Downfall von -Moonshine- (Bittersweet and You) ================================================================================ - 1 - ----- "Dad!", rief ich in aus der Küche, extra laut, damit er mich auch wirklich hören konnte. "Kannst du mal das Glas aufmachen?!" Ich kämpfte schon minutenlang mit diesem vermaledeiten Gurkenglas und langsam war ich kurz davor, die Nerven zu verlieren und es gegen die Wand zu schleudern. "Mum! Ich kann das! Lass mich!" Anstatt Dad war Henry herbeigeeilt, kaum hatte er meinen Hilferuf vernommen. Nun hopste er aufgeregt um den Tisch herum und streckte seine Arme nach dem Glas aus, begierig darauf wartend, seine Kraft unter Beweis stellen zu dürfen. Seufzend trat ich einen Schritt zurück und überließ ihm das Schlachtfeld. Mit seinen acht Jahren und seinem übersteigerten Selbstbewusstsein grinste er mich an und umfasste das widerspenstige Glas, um ihm endlich den Garaus zu machen. Er drückte und drehte und wurde vor Anstrengung ganz rot im Gesicht, doch - nichts bewegte sich. Ich musste lachen angesichts seiner enttäuschten Miene. Henry rieb sich die schmerzenden Handflächen an seiner Jeans und warf dem Gurkenbehälter einen schmollenden Blick zu. Es hatte seinen männlichen Stolz untergraben und ihm vor Augen geführt, dass auch achtjährige, Batman lesende Jungs, die sich für die Größten hielten, ihre Grenzen hatten. Gurkengläser, zum Beispiel. Bald würden es hübsche, blonde Mädchen mit Schmollmund und blauen Tiefseeaugen sein, aber bis dahin reichten ihm auch die Gurken aus – Gott sei Dank! "Komm schon, du Held. Ab nach oben, Hausaufgaben machen", kommandierte ich ihn freundlich ab, und sein Gesichtsausdruck wurde nicht gerade fröhlicher. "Aber Muuum!", protestierte er gequält. "Ich will doch mit Adam und seinem Dad an den See!" "Dann solltest du dich mit deinen Hausaufgaben beeilen. DAD! Kommst du mal?!" Missmutig machte mein Sohn sich auf den Weg nach oben in sein Zimmer, um seine ungerechte Strafe anzutreten. Ich wusste, dass seine Verabredung mit seinem besten Freund und dessen Vater erst in zwei Stunden war, aber Henry stellte sich immer so an, wenn es um seine Schulaufgaben ging, und versuchte ständig, sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden davor zu drücken. "DAD! Verdammt noch mal!", brüllte ich erbost, aber da kam er schon um die Ecke spaziert, gemächlich wie immer, überhaupt nicht in Eile. Ich fragte mich immer wieder, wo dieser Mann seine gespenstische Ruhe her hatte. Ob er überhaupt wusste, was das war, Ungeduld, oder in Eile zu sein? Ich bezweifelte es. "Was ist denn so Dringendes, Liebes?", fragte er liebenswürdig, zog einen Stuhl zurück und setzte sich in aller Seelenruhe an den Tisch. Ich verdrehte die Augen und schob ihm das Gurkenglas zu. "Kannst du mal eben aufmachen?", bat ich ihn seufzend. Er kam meiner Bitte nach und hatte im Nullkommanichts den Deckel vom Glas gelöst, der bei mir - und auch Henry -, praktisch festgeklebt hatte. Mein Vater, der wahre Held aller verzweifelten Frauen. "Danke." Obwohl er schon alt war, 63 Jahre nämlich, hatte er immer noch die wundervolle Eigenschaft, Gläser ohne Anstrengung zu öffnen. Außerdem kümmerte er sich um den Garten, um das Mittagessen, um Henry, wenn ich mal länger arbeiten musste oder einfach mal ein wenig Zeit für mich haben wollte. Er staubte regelmäßig die an der Wand hängenden Familienportraits und vor allem die Bilder meiner Mutter ab und zwang Henry und mich tagtäglich aufs Neue, mehr Fisch und Gemüse zu essen. Manchmal, so sagte er mit einem seligen Lächeln im Gesicht, hätte er das Gefühl, dass nicht zwei Erwachsene in diesem Haus lebten, sondern zwei Kinder. Dass er mit dem zweiten Kind mich meinte, stand außer