bett gemütlich gemacht hatte und mit ihren Haaren spielte, sah Amanda noch einmal Nataniels Körper entlang. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell er sich erholte. Gestern hatte er noch so ausgesehen, als würde er an Blutverlust sterben müssen. Heute zeigten zwar die Bandagen noch, dass er schwer verletzt worden war, aber die kleineren Kratzer und Risse hatten sich bereits geschlossen und heilten gut. Genauso wie die blauen Flecken und Prellungen, die bereits so aussahen, als wären sie einige Wochen und nicht nur wenige Tage alt. Die drei Worte, die er in einem versonnenen Ton ausgesprochen hatte, holten Amandas Blick sofort wieder zu Nataniels Gesicht zurück. Es tat so gut, es zu hören, auch, wenn sie bis jetzt keinen Grund gehabt hatte, daran zu zweifeln, dass er sie liebte. Er war zu ihr zurückgekommen. Das war für Amanda Beweis genug. „Ich liebe dich auch“, sagte sie und kraulte seinen Nacken und zu seinen weichen Haaren hinauf. So gut sich das hier im Moment anfühlte, so genau wusste Amanda auch, dass sie nicht ewig hierbleiben konnten. Keiner der Wandler würde die Hotelzimmer auf Dauer zahlen können und außerdem war es wichtig für die Familien, jeweils ein anständiges Zuhause zu finden. Es wunderte Amanda ohnehin, dass noch niemand an die Zimmertür geklopft und nach Nataniel gefragt hatte. Entweder dachten seine Rudelmitglieder, dass er sehr viel Ruhe brauchte oder sie hatten alles allein einigermaßen unter Kontrolle. Solange sie nicht gestört wurden, war Amanda relativ egal, warum. Sie wollte die Zeit mit Nataniel allein so lange genießen, wie sie andauerte. Denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das nicht besonders lange der Fall sein würde. Noch hatten sie das Ganze nicht vollkommen durchgestanden. Es gab noch so viel zu tun und zu organisieren. Und dann? „Sag mal ...“, begann sie etwas zaghaft. „Was willst du tun, wenn das alles hier endlich in geordneten Bahnen läuft?“ Wollte er zurück zu seiner Pflegefamilie, bei der er bis zum Tod seines leiblichen Vaters gelebt hatte? Irgendwann würden sie sich darüber unterhalten müssen, was aus ihnen wurde. Und Amanda würde darüber nachdenken müssen, was sie selbst tun wollte. Immerhin musste sie eine Arbeit finden, irgendwie Geld verdienen und das am besten, ohne der Organisation in die Hände zu fallen, die sich irgendwann unter Garantie wieder erholen würde.   Mit einem völlig anderen Gefühl im Bauch schlug er die Augen wieder auf und starrte die Decke an, während seine Finger immer noch unablässig über Amandas Locken streichelten. „Die Frage ist wohl nicht, wenn, sondern wann alles in geordneten Bahnen verläuft. Ich bin mir sicher, dass wir innerhalb der nächsten Tage für jede der Familien eine Bleibe finden werden. Ich weiß, dir ist das vermutlich nicht bekannt, aber diese Stadt hier wird hauptsächlich von unregistrierten Gestaltwandlern bewohnt. Sie ist so klein und unscheinbar, dass man nicht auf die Idee käme, ein ganzes Nest hier zu haben. Vor allem, weil die Bewohner auch auf große Flächen des umliegenden Landes verteilt sind.“ Ein Grund, wieso er so sicher aufgewachsen war, ohne auch nur in geringster Gefahr einer Registrierung zu schweben. Sein wirklicher Vater hatte hier einen wirklich guten Platz zum Leben ausgesucht und die Bewohner auch mit dem nötigen Wissen zum Überleben ausgestattet. Wer die Menschen hier sah, wusste erst dann, dass er einem Gestaltwandler gegenüberstand, wenn dieser es so wollte. Für gewöhnliche Menschen, die ohnehin nicht an ihre Existenz glaubten, war das ein Kaff wie jedes andere. Vielleicht mit etwas raueren Sitten, aber ansonsten alles andere als interessant. „Ich werde mich hauptsächlich nicht darum kümmern müssen, dass jeder einen Platz zum Leben findet, bestimmt wird das Palia für mich übernehmen können. Viel eher muss ich dafür sorgen, dass es hier sicher bleibt und dass das Rudel eine bessere Ordnungsstruktur erhält. Diejenigen Gestaltwandler, die dieses Land bereisen, sollten sich bei uns ausweisen und anmelden. Ich will nicht noch einmal riskieren, dass hier jemand Ärger macht. Immerhin gibt es genug Einzelgänger auf der Welt, die nur zu gerne einmal Unruhe stiften oder auf andere Dinge aus sind. Bis ich das alles in den Griff bekommen habe, möchte ich mit dir zu meiner Pflegefamilie gehen.“   „Hört sich nach einem ganzen Stück mehr Arbeit an. Na ja, Geduld zu üben ist bestimmt auch nicht schlecht.“ Er wollte also tatsächlich zu seiner Pflegefamilie zurück. Das konnte Amanda nachvollziehen, auch wenn sie nie so etwas wie eine richtige Familie gehabt hatte. Der Gründer, bei dem sie mit Eric aufgewachsen war, hatte sie beide zwar in sein Haus aufgenommen, war aber nie da gewesen und hatte Amanda und ihren kleinen Bruder oft einfach mit in die Zentrale genommen, um sie dort an irgendeinen Kollegen abzuschieben. Es musste schön sein, eine Familie zu haben, zu der man gern zurückkehrte. Allerdings war die Frage, was diese Familie von Amandas Erscheinen halten würde? Irgendwie fühlte sich Amanda gerade bei einer so engen kleinen Familie noch unsicherer als in dem Wandlerrudel. Aber auch das würde sie sicherlich durchstehen. Immerhin wollte sie bei Nataniel sein. Da würde sie eben auch über ihren Schatten springen und sich dem Urteil seiner Lieben stellen.   