Downfall von -Moonshine- (Bittersweet and You) ================================================================================ Prolog: - Prolog - ------------------ Früher wurden Mädchen, die ein uneheliches Kind erwarteten, weggebracht. Auf’s Land, wenn sie aus der Stadt kamen, in die Stadt, wenn sie vom Land kamen. Irgendwohin, wo niemand sie kannte. Ich dachte, diese Methode wäre schon längst ausgestorben. Aber die menschliche Dummheit starb nie aus. Ich kam zu spät. Ich rannte die ganze Straße hinunter und keuchte und schnaufte, und trotzdem war ich zu spät. Es wäre dumm gewesen, dem Auto nachzurennen, denn ich war nicht Supergirl und es entfernte sich zu schnell von mir. Viel zu schnell. Ich stand auf der Straße, keuchend, schnaufend und starrte dem Wagen hinterher. Sollte das das letzte sein, was ich von ihm zu Gesicht bekommen würde? Die Heckansicht dieses Wagens? Ich wollte ihm noch so viel sagen. Und vielmehr als das wollte ich ihn anbrüllen, schlagen und heulen. Aber ich blieb wie angewurzelt auf meinem kleinen Fleckchen Asphalt stehen, starrend, das Herz in meiner Brust schlug weiter. Viel zu schnell, weil ich gelaufen war, viel zu schnell, weil es versuchte, nicht auseinander gerissen zu werden. Ich war Siebzehn und die einzige Zukunft, über die ich je nachgedacht hatte, war mir entrissen worden, ohne, dass ich gefragt worden bin, ohne, dass ich gewarnt wurde. Irgendetwas in mir wollte das nicht glauben und anstatt mich dem Schmerz des Verlustes hinzugeben, drehte ich mich apathisch um. Morgen würde die Welt anders aussehen. Morgen würde die Realität mich einholen. Morgen war voller Schmerz, voller Wut, voller Verluste, voller unausgesprochener Worte. Voller Ungerechtigkeiten, voller Verletzungen. Morgen war keine Zukunft. Und heute war ich gefühlstaub. Es war mein Vater - wie immer mein Vater -, der an der Straßenecke auf mich wartete und mir tröstend einen Arm um die Schultern legte. "Sei froh, dass du es nicht bist", sagte er nur ruhig und führte mich zurück nach Hause. Nach Hause. Für den Rest meines Lebens. - 1 - ----- "Dad!", rief ich in aus der Küche, extra laut, damit er mich auch wirklich hören konnte. "Kannst du mal das Glas aufmachen?!" Ich kämpfte schon minutenlang mit diesem vermaledeiten Gurkenglas und langsam war ich kurz davor, die Nerven zu verlieren und es gegen die Wand zu schleudern. "Mum! Ich kann das! Lass mich!" Anstatt Dad war Henry herbeigeeilt, kaum hatte er meinen Hilferuf vernommen. Nun hopste er aufgeregt um den Tisch herum und streckte seine Arme nach dem Glas aus, begierig darauf wartend, seine Kraft unter Beweis stellen zu dürfen. Seufzend trat ich einen Schritt zurück und überließ ihm das Schlachtfeld. Mit seinen acht Jahren und seinem übersteigerten Selbstbewusstsein grinste er mich an und umfasste das widerspenstige Glas, um ihm endlich den Garaus zu machen. Er drückte und drehte und wurde vor Anstrengung ganz rot im Gesicht, doch - nichts bewegte sich. Ich musste lachen angesichts seiner enttäuschten Miene. Henry rieb sich die schmerzenden Handflächen an seiner Jeans und warf dem Gurkenbehälter einen schmollenden Blick zu. Es hatte seinen männlichen Stolz untergraben und ihm vor Augen geführt, dass auch achtjährige, Batman lesende Jungs, die sich für die Größten hielten, ihre Grenzen hatten. Gurkengläser, zum Beispiel. Bald würden es hübsche, blonde Mädchen mit Schmollmund und blauen Tiefseeaugen sein, aber bis dahin reichten ihm auch die Gurken aus – Gott sei Dank! "Komm schon, du Held. Ab nach oben, Hausaufgaben machen", kommandierte ich ihn freundlich ab, und sein Gesichtsausdruck wurde nicht gerade fröhlicher. "Aber Muuum!", protestierte er gequält. "Ich will doch mit Adam und seinem Dad an den See!" "Dann solltest du dich mit deinen Hausaufgaben beeilen. DAD! Kommst du mal?!" Missmutig machte mein Sohn sich auf den Weg nach oben in sein Zimmer, um seine ungerechte Strafe anzutreten. Ich wusste, dass seine Verabredung mit seinem besten Freund und dessen Vater erst in zwei