Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 24: 24. Kapitel ----------------------- Die nächsten Tage waren wie ein verschwommener Stummfilm. Viele Stunden schien Nataniel unter harten Beruhigungsmitteln in einem Käfig zu verbringen, der für seine Körpergröße viel zu klein war, während man ihn fortbrachte. Weit weg von seinem Rudel. Hoffentlich war es in Sicherheit. Man behandelte ihn roh und brutal, da er vier ihrer Kameraden getötet hatte, bis man ihn hatte bändigen können. Ein Grund mehr, sich nicht zurückzuverwandeln. Als Raubkatze hatte er wenigstens die Mittel, sich halbwegs zu verteidigen und sein Fell bot ihm zumindest etwas Schutz. In den Stunden, die Nataniel in vollkommener Dunkelheit verbrachte, versuchte er sich mit dem Tier auszusöhnen, doch zeitgleich wurde ihm bewusst, dass das nicht nötig war. Die aufgefüllte Leere in ihm hatte ihm deutlicher gezeigt, dass er ohne das Tier nicht vollkommen war, als es je etwas anderes vermocht hätte. Genauso wie das Tier ohne ihn nicht existieren konnte. Sie gehörten zusammen und spürten den gleichen Schmerz in der Brust, wenn sie an ihr Rudel oder an Amanda dachten. Noch immer weigerte er sich, zu glauben, dass sie es war, die sie verraten hatte. Es musste einfach eine andere Lösung geben. Etwas, das er nicht bedachte und in seinem Zustand auch nicht richtig ergründen konnte.   ***   Nataniel wehrte sich verbissen gegen die Hände, die ihn aus dem kleinen schützenden Käfig zogen und zugleich in einen kalten Raum ohne Fenster verfrachteten. Da waren nur Betonwände und eine massive Stahltür. Wieder betäubten sie ihn, bis er glaubte, sein Herz müsste unter all den Mitteln versagen. Doch dieses Mal versank er nicht in tiefen erlösenden Schlaf, stattdessen war er kurz darauf völlig unfähig, auch nur mit den Augen zu blinzeln. Er war gelähmt, damit er sich nicht wehren konnte, aber dennoch den grausamen Akt voll und ganz mitbekommen konnte, den sie kurz darauf an ihm vollzogen. Mit stummem Entsetzen, da er nicht einmal brüllen konnte, sah er mit an, wie sie seine linke Schulter rasierten und ihm das Zeichen der Registrierung mit schwarzer Tinte in seiner Raubtierhaut verewigten. Danach ließen sie ihn mit dem Gefühl des totalen Versagens alleine.   ***   Der Klang ihrer Stiefel hallte von den leeren Wänden wider, während Amanda so langsam wie nötig und so schnell wie möglich durch die Korridore der Zentrale lief. Immer wieder begegnete sie Leuten, die ihr grüßend zunickten oder ein wenig verstohlen einen Blick auf sie warfen. Die meisten wussten, wer sie war. Immerhin war sie länger hier als manch älterer Kollege. Und wenn Amanda mit diesem verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht durch das Gebäude wirbelte, als wäre sie der Teufel persönlich, dann konnte es nur bedeuten, dass es Ärger gab. Mit dem Klemmbrett unter dem Arm stieß sie die Feuertür zum Treppenhaus auf, hörte, wie sie zufiel, und nahm dann drei Stufen auf einmal, um die zwei Stockwerke zu überbrücken. Sie atmete nicht einmal hörbar schneller, als sie in den weißen Gang trat, der genauso aussah wie der, den sie gerade verlassen hatte. Bloß kam ihr hier niemand entgegen. Ihre Augen flogen über die Notiz, die W4 ihr gegeben hatte, und wandte sich nach rechts. Am Ende des hell erleuchteten Ganges kam sie zu einer Sicherheitsschleuse, an der ihre Netzhaut gescannt wurde. Wie immer und wie bei sonst nur wenigen Mitgliedern der Organisation flammte ein kleines rotes Warnsignal neben ihrer Zugangsbestätigung auf: N47, die gleiche Buchstaben- und Zahlenkombination, die unter ihrem Haaransatz im Nacken zu lesen war. Ein Wärter sah sich noch ihren Ausweis an und notierte die Zeit ihres Zugangs, bevor er ihr zu der Zelle folgte, zu der sie wollte und von außen das Licht anschaltete. Er würde hier auf sie warten, falls es Probleme gäbe. Amanda nickte nur abgehakt und ließ sich die Tür öffnen. Der Raum war größer, als es die schwere Tür von außen vermuten ließ. Wie es Vorschrift war, blieb Amanda erst einmal hinter der gelben Linie auf dem Boden stehen. So weit würde die Kette, die sie ihm umgelegt hatten, reichen. Hier war sie sicher und würde Krallen, Zähnen oder anderen Angriffen entgehen. Mal von verbalen Attacken abgesehen. Und die erwartete sie mehr als alles Andere. Aber sie fürchtete sich nicht. Er konnte ihr nicht mehr wehtun, als er es bereits getan hatte. Der Kugelschreiber verursachte ein leichtes Schaben, als sie ihn aus der Metallklammer des Klemmbretts zog, vertuschte aber ausgezeichnet den kleinen Knopfdruck, den sie vollführte, um die Kommunikationsleitung zum Raum über Cleas Terminal umzuleiten. Niemand würde sie belauschen können. Auch wenn Amanda sich nicht einmal sicher war, dass es zu einem Gespräch kommen würde. Aber es reichte auch, wenn er ihr zuhörte. Ihr Blick ruhte einen Moment auf seiner Schulter, wo die Zeichen deutlich in schwarz und mit einem blutigen, entzündeten Rand hervorstachen. Das hätte sie ihm auf keinen Fall ersparen können, egal wie schnell sie den Auftrag übernommen hatte und hierher gekommen war. „Wir werden nicht abgehört.