Nataniel drehte sich so zu ihr herum, dass er ihr Gesicht sehen konnte. Damit er sich nicht zu sehr anstrengen musste, schob er sich ein Kissen unter den Oberkörper und legte auch seinen Kopf teilweise darauf. „Wir müssen außerdem auch etwas gegen die Moonleague unternehmen. Ich weiß, wir können sie sicherlich nie vollkommen besiegen, aber es muss noch bessere Methoden geben, durch ihr Netz zu schlüpfen, um wenigstens unser Rudel in Zukunft vor ihnen schützen zu können. Außerdem haben wir da ein Problem.“ Okay. Jetzt kam definitiv die Stelle, die ihm am unangenehmsten war und die er gerne noch ein bisschen weiter hinausgeschoben hätte. Aber das durfte er nicht. Amanda musste es wissen, auch wenn er es vor den meisten anderen Mitgliedern ihres Clans verschweigen würde. Sein Gesicht wurde hart und ein leicht wütender Ausdruck erschien in seinen Augen, war aber nicht auf Amanda gerichtet. „Ich habe mit Nicolai zwar hauptsächlich gekämpft, aber bei den kurzen Gesprächen, die wir führten, konnte ich herausfinden, dass er die Identität des Clans nicht verraten hat. Er hat das Naturschutzgebiet eigentlich nur sehr selten verlassen, genauso wie seine Leute und er kannte auch keinerlei Verbindung zur Organisation. Was das angeht, glaube ich ihm sogar.“ Was bedeutete, sie waren dem Verräter noch immer nicht auf die Schliche gekommen. Eine Tatsache, die Nataniel sehr beunruhigte, waren sie doch ganz schön viele Leute, die zu verdächtigen wären.   Seine nächsten Worte hätten sie von den Füßen gefegt, wenn sie nicht bereits gelegen wäre. Entsetzt riss Amanda die Augen auf und biss wütend die Zähne aufeinander. Sie musste nicht nachfragen, ob Nataniel sicher war. In seinen ernsten, eisblauen Augen konnte sie sehen, dass er sicherer nicht sein konnte. Ihr entkam ein derber Fluch, für den sie sich auch nicht entschuldigte und am liebsten hätte sie irgendetwas gegen die gegenüberliegende Wand geworfen. Dann war alles umsonst gewesen? Sie waren immer noch in Gefahr, dass jemand sie wieder an die Moonleague verraten konnte? „Um die Organisation können wir uns schon irgendwie kümmern.“ Amanda hatte Kontakte und würde nur die Wahrheit über die Herodes-Aktion verbreiten müssen, um weitere Sammler auf ihre Seite zu ziehen. Sie überlegte fieberhaft, wo sie anfangen könnte. Am besten wäre es sicher mit Eric und Clea Kontakt aufzunehmen und herauszubekommen, wie die Dinge in der Hauptstadt standen.   Nataniels Seufzen wurde durch das Kissen gedämpft, in das er frustriert sein Gesicht vergrub. Amanda hatte natürlich Recht. Gegen die Organisation würden sie schon etwas unternehmen können, aber das sicherste Versteck half nichts, wenn sie immer noch einen Maulwurf in ihren eigenen Reihen hatten. Dummerweise hatte Nataniel aber keinerlei Anhaltspunkt darüber, wer es sein könnte. Inzwischen kannte er jedes Mitglied des Rudels persönlich und glaubte sogar, sie ziemlich gut zu kennen. Keiner war unter ihnen, dem er einen Verrat zutrauen würde. Sie alle hatten mehr oder weniger ihre Gründe, sich verdeckt zu halten. Jeder besaß noch etwas, was ihm lieb und teuer war. Sie würden niemals einen solchen Vertrauensbruch begehen! Er konnte es einfach nicht glauben. „Es hilft nichts. Ich muss mit Palia reden. Vorerst können wir nur möglichst viele Sicherheitsvorkehrungen treffen. Ich vertraue ihr, so wie Eric ihr vertraut hat. Sie und wir beide werden die Einzigen sein, die jeden einzelnen Aufenthaltsort der kleinen Familiengruppen kennen. Die anderen müssen sich dem beugen. Vorerst gibt es also keine Nachbarschaftstreffen!“ Hoffentlich würden sie so die Gefahr in einem überschaubaren Bereich halten. Wenn es jemanden erwischte, dann wenigstens nicht alle. So wenig ihm das auch gefiel, es ging nun einmal nicht besser. Nataniel raffte sich vom Bett auf und grabschte nach dem Hoteltelefon. Mit fliegenden Fingern tippte er Svens Nummer ein, um diesen noch um ein paar weitere Gefallen zu bitten. Zum Glück hing sein Freund sehr an dem Schutz ihrer Rasse, sonst wäre er vielleicht nicht so schnell dazu bereit, sein eigenes Leben für fremde Gestaltwandler zu riskieren.   Etwas beruhigt legte er den Hörer wieder auf und ging dann im Zimmer auf und ab. Nataniel hatte mit Sven noch über ein paar Einzelheiten gesprochen. Zusätzliche Identitäten für die Neuankömmlinge, wie weit der Verkauf der alten Häuser bereits im Gange war, Immobiliendaten dieser Gegend, um neue Grundstücke über gefälschte Namen zu erwerben, damit alles absolut geheim blieb. „So wie es aussieht, herrscht noch Chaos auf den Servern der Moonleague. Aber wie es scheint, sind sie dabei, den Schaden einzugrenzen, und wenn sie auch nur annähernd so arbeiten wie Sven, dann haben sie auch genug Sicherungskopien sämtlicher Daten. Die Aktuellsten vielleicht nicht vollständig, aber bestimmt den Großteil aller ihnen bisher zur Verfügung stehenden Informationen.