Frage. Ich schaute auf unsere runde Wanduhr, die über dem Tisch hing. Sie war schon hier gewesen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich glaube, Mum hatte sie irgendwann einmal gekauft, und sie lief immer noch hervorragend. Lediglich das Ziffernblatt hatte diesen gelblichen Farbton angenommen, wie auch vergilbte Buchseiten, wenn sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatten. "Wo warst du heute morgen?", fragte ich ihn, mich von der Uhr und den Gedanken an meine Mutter abwendend. "Im Baumarkt", sagte Dad. Gierig fischte er sich mit Zeigefinger und Daumen eine Gurke aus dem Glas heraus und steckte sie sich genüsslich in den Mund. Kaute. Ich verzog das Gesicht. "Das Regelbrett austauschen", fügte er hinzu, nachdem er alles heruntergeschluckt hatte. Dad war ein Frühaufsteher, ein sehr aktiver Mensch, ganz im Gegensatz zu Henry und mir. Vor zehn Uhr vormittags waren wir gar nicht ansprechbar, und das an unseren guten Tagen. Das brachte in der Schule und bei der Arbeit natürlich einige Probleme mit sich, da wir zu früher Stunde übellaunig, störrisch und fies waren, aber wir schlugen uns tapfer durch's Leben, so gut es eben ging. Immer mit meinem fröhlichen Vater an unserer Seite, der alles ein bisschen schöner und bunter und lebenswerter machte. Dad, der mit der Zeit - und nach einigen gescheiterten Fehlversuchen -, gelernt hatte, dass er auch in Henry keinen adäquaten Morgen-Gesprächspartner haben würde, ging uns aus dem Weg, anstatt uns mit seiner ewigen Plauderei vollzuquasseln. So verbrachten Henry und ich den Morgen meist zu zweit, schweigend, grummelnd, halbherzig unser Frühstück vertilgend. In den Ferien, so wie jetzt, ließen wir uns besonders viel Zeit, auf Touren zu kommen und Glücksseligkeit zu tanken. Dabei warfen wir uns immer wieder missmutige Blicke zu, oder auch Dad, wenn er sich denn mal bei uns blicken ließ. Wir waren auch keine besonders guten Esser, also hatte Dad seine liebe Not mit uns. "Mi Baumarkt", hakte ich verwirrt nach, "meinst du da dieses neue Geschäft außerhalb der Stadt oder Onkel Eddie's Werkzeugladen?" Onkel Eddie war in Wirklichkeit gar nicht mein Onkel, aber trotzdem nannten ihn alle aus unserer Stadt so. Dad schaute verächtlich drein und ich kannte die Antwort schon, bevor er nur den Mund aufmachte. "Natürlich Eddie's Laden. Diese Kapitalisten glauben, sie kriegen uns klein, aber da haben sie sich gewaltig getäuscht!" Dad war überzeugter Gewerkschafter, mit Leib und Seele dabei, und hielt nichts von Großfachmärkten. Unser Städtchen war klein und konservativ und die bestehenden, bewährten Strukturen wollte keiner verändern, so veraltet sie auch waren. Zumindest nicht, solange es Leute wie Dad gab, die hier aufgewachsen waren und jeden kannten. Der jüngeren Generation war es weniger wichtig, ob sie ihre Bücher, ihren Käse und ihre Werkzeuge beim einheimischen, etwas irren "Onkel" Eddie, in geräumigen Großläden oder im Internet kauften, so wie mir zum Beispiel. Trotzdem wollte ich nicht, dass die stadteigene Infrastruktur vor die Hunde ging, noch weniger aber, dass Dad mich für ein gefühlloses, kaltes Etwas hielt, das althergebrachte Werte und Traditionen nicht zu würdigen wusste, also lächelte ich verständnisvoll und nickte ein paar Mal. Zeit, das Thema zu wechseln, aber schon kam Dad mir zuvor. "Kommt Thomas nachher vorbei?", fragte er lauernd. Entschieden schüttelte ich den Kopf. "Nein, Ben. Er geht mit Adam und Henry angeln", wich ich geschickt aus. Ben und Maggie Miller waren gute Freunde. Ich kannte die zwei seit Henry’s Geburt, denn Maggie und ich mussten uns das Krankenzimmer teilen, nachdem auch sie ihren Sohn Adam zur Welt gebracht hatte. Ben war zwölf Jahre älter als