Anthrazit von Passer ================================================================================ Prolog: Prélude. ---------------- Es war ein kalter Morgen, und als ich blinzelnd die Augen aufschlug, zog ich mir meine Decke gleich wieder über den Kopf. Ich hatte keine Vorhänge vor dem Fenster meines Schlafzimmers, somit wusste ich immer gleich, welches Wetter draußen herrschte. An dem Fenster hatten sich kleine, fiese Eisflocken festgesetzt. Mir schauderte es, als ich daran dachte, wie ich denn bei diesem Wetter zur Arbeit kommen sollte. An Fahrrad fahren war nicht zu denken, geschweige denn an Auto fahren. Mir würde schon schlecht werden, wenn ich den Schlüssel zum Anlassen herumdrehte. Ich seufzte leise. Die Decke wurde mir vom Kopf gezogen. Verwirrt hob ich die Lider wieder und wollte nach der Decke langen, als ich mich fragte, wer mir die vom Kopf reißen könnte. Soweit ich wusste, hatte ich keinen Mitbewohner, von ein paar Spinnen vielleicht abgesehen. „Aufstehen, Larry!“, sagte eine gut gelaunte Stimme, die genau vor dem Fenster mit dem blendend weißen Frost stand, sodass ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, wer es war. Aber es gab nur einen, der mich Larry nannte. Obwohl ich das überhaupt nicht gern hatte. „Na komm schon, du kommst noch zu spät.“ „Bist du meine Mutter?!“, schnappte ich und riss Rannyl die Decke wieder aus den Händen. „Lass mich gefälligst so lange schlafen, wie ich will.“ Bei dem Wetter konnte ich mich genauso gut krankschreiben lassen. Befreundeter Arzt. Hehe. „Ach, komm schon.“ Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme geradezu hören. „Na gut, fahr ich eben allein bei Kyrill vorbei ...“ Das wiederum machte mich plötzlich hellwach. Ohne Rannyl eines Blickes zu würdigen, schlüpfte ich in meine Pantoffeln, die neben dem Bett standen, und machte einen Abstecher ins Bad. Rannyl folgte mir. „Schag mal, wie kommscht du überhaupt in meine Wohnung?“, fragte ich mit der Zahnbürste im Mund. „Ganz einfach.“ Er langte in seine Hosentasche und zauberte ein kleines Schlüsselbund hervor – es kam mir ziemlich bekannt vor. „Das hier hast du gestern Abend bei mir vergessen.“ Ich schnappte das Bund aus seiner Hand und funkelte ihn böse an. Ich spülte mir den Mund aus und sagte: „Und du glaubst, das rechtfertigt dich einfach, in meine Wohnung einzubrechen?!“ „Nicht einbrechen, Schätzchen. Ich bin ganz legal in deine vier Wände gelangt.“ Die ganze Zeit über hatte er dieses widerliche Lächeln im Gesicht, dass ich ihn am liebsten rausgeschmissen hätte. Aber dann hätte er mich nicht mit zu Kyrill genommen, und das … war es dann irgendwie doch wert. Also knurrte ich nur und winkte ihn aus dem Bad, um in Ruhe mein Geschäft zu erledigen. Als ich fertig angezogen war und das Schlüsselbund sorgfältig in meiner eigenen Hosentasche verstaut hatte, scheuchte ich Rannyl aus der Wohnung und folgte ihm, nachdem ich die Tür verschlossen hatte. Rannyl war ein Freund von Kindesalter an, und zusammen hatten wir schon so einige Krisen überstanden; die längste hatte uns drei ganze Monate Funkstille beschert. Aber dadurch waren wir nur noch fester zusammengeschweißt worden. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen – und wollte es auch gar nicht, auch wenn es nach außen hin meistens schien, als behandelte ich ihn wie ein letztes Stück Dreck. Er nahm es mir nicht übel. „Was glaubst du, werden wir heute zu hören bekommen?“, fragte Rannyl, als wir aus dem alten Blockhaus getreten waren. Ich zog meine Winterjacke fester um den Körper und zog die Handschuhe über. „Nach dem, was letzte Woche passiert ist, garantiert nichts Gutes.