Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 12: 12. Kapitel ----------------------- Weg. Sie mussten hier weg. Das war jetzt am Wichtigsten, oder etwa nicht? Zum ersten Mal in seinem Leben war sich Nataniel nicht mit dem Jaguar in ihm einig. Denn die Raubkatze wollte so schnell wie möglich Amanda von den Fesseln befreien, ihr das Klebeband abnehmen und in Sicherheit bringen. Mehr nicht. Weder wollte er sie zerfleischen, noch Rache üben. Nataniel selbst war sich nicht sicher, was er glauben sollte. Sie hatte ihm verdammt noch mal zu Essen gegeben! Würde das eine eiskalte Mörderin tun? Aber sie hatte doch diesen Leoparden umgenietet. Einfach so. Andererseits hatte sie ihm damit den Pelz gerettet. Frustriert, da er einfach nicht zu einer Entscheidung kam, ging er schließlich mit ausgefahrenen Krallen auf Amanda zu. Wenn er wollte, konnte er später auch noch unglaublich sauer sein. Hier war wohl kaum der passende Ort dafür. Also durchtrennte er mit einem Hieb ihre Fesseln und trat wieder halbwegs in die Schatten zurück. Das Klebeband sollte sie sich bloß selbst abnehmen, da er nicht wusste, ob es ihm Genugtuung geben würde, es ihr von der Haut zu reißen, oder ob es ihm leidtäte, wenn sie durch ihn Schmerzen erlitt. „Du warst weg.“ Vorwurf lag in seiner Stimme, der definitiv von der Raubkatze in ihm kam. Es sollte ihn immerhin nicht kümmern, was sie tat. Aber verdammt noch mal, das tat es.   Als er nun mit ausgefahrenen Krallen auf sie zukam, konnte Amanda nicht verhindern, dass noch mehr Angst durch ihren Körper schoss. All ihre Muskeln spannten sich an, als Nataniel sich schließlich doch nur über sie lehnte und ihr mit einem Ruck die Fesseln entfernte. Amanda konnte es erst glauben, als er sich wieder hinstellte und sie ihre Hände frei bewegen konnte. Kurz massierte sie ihre Handgelenke, an denen rote Striemen prangten, bevor sie an die Seite des Klebebands griff, wo ihre Wange blutete und es sich schnell herunterriss. Es trieb ihr ein paar Tränen in die Augen und sie presste die schmerzenden Lippen aufeinander, bevor das Brennen nachließ und sie Nataniel wieder ansah. Konnte er sich nicht zurückverwandeln? Wie jedes Mal fand sie etwas unpassend, dass er so nah völlig nackt vor ihr stand. Noch dazu, da sie immer noch auf dem Stuhl saß. Konzentriert darauf, ihm nur ins Gesicht zu sehen, hörte sie sich seinen eindeutigen Vorwurf an. „Und du bist verletzt.“ Die Kratzer auf seinem Körper sahen noch nicht viel besser aus als gestern. Er sollte gar nicht hier sein. Sollten sich Frank und seine Frau doch noch als Mitglieder des Rudels herausstellen, wäre er leichte Beute. Genauso leichte Beute wie ich, fügte sie etwas bitter in Gedanken hinzu und stand endlich auf. „Sie wissen, wo Eric ist.“ Sie bewegte sich keinen Schritt, sondern blieb zwischen ihm und dem Stuhl stehen. Immer noch war da etwas zwischen ihnen, das sie beinahe auf die Knie zwang. Er schien irgendetwas von ihr zu wollen und Amanda konnte sich absolut nicht vorstellen, was es war. Aber Nataniel schaffte es allein mit seinem Blick, ein tonnenschweres Gewicht auf ihre Schultern zu legen. Als wäre sie für etwas verantwortlich, das schlimmer war, als einfach zu verschwinden, ohne ihm Bescheid zu sagen. Sehr viel schlimmer sogar. Amanda war selbst nicht klar, was sie jetzt tun sollte. Wäre Nataniel hier nicht aufgetaucht, hätte sie wahrscheinlich abgewartet, was Frank ihr zu sagen hatte, wenn er wiederkam. Zur Not hätte sie durch die Schatten aus dem Schuppen gehen und im besten Falle mit dem Wagen fliehen können. Jetzt hatte sie vielleicht keine Chance mehr, etwas über Eric zu erfahren.   Als sich Amanda die wunden Handgelenke rieb und es ihr offensichtlich wehtat, als sie das Klebeband entfernte, fauchte der Panther in seinem Kopf wütend über ihre Misshandlung. Er selbst starrte lediglich mit stechendem Blick zurück. Zu sehen, wie sie befreit war, half ihm kein Bisschen weiter, weil sich nun etwas anderes aus ihm hervor brechen wollte. Etwas, das ihr garantiert nicht gefallen würde. Nataniel konnte die Worte seines Dads nicht vergessen. Sie fraßen sich durch sein Herz hindurch, direkt bis zu seiner Seele. Er wollte irgendetwas umbringen. Weshalb er sich noch weiter in den Schatten zurückzog. Weg von Amanda. In diesem Augenblick blendete ihn der letzte Sonnenstrahl, ehe es immer dunkler im Raum wurde, aber er sah sie trotzdem und der Geruch ihres Blutes, das an ihrer Schläfe vor sich hin trocknete und der kleinen Kratzspur an ihrer Wange hing zwischen ihnen. „Dann wartest du also auf Informationen? Viel Glück.