“ Er würde ihr nicht glauben. „Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Sie haben mir erst vor fünfzehn Minuten gesagt, dass du hier bist.“ Er würde ihr nicht mal zuhören. „Ich bring dich hier raus.“ Aber das war egal, denn sie log ihn nicht an.   Nataniel sah sich nicht einmal um, als die Tür zu seinem Gefängnis geöffnet wurde. Seine Augen starrten leer durch die Gegend und machten vermutlich keinen Unterschied zu jenem Anblick, den er noch vor einigen Tagen abgegeben hatte, ehe er sein Tier wieder zugelassen hatte. Doch statt der Leere in seinem Inneren schien er zu brennen. Die Sorge um sein Rudel fraß ihn regelrecht auf. Seine gestohlene Anonymität schmerzte ihn gewaltig, da er versagt hatte und somit das Opfer seiner Eltern umsonst gewesen war. Genauso wie der Tod seines Bruders. Manchmal glaubte er sogar, an dem gewaltigen Kloß in seinem Hals ersticken zu müssen, der so sehr brannte, als würde er langsam aber sicher von innen verätzt werden. Noch bevor er ihre Stimme erkannte, umfing ihr Geruch sein Gehirn wie erlösender Nebel. Auf der Stelle riss Nataniel den Kopf in die Richtung, aus der der Duft kam, wobei die Kette um seinen Hals vernehmlich klirrte. Sie war es tatsächlich, auch wenn der Ausdruck ihrer hellbraunen Augen für ihn schlimmer war, als wenn man ihm das Fell bei lebendigem Leibe abgezogen hätte. Schweigend hörte er ihr zu, und noch ehe das letzte Wort im Raum verklungen war, setzte er sich auf und verwandelte sich, was mit dem Metallring um seinen Hals nicht leicht, aber auch nicht unmöglich war. Er schlang die Arme um seine nackten Knie, während er sich seitlich gegen die Wand lehnte. Nataniel war unglaublich müde, hungrig und von den Mitteln, die man ihm gegeben hatte, vollkommen ausgelaugt, dennoch waren seine Augen wachsam auf Amanda gerichtet. Es gab so vieles, dass er ihr hätte sagen wollen, doch nichts davon hätte auch nur im Ansatz erklärt, wie leid ihm das alles tat. Nicht nur ihm, sondern auch dem Panther. Doppeltes Schuldbewusstsein. „J-Jem…“ Er musste sich räuspern, da seine Stimme so rau wie Schleifpapier war. „Jemand hat unser Rudel verraten. Ein Informant hatte mir gerade mitgeteilt, dass unzählige Daten über fast jeden unserer Clanmitglieder bei der Moonleague eingegangen sind. Inklusive des Namens der Stadt, in deren Nähe unser Lager war. Ich konnte sie noch warnen, mich hat man erwischt.“ Wieder musste er an sein Rudel denken und ob es in Sicherheit war. Wenn auch nur einem einzigen Mitglied etwas passiert war, könnte er sich das niemals verzeihen. Es war alles seine Schuld. Seine Dummheit hatte sie in Gefahr gebracht und seine Unfähigkeit zu handeln. Doch, da er ohnehin nichts mehr daran ändern konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Amanda. Er hatte keinen einzigen Moment lang dem Drang nachgegeben, sie zu beschuldigen. Er glaubte einfach nicht, dass sie es war. Weshalb er immer wieder 'unser Rudel' gesagt hatte und nicht 'sein Rudel'. Auch wenn Amanda es verlassen hatte. Sie gehörte dazu. In seinen Augen würde sie immer dazugehören. Genauso wie ihr Bruder.   Amanda nickte nur und machte sich Notizen auf dem Klemmbrett, die allerdings nur für die Kameras da waren. Es war nicht mehr als ein paar leere Worte auf dem Papierbogen. Seit Nataniel sich verwandelt hatte, richtete Amanda ihren Blick hauptsächlich auf die Spitze des Kugelschreibers, die im Neonlicht fahl glänzte. Ihn sah sie nur hin und wieder an, ohne irgendeines ihrer Gefühle aus ihrem Inneren preiszugeben. An ihren Kiefermuskeln, die sich anspannten und ihren Augen, die sich wütend verengten, musste er sehr genau erkennen, was sie bei dem empfand, was er ihr erzählte. Wie war das möglich? Niemand von der Organisation war dort gewesen. Niemand außer Eric und ihr. Und sie hatten niemanden verraten. Es hatte Amanda bereits verwundert, dass Nataniel ihr den Gefallen getan hatte, sich zu verwandeln, um mit ihr sprechen zu können. Sie wollte sein momentan anscheinend großzügiges Wesen nicht zu sehr strapazieren, aber ob er es ihr glaubte oder nicht, sie musste es ihm sagen. „Es tut mir leid. Ich habe nichts davon gewusst, sonst hätte ich es euch wissen lassen.“ Kurz begegneten ihre Augen den seinen, bevor sie sich wieder auf ihren Berichtsbogen konzentrierte und irgendeinen ausgemachten Blödsinn darauf kritzelte. „Clea kann herausfinden, ob und wie viele erwischt worden sind. Ich lass dir was zu essen bringen und bin sobald ich kann mit Informationen wieder hier.“ Während sie den Kugelschreiber wieder verstaute und die Notizen unter ihren Arm klemmte, hätte sie gern ein aufmunterndes Lächeln zustande gebracht. Aber sie konnte nicht. Nicht nach allem, was passiert war und vor allem nicht hier. „Mach dir nicht zu viele Sorgen, ich bekomm dich wahrscheinlich schon heute Nacht hier raus.“ Ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, den er nicht kannte, während sie sich nur zentimeterweise nach vorn bewegte, bis ihre Stiefelspitzen den gelben Streifen zunächst unschuldig berührten, um ihn dann irgendwann, wie nebenbei ein Stück zu überschreiten. Amanda ging, wie ärgerlich und aufgebracht über irgendetwas hin und her und überschritt immer wieder diese Grenze, die sie vor ihm schützen sollte. „Aber damit ich das kann, musst du mir helfen. Jetzt sofort. Und du hast keine zweite Chance.“ Der nächste Teil würde ihm sicher gefallen, was Amanda auch ein bitteres Grinsen in seine Richtung werfen ließ. „Greif mich an.“ Sie sah den verwirrten Ausdruck in seinem Gesicht und brachte ihn mit ihrem Blick dazu, auf die gelbe Linie zu sehen und endlich zu verstehen. Hier konnte sie nichts tun. Es gab nur elektrisches Licht, das sie nicht nutzen konnte, da es sich in jeden noch so kleinen Winkel des Raumes schmiegte. Erst musste er woandershin gebracht werden, bevor sie ihm zur Flucht verhelfen konnte. Amanda verlangsamte sogar ihre Schritte, auch wenn ihr klar war, dass es ihm so wahrscheinlich sogar zu einfach vorkam. Bestimmt kribbelten seine Finger schon, bei der Vorstellung, sie verletzen zu können. Und dennoch ließ er sie selbst in diesem Moment zappeln. „Jetzt.“   Er glaubte ihr sofort, dass sie nichts davon gewusst hatte. Sie hatte immerhin auch nichts von der 'Herodes-Aktion' gewusst, bis sie näher nachgeforscht hatte. Was für eine Organisation das auch immer war, bei der sie arbeitete, es war eine von der ganz verschwiegenen Sorte. Andererseits fragte sich Nataniel, wieso sie ihm überhaupt noch helfen wollte, nachdem er sie vermutlich gewaltig gedemütigt haben musste. Doch es entsprach mit großer Wahrscheinlichkeit ihrem Wesen, ihm selbst dann noch zu helfen, wenn er zum beschissensten Arschloch der Welt gekürt worden wäre. Als Amanda sich seltsam zu verhalten begann, fragte er sich, was sie vorhatte. Sie wollte ihn herausbringen, alles gut und schön, aber warum begann sie dann aufgebracht hin und her zu laufen, obwohl ihre Stimme absolut nicht dazu passte? Ihr Blick wies auf den gelben Streifen auf dem Boden, dessen Sinn er noch nicht ergründet hatte. Wenn es aber so etwas wie eine Sicherheitsvorkehrung war, könnte er sich den Rest selbst zusammenreimen. Vermutlich könnte er mit der Kette um den Hals nicht ganz bis zur Linie reichen. Amandas befehlender Tonfall, er solle sie angreifen, verwirrte und entsetzte ihn zugleich, doch er begann den Plan zu begreifen, den sie da offensichtlich ausgeheckt hatte. Aber sie angreifen? Nichts lag ihm ferner! Mit Müh und Not zwang er sich dazu, aufzustehen, was die Ketten wieder klirren ließ. Dabei versuchte Nataniel die Gegebenheiten als das zu sehen, was sie in Wirklichkeit waren. Amandas aufgebrachter Gang war in seinen Augen nichts weiter als Show und vermutlich ging es genau darum. Etwas zu bieten. Ihm fiel die kleine Kamera ein, die Amanda in seinem Käfig angebracht hatte, als er noch nicht wusste, was er war und bei der Ärztin im Zwinger festsaß. Bestimmt wurden sie auch jetzt beobachtet, auch wenn er nicht wagte, sich nach einer Kamera umzusehen. Das hätte vielleicht Amandas Plan durchkreuzt. Also spielte er mit. Er bleckte die Zähne, fuhr seine Krallen bis zum Anschlag aus und tat so, als würde er durch irgendetwas wahnsinnig wütend werden. Seine Augen verfolgten ihre langsam werdenden Schritte, als würde er die Entfernung für einen Sprung abschätzen. Er täuschte ein gespieltes Zucken vor, als würde ihm etwas wehtun. Begab sich dabei sogar in die Hocke und umschlang verkrampft mit seinen Armen seinen Oberkörper. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, während er ganz genau auf Amandas Schritte hörte, die ihm ihre Position verrieten. Gerade als sie vermutlich die Geduld bei diesem Spielchen verlor, oder sich ernsthaft fragte, was nun mit IHM los war, stieß er sich pfeilschnell vom Boden ab und schlug präzise mit seiner ausgestreckten Klaue nach ihr. Die Kette würgte ihn und riss ihn schmerzhaft zurück, doch als er auf dem Rücken aufschlug, dabei seine Schulter mit der Tätowierung umklammert hielt, als hätte er sich beim Aufprall daran verletzt, betrachtete er sein Werk. Er hatte Amandas Ärmel an ihrem linken Oberarm aufgeschlitzt, so dass nicht nur der weiße Stoff einer Bluse hervorstach, sondern auch deutlich das rote Blut daran zu erkennen war. Sein eigenes Blut. Das aus der Wunde, die er gerade fest mit seiner Hand zudrückte. Er hatte seiner frischen Tätowierung noch eine neue Verzierung verpasst. War das genug Show? Er hoffte es.   Er hatte sie nicht mal angekratzt. Einen Höllenschrecken hatte er ihr eingejagt, obwohl sie innerlich darauf vorbereitet hätte sein müssen, dass er sie ansprang. Aber nein, ihr saß der Schreck trotzdem in den Knochen und Amanda musste gar nicht wirklich vorspielen, dass sie an die Tür hinter sich zurücktaumelte. Der Raum wurde in dem Moment in rotes Licht getaucht, als ein Zischen zu hören war und Betäubungsgas durch die Luftschächte eingelassen wurde. Die Tür wurde entriegelt und Amanda von dem Wachmann herausgezerrt, bevor er die Metalltür wieder zuwarf. Amanda wäre es lieber gewesen, wenn Nataniel ihr tatsächlich eine Wunde zugefügt hätte. Dann wäre es mit dem weiteren Schauspiel leichter gewesen. Aber Wut brauchte sie fast nie zu spielen. „Mann, wo waren Sie denn? Haben Sie nicht gesagt, dass sie hier warten würden? Pennen Sie immer bei ihrem Job oder was?