“ Am Fenster blieb er schließlich stehen, schob den Vorhang etwas zur Seite und sah hinaus. Sie waren wohl in einem der obersten Stockwerke, der Höhe nach zu urteilen. Auf den Straßen vor dem Hotel war alles so weit ruhig. Nichts Ungewöhnliches. Immerhin gab es hier keinerlei Attraktionen, die fremde Touristen wie magnetisch anziehen würden. Es war einfach nur eine gute Gegend, um sich zu erholen. Für Insider natürlich. „Sven kommt in ungefähr einer Stunde und bringt uns frische Kleidung. Außerdem hat er einen Leihwagen besorgt. Ich werde bis dahin noch rasch mit Palia reden und mit den einzelnen Familien, um ihnen das nächste Vorgehen zu erklären. Wenn du willst, kannst du ruhig noch Nele besuchen gehen. Du wirst sie vermutlich eine Weile nicht mehr sehen können. So wie all die anderen.“ Nataniel konnte nicht sagen, ob er nun erleichtert sein sollte, dass er wenigstens nicht mehr Tag und Nacht auf eine ganze Gruppe aufpassen musste, oder ob er es ohne sie überhaupt aushalten konnte. Er wusste, sie waren inzwischen halbwegs in Sicherheit. Jeder von ihnen würde seine Handynummer bekommen für den Fall, dass es Probleme gab. Bis dahin würden sie sich vermutlich ohnehin lieber erst einmal um ihre eigene kleine Familie kümmern. Für die Kinder war das alles bestimmt nicht so leicht. Es war gut, wenn sie alle einmal ein bisschen zur Ruhe kamen. Auch wenn Nataniel sicher nicht die Möglichkeit dazu hatte. Doch erst einmal wollte er mit Amanda zu seinen Pflegeeltern fahren. Bestimmt machten sie sich schon große Sorgen. Vor allem, da sein Dad darüber Bescheid wusste, dass er keinen Urlaub machte, sondern ihn der bittere Ernst des Lebens eingeholt hatte. Ob und wie viel er seiner Mom bereits erzählt hatte, wusste Nataniel nicht, aber er hatte seinen Urlaub schon seit mehreren Wochen überschritten. Das passte nicht zu ihm, weshalb sie sich bestimmt auch schon gefragt hatte, was los sei und weshalb er sich nicht mehr gemeldet hatte. Selbst wenn er also nicht das dringende Bedürfnis hätte, wieder einmal zuhause zu sein, so müsste er dorthin, um seiner Familie die Sorgen zu nehmen. „Es wird alles gut werden“, hauchte er leise gegen die Fensterscheibe, mehr um sich selbst zu beruhigen, als dass er es zu Amanda gesagt hatte. Doch schließlich drehte er sich zu ihr herum und ließ seinen Blick auf ihr ruhen. Sie sah erschöpft aus und als hätte sie etwas Gewicht verloren. Die Wanderung musste sehr anstrengend für sie gewesen sein. Erst jetzt fiel ihm die leichte Schwellung ihres Handgelenks auf. Mit drei großen Schritten war er bei ihr, nahm ihr Handgelenk vorsichtig zwischen seine Hände und hob es etwas an, um es besser sehen zu können. „Du bist verletzt.“ Er sah sie halb vorwurfsvoll halb besorgt an. Weil sie es ihm nicht gesagt hatte. Natürlich hatte sie das nicht getan. Sie war immerhin keine zerbrechliche Frau und dennoch konnte er nicht dagegen ankämpfen, genau das immer wieder in ihr zu sehen. So stark und doch ein Mensch. Das würde er nie vergessen. Sanft hauchte er ihr einen Kuss auf die Schwellung, ehe er sie in seine Arme zog und einfach nur festhielt. In den letzten Tagen hatte er geglaubt, das nie wieder tun zu können. Irgendetwas hätte passieren können und all seine Träume und Hoffnungen wären gestorben. Nie hätte er geglaubt, dass ihm einmal so viel an dem Wohl eines Menschen liegen könnte. Doch das tat es.   Bereitwillig ließ Amanda sich in Nataniels Arme ziehen. Geduldig hatte sie ihm zugehört und sich ihre Gedanken gemacht. Vor allem darüber, was er über die Moonleague und deren neuerlichen Aufschwung gesagt hatte. Sehr vorsichtig, um keine seiner zahlreichen Verletzungen zu belasten, legte Amanda ihre Hände auf seine Seite. „Nicht nur du hast einen Computerfreak als Freund. Mach dir keine Sorgen. Du und dein Rudel, ihr seid sicher. Die Zahlen auf deiner Haut sind nirgendwo in den Computern der Organisation wieder zu finden. Es ist so, als hätten sie dich nie gefunden.“ Dass es in Amandas Fall anders war, sprach sie nicht laut aus. Sie war bereits als Kind gekennzeichnet und registriert worden. Selbst wenn sie die Nummern aus allen Speichern der Moonleague gelöscht hatte, war sie als Person zu sehr mit der Organisation verwoben, um nicht mehr gefunden werden zu können. Leise seufzte sie gegen Nataniels Hals. Unter Umständen würde ihre Anwesenheit das Rudel und auch Nataniel und seine Familie gefährden. Die beste Lösung wäre es gewesen, dass Amanda in den Untergrund ging. Um sich selbst und alle, die Kontakt mit ihr gehabt hatten, zu schützen. Sie würde mit Nataniel darüber sprechen müssen. Aber noch waren sie alle sicher. Allzu schnell würde sich die Organisation von diesem Schlag nicht erholen. Vormachen wollte sich Amanda allerdings auch nichts. Die Moonleague würde den Schuldigen finden und bestrafen wollen. „Meinst du, Sven kann mir auch ein Kartenhandy besorgen? Ich würde mich gern bei Eric melden. Er weiß gar nicht, was passiert ist.