“ Seine Stimme war ein tiefes Knurren ohne jede Wärme. Ohne Vorwarnung verwandelte er sich, schenkte Amanda noch einen letzten Blick und verschmolz vollkommen mit den Schatten. Es war unsinnig gewesen, hierher zu kommen. Sie hätte sich selbst befreien können. Hier waren genug Schatten. Aber der Jaguar hatte ihn dazu gedrängt, sich wenigstens zu vergewissern, dass sie noch lebte. Selbst jetzt wollte die Raubkatze bleiben, sich schnurrend an ihre Hüfte schmiegen und sie dann von diesem Ort weg bringen. Doch er ignorierte seinen Beschützerinstinkt und ließ nur Platz für die kalte Wut in sich. Nataniel war schnell im Freien, ohne darauf zu warten, wie Amanda reagierte. Erst als er schon tief durch den Wald gelaufen war, fielen ihm wieder seine Sachen und das Motorrad ein. Also kehrte er in Richtung Straße zurück, und machte sich auf die herkömmliche Weise auf den Rückweg. Der Besitzer schien noch nicht bemerkt zu haben, dass er bestohlen worden war, weshalb Nataniel das Motorrad an Ort und Stelle zurückstellte und dann in das B&B zurückkehrte. Seine Wut war immer noch nicht verraucht, als er sich ausgiebig duschte und sich schließlich auf sein Bett warf, um darauf zu hoffen, dass Amanda bald zurückkehren würde, um ihm die Antworten zu geben, auf die seine Seele so sehr brannte.   Sie verstand ihn einfach nicht. Warum war er hierher gekommen? Er hatte sie zuerst befreit, um dann ohne irgendeine Erklärung wieder abzuhauen. Amanda fühlte sich hundsmiserabel, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was sie getan hatte, um ihn zu einer derartigen Aktion zu verleiten. Aber er hatte ihr eindeutig das Gefühl gegeben, dass sie an etwas Schuld war. Dass sie ihn verletzt hatte. Anders konnte sie sich seinen schneidenden Kommentar nicht erklären. Natürlich wartete sie auf Informationen. Deswegen war sie doch hergekommen. Wegen nichts Anderem hatte sie sich den ganzen Nachmittag hier herumgetrieben und die Farmen abgeklappert. Sie wollte Eric finden. Auf einmal war sie ihm so nah wie nie zuvor und Nataniel schmiss ihr diese Tatsache an den Kopf, als hätte sie ihm die ganze Zeit etwas vorgelogen. Was wollte er denn von ihr? Es konnte ihm doch nur recht sein, wenn sie Eric fand, um dann so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Vom Haus her hörte Amanda jemanden kommen und versteifte sich sofort in der Erwartung, dass der Riegel zu ihrem kleinen Gefängnis zurückgeschoben wurde. Sie zog sogar den Stuhl ein wenig zur Seite, um der Frau, die sich in den Türrahmen schob, Platz zu machen. Ihre Augen weiteten sich ein wenig und sie erschrak, als sie die Gefangene mitten im Raum und von ihren Fesseln befreit stehen sah. Nur in allerletzter Sekunde schaffte es Amanda, ihren Arm gegen die Tür zu drücken und die Frau davon abzuhalten, sie wieder zuzuwerfen. „Warten Sie! Bitte …“ Sie zog sich ein Stück zurück, um ihrem Gegenüber keine Angst zu machen. Die Waffe hatten sie ihr sowieso genommen. Jetzt war ihr die Felidae auf jeden Fall überlegen, sobald sie sich in ihre tierische Form wandelte. Aber die Frau ließ ihre Augen nur auf Amanda ruhen und hielt sich nervös im Türrahmen fest. „Können Sie mir etwas über meinen Bruder sagen? Ich will Ihnen sicher nichts tun und werde verschwinden, sobald ich ihn gefunden habe.“ Amanda behielt ihre Hände dort, wo die Frau sie auch im schwachen Licht immer sehen konnte. Sie wollte ihr keine Angst machen und sie auf keinen Fall vertreiben. „Wir haben ihn getroffen.“ Die glockenhelle Stimme beruhigte nicht nur Frank. Sie passte so perfekt zu dieser sanften Frau, dass Amanda fast neidisch wurde, als sie ihr zuhörte. „Eric ist … Er ist ein netter Mann.“ Sie senkte den Blick, um Amanda nicht ansehen zu müssen, die es beinahe nicht mehr schaffte, ruhig stehenzubleiben. „Ja, das ist er. Können Sie mir denn vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann?“ „Nein, das tut mir leid.“ Gerade wollte Amanda ihr ins Wort fallen. Sie beinahe anflehen, als die Frau aber doch von allein weitersprach. „Er hat uns angeboten, mit ihm zu kommen. Wie die Anderen. Aber Frank … Er wollte die Farm nicht allein lassen. Seit zwei Wochen haben wir Eric nicht mehr gesehen.“ Zwei Wochen. Das war sehr viel besser als ein paar Monate. Innerlich jubilierte Amanda beinahe. „Hat er Ihnen denn nicht gesagt, wo er sie hinbringen wollte?