The Longest Journey - Beyond the Veil von abgemeldet (Das Ende einer langen Reise steht bevor) ================================================================================ 1.1: Befreiung -------------- ~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~ Vielleicht zur gleichen Zeit, vielleicht auch später… Die Feuerbucht im Osten des Nordlands, gelegen im Reich von Corasan… Trübes Wasser unter einem dämmrigen Himmel… Die Ufer sind gesäumt von gräulich-grünem Dickicht aus Farnen und Kräutern, umringt von knorrigen, dunklen Bäumen, die aufgrund der hohen Feuchtigkeit bereits von innen zu faulen beginnen. Sumpfgas schwebt in dunstigen Wolken zwischen den Pflanzen und verdichtet mit seinem fauligen Geruch die Luft zu einer räuberischen, gnadenlosen Waffe, die jederzeit bereitwillig den Kopf und das Herz aller Sumpfbewohner an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treibt. Es ist schwer, hier nicht den Atem anzuhalten, und dennoch gesund und wohlauf zu bleiben. Doch einige Menschen schaffen es - dauerhaft. Dort, in den hölzernen Pfahlbauten am Rande des Marschlandes, wohnen sie. Ihre Häuser sind an einer Reihe dunkler Piers aufgebaut, die weit in die Bucht hinausgehen und dem finsteren Urwald die Hinterfront zeigen. Diese Menschen, obwohl sie wenig zu verlieren und noch weniger zu gewinnen haben, wollen zumindest das Licht der Sonne genießen dürfen, ohne von den Gesetzen fremder Mächte beanstandet zu werden. Manche bezeichnen sie deswegen als ‚Terroristen’, andere nennen sie ‚Freiheitskämpfer’ – es kommt ganz darauf an, welches Volk dazu spricht. Doch ganz gleich, wie man sie nun nennt - in diesem Augenblick sind sie wirklich nur Menschen, die eine Schiffsladung Lebensmittel und Medizin in Empfang nehmen wollen – Güter, die sie schon lange entbehren mussten. Eine Frau mittleren Alters, gerüstet mit einem leichten Lederharnisch und eingehüllt in einen dunklen Mantel, beaufsichtigt das Verladen der Waren. Verschiedene Kisten und Tuchbündel werden einzeln am Pier abgeholt, während andere mit Seilwinden in die höheren Ebenen der Stadt transportiert werden. Die Handgriffe sind geübt und die Stimmung der Arbeiter scheinbar gelassen, doch könnte ihre Freude kaum größer sein, Neuigkeiten und Waren aus ihrer alten Heimat zu erhalten. Vertriebene sind sie - Angehörige eines Glaubens, den auszuleben ihnen nunmehr verboten ist. Einst lebten sie in der großen Stadt Marcuria, der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs von Ayrede, doch Krieg und Not, gebracht von den barbarischen Heerscharen der Tyren, zerstreuten sie in alle Winde. Verzweifelt mussten sie zusehen, wie die dürren, rattengesichtigen Krieger aus den westlichen Ebenen die Stadttore einrannten, ihre Mauern schleiften und ihre Lagerhäuser plünderten, begierig auf all den Reichtum, um den sie die Stadt seit alters her beneidet hatten. Doch die Tyren konnten ihr Glück nicht lange genießen. Einige Tage nach dem Beginn der Invasion, als sie sich schon am Ziel ihrer Jahrhunderte währenden Racheträume sahen, tauchten an den Himmeln über dem westlichen Sonnenuntergang gewaltige Schatten auf – Luftschiffe aus Holz, Blech und schwerem Tuch. Es gibt nur noch wenige Augenzeugen, die dieses Spektakel mit eigenen Augen gesehen haben, und keiner von ihnen wird unter den Rebellen zu finden sein, aber die Ereignisse werden in vielen Liedern und Geschichten lebendig gehalten, wenngleich kaum einer von ihnen sie hören möchte, denn zu dunkel sind die Bilder, die die Worte der Erzähler heraufbeschwören: Menschliche Soldaten, gewappnet mit schwerer Leder- und Eisenrüstung, gekleidet in purpurne und blaue Gewänder, waren damals zu Tausenden vom Himmel gefallen, hinunter auf die Köpfe der Tyren, die ob dieses bestaunenswerten Schauspiels wie gelähmt dastanden und den Segen ihrer Stammesgeister erflehten. Dieses Zögern sollte ihr Untergang sein: noch bevor die ersten von ihnen sich sammeln konnten, brachen auch schon die Krieger der Azadi - einer großen Hochkultur aus dem Flussland um Sadir - über sie herein und ließen ihre Schwerter unter ihnen tanzen. Jene Tyren, die diesen ersten Vorstoß überlebten, formierten sich zwar umgehend auf dem im Zentrum der Stadt gelegenen Tempelmarkt zu einer Gegenoffensive, doch waren ihre Rüstungen und Waffen der fortschrittlichen Technologie der westlichen Krieger nicht auf ewig gewachsen. Denn während noch an den äußeren Rändern des rasch gebildeten Verteidigungswalls