“   „Es ist auch dein Rudel“, hauchte er ihr gegen das Haar, während er daran dachte, dass er vielleicht, was die Daten anging, so tun konnte, als hätte die Organisation ihn nie erwischt. Aber das Zeichen auf seinem Körper würde er nicht loswerden und zugleich konnte er auch niemals die Stunden in Gefangenschaft vergessen. Sie hatten sich ihm eingebrannt und zugleich ein bisschen weiter seine Persönlichkeit zu dem gemacht, die sie nun war. Spurlos war das Ganze also sicherlich nicht an ihm vorübergezogen. Doch all das sagte er Amanda nicht. Stattdessen strich er ihr noch ein letztes Mal durch die blonden Locken, ehe er sich von ihr löste und in einen Morgenmantel seiner Größe schlüpfte. „Natürlich bekommst du ein Handy. Sven bringt es nachher gleich mit meinem mit. Wir müssen immerhin die Möglichkeit haben, Kontakt zu halten, selbst wenn uns nur zwei Zimmer trennen sollten. Mach dir deshalb also keine Sorgen.“ Im Spiegel neben der Tür prüfte er noch einmal, wie viel man von seinen Verletzungen trotz des Morgenmantels sehen konnte. Das Ergebnis stimmte ihn zufrieden. Er sah damit nicht allzu derangiert aus. „Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Palia, um mit ihr die weiteren Schritte zu besprechen. Du solltest in der Zwischenzeit Nele besuchen gehen. Wir treffen uns dann wieder hier.“ Er warf schnell einen Blick auf die Nachtischuhr neben dem Bett. „Sagen wir in einer Dreiviertelstunde. Dann dürfte Sven auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.“ Nataniel hatte schon die Hand auf dem Türgriff, als er sich zu Amanda herumdrehte und sie ansah. Sein Blick sagte nicht viel, außer dass er sie nur ungern alleine ließ und hoffte, sie so bald wie möglich wiederzusehen. Selbst die paar Minuten wollte er nicht von ihr getrennt sein, aber was sein musste, musste eben sein. Er konnte es nicht ändern. „Du wirst doch hier sein, oder?“, wollte er dann doch noch einmal leise und etwas unsicher wissen. Würde sie ihn denn überhaupt einmal verlassen, um etwas Dummes zu tun? Nataniel konnte nicht sagen, warum er immer noch diese unbestimmte Angst davor hatte, sie könnte einfach verschwinden. Vielleicht weil sie schon einmal gegangen war, um ihn zu verlassen? Aber das war damals doch etwas ganz anderes gewesen. Jetzt waren sie aus seiner Sicht und bestimmt auch aus ihrer, zusammen. Ein Paar sozusagen, auch wenn das nur eine dürftige Bezeichnung für die Beziehung zwischen seiner Gefährtin und ihm war. Sie war sein Leben, selbst wenn sich Amanda dessen gar nicht bewusst war.   Ihr Blick wanderte ebenfalls zur Uhr und etwas überrascht, stellte Amanda fest, dass es schon Nachmittag war. Gut, sie war bis kurz vor Morgengrauen wach gewesen, hatte dann doch einigermaßen lange geschlafen. Dann noch das ausgedehnte Frühstück. Trotzdem fühlte es sich so an, als wären ihr ein paar Stunden des Tages einfach verloren gegangen. Durch die späte Uhrzeit einigermaßen beflügelt, sprang Amanda motiviert aus dem Bett und bemerkte Nataniels sorgenvolle Frage nicht als solche. Sie warf ihm ein warmes Lächeln zu, bevor sie sich über ihre Kleider beugte und sie prüfend durchsah. „Aber klar. Dreiviertelstunde. Wir sehen uns dann.“ Die Hose und der Pulli standen wirklich fast von selbst vor Dreck. Zwar hatte Amanda die Kleidung auf dem Campingplatz notdürftig ausgebürstet und auch einmal kurz mit Handseife ausgewaschen, aber die Wanderung war ihnen trotzdem anzusehen. Der eine Ellenbogen des Wollpullovers war völlig aufgetrennt, die Hose hing an vielen Stellen in Fetzen, und seit sie sich gestern um Nataniel gekümmert hatte, waren auch noch ein paar Blutflecken dazugekommen. Wahrscheinlich würde sie sich stark zurückhalten müssen, nicht Svens Füße zu küssen, wenn er mit sauberen Sachen für sie hier ankam. Und mit einem Handy. Hoffentlich hatte Clea die Gruppe gut erreicht und sie waren alle einigermaßen sicher aufgehoben. Amanda konnte sich vorstellen, dass die Moonleague in der Hauptstadt merkbar gewütet hatte, auf der Suche nach demjenigen, der den Hauptrechner sabotiert hatte. Viele Menschen hatten Clea eigentlich zu danken und jetzt musste Amandas Freundin im Untergrund leben, wie so viele andere, die es nicht verdient hatten. Flammen loderten in Amandas Bauch hoch, die sie stocksteif dastehen ließen, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie musste etwas unternehmen. Die Moonleague durfte nicht weiter bestehen. Der Computercrash musste erst der Anfang gewesen sein. Mit ernsten Gesichtszügen und einem neuen Ziel vor Augen, zog Amanda sich an und atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie sich auf den Weg zum Zimmer von Nele und ihren Eltern machte. Sie klopfte deutlich an und bekam auch fast sofort Antwort. Allerdings erzählte Neles Mutter, dass die Kleine mit zwei Leopardenjungen nach draußen zum Spielen gegangen war. Also folgte Amanda dem langen Gang zum Aufzug und dann hinunter ins Foyer, bis auf den Rasen hinter dem großen Gebäude, wo sie die Kinder sofort an dem kleinen Teich entdeckte. Nele beugte sich gerade über die Wasseroberfläche und schien von irgendetwas sehr fasziniert zu sein. Wie sich herausstellte, als Amanda auf sich aufmerksam gemacht und sich ein wenig mit den Kindern unterhalten hatte, sollten Frösche in dem kleinen Teich zu finden sein. Allerdings hatten die Jungs, die selbsternannterweise großartige Froschfänger waren, bis jetzt kein Glück gehabt. Kurz vor der verabredeten Zeit, nahm Amanda Nele zur Seite und sprach ruhig mit ihr. Es sollte keine wirkliche Abschiedsszene werden, aber es tat ihr doch im Herzen weh, dass sie die Kleine nun eine Weile nicht sehen konnte. „Ich werde deinen Eltern meine Telefonnummer geben. Dann kannst du mich jederzeit anrufen, ja?