Stunden war, aber Henry stellte sich immer so an, wenn es um seine Schulaufgaben ging, und versuchte ständig, sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden davor zu drücken. "DAD! Verdammt noch mal!", brüllte ich erbost, aber da kam er schon um die Ecke spaziert, gemächlich wie immer, überhaupt nicht in Eile. Ich fragte mich immer wieder, wo dieser Mann seine gespenstische Ruhe her hatte. Ob er überhaupt wusste, was das war, Ungeduld, oder in Eile zu sein? Ich bezweifelte es. "Was ist denn so Dringendes, Liebes?", fragte er liebenswürdig, zog einen Stuhl zurück und setzte sich in aller Seelenruhe an den Tisch. Ich verdrehte die Augen und schob ihm das Gurkenglas zu. "Kannst du mal eben aufmachen?", bat ich ihn seufzend. Er kam meiner Bitte nach und hatte im Nullkommanichts den Deckel vom Glas gelöst, der bei mir - und auch Henry -, praktisch festgeklebt hatte. Mein Vater, der wahre Held aller verzweifelten Frauen. "Danke." Obwohl er schon alt war, 63 Jahre nämlich, hatte er immer noch die wundervolle Eigenschaft, Gläser ohne Anstrengung zu öffnen. Außerdem kümmerte er sich um den Garten, um das Mittagessen, um Henry, wenn ich mal länger arbeiten musste oder einfach mal ein wenig Zeit für mich haben wollte. Er staubte regelmäßig die an der Wand hängenden Familienportraits und vor allem die Bilder meiner Mutter ab und zwang Henry und mich tagtäglich aufs Neue, mehr Fisch und Gemüse zu essen. Manchmal, so sagte er mit einem seligen Lächeln im Gesicht, hätte er das Gefühl, dass nicht zwei Erwachsene in diesem Haus lebten, sondern zwei Kinder. Dass er mit dem zweiten Kind mich meinte, stand außer Frage. Ich schaute auf unsere runde Wanduhr, die über dem Tisch hing. Sie war schon hier gewesen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich glaube, Mum hatte sie irgendwann einmal gekauft, und sie lief immer noch hervorragend. Lediglich das Ziffernblatt hatte diesen gelblichen Farbton angenommen, wie auch vergilbte Buchseiten, wenn sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatten. "Wo warst du heute morgen?", fragte ich ihn, mich von der Uhr und den Gedanken an meine Mutter abwendend. "Im Baumarkt", sagte Dad. Gierig fischte er sich mit Zeigefinger und Daumen eine Gurke aus dem Glas heraus und steckte sie sich genüsslich in den Mund. Kaute. Ich verzog das Gesicht. "Das Regelbrett austauschen", fügte er hinzu, nachdem er alles heruntergeschluckt hatte. Dad war ein Frühaufsteher, ein sehr aktiver Mensch, ganz im Gegensatz zu Henry und mir. Vor zehn Uhr vormittags waren wir gar nicht ansprechbar, und das an unseren guten Tagen. Das brachte in der Schule und bei der Arbeit natürlich einige Probleme mit sich, da wir zu früher Stunde übellaunig, störrisch und fies waren, aber wir schlugen uns tapfer durch's Leben, so gut es eben ging. Immer mit meinem fröhlichen Vater an unserer Seite, der alles ein bisschen schöner und bunter und lebenswerter machte. Dad, der mit der Zeit - und nach einigen gescheiterten Fehlversuchen -, gelernt hatte, dass er auch in Henry keinen adäquaten Morgen-Gesprächspartner haben würde, ging uns aus dem Weg, anstatt uns mit seiner ewigen Plauderei vollzuquasseln. So verbrachten Henry und ich den Morgen meist zu zweit, schweigend, grummelnd, halbherzig unser Frühstück vertilgend. In den Ferien, so wie jetzt, ließen wir uns besonders viel Zeit, auf Touren zu kommen und Glücksseligkeit zu tanken. Dabei warfen wir uns immer wieder missmutige Blicke zu, oder auch Dad, wenn er sich denn mal bei uns blicken ließ. Wir waren auch keine besonders guten Esser, also hatte Dad seine liebe Not mit uns. "Mi Baumarkt", hakte ich verwirrt nach, "meinst du da dieses neue Geschäft außerhalb der Stadt oder Onkel Eddie's Werkzeugladen?" Onkel Eddie war in Wirklichkeit gar nicht mein Onkel, aber trotzdem nannten ihn alle aus unserer Stadt so. Dad schaute verächtlich drein und ich kannte die Antwort schon, bevor er nur den Mund aufmachte. "Natürlich Eddie's Laden. Diese Kapitalisten glauben, sie kriegen uns