ich, Maggie acht, und beide hatten noch zwei Töchter. Masie, die älteste, war dreizehn, und Suzanne fünf Jahre alt. Es waren wundervolle Leute und für Henry waren sie wie eine zweite Familie. Dad blieb standhaft. "Danach hatte ich nicht gefragt." Ich wurde langsam ärgerlich. Dieser sture, alte Mann! Ich wusste ja, dass Dad kein großer Fan von Thomas war, aber er strapazierte mit seiner ewigen Litanei immerzu meine Nerven. "Nein, sagte ich doch schon", erwiderte ich genervt und warf ihm einen eisigen Blick zu. "Er kommt nicht." Er schwieg. Die Botschaft war also angekommen. "Und warum kommt Thomas nicht?" Okay, offenbar doch nicht. Ich seufzte. Mein Vater setzte noch einen drauf. "Er war schon so lange nicht mehr da." "Dahaad...", stöhnte ich. "Ich bin nur neugierig", sagte er mit engelsgleicher Miene und zeigte mir seine offenen Handflächen, als wollte er mir damit zeigen, dass er nichts zu verbergen hätte. "Thomas hat viel zu tun", wich ich schließlich geschlagen aus, "das weißt du doch." Ich wandte mich ab, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, denn die Wahrheit war, dass Thomas sehr wohl Zeit hatte, uns zu besuchen. Ich wollte es bloß nicht. Ich war mir sicher, Dad wusste es auch, jedoch hatte ich das dumpfe Gefühl, dass er von mir hören wollte, dass Thomas nicht der Richtige für mich war. Aber diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich kannte Tom schon seit der Highschool und hatte ihm viel zu verdanken. Es war das Mindeste, dass ich... nun ja. Ihn nicht einfach wegschickte. Das konnte ich einfach nicht und er würde es nicht ertragen. Außerdem liebte er Henry. Das war das wichtigste. "Ja", murmelte Dad, fast ein bisschen verächtlich, "viel damit zu tun, dir Verlobungsringe zu kaufen, die du dann alle achtlos in den Wind schmeißt." Ich drehte mich augenblicklich zornig zu ihm um. "Dad!", fauchte ich. "Es reicht. Du bist ein gehässiger, alter Mann, weißt du das?!" "Und du..." Seine grauen Augen funkelten aberwitzig, so wie früher, wenn er sich ein erbittertes Wortduell mit meiner Mum geliefert hatte. "Bist eine undankbare Tochter, die so nicht mit ihrem Vater reden darf, weißt du das?" Sofort war meine Wut verpufft und ich musste schmunzeln. Mit seiner schiefen Brille auf der Nase und dem ergrauten, immer dünner werdenden Haar konnte ich ihm einfach nicht böse sein. Vor allem dann, wenn er mich wie eine Dreizehnjährige behandelte. Ganz wie früher. Ich gestand uns beiden einen kurzen Moment der hässlichen Wahrheit zu, bevor wir wieder in unseren alten Trott aus ungesagten Worten, offenen Geheimnissen und fröhlichen Masken verfielen. "Glaubst du, es ist falsch?" "Was denn?", wollte er wissen. Ich hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden, obwohl es eine so simple Sache war. "Thomas immer wieder... wegzuschicken.“ Ich betrachtete die glatte Tischplatte und fügte dann noch ziemlich treuherzig hinzu: "Ich glaube nicht, dass er das noch mal mitmacht. Aber ich will auch nicht, dass er verschwindet." Dad seufzte und legte seine alte, faltige Hand auf meine Schulter. "Evie. Eins sag ich dir, und du musst mir glauben, Liebes, ja?" Ich nickte und sah ihn fragend an. "Das war die verdammt klügste Entscheidung, die du jemals getroffen hast, ihn nicht zu heiraten – zweimal. Und wir wissen beide sehr gut, dass du nicht immer kluge Entscheidungen getroffen hast in der vergangenen Zeit, hm?" Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich, halb belustigt, halb belehrend, aber durch und durch väterlich. Noch immer bekam ich ein leicht flaues Gefühl im Magen, wenn jemand darüber sprach. Aber ich lächelte, denn er hatte ja recht. "Danke, Daddy." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)