“ Er musste noch leben. Er musste noch leben! Die Frau schüttelte nur den Kopf und Amanda konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sie die Tür wieder schloss. Draußen hörte sie, wie die Frau ein Tablett oder etwas Ähnliches auf dem Boden abstellte. Wahrscheinlich hatte sie Amanda nur etwas zu Essen bringen wollen. Eine Geste des guten Willens, die sich zu sehr viel mehr ausgeweitet hatte. Amanda hoffte, dass die Frau keinen Ärger mit Frank bekommen würde. Noch dazu, wenn ihre Gefangene zehn Minuten später verschwunden sein würde. Sie konnte den Schmerz fast völlig ignorieren, den sie verspürte, als sie durch die verschlossene Tür ging. Frank stürmte aus dem Haus, sobald sie den Motor des Dodge anließ und vom Hof fuhr. Bereits auf der Hauptstraße verfolgte er sie nicht mehr und Amanda wünschte ihnen beiden, dass sie sich nicht wieder sehen würden. Frank und seine Frau sollten aus Amandas Sicht dort ruhig auf ihrer Farm leben bleiben. Ihr einziges Problem der Farmer vom Nachbargrundstück, der scharf darauf war, ihnen ihr Land abzukaufen. Zwei Wochen. Amanda stob mehr oder weniger wie ein Wirbelwind in ihr Zimmer und warf ihre Tasche in die Ecke, bevor sie schwer atmend neben dem Bett stehenblieb. Eric war noch vor zwei Wochen gesehen worden. Wenn sie weiter suchten, bestanden wirklich gute Chancen … Amandas Blick huschte zur Wand, die ihr Zimmer vom Nebenraum trennte. Sofort bildete sich wieder der massive Stein in ihrem Magen, als sie an Nataniel dachte. Ansonsten völlig empfindungslos ging sie über den Gang zu seiner Zimmertür und klopfte an. Sollte er ihr doch sagen, was ihm über die Leber gelaufen war, nachdem er sie erst so heldenhaft befreit hatte.   Er schaffte es, keine Minute lang still liegenzubleiben, da war er auch schon wieder auf den Beinen, um aufgewühlt im Zimmer hin und her zu streifen. Vom Bett zum Stuhl. Vom Stuhl zum Schrank. Vom Schrank zur Tür. Von der Tür zum Bett und dann wieder alles von vorne, bis auch die letzten Wassertropfen auf seiner leicht überdurchschnittlich erhitzten Haut verschwunden waren und er sich schließlich eine tiefsitzende Jeans bis zu den Hüften hochzog und ein eng anliegendes Shirt in Schwarz überstreifte. Danach blieb er vor seinem Fenster stehen und starrte hinaus. Da er sein Licht nicht angemacht hatte, hüllte ihn die Dunkelheit ein und er konnte jeden einzelnen Umriss des Ausblicks vor ihm erkennen. So entging ihm auch nicht das Scheinwerferpaar, das mutterseelenallein die Straße entlang glitt und direkt vor dem B&B anhielt, ehe sie erloschen. Bei Amandas Anblick versteifte sich sein ganzer Körper, während der Panther in seinem Käfig gurrte und mit der Tatze zwischen den Gitterstäben seines Verstandes hindurch stupste, als wolle er sie selbst auf diese Distanz hin berühren. Nataniel war schon wieder geteilter Meinung mit dem Jaguar. Was langsam zu einer beunruhigenden Gewohnheit zu werden drohte. Sein Herz pumpte das Adrenalin rasend schnell durch seine Adern, als seine empfindlichen Ohren Amanda in der Eingangshalle hörten und dann ihren stürmischen Gang hinauf in ihr Zimmer folgten. Er hatte sich im Augenblick noch nicht genug unter Kontrolle, um zu ihr hinüber zu gehen, um ein zivilisiertes Gespräch zwischen Erwachsenen zu führen. Selbst wenn das Tier in ihm, nicht auf seiner Seite spielte, was Amanda anging, so war es doch ebenso wütend über die Neuigkeiten, die er heute Nachmittag erfahren hatte. Sie beide zusammen ergaben in diesem Fall also eine hoch explosive Mischung. Nataniel war es in seinem Leben nur wenige Male passiert, dass er absolut durchgedreht war und seine Gefühlsausbrüche nicht unter Kontrolle hatte. So etwas passierte Gestaltwandlern in jüngeren Jahren häufiger, wenn sie noch zu unerfahren im Umgang mit ihrer impulsiven Lebensweise waren. Sie waren leidenschaftliche und sinnliche Wesen, deren Beschützerinstinkt ihren Liebsten gegenüber nur zu oft gefährliche Ausmaße für die Bedrohung annahmen. Manchmal endete so ein Konflikt sogar tödlich. Denn auch wenn sie menschliche Gestalt annehmen konnten, waren sie dennoch auch Tiere. Nataniels Krallen fuhren aus, als Amandas Klopfen ihn aus seinen Gedanken riss. Gerade hatte er sich überlegt, welche erlernte Bewältigungstechnik ihm helfen könnte, die Aggression in jeder einzelnen Faser seiner Muskeln so weit zurückzuhalten, dass er ein halbwegs normales Gespräch führen konnte. Da er ohnehin keine Zeit mehr hatte, mit der heißen Wut in sich fertigzuwerden, knurrte er ein deutliches 'Herein' und drehte sich wieder zum Fenster um. Sein ganzer Körper bebte vor Anspannung, doch solange er die Arme verschränkt und somit bei sich behielt, würde es schon nicht zu schlimm werden. In diesem Fall war er ganz froh, dass der Panther Amanda niemals wehtun würde. Zumindest im Moment nicht. Nataniel wollte das auch nicht, aber er gab keine Garantie darauf. Er stand kurz vor einem Gefühlsausbruch, da die Zeit für eine Bewältigung einfach noch nicht gereicht hatte. Dafür saß das Rachegelüst viel zu tief und der Feind war viel zu nahe, als sie in sein Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss. Nataniel fragte nicht, wie es gelaufen war, nach dem er sich wieder aus der Scheune verzogen hatte. Er kam sich in diesem Augenblick ohnehin verdammt dämlich vor, weil er ihr gefolgt war, um sie zu befreien, obwohl sie ganz offensichtlich seine Hilfe nicht brauchte und wohl auch niemals brauchen würde. Es war erniedrigend, sogar so schwach zu sein, dass sie IHN hatte retten müssen. Das ließ noch mehr Zweifel in ihm aufkommen, dass er das Potential eines Alphatiers in sich trug. Vermutlich irrte sich sein Ziehvater in diesem Punkt. In allen anderen konnte er die Wahrheit mit ganzem Herzen spüren. „Ich will keine Lügen hören.