klein, aber da haben sie sich gewaltig getäuscht!" Dad war überzeugter Gewerkschafter, mit Leib und Seele dabei, und hielt nichts von Großfachmärkten. Unser Städtchen war klein und konservativ und die bestehenden, bewährten Strukturen wollte keiner verändern, so veraltet sie auch waren. Zumindest nicht, solange es Leute wie Dad gab, die hier aufgewachsen waren und jeden kannten. Der jüngeren Generation war es weniger wichtig, ob sie ihre Bücher, ihren Käse und ihre Werkzeuge beim einheimischen, etwas irren "Onkel" Eddie, in geräumigen Großläden oder im Internet kauften, so wie mir zum Beispiel. Trotzdem wollte ich nicht, dass die stadteigene Infrastruktur vor die Hunde ging, noch weniger aber, dass Dad mich für ein gefühlloses, kaltes Etwas hielt, das althergebrachte Werte und Traditionen nicht zu würdigen wusste, also lächelte ich verständnisvoll und nickte ein paar Mal. Zeit, das Thema zu wechseln, aber schon kam Dad mir zuvor. "Kommt Thomas nachher vorbei?", fragte er lauernd. Entschieden schüttelte ich den Kopf. "Nein, Ben. Er geht mit Adam und Henry angeln", wich ich geschickt aus. Ben und Maggie Miller waren gute Freunde. Ich kannte die zwei seit Henry’s Geburt, denn Maggie und ich mussten uns das Krankenzimmer teilen, nachdem auch sie ihren Sohn Adam zur Welt gebracht hatte. Ben war zwölf Jahre älter als ich, Maggie acht, und beide hatten noch zwei Töchter. Masie, die älteste, war dreizehn, und Suzanne fünf Jahre alt. Es waren wundervolle Leute und für Henry waren sie wie eine zweite Familie. Dad blieb standhaft. "Danach hatte ich nicht gefragt." Ich wurde langsam ärgerlich. Dieser sture, alte Mann! Ich wusste ja, dass Dad kein großer Fan von Thomas war, aber er strapazierte mit seiner ewigen Litanei immerzu meine Nerven. "Nein, sagte ich doch schon", erwiderte ich genervt und warf ihm einen eisigen Blick zu. "Er kommt nicht." Er schwieg. Die Botschaft war also angekommen. "Und warum kommt Thomas nicht?" Okay, offenbar doch nicht. Ich seufzte. Mein Vater setzte noch einen drauf. "Er war schon so lange nicht mehr da." "Dahaad...", stöhnte ich. "Ich bin nur neugierig", sagte er mit engelsgleicher Miene und zeigte mir seine offenen Handflächen, als wollte er mir damit zeigen, dass er nichts zu verbergen hätte. "Thomas hat viel zu tun", wich ich schließlich geschlagen aus, "das weißt du doch." Ich wandte mich ab, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, denn die Wahrheit war, dass Thomas sehr wohl Zeit hatte, uns zu besuchen. Ich wollte es bloß nicht. Ich war mir sicher, Dad wusste es auch, jedoch hatte ich das dumpfe Gefühl, dass er von mir hören wollte, dass Thomas nicht der Richtige für mich war. Aber diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich kannte Tom schon seit der Highschool und hatte ihm viel zu verdanken. Es war das Mindeste, dass ich... nun ja. Ihn nicht einfach wegschickte. Das konnte ich einfach nicht und er würde es nicht ertragen. Außerdem liebte er Henry. Das war das wichtigste. "Ja", murmelte Dad, fast ein bisschen verächtlich, "viel damit zu tun, dir Verlobungsringe zu kaufen, die du dann alle achtlos in den Wind schmeißt." Ich drehte mich augenblicklich zornig zu ihm um. "Dad!", fauchte ich. "Es reicht. Du bist ein gehässiger, alter Mann, weißt du das?!" "Und du..." Seine grauen Augen funkelten aberwitzig, so wie früher, wenn er sich ein erbittertes Wortduell mit meiner Mum geliefert hatte. "Bist eine undankbare Tochter, die so nicht mit ihrem Vater reden darf, weißt du das?" Sofort war meine Wut verpufft und ich musste schmunzeln. Mit seiner schiefen Brille auf der Nase und dem ergrauten, immer dünner werdenden Haar konnte ich ihm einfach nicht böse sein. Vor allem dann, wenn er mich wie eine Dreizehnjährige behandelte. Ganz wie früher. Ich gestand uns beiden einen kurzen Moment der hässlichen Wahrheit zu, bevor wir wieder in unseren alten Trott aus ungesagten Worten, offenen Geheimnissen und fröhlichen Masken verfielen. "Glaubst du, es ist falsch?" "Was denn?", wollte er wissen. Ich hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden, obwohl es eine so simple Sache war. "Thomas immer wieder... wegzuschicken.