“ Amanda hielt sich die Stelle, an der Nataniels Krallen ihre Jacke aufgerissen hatten, wo sie aber nicht einmal eine Schramme davon getragen hatte. Verdammter Idiot! Konnte er nie das tun, was sie ihm sagte? „Entschuldigen Sie, Miss. Ich dachte nur … Er war doch angekettet.“ Der Wächter sah verschreckter aus, als Amanda in der Zelle je hätte sein können. Es tat ihm offensichtlich mehr als leid, dass er seinen Pflichten nicht nachgekommen war. Amandas eiskalte Stimme schien fähig zu sein, ihn in Scheiben zu schneiden. „Beschaffen Sie ein paar Männer und bringen Sie ihn in eine der alten Zellen im Keller.“ Gerade wollte der Wachmann zu einer Antwort ansetzen, als Amandas Blick auf ihm landete und er nicht nur verstummte, sondern beinahe panisch davon fegte.   ***   Gegen Abend hatte sie alles erledigt, was sie erledigt wissen wollte, bevor sie zu Nataniel ging. Ihre zerrissene Jacke hing über dem Bürostuhl vor einem der wenigen laufenden PCs in Cleas Büro und Amanda lächelte ihre Freundin an, die schon seit zehn Minuten nervös hin und her lief. „Und du bist sicher, dass du mich nicht brauchst? Ich meine, ich könnte dir hier eine Hilfe sein. Du kennst dich mit dem Programm vielleicht nicht so gut aus, dass …“ „Clea.“ Amandas Stimme war ruhig und warm, was ihre Freundin sofort verstummen ließ. Die kleinere Frau setzte ein gerührtes Gesicht auf und Amanda konnte sehen, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. „Oh Amanda …“ „Mach dir keine Sorgen. Eric wartet bei der Adresse auf dich, die ich dir gegeben habe. Herb hat er auch schon abgeholt. Euch wird’s gut gehen.“ „Was ist mit dir?“ Amanda stand auf und drückte Clea fest an sich, bevor sie diese losließ und ihr eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Sie antwortete ihr, während sie die kleinere Frau bereits auf die Tür zuschob. „Ich pass schon auf mich auf, keine Sorge.“ „Zehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger, Amanda.“   ***   Schon wieder schlafen. Er hätte es wissen müssen. Zugleich fragte er sich, als er langsam erneut aufwachte, ob er bei der nächsten Betäubung nicht einfach gleich ins Koma fiel und somit allen Beteiligten ganz schön viel Ärger ersparte. Vor allem für sich selbst. Aber das alles wurde ohnehin hinfällig. Denn Amanda würde ihn hier herausholen. Diesen Gedanken wiederholte er im Geiste wie ein Mantra, während er im Stockfinsteren da saß, und sich von der chemischen Keule erholte. Er war nur noch ein einziges Nervenbündel aus zitternden Muskeln und fahrigen Bewegungen. Seine Sinne waren zugleich betäubt, aber auch überreizt, so dass er ihnen nicht vollkommen trauen konnte. Das Warten wurde zu einer unerträglichen Sache, in der er das Essen, das man ihm brachte, lustlos hinunter schlang, ohne etwas zu schmecken, um seinem Körper ein bisschen Energie zu schenken. Danach hatte er sich wieder in eine Ecke verzogen, um seiner mehr als nur ungewissen Zukunft entgegen zu bangen. Würde Amanda ihm trotz allem wirklich helfen? Welches Risiko ging sie dabei für ihn ein? War der Preis vielleicht zu hoch? Fragen über Fragen quälten seinen schmerzenden Kopf, bis die Stille endlich durch die Tür zu seinem Gefängnis durchbrochen wurde.   Der Riegel der Tür gab ein Quietschen von sich, als Amanda ihn zur Seite zog. Vor einer Stunde hatte sie veranlasst, dass man Nataniel etwas zu Essen brachte. Da er jetzt als absolut aggressiv galt, hatte man ihm nur ein Tablett durch die Klappe am unteren Ende der Tür geschoben. Eben das schob Amanda nun mit dem Fuß zur Seite, als sie in den finsteren Raum eintrat. Die Zelle gehörte zu den ältesten im Gebäude und hatte etwas Martialisches mit den Steinwänden und dem winzigen, vergitterten Fenster, das über einen Schacht zum Innenhof hinausführte. Nur bleiches, graues Licht fiel herein und erhellte gerade mal einen Fleck in der Größe einer Schuhschachtel auf dem Boden. Amanda konnte Nataniel im Stockdunkeln nicht sehen, aber das musste sie auch nicht. Sie wusste, dass er hier war. „Ich hoffe, das Essen war nicht so schlecht, wie ich befürchte.“ Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und ließ ihren Blick durch die Schatten an den Wänden und in den Ecken des Raumes schweifen. Links neben ihr schien sich etwas bewegt zu haben. Aber sicher war sich Amanda nicht. „Clea hat herausgefunden, dass keiner deiner Leute gefasst worden ist. Du hast sie noch rechtzeitig gewarnt.“ Etwas rührte sich und Amanda wandte ihre Augen nach links, wo sie seine Augen leicht schimmern sehen konnte. „In zehn Minuten wird hier der Hauptrechner zusammen und das Chaos ausbrechen. Ich denke, dass es dir bestimmt Recht ist, wenn ich dich vorher hier rausbringe.