gehieben und gestochen wurde, verfinsterte sich der Himmel über den Köpfen der Tyrenhäuptlinge in der Mitte des Kreises zusehends. Nur ein paar Sekunden später regneten mehrere Ströme an Teer und Pech auf sie herab, die einen großen Teil der Barbarenkrieger binnen kurzem auf grausamste Art und Weise umbrachte. Wer auch nur ein paar Tropfen von den zähen, heißen Massen in die Augen oder in den Nacken bekam, verfiel darüber in eine dermaßen von Schmerzen erfüllte Raserei, dass er Freund und Feind nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermochte. Zwar kämpften die zähesten Tyrenkrieger - trotz der Verbrennungen an ihren Armen und Schultern - tapfer weiter, doch der Rest der Truppen stürzte einfach nach vorne, blindwütig auf den vermeintlichen Gegner einstechend, ganz gleich, ob es ein Azadi war oder nicht. Schon bald war innerhalb der Stadtmauern kein Tyren mehr am Leben. Und bereits eine Woche später gewährten die Azadi den Einheimischen die unbehelligte Rückkehr in ihre Häuser und Werkstätten. Doch mit solch großer Zerstörungswut waren die Tyren dort ans Werk gegangen, dass die Meisten von ihnen auf Jahre nicht würden bewohnbar sein. Auch die Stadtmauern waren teilweise bis in das Fundament hinein gespalten worden, was bedeutete, dass die Stadt für die nächste Zeit zur leichten Beute für Banditen und wilde Söldnerhorden werden würde. Dies bedenkend versprachen die Azadi, weiterhin in der Stadt zu verbleiben und sie vor allen noch möglichen Bedrohungen, seien sie auch noch so klein und harmlos, zu beschützen. Nie sagten sie, welche sonderbare Fügung des Schicksals sie im rechten Moment nach dem Nordland geschickt hatte, doch bekräftigten sie, dass ihre Präsenz nicht die Speerspitze einer neuen Invasion sei. Das war vor zehn Jahren passiert, in einer Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Konflikte, die nun dazu bestimmt waren, erneut in die Schatten des Unterbewussten zurückzukehren und dort zu warten, bis sie n ferner Zeit wieder aufbrechen würden. In der Zwischenzeit hatten die Marcurianer einzig und allein die Sorge, sich in ihrem wieder halbwegs geregelten Leben zurecht zu finden… mithilfe der Azadi natürlich, die bis zum heutigen Tage nicht gegangen sind. Kara (jene schwarz gekleidete Frau, die die Arbeiter beaufsichtigt) kann sich noch gut an diese Jahre erinnern. Sie hatte selber zu den Dummköpfen gehört, die den Versprechungen Glauben geschenkt und die Fremden für ein Geschenk des Gleichgewichts gehalten hatte. Erst der Wandel der Zeit sollte sie ihre Torheit erkennen lassen… Es dauerte eine Weile, bis die Dinge zu ihrer alten Ordnung zurückkehren konnten, doch dank der tatkräftigen Unterstützung der Azadi war dies auch nicht weiter notwendig. Als Zeichen ihres guten Willens brachten die Fremden neuartige Technologien und Baumaterialien ins Nordland mit, die die Marcurianer bisher nicht gekannt hatten, die ihnen aber nur allzu gelegen kamen, denn den Geheimnissen der Technik hatten sie schon immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht als den Wundern ihres Alltags. Schon bald sah man an allen Ecken Marcurias seltsame Dampfmaschinen stehen, mächtige Ungetüme aus Rohren und Ventilen, die die Häuser und Läden der Menschen mit Wärme und Energie versorgten. Ihre Bewohner schätzten diese neue Bequemlichkeit, die es ihnen erlaubte, schneller zu produzieren und angenehmer zu leben, und so wurden die Großtaten der Fremden von fast jedermann als ein wahrer Segen empfunden. Doch die Westländer brachten auch eine andere Neuerung aus ihrer Heimat mit, und an ihr sollten sich alle Geister scheiden: Der Glauben an das Licht der Göttin. Im Gegenzug für ihren Schutz und ihre Freundlichkeit verlangten die Azadi nun von den Nordländern, das Wort der Göttin anzuhören und ihre Lehren zu beherzigen, denn nur durch sie würden wieder Recht und Ordnung in ihr chaosfürchtiges Leben einkehren. Und weil viele Marcurianer (ohne nachzudenken) Sicherheit und Wohlstand höher als alles andere einschätzten, fügte sich schließlich die Mehrheit von ihnen in diesen Beschluss. Doch längst nicht jeder war bereit, den Predigten der Missionare zu folgen: zu viele von ihnen hielten noch immer an dem Glauben ihrer Väter fest, und jene, die der Religion der Azadi kritisch gegenüberstanden, wurden von den Westländer schon bald der Häresie angeklagt und festgenommen. Der Orden der Väter, der früher den Glauben an das kosmische Gleichgewicht und den tausendjährigen