“ Ich scharrte unmutig mit einem Fuß im Schnee herum, der zwar nicht zentimeterhoch auf dem Gehweg lag, aber denselben doch schon weiß färbte. Ich hasste Schnee. Ich hasste Winter. Bah. Ich war froh, wenn ich in so einer Jahreszeit eine Gelegenheit zum Mitfahren bekam, da ich sonst wahrscheinlich mit dem Bus gefahren wäre, trotz eigenen Autos. Ich hatte einfach zu viel Angst vor Rutschgefahr. (Winterreifen und Schneeketten hin oder her …) Rannyl schloss sein Auto auf und wir stiegen beide ein. Er ließ den Motor eine Weile anlaufen, drehte die Heizung hoch und das Radio an. „Ich hoffe ja, dass er seine Wutausbrüche irgendwann mal zu kontrollieren lernt. Letztens ist er sogar schon ausgeflippt, weil sein Kaffee kalt geworden ist – selber schuld, wenn er ihn so lange stehen lässt!“ Ich nickte zustimmend. Kyrill hatte schon seit einiger Zeit Probleme mit sich selbst, wahrscheinlich der Stress. Das alles hatte ja auch erst angefangen, als er zum Abteilungsleiter befördert worden war. Den Rest der Fahrt schwiegen wir beide; er konzentrierte sich auf den Verkehr, ich bereitete mich innerlich auf das Gebrüll vor. Als wir dann auf dem Parkplatz der Firma vorfuhren, fühlte ich mich von der üblichen Schwere begrüßt, die mich jeden Montagmorgen befiel. „Na dann, auf in die Höhle des Löwen“, seufzte Rannyl und knallte die Autotür zu, nachdem er ausgestiegen war. Mit hängenden Schultern trottete ich hinter ihm her in das mehrstöckige, stinklangweilige Gebäude der Firma. Es war gerade pünktlich acht Uhr morgens, und Vjalla, unsere aus Kasachstan stammende, aber perfekt Deutsch sprechende Empfangsdame kam aus Richtung der Küche, wo die heiß geliebte Kaffeemaschine ihren Platz hatte. Sie wärmte ihre Hände an einer Tasse mit dem warmen Getränk auf und lächelte uns zu. „Guten Morgen, Vjalla“, begrüßte Rannyl sie mit seinem charmanten Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er einer Frau begegnete. Neben ihm fühlte ich mich umso kleiner und schenkte ihr ebenfalls nur ein freundliches Lächeln. „Guten Morgen, ihr zwei“, erwiderte sie, schaute dabei aber nur meinen Begleiter an. Verärgert wandte ich den Blick ab und ging weiter. So wie es sich anhörte, quatschte Rannyl fröhlich weiter, aber ich hatte keine Lust, das fünfte – oder in diesem Fall das dritte – Rad am Wagen zu spielen. Sollte er flirten, wo er wollte. War mir doch egal. Bah. Nein, natürlich ist es mir nicht egal, dachte ich, als ich meinen Drehstuhl heranzog und meine Sachen ablegen ging. Ich wurde von mehreren Seiten begrüßt, aber ich ignorierte sie heute alle mal. Meine Laune war sowieso schon im Abgrund, und die anderen kannten mich jetzt gut genug, um zu wissen, dass ich so was manchmal nun hatte. Dann ließen sie mich glücklicherweise auch in Ruhe. Ich schaltete PC und Bildschirm an und holte tief Luft. Die Uhr an der Wand sagte, dass Kyrill erst in eineinhalb Stunden aufkreuzen würde – der Chef nahm sich solche Privilegien in letzter Zeit öfters heraus. Das Summen der vielen Rechner machte mich jetzt schon nervös. Normalerweise zog ich den Teil meiner Arbeit vor, bei dem man mit anderen Menschen in anderen Umgebungen zu tun hatte, aber diese Woche lagen merkwürdigerweise keine Termine auswärts an. Das machte das Ganze noch viel schlimmer. Nach zehn Minuten sinnlosen Auf-den-Bildschirm-Starrens stand ich auf und marschierte stracks in die Küche, was ich sonst eigentlich nie tat, da ich kein Kaffeetrinker war. Aber heute schlürfte ich gleich drei Tassen hintereinander hinunter. Danach fühlte ich mich ein wenig besser. Rannyl stand an meinem Platz und schaute mich aus undefinierbaren Augen an, die Hände in die Seiten gestützt. „Kann es sein, dass du dich heute gern sang- und klanglos aus dem Staub machst?“ Ich antwortete ihm nicht und setzte mich auf meinen Stuhl. „Ich muss arbeiten.“ Ich meine, ein Prusten gehört zu haben, aber wenigstens verschwand er. Natürlich arbeitete ich nicht. Ich hatte überhaupt nicht die Geduld dazu, jetzt etwas zustande zu bringen, nicht mit dieser verdammten Nervosität im Leib. Normalerweise sollte man ja nicht so eine Panik vor seinem eigenen Arbeitgeber haben – nicht hier – aber Kyrill konnte einem schon Angst einjagen. Auch, wenn er außerhalb der Arbeit recht umgänglich war. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als schon wieder jemand hinter mir stand. „Was willst du schon wieder, R-“ Noch beim Sprechen drehte ich mich ärgerlich um und hielt mitten im Satz inne, als ich sah, dass es nicht Rannyl war, der mich diesmal störte. „Entschuldige bitte, wenn ich dich erschreckt habe ...“ Meine Gedanken lagen blank, als ich in das schüchterne, dezente Lächeln blickte und schluckte. „Damon.“ „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass Kyrill dich sprechen möchte.“ Das nahm mir den Wind aus den Segeln. Natürlich hatte ich so etwas geahnt, schließlich kam die rechte Hand von Kyrill nicht einfach herüber, um zu tratschen. „Und … Rannyl?“ Er schaute mich verwirrt an und schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete er mit seiner leisen, ruhigen Stimme, „Kyrill hat ausdrücklich nach dir verlangt.“ Wie ein Roboter erhob ich mich von meinem Bürostuhl und verabschiedete mich schon mal von meinem Leben. Ich liebte Männer in Anzügen. Das ließ sie so elegant und selbstbewusst wirken – auch wenn sie es vielleicht gar nicht waren. Der erste Eindruck war schließlich das wichtigste, wenn man jemandem begegnete, und die meisten – mich eingeschlossen – schauten dabei eben als erstes auf das Äußere. Kyrill gehörte zu denjenigen, die nicht nur so aussahen, sondern es auch waren. Früher hatte ich nie mit so einer Person zu tun gehabt, und ich bereute es jetzt, mich niemals mit den hochnäsigen Kameraden aus meiner Klasse beschäftigt zu haben. Dann hätte ich mit ihm vielleicht auch besser klarkommen können. Ich rang mit den Händen unter dem Schreibtisch und vermied es, ihn anzuschauen, während er in seinem Terminkalender blätterte. Einmal kam Damon herein, um eine Kanne Kaffee zu bringen, danach herrschte Stille. Nur das Rascheln von Papier und die fernen Geräusche des Verkehrs waren zu hören. Ich hoffte – nein, ich betete, dass es kurz und schmerzlos sein würde. Noch wirkte er nicht so, als würde er jeden Moment in die Luft gehen. „Nun denn“, sagte Kyrill und legte den Kalender beiseite. Er faltete die Hände auf dem Tisch und blickte mich ernst an, ich blickte genauso zurück, um meine Nervosität zu verbergen. „Das Gespräch am Samstag scheint ja nicht so toll verlaufen zu sein.“ Ich hustete. Das war noch vorsichtig ausgedrückt. Ein kurzer Blick auf meine Hände. „Hör mal, Kyrill, es war nicht meine Schuld, dass mir der Tee ausgerutscht ist ...“ „Ich denke, das war noch nicht einmal das schlimmste. Die Tatsache, dass wir den Kunden verloren haben, stört mich vielmehr.“ Innerlich verdrehte ich die Augen. Wenn ein Kunde so zimperlich war, „nur“ wegen einer verschütteten Tasse Tees über seinen ach so wichtigen Unterlagen das Unternehmen zu wechseln, dann konnten wir uns glücklich schätzen, uns nicht mehr mit ihm herumschlagen zu müssen. Aber das konnte ich Kyrill kaum ins Gesicht sagen. Auch wenn ich nicht so einen großen Respekt vor ihm gehabt hätte. Er funkelte mich an. „Willst du noch etwas dazu sagen?“ Ich hob das Kinn und schüttelte den Kopf. „Gut, dann kannst du jetzt nach Hause gehen.“ Verwirrt schaute ich ihn an. „Was meinst du denn jetzt damit? Ich habe noch nicht einmal wirklich mit der Arbeit angefangen ...“ „Umso besser. Ich will dich hier nicht mehr sehen.“ Mir fiel doch tatsächlich die Kinnlade herunter. „D-Das meinst du doch jetzt nicht ernst!“ Kyrill verschränkte die Arme. „Ich habe noch nie etwas so ernst gemeint wie jetzt.“ Ein zuckersüßes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Einige Momente des Schweigens vergingen. Ich konnte es nicht fassen. Ich war gefeuert. Und das wegen einer einzigen Tasse Tee?! „Raus“, sagte er mit so freundlicher Stimme, dass ich mich wunderte, warum er seinen längst schon überfälligen Wutanfall noch nicht bekommen hatte. Wie in Trance verließ ich sein Büro, schaltete meinen – alten – PC aus, schnappte meinen Wintermantel und ging schnellen Schrittes hinaus. Als ich vor der Tür in der Kälte stand, schaute ich in den Himmel, von dem herab es dicke Schneeflocken schneite. Ich war gefeuert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)