“ Ihre hellen Augen hefteten sich auf das kleine Rechteck aus Licht auf dem Zellenboden und sie lächelte. „Laufen wäre nicht schnell genug, daher werden wir keine andere Möglichkeit haben, als dass du mit mir durch die Schatten kommst.“ Ihre Stimme war leer und geschäftsmäßig, als sie weitersprach. „Du musst nur die Augen offen halten und versuchen dich am hellsten Licht festzuhalten, das du siehst. Den Rest mache ich schon.“ Das hörte sich alles so verdammt leicht an. Aber das Risiko erhöhte sich schon allein dann, wenn er nicht zu ihr kam, sondern darauf bestand, dass sie ihn aus seiner dunklen Ecke pflückte. Sie hatte die Entfernung von der Tür aus berechnet, und wenn sie jemanden mitnahm, musste der Gang nur noch exakter stimmen.   Amandas Geruch wehte ihm in die Nase und ihre Worte erfüllten den Raum. Mühsam versuchte er aufzustehen, schwankte mehr schlecht als recht auf sie zu, bis er so dicht vor ihr stand, dass er die kühle Wärme ihrer Haut förmlich auf sich spüren konnte. Die Tatsache, dass seine Leute offenbar in Sicherheit waren, beruhigte ihn sehr. Dennoch wollte er um nichts auf der Welt noch länger von ihnen getrennt sein. Immerhin waren sie im Augenblick führerlos und in höchster Gefahr. Er sollte bei ihnen sein und mit ihnen zusammen diese Situation durchstehen. Aber er würde es nicht um jeden Preis tun. „Ich weiß, die Zeit ist knapp, aber ehe ich deinem Plan zustimme, will ich wissen, welches Risiko du dabei eingehst. Ich habe dich bereits öfters in die Schatten gehen sehen und das eine Mal, als es dich förmlich niedergestreckt hatte, werde ich nie vergessen. Es kann also nicht so leicht sein, auch noch jemanden mitzunehmen.“ Klar, er war nicht hier, um ihr einen Sicherheitsvortrag über ihre eigenen Fähigkeiten zu halten. Aber wenn sie für ihn schon etwas riskierte, wollte er genau wissen, ob sie es nicht besser sein ließ. Immerhin hatte er ihr bereits genug wehgetan. Selbst wenn er es nicht gewollt hatte.   Eine ihrer Haarsträhnen hatte sich gelöst und hing über ihrem rechten Auge, als er vor sie trat. Amanda hob den Kopf nicht, sondern sah ihn von unten herauf an, während sie mit den Händen hinter dem Rücken an der Tür lehnte. Bevor er zustimmte, wollte er ihr Risiko kennen? Amandas Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln, das sie in Kombination mit ihren ausdruckslosen Augen fast gefährlich aussehen ließ. Was würde es ändern, wenn er es wüsste? Er wollte hier raus, weil er ein Rudel zu beschützen hatte. Sie würde ihn rausbringen. Und zwar, bevor hier das totale Chaos ausbrach. Wozu da noch Fragen stellen? Amanda kannte das Risiko und würde es trotzdem tun. „Glaubst du, wenn du mir unterstellst, ich hätte meine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle, würde das irgendwas bringen?“ Ihre Augen fingen bereits an sich dunkel zu verfärben und Amanda konnte die Schatten unter ihren und Nataniels Füßen wabern sehen. Wie immer warteten sie auf sie. „Halt einfach die Klappe.“ Sie hatte seinen Arm ergriffen, bevor er überhaupt antworten konnte, und warf sich mit ihrem Körper gegen ihn, um ihn mit sich zu ziehen. Es war so, als würde sich der Schatten einen kurzen Moment gegen den Eindringling sperren, bis er mit einem reißenden Geräusch nachgab und sie beide aufnahm. Amanda war das Gefühl des Fallens und die Schmerzen gewohnt. Trotzdem konnte sie nicht anders, als kurz aufzuschreien. Sie hielt Nataniels Körper so fest, wie sie nur konnte, damit er ihr zwischen all den herumwirbelnden Elementen nicht verloren ging. Dabei waren sie beide nur Eindrücke von Schatten in absoluter Dunkelheit, die an hellen Lichtflecken vorbeiwirbelten. Es waren fünf Meter nach oben und achthundert nach Westen, um hinter die Außenmauer zu kommen. Sie würde ihn unter einer Straßenlaterne absetzen. Wenn sie es denn schaffte, ihn bis dorthin zu zerren. Die Leere, die wie ein Sog an ihm riss, musste fast unerträglich für ihn sein. Vielleicht konnte er das alles gar nicht so wahrnehmen wie sie selbst. Hoffentlich blieben ihm, wenn überhaupt etwas, die Schmerzen erspart. Amanda zog und zerrte Nataniel gegen die nagenden Schatten, die ihn ihr entreißen wollten, und versuchte gleichzeitig den Überblick über die Entfernungen zu behalten. Einmal schoss irgendetwas oder irgendwer durch ihr linkes Bein, was sie vor Schmerzen aufheulen ließ, aber sie musste trotzdem weiter vorwärts. Auf das Licht zu, das neben anderen, schwächeren Flecken vor ihnen lag. Wenn er ihr nicht zugehört und die Augen offen gelassen hatte, würden sie es vielleicht nicht schaffen. Die Straßenlaterne war die hellste Lichtquelle. Er musste sie sehen. Er musste sich daran festhalten, damit sie es beide hier rausschaffen konnten. Amanda schob Nataniel aus den Schatten heraus, die sich gegen ihre beiden aufgelösten Körper stemmten, und wurde einen Moment nach hinten gerissen. Kurz verlor sie die Orientierung und musste erst einmal das Licht wieder finden, bevor sie sich darauf zu bewegen konnte. Mit letzter Kraft zog sie sich wie durch ein Fenster. Ein Fenster, das circa einen halben Meter über dem Boden lag. Wieder fiel sie, landete diesmal aber einigermaßen weich auf Nataniel, der sich nicht von dort wegbewegt hatte, wo er gelandet war.   