“ Die beiden umarmten sich lange und Amanda lächelte Nele hinterher, bis die Kleine wieder in die Froschjagd vertieft war. Wieder in ihrem Hotelzimmer fiel Amanda auf, dass die Reste vom Frühstück weggeräumt worden waren und auch das Bett war gemacht. Ziemlich flinkes Personal, das musste man neidlos zugestehen. Das Bad war ebenfalls geputzt und Amanda freute sich schon unwahrscheinlich auf eine ausgiebige Dusche und die frische Kleidung. Hoffentlich ließ Sven nicht mehr lange auf sich warten. Um das Bett nicht mit ihren Klamotten zu beschmutzen, setzte sich Amanda in einen Sessel ans Fenster und sah hinaus, während sie auf Nataniel wartete.   ***   Das Gespräch mit Palia verlief wie zu erwarten gut. Sie war wirklich eine kompetente und vor allem sehr sorgfältige Frau, in allem, was sie tat. Sie hatte bereits ebenfalls mit Sven telefoniert und auch schon mit dem Großteil ihres Rudels gesprochen, um ihnen die nächsten Sicherheitsvorkehrungen zu erklären. Außerdem würde sie sich darum kümmern, dass keiner von ihnen zu lange im Hotel wohnen musste, während Nataniel und Amanda zu seinen Pflegeeltern fuhren. Die Pumalady verstand nur zu gut, dass er dringend eine Pause brauchte, weil sie es schon nicht gut geheißen hatte, dass er bereits wieder im ganzen Hotel herumlief. Da er jedoch der Boss war, musste sie sich mit jeglichen Kommentaren zurückhalten. Damit auch sie sich eine kleine Auszeit gönnen konnte, versprach er ihr, sich um die restlichen Mitglieder zu kümmern, die sie noch nicht aufgesucht hatte. Auch diese Gespräche verliefen recht gut. Alle waren froh, wieder eine Dusche und ein weiches Bett zu besitzen. Weshalb sie nichts dagegen hatten, ein Weilchen noch im Hotel verbringen zu müssen, bis jeder von ihnen ein neues Heim hatte. Es gab nicht allzu viel Auswahl an Immobilien, aber bestimmt würde sich das Rudel untereinander einig werden, wer wo wohnen würde. Diejenigen, die wirklich nichts fanden, hatten Nataniels Erlaubnis auch weiter wegzuziehen, solange sie ihm über jedes Zusammentreffen mit fremden Gestaltwandlern sofort Bescheid gaben. Das würde schon alles irgendwie klappen. Daran hatte Nataniel keine Zweifel. Es war eben alles nur eine Frage der Organisation und darin schien Palia vollkommen in ihren Fähigkeiten aufzugehen.   Nataniel war schon etwas spät dran, was den Zeitpunkt anging, den er mit Amanda ausgemacht hatte. Weshalb er sich auch beeilte und im Flur fast mit Sven zusammengekracht wäre, der gerade aus dem Fahrstuhl gekommen war. „Was zum –?“, fluchte der kleine Blondhaarige los, als ihm beinahe seine Notebooktasche runtergefallen wäre, die er gerade noch so hatte auffangen können. Sein aufkommender Wortschwall verstummte jedoch, als er mit seinen giftgrünen Augen in dem blassen Gesicht an Nataniels groß gewachsener Gestalt hochblickte, bis sein Freund den Kopf sogar in den Nacken legen musste. „Pünktlich wie ein Uhrwerk“, lobte Nataniel seinen Kumpel und nahm ihm die beiden Plastiktüten ab, die dieser in der anderen Hand hielt. Aus Erfahrung wusste er, dass Sven es nicht ausstehen konnte, wenn man sein Baby anfasste. „Nataniel? Mann, mit was haben die dich denn gefüttert? Spinn ich, oder bist du seit unserer letzten Begegnung noch um weitere zehn Zentimeter gewachsen?“ Svens ungläubiges Gesicht brachte Nataniel zum Grinsen. Er hatte ganz vergessen, dass er zwar immer wieder mit Sven telefoniert, ihn aber schon seit einigen Jahren nicht mehr persönlich gesehen hatte. Trotzdem glaubte er nicht, dass er in dieser Zeit gewachsen war. Es war einfach zu lange her, dass sie sich gesehen hatten. „Reine Einbildung. Du warst eben schon immer ein Winzling.“ Aber was Sven an Körpergröße fehlte, machte er mit seinem IQ wieder weg. Man sollte den 1,65 m großen Mann bloß nicht unterschätzen. Er mochte vielleicht kein Raubtier in sich tragen, aber wenn es hart auf hart kam, konnte man immer auf ihn zählen. So wie in diesem Augenblick. „Ja, ja. Wenigstens halte ich meinen Schädel nicht in zu dünne Luft“, konterte Sven schlagkräftig wie eh und je. Ehe er seinen Laptop schulterte und endgültig in den Flur trat. „Also, nimmst du mich jetzt mit auf dein Zimmer, oder soll ich gleich hier auspacken? Du weißt doch, ich hab nichts gegen einen Quickie in aller Öffentlichkeit.“ „Darauf wette ich“, gab Nataniel wissend zurück und schob seinen blondhaarigen Freund dann ein Stück den Gang entlang, bis er Amandas und sein Zimmer erreicht hatte und mit der Schlüsselkarte die Tür öffnete. Doch anstatt seinen Freund gleich reinzulassen, steckte Nataniel seinen Kopf kurz ins Zimmer, um die Lage zu checken. Als er Amanda in einem Sessel sitzen und auf ihn warten sah, öffnete er die Tür weiter, um auch seinen Freund hereinzulassen. Danach schloss er sie hinter ihnen. „Amanda darf ich vorstellen, Sven. Sven, das ist Amanda.