“ Ich betrachtete die glatte Tischplatte und fügte dann noch ziemlich treuherzig hinzu: "Ich glaube nicht, dass er das noch mal mitmacht. Aber ich will auch nicht, dass er verschwindet." Dad seufzte und legte seine alte, faltige Hand auf meine Schulter. "Evie. Eins sag ich dir, und du musst mir glauben, Liebes, ja?" Ich nickte und sah ihn fragend an. "Das war die verdammt klügste Entscheidung, die du jemals getroffen hast, ihn nicht zu heiraten – zweimal. Und wir wissen beide sehr gut, dass du nicht immer kluge Entscheidungen getroffen hast in der vergangenen Zeit, hm?" Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich, halb belustigt, halb belehrend, aber durch und durch väterlich. Noch immer bekam ich ein leicht flaues Gefühl im Magen, wenn jemand darüber sprach. Aber ich lächelte, denn er hatte ja recht. "Danke, Daddy." - 2 - ----- Die Sommerferien waren eine fröhliche, aber auch anstrengende Zeit. In den Monaten von Juni bis September schien die Welt still zu stehen, und doch passierte so viel. Ich liebte diese Jahreszeit, seit Henry in den Kindergarten gekommen war. Während die Schulzeit geprägt war von starrer Routine, Hausaufgaben und einer Menge Organisation, waren sorglose Kindergesichter und entspannte Eltern das vorherrschende Bild der sogenannten Summer Break. Eiscreme, Rollerskates und die freitäglichen Besuche der Baseballspiele auf unserem stadteigenen kleinen Baseballplatz durften nicht fehlen. Es war eine langjährige Tradition in Minnesota und eine gute Gelegenheit, sich nach einer anstrengenden Woche mal wieder unter die Leute zu mischen, zwanglos Freunde und Bekannte zu treffen und die Woche einfach gemütlich ausklingen lassen. Ich liebte die lauen Sommerabende auf der Tribüne mit Familie und Freunden, und Henry ging es da genauso. Doch das beste an den Sommerferien der Kids war eindeutig das Sommercamp. Alljährlich lud das Camp Lake Benton Kinder im Alter von sieben bis dreizehn Jahren zum Abenteuer ein. Es war lediglich fünfzig Meilen von Cottonwood entfernt; eine gute Stunde Fahrt. Das Camp schaute zurück auf eine lange Geschichte. Es bestand schon, als ich noch ein Kind gewesen war, und ich hatte einige meiner schönsten Sommer am Lake Benton verbracht. Nur ein einziges Mal war ich nicht gefahren. Das war der Sommer, als Mom gestorben war. Ich war immer die erste, die Henry im Camp anmeldete. Monatelang studierte ich jede Woche die Anzeigen und Bekanntgebungen in der Zeitung und am Schwarzen Brett der Schule, um bloß nicht den Beginn der Anmeldephase zu verpassen. Henry war ähnlich enthusiastisch. Er liebte das traditionelle Camp mit dem vielfältigen Angebot, seitdem er vor zwei Jahren das erste Mal dabei sein durfte. Mit seinem Freund Adam hatte er die Zeit seines Lebens und erlebte in zwei viel zu kurzen Wochen Abenteuer, wie sie einem Neujährigen würdig waren. Dabei war er, ganz im Gegensatz zu mir damals, überhaupt nicht wählerisch. Ob Kanufahren, Spurensuche, Schwimmen oder am Lagerfeuer Marschmallows rösten – er war ein Fan von allem. Ich lächelte in mich hinein, während ich mich durch die Schnappschüsse in Henrys Fotoalbum wühlte. Auf einigen vom letzten Jahr war auch Henrys Freund Adam dabei und ich erinnerte mich wehmütig an den Spaß, den ich auch ich dort gehabt hatte. Ich war froh, dass Henry diese Erfahrung ebenfalls machen konnte. Ich wollte nicht, dass er in seiner Kindheit auf irgendetwas verzichten musste, und mein Dad unterstützte mich in meinem Vorhaben tatkräftig. Wie geschäftig und kurzlebig müsste das Leben in einer Großstadt wohl sein? Müssten die Kids, die dort lebten, auf all diesen Spaß verzichten? Nächste Woche würde es soweit sein. Henry hatte bereits seinen Koffer aus dem Wandschrank gezerrt und hakte ungeduldig jeden Tag im Kalender ab. Dad nannte uns beide Fanatiker, aber obwohl ich nur die besten Erinnerung an das Camp