Nataniel kam nicht dazu, ihr zu erklären, dass er nicht an ihre Fähigkeiten zweifelte, sondern einfach nicht bereit war, ein Risiko einzugehen, wenn es ihr schaden würde. Statt etwas sagen zu können, wurde er von Amanda gepackt und spürte für kurze Zeit, wie sie sich an ihn drückte, was sein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ, ehe es ihn förmlich in alle Einzelteile zerriss. Der Panther und Nataniel brüllten zur gleichen Zeit los, als sie sich ohne sein Zutun in einzelne Moleküle auflösten. Mann und Tier waren sehr überrascht über die Verwirrung, die dieses altvertraute Gefühl auslöste, da es doch auf seine Art vollkommen neu war. Immer wieder kämpfte er dagegen an, wieder Form annehmen zu wollen, da er Amanda folgen musste. Es war ungeheuer anstrengend, seine menschliche, wie auch seine tierische Form zerstückelt zu lassen und es tat verdammt noch mal weh! Aber wenigstens vertrieb es seine Benommenheit vollkommen, auch wenn seine Gedanken ebenfalls wie seine Bestandteile in der Dunkelheit herumwirbelten. Nataniel konnte trotzdem Amanda bei sich fühlen und hielt sich geistig umso stärker an ihrer Präsenz fest, um sie bloß nicht zu verlieren. Das hier war ihr Reich. Er kannte sich nicht damit aus und musste ihr daher vollkommen vertrauen. Wenn sie nicht den Weg fand oder ihn verlor, es gäbe kein zurück mehr. Das wusste er. Wie Amanda ihm gesagt hatte, versuchte er, trotz seiner absoluten Verwirrung und der starken Unterdrückung seiner Wandlung, sich auf das hellste Licht zu konzentrieren, das er finden konnte. Irgendwann, es schienen Jahre vergangen zu sein, entdeckte er jenes, das sie wohl für ihn vorgesehen hatte, da sie ihn darauf zusteuerte. So schnell, wie die Schatten ihn eingehüllt hatten, verschwanden sie, als er nackt auf dem Asphalt unter dem Schein einer Laterne landete und im nächsten Moment wieder auseinanderzubrechen drohte. Gerade als etwas hart auf ihm landete, konnte er dem Drang nicht mehr länger widerstehen. Nataniel wurde zum Tier und blieb schließlich in dieser Form völlig fertig auf dem Boden liegen. Amanda ganz dicht bei ihm unter einer seiner Pranken, da er als Mensch noch instinktiv den Arm um sie gelegt hatte, um sie zu beschützen. Vor den Schmerzen, den ekelhaften Schatten, was auch immer. Sein Raubtierherz hämmerte ihm rasend schnell gegen die Brust und die Aura der Finsternis, die immer noch um sie herum lag, brachte seine Instinkte schier um den Verstand, da sie auch an ihm hingen. Vorsichtig nahm er die Pranke von Amanda und stand mehr schlecht als recht auf. Er rieb sich mit der Pfote immer wieder über die Nase. Schüttelte den Kopf, schnaubte und wimmerte, als würde es etwas helfen. Das Einzige, was half, war das Licht um sie herum, weshalb er sich auch streng im Lichtkegel hielt. Trotzdem war es verdammt widerlich. Schließlich konnte er seine Instinkte so weit unter Kontrolle bringen, dass er sich wieder hinlegte und sich noch einmal wandelte. In einen Menschen, dem die Schatten weniger ausmachten, als dem Tier an sich. „Mach das bitte … nie wieder …“, stöhnte er gequält, während er die Übelkeit in seinem Magen zurückzudrängen versuchte. Verdammt war ihm schlecht.   Amanda war von Nataniel herunter gerollt und stocksteif auf dem Rücken liegen geblieben, als sie zuerst seinen Arm und nach seiner Wandlung eine seiner Pranken um sich spürte. Das Licht der Straßenlaterne vertrieb die Schatten für sie nicht so schnell, wie es das natürliche Licht des Mondes getan hätte. Aber Nataniel würde es so sehr viel schneller wieder besser gehen. Unter ihrem Rücken konnte Amanda den Wirbel der Schatten immer noch spüren und setzte sich mühsam auf, ohne allerdings die Augen zu öffnen. „Du musst hier weg.“ Sie würden auffallen, sobald im Hauptgebäude die Computer ausfielen und Alarm geschlagen wurde. Aber Nataniel konnte allein durch seine Statur und die Tatsache, dass er nackt auf der Straße lag, niemandem entgehen. Sie waren hier in einer Art Industriegebiet, was aber nicht bedeutete, dass nie jemand vorbeikam. „Mein Wagen steht auf dem Parkplatz.“ Ihr linkes Bein, das in den Schatten durch irgendetwas Schaden genommen hatte, gab kurz unter ihr nach, bis sie die Zähne aufeinander biss und es einfach ignorierte. Sie griff Nataniel am Oberarm und zog ihn hoch, ähnlich ihrer Geste, mit der sie ihn in der Zelle in die Dunkelheit geworfen hatte. Das Flackern der Autoscheinwerfer und das Piepsen der Zentralverriegelung schafften es tatsächlich, Amanda etwas zu beruhigen. Gleich waren sie bei ihrem Wagen. Sobald sie aus dem Industriegebiet raus waren, konnten sie direkt auf die Schnellstraße. Dann konnte man sie nur schlecht wieder einholen. Amanda hatte sich selbst und Nataniel mit ihrem Angriff auf den Hauptcomputer aus der Kartei gelöscht. Sie waren frei. Aber das hieß nicht, dass man sie nicht finden konnte. Kaum dass die Beifahrertür ins Schloss gefallen war, trat Amanda aufs Gas und der dunkle Wagen fuhr vom Parkplatz auf die Straße, die am Gebäude der Moonleague vorbei führte. „Kopf runter.