“ Er schreckte selbst ein wenig von der eisernen Härte seines Tonfalls zurück. Das war nicht mehr er. Das war jemand völlig Fremdes. „Du gehörst zur Organisation, meinem Feind und dem Feind aller anderen Gestaltwandler. Da ich dir jedoch mein Leben verdanke, werde ich versuchen, das in den nächsten Minuten zu berücksichtigen.“ Wie schon gesagt, es gab keine Garantie. Zum Glück konnte sie seine Augen nicht sehen. Sie hätte in ihm, wie in einem offenen Buch lesen können. Denn auch wenn er regungslos da stand, so würde immer Leben in seinen Augen sein. Da war nicht nur Hass, sondern auch Verwirrung, Angst, Verzweiflung, Wut und die verzweifelte Hoffnung, es könnte sich alles als unwahr herausstellen. „Wusstest du, dass die Moonleague … kleine Kinder ermordet?“ Nun bebte auch seine Stimme. Er vergrub seine Krallen in seinen Oberarmen und hielt sich dadurch noch stärker zurück. „Oder, dass sie es dabei speziell auf angehende Alphatiere abgesehen hat, damit meine Rasse nicht die Chance hat, sich trotz unserer wilden Natur zu verbünden, anstatt sich immer wieder zu bekämpfen?“ Was würde denn mit den Menschen passieren, wenn es plötzlich keine Führungskräfte mehr gab? Ein paar konnten in einer Gemeinschaft sicher friedlich zusammenleben, aber wenn man eine ganze Gruppe unterschiedlicher Arten zusammenwarf und diese auch noch von außen bedroht wurde, dann galt nur noch das Gesetz der Stärkeren. Die Schwächeren gingen in diesem Durcheinander einfach zu Grunde. Selbst Nataniel – der beschütz und behütet aufgewachsen war – wusste, dass man so am effektivsten eine Zivilisation in den Untergang trieb. Das war es doch, was die Organisation plante, oder etwa nicht? Gestaltwandler waren schneller und stärker als Menschen. Wären sie in einer genauso großen Anzahl wie die Menschen, befänden sie sich mit Sicherheit an der Spitze der Nahrungskette und nicht der Mensch. „Hast du denn überhaupt eine Ahnung, für was die Registrierung gut sein soll? Was bringt es euch denn, Wesen wie mich zu beobachten?“, fauchte er mit leiser Stimme.   Das Zimmer war stockdunkel, als Amanda es betrat und die Tür hinter sich schloss. Nataniel stand ihr gegenüber am Fenster und drehte ihr gerade wieder den Rücken zu. Aber um seine Aggressivität zu spüren, musste sie sein Gesicht nicht sehen. Völlig automatisch suchte Amanda nach einem Ausweg. Die Tür in ihrem Rücken ging nach innen auf. Das Fenster war ein paar Meter entfernt. Der Mond schien hell. Vor allem seine Stimme und der schneidende Tonfall machten Amanda klar, dass es diesmal nicht die Frage war, ob, sondern wann er sie angreifen würde. Was war denn bloß passiert? Schon in diesem Schuppen hatte er sich für seine Verhältnisse seltsam aufgeführt. Gerade wollte sie den Mund öffnen und ihn darauf hinweisen, dass sie ihn noch nie angelogen hatte, als er ihr nicht nur die Worte, sondern auch gleich noch sämtliche Luft zum Atmen nahm. Er schien ihr gehauchtes 'Was' völlig zu überhören, denn er sprach weiter, ohne auf sie zu achten. Es schien ihm mehr darum zu gehen, ihr all seinen Hass um die Ohren zu hauen, als tatsächlich die Wahrheit auf seine Fragen zu hören. Der Sprung durch das Fenster vor ihm wurde immer verführerischer. Allerdings konnte sie jetzt auch immer noch die Tür öffnen und ihn einfach hierlassen. Anscheinend hatte er gerade einen Anfall und war nicht ganz bei Sinnen. In diesem Moment hätte sie sich mit ihrer Waffe sicherer gefühlt. Amanda blinzelte zweimal und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Er stand reglos vor dem Fenster und atmete schwer. Wahrscheinlich musste er sich gerade ziemlich zurückhalten, um nicht durch den Raum auf sie zuzuspringen und ihr die Kehle aufzureißen. Amanda fühlte sich bereits jetzt so weit bedroht, dass sie keine Angst mehr empfand. Sie verlagerte ihr Gewicht so, dass sie zumindest aus seiner Sprungbahn weichen konnte. Danach konnte sie immer noch durch das Fenster oder sonst wie verschwinden. Um ihn nicht noch weiter zu reizen – auch Amanda wusste, wann das nicht angebracht war – ließ sie ihre Stimme einen ruhigen, aber keinesfalls überheblichen Ton annehmen. „Ich weiß nicht, was du gehört hast. Aber eins kann ich dir sagen – und das ist keine Lüge – ich bin seit meinem zehnten Lebensjahr bei der Moonleague und habe vor gestern noch nie einen Gestaltwandler umgebracht.“ Wie kam er bloß auf die abwegige Idee, dass die Organisation Kinder umbrachte? Sie waren doch kein Schlächterverein, der die Wandler unterdrücken wollte. Darum war es doch nie gegangen. „Um deine zweite Frage zu beantworten …“ Sie konnte sehen, dass seine Atmung noch ungehaltener wurde. Verdammt, warum redete sie weiter? Sie musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich. „Die Menschen fürchten euch. Ihr seid so viel stärker als sie.