hatte, hatte es auch ganz praktische und fast schon egoistische Gründe, weshalb ich darauf fieberte, Henry ins Camp zu schicken. Ganz einfach, es war die einzige Zeit des Jahres, die ich mal für mich hatte. Nicht falsch verstehen. Ich liebte Henry und er war die größte Bereicherung meines Lebens seit meiner Entdeckung von Lucky Charms im Alter von drei Jahren, aber ich war auch nur eine 27-jährige Frau und brauchte einfach hin und wieder eine kleine Pause. Zum Beispiel, um mich entspannt in die Badewanne zu legen mit einem guten Buch und dem sicheren Wissen, nach drei Minuten nicht zu irgendeiner mittelschweren Katastrophe eilen zu müssen. Die meistens damit endete, dass ich etwas aufwischen, reparieren, oder mich bei irgendjemandem entschuldigen musste. In den zwei Jahren, in denen Henry nun das Camp besuchte, hatte sich eine Art Routine abgezeichnet. Zuerst lief ich in das lokale Buchgeschäft und deckte mich mit ein paar leicht zu verdaulichen Schmökern ein, zu denen ich in der Öffentlichkeit niemals stehen würde. Ich reservierte Dad einen Tisch im Country Club, und schickte eine Einladung an seine Freunde, und nachdem ich eine lange, entspannte Badewannensitzung gehalten habe, fläzte ich mich für gewöhnlich auf die Couch – im Pyjama und mit nassen Haaren -, bestellte mir eine riesige Pizza und bewunderte den jungen, verzweifelten Tom Hanks in „Schlaflos in Seattle“. Es war, gleich nach Weihnachten, der beste Tag im ganzen Jahr. Und auch dieses Mal sollte es nicht anders werden. Ich warf einen Blick auf die Uhr und zwang mich, aus meinen Tagträumen aufzuwachen. Henry würde bald aus der Schule zurückkommen, und das Mittagessen war noch nicht fertig. Wie ich ihn kannte, hatte er den Beginn der Ferien bereits verplant und würde seine Zeit nicht mit Essen verplempern wollen, daher entschied ich mich für ein paar Truthahnsandwiches, die er für gewöhnlich gerne aß. Dad war im Garten und säte Blumenkohl, Rote Rüben und Rettich aus. Nur hin und wieder wehte ein Ächzen oder leise Radiomusik zu mir herein. Mein Vater war ein aktiver, selbstständiger Mann. Sowohl Arbeit im und am Haus, als auch im Garten gehörten fast schon zu seinen Hobbies. Sein Gemüse- und Blumengarten aber war ihm heilig. Früher hatte sich Mom darum gekümmert, aber seit sie nicht mehr da war, hatte Dad es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Teil von ihr niemals sterben zu lassen. So würde er das natürlich nicht ausdrücken, aber im Prinzip war es genau so. Außerdem lenkte ihn die Arbeit ab und ich glaube, mit der Zeit hat er wirklich Gefallen daran gefunden. Jedes Jahr probierte er neue Gemüsesorten aus, kam manchmal ganz aufgeregt mit einer neuen Blumensaatmischung aus Eddies Laden zurück und befand sich schon im frühen Frühling, wenn es eigentlich noch viel zu kalt war, im Garten, um irgendwelche Ausbesserungsarbeiten auszuführen. In den Wintermonaten, die in Minnesota kalt, lang und eisig waren, schien er oft rastlos und unzufrieden. Sicherlich fehlte ihm der Garten, die Arbeit, und vielleicht auch die Nähe zu Mom, die er dadurch fühlte. Ich platzierte Henrys Truthahnsandwich auf einem sauberen Teller, nachdem ich es in zwei Dreiecke halbiert hatte, und ging zur Spüle hinüber, um das mayonaisebeschmierte Messer und das Schneidebrett, das ich benutzt hatte, sauber zu machen, als es an er Tür klingelte. Irritiert warf ich einen Blick auf die Uhr. Für Henry war es noch zu früh, und ich erwartete auch sonst niemanden. Ein Blick aus dem Fenster brachte Klarheit. Thomas weißer Ford stand in der Auffahrt und nun wurde mir auch bewusst, dass aus dem Garten keine Radiomusik mehr dudelte. Mein Dad, der alte Spion! Ich seufzte, trocknete mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und machte mich auf dem Weg zur Haustür, um Thomas hereinzulassen. Er lächelte mich zur Begrüßung an und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Hi, Eve, was gibt’s?