“ Nataniel machte eine entsprechende Handbewegung, ließ dann aber sogleich den Inhalt der beiden Tüten auf das Bett fallen. Was Svens Geschmack anging, konnte man wirklich nicht meckern. Er kannte Nataniel ziemlich gut. Jeans, ein hellblaues Shirt und dazu noch eine langärmlige Lederjacke in Beige. „Hi, Amanda. Wir hatten ja schon einmal das Vergnügen miteinander zu telefonieren.“ Sven reichte Amanda seine Hand, ehe er auch schon einen Platz für sein Baby suchte. Offensichtlich hatte er sich für den kleinen Tisch samt Stuhl am Fenster entschieden, denn dort ließ er die Laptoptasche runter und begann sie zu öffnen. „Also, ich habe die wichtigsten Nummern bereits in den Handys eingespeichert. Eure gegenseitigen Nummern findet ihr jeweils unter der Kurzwahltaste 1. Wenn’s ganz schnell gehen soll. Außerdem habt ihr einen Internetzugang und könnt nicht aufgespürt werden.“ Er reichte sowohl Nataniel auch Amanda ein Handy und startete dann seinen Laptop. „Ich hab die Pläne mit, die du haben wolltest, Nataniel. Es gibt mehr als genug Grundstücke zu erwerben. Das sollte also kein Problem sein. Und weil hier in diesem Kaff auch so viel los ist, sind die Preise wirklich spottbillig.“ „Danke, Sven.“ Nataniel reichte Amanda die frischen Klamotten und flüsterte ihr „Ladys first“ zu, während er in Richtung Bad nickte und ihr ein warmes Lächeln schenkte.   Amanda drückte die Hand des blonden Mannes kurz und lächelte. Dass Sven sich gleich an die Arbeit machte und ihnen die Handys in die Hand drückte, gefiel Amanda. Es hatte etwas Aufgeräumtes, das ihr bei dem ganzen Durcheinander, das sie hier organisieren sollten, als sehr hilfreich erschien. Ein wenig wehmütig besah sich Amanda das kleine weiße Handy, das in ihrer Hand ruhte. Es erinnerte noch nicht einmal annähernd an ihren luxuriösen PDA, auch wenn es mehr zu können schien, als man von außen vermuten würde. Internetzugang, recht gute Kamera und die wichtigsten Nummern bereits eingespeichert. Wie nebenbei hielt Amanda das Telefon hoch und schoss ein Foto von Nataniel im Profil, der gerade Sven dabei beobachtete, wie der seinen Laptop anschloss. Amanda speicherte das Foto zu Nataniels Kurzwahl und legte das Handy dann auf dem Bett ab. Sie warf nur einen kurzen Blick in die Tüte mit den Klamotten, die Nataniels Freund für sie besorgt hatte, und verschwand dann im Badezimmer. Dort schälte sie sich aus ihren zerschlissenen Klamotten und betrat erst einmal die Duschkabine. Während sie auf die richtige Temperatur des Wassers wartete, band sie sich die Locken hoch, damit ihre Haare nicht nass wurden. Amanda duschte wirklich nur kurz, um sich zu waschen und stand dann in ein Badetuch gehüllt vor dem großen Spiegel, die Plastiktüte mit den Klamotten vor sich im Waschbecken. Das Erste, was sie herauszog, war ein Unterwäscheset in Schwarz, das ihr beinahe die Röte ins Gesicht trieb. Es bestand mehr oder weniger nur aus Spitze, und als Amanda kurz prüfend die Finger hineinsteckte, konnte sie sogar die Linien auf ihrer Handfläche erkennen. Ihr entkam ein erleichtertes Seufzen, als sie sah, dass dieser Hauch von Nichts zumindest die richtige Größe hatte. Da war sie jetzt aber wirklich auf den Rest von Svens Einkauf gespannt. Aus der Plastiktüte förderte Amanda ein ebenfalls schwarzes, eng geschnittenes Oberteil und eine dunkelblaue Jeans hervor. Glücklicherweise war beides eher sportlich geschnitten und würde mit den Wanderschuhen einigermaßen zusammenpassen. Hätte das restliche Outfit der Unterwäsche entsprochen, wäre sich Amanda vorgekommen, als würde sie Schaulaufen. Als sie die Haare wieder aufgebunden und sie ein wenig frisiert hatte, fand sie sich im Spiegel zwar ein wenig blass, aber durchaus ansehnlich. Ihre alten Klamotten ließ Amanda einfach neben dem Mülleimer im Bad liegen und kam frisch in das Zimmer zurück, um sich der Beratung der beiden Männer anzuschließen.   Kaum das die Badezimmertür hinter Amanda zugegangen war, drehte sich Sven mit einem nur zu vertrauten Gesichtsausdruck zu Nataniel herum, der gerade den Morgenmantel öffnete, um sich die frischen Klamotten anzuziehen. Er mochte es zwar gern gemütlich, aber der Morgenmantellook war nun wirklich nicht sein Stil. „Bist du dir wirklich sicher, was sie ... Scheiße, Nataniel, was ist denn mit dir passiert? Hast du dich schon wieder mit dieser Bärin eingelassen, oder was?“, zischte Sven entsetzt, was bei ihm schon etwas heißen wollte. Normalerweise brachte den Typen nichts so schnell aus der Fassung. „Kein Bär. Ein Tiger, ein Leopard und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war sogar ein Puma dabei und ja verdammt, ich bin mir sicher, was Amanda angeht.