“ Am liebsten hätte sie ihren Kopf gesenkt, um weiter fortzufahren. Aber das wagte sie nicht. Ihre Finger verkrampften sie ein wenig, während sie versuchte, weiterzusprechen und gleichzeitig auf seinen Angriff gewappnet zu sein. „Leider war es schon immer so, dass der anfängliche Gedanke besser war als die Durchführung, würde ich sagen. Aus der Angst, dass die Tiere in euch sich vielleicht schnell gegen die Menschen wenden könnten, ist die Idee entstanden, euch zu registrieren. Damit man jederzeit nachvollziehen kann, wo ihr euch aufhaltet. Es ist nun mal so, dass man es in den meisten Fällen auf einen Gestaltwandler zurückführen kann, wenn Menschen an einem bestimmten Ort verschwinden und nur als ein paar Fetzen Fleisch wieder auftauchen.“ Wie immer wurde ihr schlecht, als sich das Bild vor ihr inneres Auge schob, wie die riesige Raubkatze ihrem Vater den Arm aus dem Schultergelenk riss. Sie schluckte hart. „Ihr seid doch nicht die Einzigen, vor denen sie Angst haben.“ Dieser Satz war mehr ein Hauchen gewesen, aber sie war sicher, dass er sie gehört hatte. Ob er allerdings verstanden hatte, dass sie ebenfalls zu jenen gehörte, der man ein mörderischeres Gemüt zusprach als normalen Menschen und deshalb ein Registrierungstattoo auf ihrem Nacken prangte, konnte sie nicht sagen. „Sie können euer Leben und euch selbst nicht verstehen und nicht nachvollziehen, wie es ist, so zu sein wie ihr. Aber das heißt doch nicht, dass sie euch systematisch abschlachten.“ Ihr selbst war aufgefallen, dass sie von der Moonleague nicht in der ersten Person Plural gesprochen hatte. Wenn es um die Registrierung ging, hatte sich Amanda noch nie zu ihnen gezählt. Und sollte das, was Nataniel sich zusammengereimt hatte, auch nur ansatzweise stimmen, dann hatte die Organisation auf der Stelle einen Feind mehr. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mit seinen Vorwürfen Recht hatte.   Nataniels Verstand speicherte jede noch so kleine Information über Amanda ab. Allein die Tatsache, dass sie schon mit zehn Jahren in die Moonleague eingetreten war, würde ihm später zu denken aufgeben. Jetzt aber hatte er nicht die Zeit dazu, sich seine Gedanken darüber zu machen. Da er herauszufinden versuchte, ob sie die Wahrheit sagte oder log. Ihm kam es außerdem ziemlich seltsam vor, dass er an ihr keinerlei Angst riechen konnte, wo er in diesem verwirrenden Zustand vor sich selbst Angst hatte. ER wusste wenigstens, wann er endgültig ausrasten würde, aber wie sollte sie das wissen? Seine Zähne knirschten laut, als er sie aufeinander biss und sich seine Kiefernmuskeln wie der Rest seines Körpers so sehr anspannten, dass sogar seine Sehnen am Hals deutlich hervor traten. Ihr Worte … sie klangen aus der Sicht eines Menschen logisch, aber in seinen Ohren so dermaßen falsch, dass sich aus den Tiefen seines Brustkorbs ein aggressives Knurren den Weg ins Freie bahnte. Nataniel war kaum noch dazu fähig, normal zu atmen. Trotzdem war seine fremdartige Stimme unnatürlich ruhig und zugleich arktisch kalt. „Wir Raubkatzengestaltwandler sind sehr Familien bezogen. Es gibt nichts, was darüber steht. Selbst wenn wir in einem Rudel sind, stehen die Familie und unser Partner immer an erster Stelle. Wir verteidigen sie mit unserem Leben und würden jeden dafür töten, der unsere Liebsten bedroht.“ Er sprach es aus tiefstem Herzen, während er das Bild von Lucy und seiner Mom verdrängte. Oder von seinem Dad und Kyle. Bestimmt wären ihm in diesem Moment auch seine wirklichen Eltern und sein toter Bruder erschienen, wenn er nur gewusst hätte, wie sie ausgesehen hatten. Doch vermutlich wäre das dann zu viel gewesen. Also schlang er seine Arme noch enger um seinen Brustkorb und nahm sich dadurch fast selbst die Luft zum Atmen. „Aber wie bei den Menschen gibt es Ausnahmen. In jeder Rasse gibt es jene, die aus Vergnügen morden oder aus sonst irgendwelchen kranken Gründen und du kannst sicher nicht leugnen, dass die meisten Gewalttaten Menschen gegenüber von Menschen selbst verursacht werden.“ Mit einem Mal drehte er sich zu ihr herum, um ihr in die Augen sehen zu können. Denn er hatte sehr wohl den Unterton gehört, als sie sagte, dass die Menschen nicht nur vor Gestaltwandlern Angst hatten. Nein, sie waren so schwach, dass sie vor allem zurückschreckten, was sie nicht verstanden. Nataniel wusste das. Folglich müssten sie auch Amanda fürchten, die so besonders wie er selbst war. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, sie würde die volle Wahrheit deshalb nicht zugeben, weil sie diese vermutlich gar nicht wusste. Trotz dem er es wusste, konnte er den kurzen Kontrollverlust seiner Beherrschung bei ihren letzten Worten nicht verhindern. Der Impuls auf etwas einzuschlagen wurde in jenem Moment sprunghaft groß und brannte ihm wie Feuer in den Adern. Mit einer kaum sichtbaren Geste zertrümmerte er die Nachttischlampe zu seiner Linken, ehe er seine Arme wieder fest vor die Brust verschloss und so weit zum Fenster zurück taumelte, dass er sich gegen das kühlende Glas lehnen konnte. Dabei starrte er immer noch unverwandt Amanda an, da ihr Anblick das Einzige war, was ihn vor der Explosion rettete. Warum das so war, konnte er in diesem Moment nicht sagen, aber es war ihm auch scheißegal, solange er nicht das ganze Zimmer zerlegte. Nataniel holte tief Luft, ehe er langsam und abwägend weitersprach: „In meinem Volk gibt es Geschichten, Mythen und Legenden, wie bei den Menschen auch. Es heißt, dass wir vor langer Zeit in vielen kleinen Rudeln gelebt haben und so mit unserem wilden Wesen zivilisiert zusammenlebten. Die Alphatiere haben sich stets zusammengesetzt, um Auseinandersetzungen zu besprechen, Streitigkeiten beizulegen und für Frieden zu sorgen. Warum glaubst du wohl, gibt es heute so viele einzelne Familiengruppen von uns, die sich immer wieder gegenseitig bekämpfen? Das liegt nicht nur daran, dass der Mensch die Umwelt zerstört und unsere Reviere dadurch systematisch verkleinert, sondern weil es kaum noch Alphatiere gibt. Damit meine ich nicht Typen wie diesen Tiger, der die Macht einfach an sich riss, da er der Stärkere war. Sondern jene, denen es im Blut liegt, andere zu führen, sie zu beschützen und für sie da zu sein. Körperliche Stärke macht noch lange keinen Führer aus, wenn er es zulässt, dass unter seiner Herrschaft eine ganze Familie ausgelöscht wird.“ Das hatte er inzwischen begriffen, auch wenn ihm das kein bisschen weiterhalf. Nataniel drehte sich wieder zum Fenster und lehnte seine heiße Stirn gegen das kalte Glas. Es half nur etwas gegen sein kochendes Gemüt. Tonlos und mit entrückter Stimme, gab er nun den wahren Grund zu, weshalb sie dieses Gespräch hier führten. „Ich habe heute von meinem Pflegevater erfahren, was William Hunter und seine Gefährtin Sarah dazu gebracht hat, ihren Sohn kurz nach der Geburt wegzugeben.“ Er schloss die Augen, während sich seine Hände in den Fensterrahmen krallten. „Ich hatte einen älteren Bruder, der das Potential eines Alphatiers in sich trug. Vater war registriert, aber das weißt du ja. … Irgendwann muss die Moonleague in der Vergangenheit über diese jungen Alphatiere gekommen sein, wie eine der ägyptischen Plagen. Kein Wunder, dass es heute so anders ist als früher.“ Eine ganze Generation war ausgelöscht worden und hatte dadurch riesige Lücken hinterlassen. Aber wieso erzählte er das alles Amanda? Sie würde ihm ohnehin nicht glauben. Er war immerhin nur ein Tier und das konnte sie in diesem Moment deutlicher denn je sehen. Der Drang, seinen Schädel durch das Glas zu knallen, war bittersüß und mächtig, also ging er zum Bett und setzte sich darauf. Wieder die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Unter dem Beben seines Körpers erzitterte das ganze Bett. Er wusste nicht, wie lange er sich noch zurückhalten konnte. Der Panther in seinem Kopf warf sich gegen die Gitterstäbe, wollte zu Amanda, damit er um ihre Beine streifen konnte, um sie zu einer Streicheleinheit aufzufordern. Sanfte Berührungen waren in seiner Familie immer schon ein beruhigendes Mittel gegen Aggression gewesen. Wie sehr wünschte er sich in diesem Augenblick, bei seiner Pflegefamilie zu sein. Alleine Lucys Lächeln hätte ihn wie heiße Butter dahinschmelzen lassen und ihm die Sorgen für eine Weile weggewischt. Aber hier war er alleine und hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, seinem Frust und seiner Wut Platz zu schaffen, da er sich unauffällig verhalten musste.   Als er bei ihren Worten die Lampe zerschlug, zuckte Amanda unmerklich zusammen und endlich wurde doch Adrenalin in Mengen durch ihre Adern gepumpt, so dass ihr regelrecht heiß davon wurde. Ihr Bein, auf dem sie die ganze Zeit ihr Gewicht sprungbereit gelagert hatte, fing an unter der Belastung zu zittern. Sie versuchte es zu unterbinden, hatte aber das Gefühl, sich nicht wirklich bewegen zu können. Da er sie immer noch mit flackernden Augen ansah, konnte seine Aggression nur ihr gelten. In diesem Punkt machte sich Amanda nichts vor. Nataniel hatte offensichtlich beschlossen, Amanda als Stellvertreterin der Moonleague die Schuld an allem aufzuhalsen, was in der Welt zwischen den Menschen, der Organisation und den Wandlern schief lief oder gelaufen war. Sie spitzen Vorwürfe, die er ihr entgegen schleuderte, drohten sie wie Dolche an die Tür hinter ihr zu pinnen. Hörte er sich denn selbst überhaupt zu? Wie konnte er von einem Menschen verlangen, dass er keine Angst vor ihm hatte, wenn er selbst sagte, dass er jeden töten würde, der seiner Familie oder seiner Partnerin zu nahekam? Genau solche Aussagen waren es doch, die den Menschen Angst machten und die dafür sorgten, dass sie die Wandler lieber nicht in den Städten und Siedlungen haben wollten! Allmählich fühlte Amanda Wut in sich aufsteigen. Ihr war schon klar, dass es sich von Nataniels Position aus alles furchtbar unfair anhörte. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe zu verstehen, welchen Eindruck das Wesen der Wandler auf die Menschen machen musste. Selbst sie hatte in diesem Moment Angst vor ihm. Jeden Moment konnte er sich in ein Raubtier verwandeln oder einfach seine Krallen ausfahren und sie in Stücke reißen. Bloß ihre Fähigkeit, die sie von den schwachen Menschen unterschied, konnte sie dann noch retten. Oder vielleicht auch nicht. Amanda schien die Antwort im Hals zu gefrieren und als Eisklumpen in ihren Magen zu rutschen, als Nataniel ihr von seinen Eltern und seinem Bruder erzählte. Auf einmal gab er zu, dass William Hunter sein Vater gewesen war und noch dazu gab es einen Bruder, der von der Moonleague umgebracht worden war. Oder zumindest hatte man das Nataniel weismachen wollen. Als er sich aufs Bett warf, nutzte Amanda die Gelegenheit, um endlich ihr Gewicht auf das andere Bein zu verlagern. Das Andere zitterte auch jetzt leicht, da die Belastung nachließ, was Amanda aber einfach ignorierte. So sehr, wie Nataniel mit sich selbst beschäftigt war, würde ihm diese leichte Schwäche an ihr wahrscheinlich gar nicht auffallen. Fieberhaft überlegte sie, was sie antworten konnte. Wäre er ein Freund gewesen oder könnte sie auch nur ansatzweise davon ausgehen, dass er ihr wohlgesonnen war, hätte sie ihn gefragt, was er von ihr hören wollte. Sie hätte ihm erklärt, wie es sich für ihre Ohren anhörte und welchen Eindruck es machte, was er ihr da auf den Kopf zusagte. Er wollte sie offensichtlich angreifen. Vielleicht nicht körperlich, aber er wollte sie verletzen. Wollte sich so fühlen, als könnte er der Moonleague über Amanda seine Meinung einhämmern. Nämlich, dass sie alle mörderische Schweine waren, die sich nicht einmischen sollten. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe keine Ahnung, ob es stimmt, was man dir erzählt hat …“ Sie wollte es nicht glauben. Deshalb hatte sie der ruhige Ton von vorhin bei ihrem letzten Satz, ein wenig im Stich gelassen. Noch dazu machten sie seine Augen, die wieder auf ihr ruhten, ziemlich nervös. „Sollte die Organisation diese Kinder und deinen Bruder umgebracht haben, kann ich das herausfinden. Es gibt zu allem Akten, die ich einsehen kann.“ Amanda straffte sich etwas, weil sie die Chance sah, aus diesem Zimmer herauszukommen. Sie machte bereits einen Schritt vom Bett weg und streckte ein wenig die Hand nach dem Türgriff aus.   Glaubte sie wirklich, es wäre so einfach, an solche Informationen heranzukommen, wenn sie bis jetzt noch nicht einmal etwas davon wusste? Sie glaubte ihm ja noch nicht einmal! Aber das verlangte Nataniel auch gar nicht. Er hatte nur hören wollen, ob sie etwas davon gewusst hatte. Dass das nicht der Fall war, war ihm nun deutlich klar. Sie log nicht, das spürte er. Dafür drang ihm nun deutlich der Geruch ihrer Angst in seine Nase wie etwas Beißendes. Der Panther knurrte ihn vorwurfsvoll an und wollte nun mehr denn je zu Amanda. Schien dabei aber zu vergessen, dass sie ein und denselben Körper teilten, auch wenn Instinkt und Verstand nicht immer Hand in Hand gingen. Im Moment war das auch vollkommen gleich. Nataniel brauchte dringend einen Katalysator für seine brodelnden Gefühle, sonst würde in wenigen Minuten alles in diesem Zimmer zu Hackschnitzel verarbeitet werden. Ob er nun wollte, oder nicht. Letztendlich war es das Tier in ihm, das mit einem Satz hochsprang, als Amanda sich auf die Tür zu bewegte, während durch seine Bewegung das Bett ein gutes Stück zur Seite rutschte und mit einer Ecke an die Wand knallte. Nataniel hörte es noch nicht einmal, als er nach Amanda griff und zeitgleich mit der Hand auf den Lichtschalter schlug, so dass die Lampe unter der Decke hell aufflammte. Roh drückte er sie mit seinem Körper gegen die Wand und beugte sich zu ihr hinab, während sein Atem schnell gegen ihren Hals schlug. Noch immer zitterte er am ganzen Leib, doch er tat ihr nicht weh. Mann und Tier waren sich in diesem Augenblick mehr als nur einig. Berührung statt brutaler Gewalt. Ihm fehlten die Worte, um sich zu erklären, damit endlich dieser beißende Geruch wieder von ihr verschwand, aber darauf durfte er nicht hoffen. Er war in diesem Zustand wirklich angsteinflößend. Aber es half. Seine großen Hände auf ihre schmalen Schultern, seine Wange, die über ihre glitt, während er den Duft ihrer Haare in seiner