“ Ohne meine Antwort abzuwarten schob er sich an mir vorbei in die Küche und steuerte zielstrebig auf Henrys Sandwich zu. Ich wollte ihn warnen, aber dann überlegte ich es mir anders und holte doch wieder die Zutaten heraus, die ich vor wenigen Augenblicken weggeräumt hatte, während er genussvoll hinein biss. „Ich wusste gar nicht, dass du vorbeikommen wolltest“, murmelte ich in dem Versuch, mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Ich hatte sehr wohl zu tun heute, mein Tag war durchgeplant, und für Thomas war zugegebenermaßen heute kein Platz in meinem Tagesablauf. Ein wenig erschrak ich über mich selbst und meine Gedanken. War es schon soweit mit uns gekommen, dass ich mich nicht über einen spontanen Besuch freuen konnte? Ich mochte Thomas, aber oft fühlte ich mich in meiner Freizeit eingeschränkt. Am Anfang war es ganz normale Verliebtheit gewesen, aber spätestens nach dem ersten Antrag, der – meiner Meinung nach – viel zu früh gekommen war -, fühlte ich mich von seiner Anwesenheit eingeengt. Ich holte Mayonaise, Truthahn und Brot aus dem Kühlschrank und begann von Neuem. „Ich hatte früher Feierabend und dachte, ich komme bei dir vorbei. Was hast du heute Abend vor?“ Ein Anflug von Genervtheit überkam mich und ich musste das Messer für einen Moment sinken lassen und tief ein- und ausatmen. „Ich muss heute Abend im Diner arbeiten. Das weißt du doch“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Immerhin arbeitete ich jeden Donnerstag Abend im Diner als Aushilfe, und Thomas wusste es. Oder sollte es zumindest wissen! Neben meinem Teilzeitjob in der Schule als Sekretärin besserte ich so unser Einkommen auf, denn Dad konnte aufgrund seines Alters keinem Job mehr nachgehen und seine Rente war nicht annähernd genug, um uns drei über den Monat zu bringen. Bis zum Mittag arbeitete ich in der Grundschule, so konnte ich den Rest des Tages mit Henry verbringen. Nur Donnerstags und manchmal auch an anderen Tagen stand das Diner auf dem Plan. Oftmals waren es Feiertage, an denen Terry, der Besitzer, Verstärkung brauchte, da es die Menschen nach draußen zum Essen zog und das hauseigene Personal natürlich auch hin und wieder einen freien Tag brauchte. Dann war ich froh, einspringen zu können. Wir nagten weiß Gott nicht am Hungertuch, aber ein paar extra Dollar waren für jede Gelegenheit gut zu gebrauchen. „Ach ja, stimmt.“ Thomas schwieg und ich fühlte seinen Blick in meinem Nacken. Das machte er neuerdings – er starrte mich einfach schweigend an. Und ich fand das ganz und gar nicht angenehm. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, drehte ich mich endlich zu ihm um und schaute ihn an. Seine dunkelblonden Haare standen über den Ohren leicht ab. Anscheinend hatte er sich nach der Arbeit nicht einmal gekämmt und war sofort hergefahren. Um seine blauen Augen herum bildeten sich Fältchen, und wenn er die Stirn kraus machte, sah er viel älter aus, als er eigentlich war. Thomas arbeitete außerhalb der Stadt bei einem großen Unternehmen, das Traktoren und andere Fahrzeuge für Farmen und Farmarbeit herstellte. Nach seinem Studium der Ingenieurwissenschaften an der Universität in Minneapolis war er vor einigen Jahren nach Cottonwood gezogen. Seine Abende hatte er im Diner verbracht, wo wir uns schließlich auch kennengelernt hatten. Und da waren wir nun. Nach zwei Jahren, mehreren Anträgen und... na ja. Einem Gefühlschaos meinerseits. Thomas konnte nichts dafür, dass ich mir unsicher war. Ich zwang mich, freundlicher zu ihm zu sein. Dass ich im Moment lieber Zeit mit mir selber verbrachte als mit irgendjemand anderem war nicht seine Schuld, und ich rief mir ins Gedächtnis, anständig und fair zu sein. „Was hast du am Wochenende vor?“, lenkte ich von meinem seltsamen Verhalten ab und strich mir eine Strähne hinter das Ohr, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er ließ sich Zeit, um den letzten Bissen des Sandwichs durchzukauen und antwortete erst dann. Manieren hatte er, das musste man ihm lassen. Na ja. Mal abgesehen davon, dass er Henrys Mittagessen verspeist hatte. „Noch nichts.“ „Tja.