“ Nataniel klang nicht gerade erfreut über Svens Frage, was seine Skepsis Amanda gegenüber anging. Dennoch zog er sich in aller Ruhe die Jeans vorsichtig über die Verbände und streifte sich ganz sachte das Shirt über den Kopf. Diese Bewegung tat besonders weh, dennoch konnte er sich einen Laut verkneifen. „Sollte sie dann nicht von dem flotten Vierer wissen, den du da gehabt hast? Ich meine, du fällst auf wie ein bunter Hund“, gab Sven nun wieder etwas entspannter zu bedenken. Der Kerl musste sich aber auch immer viel zu schnell wieder erholen. Wo blieb denn da der ganze Spaß? „Sven, halt die Klappe. Du weißt genau, dass das keine Frauen waren und ich hab auch absolut keinen Bock, mich ausführlich über dieses Thema mit dir zu unterhalten. Ich weiß ja, dass es dir komisch vorkommen muss, weil gerade ich mit einem Menschen zusammen sein will, aber was dich betrifft, hatte ich ja auch nie Probleme, oder irre ich mich da?“ Um Svens missgelaunte Miene nicht länger mit ansehen zu müssen, hing Nataniel den Morgenmantel wieder auf, zog sich auch noch die Lederjacke über und zog aus Amandas Rucksack seine Socken und Turnschuhe, die er vor ewig langer Zeit dort drin verstaut hatte. „Das ist doch was vollkommen anderes. Ich bin immerhin ein Gestaltwandler, sie nicht. Darum geht’s mir auch gar nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass du keinen Fehler machst. Du musst dir doch selbst im Klaren darüber sein, wie schwierig eine Beziehung mit einem Menschen ist“, grummelte der Blondhaarige, während er sich wieder seinem Bildschirm zuwandte und irgendetwas eintippte. Leicht genervt aber trotzdem gelassen drehte Nataniel sich wieder herum und setzte sich auf die Kante des Bettes, wo er sowohl einen Blick auf den Bildschirm als auch auf Svens Miene hatte. „Irgendwie kommen wir schon klar damit. Unterschätze Amanda nicht. Sie hat mehr auf dem Kasten, als du ihr zutraust. Sie ist so anders, als diese schwächlichen Menschenfrauen.“ Und trotzdem wieder nicht, aber das würde er Sven sicherlich nicht auf die Nase binden, da dieser ohnehin schon viel zu neugierig war. Weshalb er das Thema auch langsam satthatte. Immerhin wusste er selbst, dass es nicht einfach war. Selbst wenn sie schon ein paar der ersten Hürden überwunden hatten. Die Sache mit dem Sex und dem Panther war wirklich ein ganz schönes Stück gewesen, aber sie hatten es doch überstanden, oder etwa nicht? Viel schlimmer konnten doch wohl die anderen Dinge auch nicht sein. Hoffte er zumindest. „Aber wolltest du mir nicht eigentlich was zeigen? Immerhin bist du nicht zum Vergnügen hier. Unterhalten können wir uns später auch noch. Jetzt will ich Resultate sehen.“ Sven blickte Nataniel erneut skeptisch und zugleich musternd an. Offenbar war ihm der dominante Tonfall seines Freundes nicht entgangen. „Was bin ich froh, dass ich nicht in deinem Rudel bin. Das würde mir noch fehlen, vor dir zu kuschen.“ Er schüttelte seinen blonden Haarschopf und Nataniel schwieg wohlweislich auf diese Aussage. Sven meinte es nicht unbedingt so, wie er es gesagt hatte. Im Grunde wollte er damit einfach nur ausdrücken, dass er Nataniel zwar als ein Alphatier ansah, aber sich ihre Freundschaft dadurch nicht ändern würde. Gerade, als er Nataniel die Grundstückspläne zeigte, kam Amanda aus dem Badezimmer. Sofort hoben sich die Köpfe der beiden Männer in ihre Richtung und Nataniels spezieller Alphatiergeruch wurde merklich stärker, als er sie sah. Woraufhin Sven die Nase rümpfte und irgendetwas von wegen „Typisch Raubkatze“ murmelte, ehe er seinen Blick wieder auf den Bildschirm richtete. Nataniel hingegen lächelte sie an, als könne er nicht fassen, was für ein Glück er doch hatte. Was ja auch stimmte.   In der nächsten Stunde besprachen sie die Grundstücke, die für sein Rudel in Frage kamen, da nicht jedes weit genug von der Stadt weg und gut genug geschützt lag. Danach kamen noch die Details der Grundstücksverkäufe ins Spiel. Da Nataniel bereits mit jeder einzelnen Familie gesprochen hatte, war es kein Problem mehr, die Immobilien über anonyme Quellen zu verkaufen und das Geld auf die jeweils neu angelegten Konten zu überweisen, die Sven zu den neuen Identitäten eröffnet hatte. Es würde also niemand leer ausgehen, und da die Grundstückspreise hier so billig waren, war der Neuanfang auch sicher kein allzu großes Problem. Nachdem auch das geklärt war, packte Sven zusammen, um sich mit Palia zusammenzusetzen. Die genauen Details würden die beiden alleine besprechen, wo Nataniel und Amanda zum Glück nicht zugegen sein mussten. Sven hatte bereits alles zusammen, als er noch etwas aus seiner Hosentasche hervor kramte. „Hier, der Schlüssel für das Leihauto. Es ist der schwarze Pick-up auf dem Kundenparkplatz. Gib mir einfach Bescheid, wenn du ihn nicht mehr brauchst, ich werde bis dahin einfach so lange die Rückgabefrist immer wieder verlängern.“ Nataniel fing die Schlüssel auf und drehte sie zwischen seinen Fingern. „Danke. Hast was gut bei mir.“ „Ach, Quatsch. Ich zieh’s dir einfach vom Konto ab“, meinte Sven grinsend und wandte sich dann an Amanda. „Hat mich gefreut, dich auch mal persönlich kennenzulernen.