“ Eine Minute. Amanda musste sich zwingen nicht so schnell zu fahren, dass sie auffiel, bevor irgendetwas passiert war. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, heulte der Alarm los und die Rolltore an der Außenmauer wurden scheppernd zugefahren. Sie waren bereits außerhalb des Geländes, aber die Suchscheinwerfer fielen nur allzu oft auch auf die Straße. Gleich hatten sie es bis auf die Schnellstraße geschafft. Das Auto federte widerwillig in den Stoßdämpfern, als Amanda viel zu schnell über ein paar Bahngleise bretterte und schließlich mit quietschenden Reifen über die Gegenzufahrt auf die Schnellstraße einbog. Hier konnte sie endlich so viel Gas geben, dass sich die Geräusche und strahlenden Suchscheinwerfer in befriedigender Geschwindigkeit hinter ihnen entfernten. Keine Minute später schrillte der PDA in Amandas Tasche. Sie zog ihn heraus und las die zwei Buchstaben, die den Anrufer identifizierten. Mit teilnahmslosem Blick ließ sie das Fenster herunter. Der Fahrtwind riss an ihren Haaren, bevor sie den PDA auf die Straße warf und das Fenster wieder schloss. Das Gerät zerbarst in tausend Teile, was Amanda ein zufriedenes Schmunzeln entlockte, während sie ihren Blick vom Rückspiegel löste und sich wieder ganz aufs Fahren konzentrierte.   Am liebsten hätte er sich zu einem Ball zusammengerollt und wäre einfach liegen geblieben. Nataniel hatte keine Ahnung, wie Amanda bereits so schnell wieder auf den Beinen sein konnte. Für sie musste das doch genauso schlimm gewesen sein wie für ihn. Sie war wohl deutlich stärker, als er angenommen hatte. Aber vielleicht störte sie die Präsenz der Schatten auch nicht so sehr, da ihre menschlichen Sinne nicht so ausgeprägt waren wie seine. Dennoch müsste es schon reichen. Es war absolut ekelhaft. Nataniel kämpfte die ganze Zeit gegen seine überwältigende Übelkeit an, und bekam daher nur sehr wenig mit, was in den nächsten Minuten geschah. Erst zerrte Amanda ihn wieder auf die Beine, dann saß er plötzlich in einem Auto und die Umgebung zog schnell an ihm vorbei. Dann war da ein Alarm und die Fahrt wurde noch schneller. Das Erste, was Nataniel wirklich mit bekam, war in dem Moment als Amanda ihren PDA aus dem Fenster warf. Sie sah regelrecht zufrieden dabei aus. Der kurze Schwall kühler Nachtluft im Auto half ihm etwas gegen den Brechreiz, so dass er sichergehen konnte, nicht doch noch in Amandas Auto zu kotzen. Nach den Dingen, die sie heute für ihn getan hatte, wollte er es ihr nicht gerade auf diese Weise danken. Da das Unwohlsein aber dennoch nicht nachließ, drückte er sich etwas in den Autositz, schlang die Arme um seinen Oberkörper und drehte sich leicht zum Fenster, da er immerhin noch immer nackt war. Es war nicht so, dass er sich für seine Nacktheit vor Amanda schämte, aber er war schmutzig, blass und sah absolut so aus, wie etwas, das die Katze angeschleppt hatte. Von Wegen stolzer Rudelführer. Im Moment kam er sich vor, wie ein Häufchen Elend, das nur deshalb schwieg, weil es nicht wusste, was es sagen sollte. Wo brachte ihn Amanda hin? Nach Hause? Wo war sein Zuhause überhaupt? Dort wo sein Rudel war, wollte auch er sein, aber das konnten sie nicht als Zuhause nennen. Was war außerdem nun mit der Moonleague? Amanda hatte irgendetwas getan, um alles zu sabotieren, aber würde das die Organisation lange genug aufhalten? Immerhin … auf seinem Schulterblatt prangten noch immer die schwarzen Lettern des Registriertattoos. Er war also gekennzeichnet. Allerdings hatte Nataniel ganz schöne Arbeit geleistet. Fünf tiefe Linien voller getrocknetem Blut zogen sich durch die schwarze Tinte. Zwar konnte man die Tätoowierung immer noch sehen, aber er hatte auch deutlich gemacht, was er davon hielt. Nataniel lehnte seine heiße Stirn gegen das kalte Fensterglas und sah in die Nacht hinaus, die rasend schnell an ihm vorbeizog. Sein Rudel war vorerst in Sicherheit und dank Amanda auch er. Aber wie würde es nun weiter gehen? Würde sie ihn absetzen und dann auf nimmer wiedersehen davon fahren, um an ihn und seine Taten nicht mehr denken zu müssen? „Danke“, durchbrach er schließlich schwach die Stille. Er schloss einen Moment lang die Augen, ehe er etwas intensiver hinzufügte. „Und es tut uns leid, dass wir dich so behandelt haben.“ Der Panther und er.   