“ Ich grinste. „Hast du Lust auf eine Date Night? Kino und Pizza, oder was immer du willst?“ Er schien überrascht und sah mich zunächst skeptisch an. „Wirklich?“, vergewisserte er sich sicherheitshalber. „Ja, klar. Wir waren schon lange nicht mehr zusammen weg, oder hast du keine Lust?“ Es stimmte. Normalerweise trafen wir uns bei mir zu Hause, er blieb zum Abendessen und wir schauten uns einen Film an. In letzter Zeit hatte es sich oft ergeben, dass er danach nach Hause gefahren und bei sich zu Hause geschlafen hatte. Wir hatten es nie so ausgemacht, aber anscheinend beeinflusste meine momentane Stimmung auch ihn. Draußen war es noch immer auffällig still. „Doch, doch“, beeilte Thomas sich zu sagen und ich merkte, wie erfreut er über meinen Vorschlag war. Kino und Pizza waren nun wirklich nicht das Superdate aller Zeiten, aber er freute sich aufrichtig darüber und mein schlechtes Gewissen wuchs ins Unermessliche. Was war nur los mit mir?! Reiß dich zusammen, Eve!, sagte ich mir erbost. Nur weil ich persönliche Problem hatte mit... na ja, mit allem halt, war es nicht in Ordnung, es an Thomas auszulassen. „Samstag dann?“ Er war so versessen darauf, das Date dingfest zu machen, dass ich schmunzeln musste. Ich nickte. „Ich hol dich ab, so gegen acht, wie immer?“ Wiedermals nickte ich. Alles so wie immer. Wir hatten eine altbekannte Routine und das war beruhigend wie auch verstörend gleichzeitig. Ich beschloss, Thomas Tag noch ein bisschen süßer zu machen. „Magst du morgen zum Abendessen kommen?“, lud ich ihn ein, obwohl ich mich wirklich dazu durchringen musste, meinen Familienabend mit Dad und Henry herzugeben. „Dad und Henry würden sich sicher freuen.“ Eine glatte Lüge. Aber alles für einen guten Zweck! „Natürlich!“ Thomas sah aus, als hätte jemand Weihnachten um ein halbes Jahr vorverlegt. Er tat mir leid. Von draußen hörte man ein leises Schnauben, aber es hätte auch ein Husten sein können. Ich verdrehte die Augen, aber Thomas schien nichts mitbekommen zu haben. „Heute früh haben wir eines der Einsatzfahrzeuge mit Graffiti vollbeschmiert vorgefunden“, fing er an zu erzählen und in seinen Augen blitzte Empörung auf. Einsatzfahrzeuge – so nannte er die Traktoren immer. Oder vielleicht war es einfach auch nur Firmenstandard, sie so zu bezeichnen. Letztendlich waren es die Farmer, die die Fahrzeuge einsetzten, und nicht die Mitarbeiter. Gleich, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, verbrachte ich Tage in dem Glauben, Thomas wäre Feuerwehrmann, da er immer von seinen „Einsatzfahrzeugen“ sprach und was er und seine Kollegen so alles damit erlebten. Schon damals kam es mir komisch vor, dass die Autos dauernd kaputt waren oder an ihnen sonst wie herumgewerkelt werden musste. Erst nach einem sehr peinlichen, aber im Nachhinein auch lustigen Missverständnis, in dem es darum ging, dass ich ihn fragte, ob er beim Einsatz des Hausbrandes in der Nachbarschaft dabei gewesen war, klärte er mich irritiert auf. Damals bin ich mir dumm vorgekommen, aber im Grunde war er derjenige gewesen, der meine Fantasien durch eine falsche Ausdrucksweise angeheizt hatte. Manchmal, an unseren guten Tagen, zog er mich noch immer damit auf. „Wirklich?“, wollte ich halbherzig wissen. „Wie kam das denn?“ „Wir sind an der Sache dran. Vermutlich irgendwelche Teenies, aber es hätte jeder gewesen sein können. Wahrscheinlich werden wir es nie herausfinden. Wir haben den halben Tag verbracht, die Fahrzeuge zu reinigen und zu polieren. Stell dir nur vor, ein Kunde hätte das gesehen. Das gäbe einen großen Imageschaden.“ Ich nickte abwesend. Draußen regte sich etwas; ich hörte Stimmen. Henry musste nach Hause gekommen sein und unterhielt sich mit Dad. „Ich glaube, Henry ist zu Hause“, sagte ich überflüssigerweise zu Thomas und unterbrach damit seinen Monolog über die fatalen Auswirkungen von graffitibeschmierten Traktoren auf den jährlichen Gewinn und somit auf die Löhne der Mitarbeiter. „Oh, richtig.