“ Er schüttelte ihr wieder die Hand und beugte sich dann verschwörerisch etwas zu ihr. „Pass bloß auf, was diesen überdimensionierten Kater angeht. Der ist bissig.“ Er zwinkerte ihr zu, schnappte sich seine Tasche, ignorierte Nataniels Knurren und machte sich mit einem fröhlichen „Tschüss“ aus dem Staub, bevor der Panther wirklich noch einmal nach ihm schnappen konnte. „Dämlicher Fischfresser!“, zischte Nataniel ihm noch nach, obwohl die Tür schon ins Schloss gefallen war.   Amanda sah Sven schmunzelnd hinterher. Wenn sie an die Unterwäsche dachte, die der Mann für sie ausgesucht hatte, konnte sie eigentlich nur davon ausgehen, dass der Blonde wollte, dass Nataniel ein wenig an ihr herumknabberte. Seltsamer Typ, aber doch irgendwie sympathisch. Mit dem Fluch, den Nataniel seinem Kumpel hinterherschickte, konnte Amanda nichts anfangen. Aber da sie sich schon, seit sie Sven nun endlich gesehen hatte, fragte, was er für ein Tier in sich trug, hielt sie sich nicht länger zurück. „Was ist denn Svens Tier? Wenn ich mal so neugierig sein darf. Er scheint ja offensichtlich einer anderen Art anzugehören als du.“ Amanda setzte sich aufs Bett und drehte ihr neues Handy ein paar Mal zwischen den Fingern, während sie Nataniels neues Outfit in Augenschein nahm. Die Lederjacke war vielleicht etwas viel hier im Hotelzimmer, aber ansonsten konnte man an Svens Wahl nicht meckern. Man hätte fast die Verbände unter dem hellen Shirt und der Hose vergessen mögen, wenn man Nataniel so sah. Kurz entschlossen erhob sich Amanda erneut und ging auf Nataniel zu, nahm seine Hände und streichelte mit ihren Daumen seine Handrücken. „Wie geht’s dir eigentlich?“ Bestimmt hatte ihn das heute schon hundertmal jemand gefragt, aber Amanda wollte wirklich wissen, wie Nataniel sich fühlte. Immerhin hatte er noch gar nicht darüber gesprochen, was genau während des Kampfes mit Nicolai passiert war. Nataniel hatte den Mörder seines Vaters getötet. Soviel stand außer Frage. Aber damit war sicher auch nicht so leicht fertig zu werden. Auch wenn Nataniel nach außen hin wie der gefasste Anführer wirkte und alles im Griff zu haben schien, wollte Amanda nicht, dass er das, was passiert war, einfach überging. Sonst würde es ihn nur noch lange verfolgen und ihm unnötig Kräfte rauben. Andererseits konnte es sein, dass Nataniel nicht darüber reden wollte. Noch nicht. Vielleicht wollte er erst vollkommen zur Ruhe kommen und sich bei seiner Pflegefamilie wieder heimisch und sicher fühlen, bevor er sich mit dem beschäftigte, was er getan hatte. Hatte tun müssen. Amanda wusste es nicht, aber sie wollte gern für ihn da sein, wenn er sie brauchte.   Sofort war er besänftigt, als Amanda seine Hände ergriff und darüber streichelte. Er hatte nicht übertrieben, als er ihr erzählt hatte, zu was alles Gefährtinnen fähig waren. Sein Gemüt war nun auf jeden Fall beruhigt und er fühlte sich wieder heimelig wohl in seiner Haut, trotz der ganzen Stellen, die höllisch wehtaten. Doch wie Katzen, zeigte auch er nicht, wenn ihm etwas wehtat, es sei denn, es war so schlimm, dass er es gar nicht mehr aushielt. Doch dem war zum Glück nicht so. Er würde es überleben, heilten seine Verletzungen doch in rasender Geschwindigkeit. „Sven ist ein Fischotter. Ich weiß eigentlich auch nicht so genau, wie wir es beide so lange miteinander aushalten konnten. Aber wir waren schon Freunde seit der Grundschule, als ein paar Bärenkids ihn verprügelten. Hab mich dazwischen geworfen. Nicht, dass ich gewonnen hätte, aber das gemeinsame Zusammenflicken hinterher hat irgendwie verbunden.“ Nataniel lächelte, als er daran zurückdachte. Sein erster Kampf, seine ersten Narben. So etwas vergaß man nicht so leicht. Sanft nahm er Amandas Hände zwischen seine, hauchte einen Kuss darauf, ehe er sie sich um den Hals legte und seine Arme um ihren Körper schlang. „Ich weiß, das klingt jetzt verdammt kitschig, aber es stimmt trotzdem. Wenn ich bei dir bin, geht’s mir gut“, schnurrte er leise gegen ihre Lippen. Sein Kuss war sanft, etwas zurückhaltend, weil er gerade alles andere als seine vollen Kräfte zur Verfügung hatte und trotzdem voller Zärtlichkeit. Wie immer war es schwer, sich von ihren Lippen zu lösen, aber nun, da alles geklärt war, wollte er keinen Moment länger warten, bis er seine Familie endlich wieder sah. Außerdem war er total gespannt darauf, was Amanda von ihnen halten würde. „Bereit, dich meiner Verwandtschaft zu stellen?“, fragte er daher neckend, während er ihren Rucksack wie gewohnt schulterte, sich dann aber als Strafe ein kräftiges Ziehen in der Schulter einfing, woraufhin er den Rucksack wie einen nassen Lappen wieder fallenließ. Leise vor sich hin grummelnd, legte er sich den Riemen vorsichtig auf die andere Schulter und steckte sein eigenes Handy in die Hosentasche. „Dieses Mal fahre aber ich“, kündigte er mit dem Stolz eines Mannes an, der auf große Autos stand, obwohl dem kein bisschen so war. Aber er versuchte damit, ja auch lediglich seine eben gezeigte Schwäche zu übertünchen. Amanda musste nicht erfahren, dass er sich nicht so gut fühlte, wie er vielleicht aussah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)