Amanda mochte das Autofahren über lange Strecken und vor allem nachts, wenn kaum jemand anderes unterwegs war. Die Landschaft schoss in der Dunkelheit an ihnen vorbei, bloß von den Lichtern der großen Stadt unterbrochen, die sie rechts hinter sich ließen. Es wäre sicher keine gute Idee gewesen, sich in ihre Wohnung zu begeben. Nachdem sie sich nicht auf den Anruf gemeldet hatte und Clea ebenfalls verschwunden war, wären sie ihr bestimmt bald auf der Spur. Die Organisation zog weite Kreise. Und selbst wenn Amanda erstmal Chaos verbreitet und so manche Dinge unwiederbringlich zerstört hatte, war die Moonleague nicht dumm. Und sie verzieh nicht. Wenn sie nicht gefangen genommen werden wollte, würde sie nie wieder in ihre Wohnung oder in irgendeine ihr vertraute Umgebung zurückkehren dürfen. Vielleicht sollte sie zu Eric in den Untergrund gehen, ihm dabei helfen die Wandler hier zu unterstützen. Das würde sich schon alles finden. Sie würde Nataniel dort abliefern, wo er sein Rudel ohne Probleme erreichen konnte und sich dann selbst einen Platz zum Überleben suchen. Selbst wenn es kein guter Ort zum Leben wurde, sie würde sicher irgendwie durchkommen. Das hatte sie doch bis jetzt immer getan. Nataniels Dank quittierte sie nur mit einem Nicken, wobei sie nicht einmal die Augen von der Fahrbahn vor sich nahm. Ein Straßenschild zeigte die nächste größere Stadt in etwa zehn Kilometer Entfernung. Sein nächster Satz brachte Amanda einigermaßen aus dem Konzept. Es tat ihm leid? Seit fast einem Monat hatte er sich nicht bei ihr gemeldet und jetzt auf einmal tat es ihm leid?! Da waren wieder die Flammen, die nur er anfachen konnte. Am liebsten wäre Amanda in einer Vollbremsung mitten auf der Fahrbahn stehen geblieben und hätte ihn aus dem Auto geworfen. Warum sie es nicht tat, war ihr nicht klar, aber sie starrte weiter nur geradeaus und knirschte leicht mit den Zähnen. „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Immerhin kann ich froh sein, dass du mich nicht in der Luft zerrissen hast. Ich nehme an, du dachtest, dass ich was damit zu tun habe.“ Sie hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich über diese Sache Gedanken zu machen. Wer hatte Nataniels Rudel an die Moonleague verraten? Hätte sie früher davon erfahren, hätte sie die Akten durchforsten können, aber dazu war sie einfach zu beschäftigt gewesen. Nataniel würde es herausfinden müssen, sonst war sein Clan wahrscheinlich nie ganz außer Gefahr. Als ein großes Kaufhaus in Sicht kam, bog Amanda ziemlich unelegant auf den Parkplatz ein – wütend fuhr sie tatsächlich wie der letzte Verkehrsrowdy – und stellte das Auto irgendwo im Schatten ab. Sie schätzte seine Größe ab, was er mit einem zustimmenden Nicken bestätigte, und sprintete in den großen Verkaufsraum, um ihm ein Paar Jeans und ein schwarzes Shirt zu besorgen. Außerdem Socken und schwarze Turnschuhe. Immerhin würden sie in ein Hotel einchecken müssen. Da konnte er nicht völlig nackt aufkreuzen. Amanda drückte ihm die Tüte mit den Klamotten in die Arme und fuhr schon wieder los. Es dauerte nicht lange, bis sie das Schild eines Hotels erkannte, an dem drei kleine Sterne unter einem Delfin in Neonblau prangten. Das würde für eine Nacht schon genügen.   Okay, jetzt war sie wütend. Dazu brauchte er ihr noch nicht einmal ins Gesicht sehen, wo er vermutlich sowieso nichts erkannt hätte. Aber das Zähneknirschen war ihm nicht entgangen und auch der Ton in ihren nächsten Worten hielt ihn davon ab, auch nur noch irgendetwas zu sagen. Ja, verdammt. Er hatte Angst alles mit seinen Worten noch schlimmer zu machen. Außerdem hätte sie ihm sowieso nicht geglaubt, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte. Immerhin hatte er keinen Moment lang gedacht, sie oder ihr Bruder hätten sein Rudel verraten. Sicherlich, es musste irgendjemand gewesen sein, aber seit heute Nacht war er sich so absolut sicher, dass keiner der Geschwister es gewesen war, wie noch nie. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, wäre es sogar besser gewesen, wenn Nataniel Amanda alles erzählt hätte, was diesen Vorfall betraf, der sie beide so entzweit hatte. Wenn sie verstehen könnte, warum er so gehandelt hatte, würde es sich vielleicht nicht so schlimm anfühlen. Aber allein der Versuch, sich für etwas zu rechtfertigen, was ihm zwar leidtat, aber in jenem Moment vollkommen richtig erschienen war, könnte alles nur noch verschärfen. Nataniel hatte wohl alles zerstört und das traf ihn härter, als der Verrat seines Rudels durch einen Unbekannten, der sich mitten unter ihnen befinden könnte. Denn wer sonst könnte all diese Informationen gewusst haben? Er schwieg auch wohlweißlich zu Amandas rüdem Fahrstil, den selbst er als Mann nicht besaß, obwohl man seinem Geschlecht bekanntlich eine aggressive Fahrweise nach sagte. Überhaupt erschien es ihm besser, sich zurückzuhalten, bis ihre Wut verraucht war, oder auch nicht. Lediglich seine Kleider- und Schuhgröße nannte er ihr, als sie auch schon aus dem Auto stieg, um ihm etwas zum Anziehen zu besorgen. Na Klasse. Jetzt musste sie ihn auch noch einkleiden. Gab es bei Amanda eigentlich eine Grenze der brodelnden Gefühle, über der sie nicht mehr nett zu jemandem war, auch wenn dieser es absolut verdiente, schlecht behandelt zu werden? Sie hätte ihn doch einfach bei der nächsten Kreuzung rausschmeißen können, immerhin war er erwachsen. Irgendwie wäre er schon klargekommen. Auch ohne Geld und Kleidung. Aber darauf wäre er wirklich nicht scharf gewesen, weshalb er ihr mehr als nur dankbar war. Verdammt, er schuldete ihr bereits so viel und sie hatte nichts von ihm bekommen außer Ärger. Kein Wunder, dass sie so wütend war. Er wäre es an ihrer Stelle auch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)