Dienst des Hüters rein gehalten hatte, wurde nun schlichtweg aufgelöst und verboten, seine Tempel zerstört, sein Eigentum beschlagnahmt. Als die Azadi schließlich die vollständige Kontrolle über Marcuria und seine Regierung an sich gerissen hatten, zeigte sich auch bei ihrer Religion des Lichtes die Schattenseite. Gemäß den Lehren der Göttin und ihrer Interpreten wurden die Menschen als die alleinige ‚Krone der Schöpfung’ angesehen. Ihnen war die Erde geweiht worden, und sie sollten es auch sein, die in vollem Maße über ihr Schicksal entscheiden konnten. Die magischen Rassen hingegen, zumeist weitaus älter und höher entwickelt als sie, waren direkt dem Schlamm der Sümpfe und Gräben entsprungen und deshalb nicht besser als wilde Tiere - Parasiten, die sich am Wohlstand einer Herrenrasse labten. Hatten sie bisher als gleichwertige Geschöpfe des Gleichgewichts friedlich neben den Menschen gelebt, so wurden sie jetzt von ihnen abgesondert und in die Altstadt von Marcuria verfrachtet – vorgeblich, um sie vor Übergriffen zu schützen, doch in Wirklichkeit, um sie zu isolieren. Oldtown, ein Gebiet, das kaum ein Achtel von Marcuria ausmachte, wurde zum einzigen magischen Ghetto der Stadt und zum Freiluftgefängnis von über zwanzigtausend Wesen verschiedenster Rassen. Auf engstem Raum zusammengepresst, mit Krankheit und Tod als täglichen Weggefährten, führten hier Dolmari und Zhid, Banda und Irhadja ein kärgliches Dasein. Ohne Sicherheit, ohne Rechte, hatten sie keinen Platz in dieser Gesellschaft von heiligen Sündern. Ungeachtet jeglicher Verdienste gegenüber den Menschen, galten sie vor dem Kriegsrecht der Azadi ohne Ausnahme als Verräter, und kaum jemand kümmerte sich darum, was mit ihnen geschah, ob sie in den engen Gassen Oldtowns zugrunde gingen oder heimlich die Stadt verließen – es war einerlei. Vielleicht hätten irgendwann auch die Hoffnungsvollen unter ihnen der unausweichlichen Auslöschung entgegen geblickt… … wären nicht eines Tages die Rebellen auf den Plan getreten. Wie diese Bewegung entstanden ist, ist schon lange in Vergessenheit geraten. Es gibt Leute, die von heiligen Schwüren im Mondschein berichten, von Verschwörungen und Aufständen im direkten Umfeld von Oldtown, oder von waghalsigen Schlägereien auf den Straßen der Vorstadt. Dennoch weiß heute niemand mehr, wer als Erstes das Schwert ergriff, um es gegen die Azadi zu erheben. Selbst Kara weiß es nicht – sie kann es nicht wissen. Sie stieß erst vor acht Jahren zu der Bewegung und hat seitdem stetig mehr Einfluss auf deren Politik erlangt. Mit ihrer Ausdauer und ihrer Scharfsinnigkeit hat sie schon so manche Krise erfolgreich überwunden und dazu beigetragen, dass sich die Rebellion über viele Jahre hinweg am Leben halten konnte. Still und leise traf sie ihre Entscheidungen, nicht Dank oder Lob erwartend, und doch immer weitestgehend mit dem Gemeinwohl im Einklang. Deshalb ist sie im letzten Frühjahr einstimmig zur Bürgermeisterin der Sumpfstadt gewählt worden. Mit diesem Titel geht eine große Verantwortung einher, denn sie ist es, die die neu angekommene Lieferung in der Stadt verteilen wird. Während sie ihre Männer beim Abladen der Güterkisten beobachtet, geht sie in Gedanken noch einmal die genauen Bedürfnisse jedes einzelnen der fünf Stadtteile durch. Bunnvik, Boldterre, Candredville… jeder von ihnen hat einen anderen Notstand. Fehlen bei einem nur neue Kerzen und Feuersteine, so benötigt ein anderer dringend Kräuter und Medizin. Wieder einmal wird Kara bewusst, wie viele Flüchtlinge inzwischen den Sumpf bevölkern, und wie viele mehr täglich noch hinzukommen. Die Unterdrückung durch die Azadi hat inzwischen einen traurigen Höhepunkt erreicht: sie haben in mehreren Nationen des Nordlands erfolgreich Fuß gefasst, und ihr Ziel, den zersplitterten Kontinent unter ihrer Herrschaft zu einen, erscheint mit jedem Tag realistischer. Sogar im nicht weit entfernten Corasan, wo die Rebellengruppe viele Sympathisanten besitzt, glaubt kaum noch jemand an deren Sieg. Und als wäre das nicht bereits schlimm genug, ist vor wenigen Tagen eine ihrer treuesten Verbündeten in Marcuria verhaftet worden. Diese herben Schicksalsschläge an sich sind bereits tragisch… doch machen sie die Leute darüber hinaus auch anfällig für Panik und irrationale Ideen - zuweilen sogar für unangebrachten Wagemut. Und der trägt in Karas Gedanken einen ganz speziellen Namen: Raven. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)