“ Thomas erhob sich, obwohl ich ihn mit dieser Bemerkung keineswegs zum Gehen auffordern wollte. Na ja. Oder doch. Vielleicht ein bisschen. „Ich hab sowieso noch einen Termin später. Fährt Henry dieses Jahr wieder ins Camp?“ Eine überflüssige Frage, denn Henry und ich redeten von kaum etwas anderem mehr! „Ja, Montag geht es los. Er kann es kaum erwarten.“ Thomas nickte, schien aber nicht richtig hinzuhören. In diesem Augenblick tauchte Henrys Kopf am Fenster auf. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um vom Vorgarten in die Küche hineinlugen zu können. „Hi, Mom!“, rief er aufgeregt. Es war sein vorletzter Schultag, aber um ehrlich zu sein fühlte es sich schon seit zwei Wochen wie der „vorletzte Tag“ an, denn die Lehrer führten kaum noch neuen Stoff ein und befanden sich selbst zumindest mental schon in den Ferien. Auch die Kinder waren nach einem langen Schuljahr erschöpft und reif für den Sommer. „Hi, Thomas!“ Henrys Enthusiasmus kannte in diesen Tagen keine Grenzen. Sein Blick fiel auf das frisch gemachte Sandwich, dass ich vorsichtshalber auf der Anrichte habe stehen lassen. „Mom, darf ich gleich mit Adam auf den Baseballplatz? Er hat doch zum Geburtstag heute den neuen Baseballhandschuh bekommen und wir wollen den ausprobieren. Bitte?“ Er war immer beschäftigt, mein kleiner Wildfang. Durch und durch Junge. „Nach den Hausaufgaben“, sagte ich daher pflichtbewusst, obwohl mir in diesen Tagen nichts gleichgültiger sein könnte als die Hausaufgaben zu kontrollieren. Eigentlich hatte ich mit Protest gerechnet, aber Henry nickte nur gewissenhaft und sein Kopf verschwand aus dem Fenster. Nur einige Momente später erschien er in der Haustür, die Dad nur angelehnt hatte, und hopste fröhlich in die Küche. Er schnappte sich seinen Teller, setzte sich an den Tisch und biss in sein Sandwich. Hastig kaute er, schluckte, und biss gleich nochmal hinein. Anscheinend wollte er das Essen und seine Hausaufgaben so schnell wie möglich hinter sich bringen, um sich den angenehmeren Dingen des Lebens zu widmen. „Heute haben wir sowieso nur Mathe auf“, schmatzte er zwischen zwei Bissen. „Easy-peasy.“ Ich schmunzelte und warf Thomas einen amüsierten Blick zu, aber er stand nur in der Nähe der Tür und runzelte ernst die Stirn. Und dann fiel mir wieder ein, dass das eines der Dinge war, die mich an ihm nervten. Er nahm das Leben einfach... so ernst! Er korrigierte Henry nicht, und ermahnte ihn auch nicht, nicht mit vollem Mund zu sprechen, aber sein Gesichtsausdruck war auch nicht gerade etwas, was einem den Augenblick versüßte. Ich wandte mich ab, irritiert davon, dass ich meine Belustigung über Henry nie mit ihm teilen konnte. Auf einmal wünschte ich mir, er würde endlich gehen. „Also.“ Mit einer extra Portion Enthusiasmus drehte ich mich zu Thomas herum. „Morgen Abend dann?“ Ich hoffte nur, er würde das nicht als direkten Rausschmiss begreifen... ich sah es eher als dezenten Hinweis, um ihn daran zu erinnern, dass er noch andere Termine hatte. „Ja. Ich freue mich, Eve.“ Er schritt auf mich zu und ich musste mich wirklich zwingen, nicht zurückzuweichen. Thomas presste seine Lippen auf meine und pflichtbewusst erwiderte ich seinen Abschiedskuss. „Tschüss, Henry!“ Thomas hob die Hand zum Abschiedsgruß und nickte Henry geschäftsmäßig zu. „Tschö“, murmelte Henry, den weder die An- noch die Abwesenheit von Thomas störte. Er war schon mit anderem beschäftigt und führte mit seiner Gabel Krieg gegen einen Löffel, den ich nicht weggeräumt hatte. Ich seufzte. Ich erinnerte mich an die Zeit zurück, als das Leben noch so frei und sorglos war wie das eines Neunjährigen. Erwachsen zu sein hatte seine Vorteile. Aber zu früh erwachsen werden zu müssen, weil man mit achtzehn ein Baby zu versorgen hatte, war nicht gerade das Leben, dass ich mir damals vorgestellt hatte. Diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen, und deshalb würde Henry die beste Kindheit bekommen, die ein Junge jemals haben könnte. Ein Junge, der seinen Vater niemals kennengelernt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)