Nase spürte. Trotz des beißenden Geruchs, war der ihrer nackten Haut unvergleichlich gut und der Drang, sanft zuzubeißen, war überwältigend groß. Doch Nataniel gab sich damit zufrieden, seine Lippen einen Moment gegen ihren Hals zu pressen. Es musste einfach reichen. Er schaltete das Licht wieder aus, griff nach der Türklinge und war so schnell aus dem Zimmer, wie er konnte, damit die Versuchung nicht noch größer wurde, noch mehr von ihr zu berühren, um sich wieder zu beruhigen. Aber wenigstens hatte ihm der kurze Moment die Möglichkeit gegeben, es bis nach draußen und ein gutes Stück in den Wald hinein zu schaffen, ehe er sich samt Kleidung verwandelte, er sich danach die Fetzen abschüttelte und einfach loslief. Amanda war der Anfang gewesen. Nun würde er dafür sorgen, dass auch der Rest der brodelnden Aggressivität von ihm abließ, damit er wieder klar denken konnte.   Amanda hörte, wie der Rahmen des Bettes gegen die Wand schlug. Keinen Sekundenbruchteil später schob sich Nataniels Körper vor ihren und er grub seine Finger mit den Krallen in ihre Schulter. Gerade war sie im Begriff, sich einfach unter ihm aufzulösen, als das Licht ihr einen schmerzlichen Schauer über die Haut jagte. Ihr Herz wollte stehenbleiben, als er sie nicht nur mit der Lichtquelle, sondern mit seinem Körper an der Wand festnagelte. Seine andere Hand legte sich ebenfalls an ihre Schulter, doch Amanda fühlte die winzigen Kratzer gar nicht, die seine Krallen auf ihrer Haut verursachten. Der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, als er sich zu ihrem Hals hinunter beugte, war, dass sie sterben würde, ohne Eric gefunden zu haben. Sie hatte versagt. Sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten und Eric nicht beschützt. Und jetzt wurde sie von einem Wandler umgebracht, wie der Rest ihrer Familie.   Ihre Augen starrten in die Dunkelheit, die sie umgab und Amanda hörte ihrem Atem zu, der sich nur sehr langsam wieder beruhigt hatte. Sie lag auf den Knien genau an der Stelle, wo sie an der Wand hinuntergerutscht war, nachdem er sie losgelassen hatte. Ihre Fingerkuppen hielten schon eine Weile die Stelle an ihrem Hals, wo er sie mit den Lippen berührt hatte. Eigentlich hatte sie erwartet, dort Blut zu spüren, wenn nicht sogar gar nichts mehr, weil er ihr einfach den Hals aufgerissen hatte, um sie an Ort und Stelle verbluten zu lassen. Sie hatte schon damit abgeschlossen gehabt. Noch nicht einmal Wut über sein Verhalten hatte sich in ihr breitgemacht. Und jetzt kniete sie hier und war immer noch am Leben. Der Schock verließ langsam ihre Glieder und sie schaffte es sogar, aufzustehen und in ihr eigenes Zimmer hinüber zu gehen, wo sie das Licht nicht nur an der Decke, sondern auch auf dem Nachtkästchen anknipste, bevor sie sich auf den Sessel am Fenster sinken ließ. Ihr Blick wurde hart und ihre Hand zitterte nicht, als sie nach ihrer Tasche griff und den PDA heraus kramte. „Hallo?“ Die Stimme hörte sich topfit und fröhlich an. So wie Amanda Clea kannte, die schon ab 6 Uhr morgens in ihrem kleinen Büro saß, das vollgestopft war mit PCs und Monitoren. „Clea, Zerstücklerleitung 2.“ Sie hörte das Geräusch, das entfernt an ein altes Faxgerät erinnerte und dann ein einzelnes Klicken, bevor sich Cleas Stimme leicht gedämpft wieder meldete. „Amanda, was ist los?“ „Ich brauche Informationen. Und zwar so schnell wie möglich. Keiner darf davon erfahren, hörst du.“ „Was für Informationen?“ Deshalb mochte Amanda die Kollegin. Clea mochte so etwas wie eine große Schwester für sie sein, aber wenn es um die Arbeit ging, beschränkten sie sich beide auf das Wesentliche. „Ich will wissen, ob die Organisation vor etwa 30 Jahren eine Säuberungsaktion durchgeführt hat.“ „Was? Wie meinst du …“ „Sieh dir die Akten dahingehend an, ob nicht registrierte Kinder aus dem Weg geräumt worden sind. Oder allgemein Kinder von Anführern der Wandlerrudel.“ Amanda wartete auf eine Reaktion, die erst nach einer halben Minute kam. “Okay. Ich ruf dich wieder an.“ „Sobald du etwas weißt. Egal um welche Uhrzeit.“ Sie unterbrach die Leitung und warf den PDA aufs Bett, wo er sich in den Standby-Modus schaltete und Bilder von Eric und Amanda zeigte. Mit einem schweren Seufzen vergrub Amanda ihr Gesicht in den Händen und massierte sich die Schläfen. Was, wenn er Recht hatte? Das würde Amandas Weltbild über den Haufen werfen. Sie hatte die Organisation als ihre Heimat angesehen. Die Mitglieder waren neben Eric ihre einzige Familie. Sollte Nataniel die Wahrheit gesagt haben, war es eine Familie von Mördern. Nachdem sie das große Licht wieder ausgeschaltet, sich vorsichtig neben den PDA aufs Bett gelegt hatte, starrte sie an die Decke und ihre Finger wanderten wieder an ihren Hals. Eine Wunde hätte sie verstanden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)