Nothing And Everything von -Moonshine- ================================================================================ E i g h t --------- "Wie geht's deinem Mr. Cooper?", löcherte mich mein kleiner Bruder Jamie und nahm eine seltsame, unförmige Keramikfigur in die Hand, um sie sich genauer anzusehen. "Er ist nicht MEIN Mr. Cooper", knurrte ich genervt. "Wieso sagt das denn jeder?!" Jamie zuckte unbeteiligt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Wer denn noch?" So beschäftigt, wie er war, war klar, dass er auf eine Antwort nicht unbedingt viel Wert legte, also ersparte ich mir das. "Was hältst du eigentlich hiervon?" Ich nahm das merkwürdige Ding genauer in Augenschein. "Für Mum? Das ist wohl das hässlichste Teil auf Gottes Erde." Er lachte. "Kann schon sein. Aber schau mal, wie griesgrämig das guckt. Das würde doch gut passen, oder?" Er drehte das kugelrunde Ding, das wohl ein Tier oder so etwas ähnliches darstellen sollte, in der Hand hin und her und betrachtete es von allen Seiten. "Jamie!" Ich versuchte zwar, empört zu sein, konnte mir das Grinsen aber dennoch nicht verkneifen. Irgendwo hatte er ja recht. Unsere Mutter war wirklich einer der grimmigsten Menschen auf der ganzen Welt. Wenn sie einmal wütend oder schlecht gelaunt war, konnte das Tage anhalten, ohne Aussicht auf Besserung. Sie war wie eine von diesen alten Damen, die den lieben langen Tag lang nur herumnörgelten und sich über alles und jeden beschwerten, mit dem einzigen Unterschied, dass sie noch nicht so alt war, um sich das tatsächlich erlauben zu können. Das sollte keineswegs heißen, dass sie eine schreckliche Mutter war, ganz im Gegenteil, aber sie meckerte nun mal liebend gern an allem herum und hatte dabei diesen schrecklich grimmigen Gesichtsausdruck auf, über den Jamie, Dad und ich immer lachen mussten. Die Cooper-Bälger waren noch in der Schule und so nutzte ich meinen freien Vormittag, um mit meinem Bruder, der anscheinend wieder mal sein Seminar schwänzte, ein wenig durch die Stadt zu bummeln und nach einem Hochzeitstagsgeschenk für unsere Eltern Ausschau zu halten. Dabei klapperten wir einfach alles ab, was uns in die Quere kam: Antiquitätenläden, Elektrofachmärkte, Supermärkte, Drogerien, Schuhläden, und so weiter, und so fort. Nur um das Sexkino machten wir einen Bogen. Wir waren uns sicher, dass das nicht so rechten Anklang bei unseren Eltern finden würde. "Komm, leg das Ding weg. Lass uns weitergehen, hier finden wir nichts", forderte ich ihn auf und stieß beim Umdrehen an eine alte, verstaubte Kommode aus dunklem Holz, deren Ecke sich äußerst schmerzhaft in mein Hinterteil bohrte. "Ouch, verdammt!" Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben. Hier war es einfach viel zu eng. Lauter nicht zusammenpassende und teils auch noch hässliche Dinge standen herum, Dekorationszeug, Möbel, altes Geschirr, das als solches oftmals gar nicht mehr zu erkennen war. Alles, was man aufeinanderstapeln konnte, war auch aufeinandergestapelt worden. Um die zwei Dutzend Leuchter hingen von der Decke herab, manche so niedrig, dass man sich gut hätte den Kopf daran stoßen können, wenn man nicht aufpasste. Ich fand es grauenvoll hier. Und außerdem verströmte jedes einzelne, hässliche Teil in diesem Laden diesen typischen Geruch von vermodertem Holz, gekochtem Kohl und alten Menschen. "Ich bin immer noch für diesen... dieses Tier hier", witzelte Jamie, stellte das obszöne Ding aber wieder zurück ins Regal und folgte mir raus an die frische Luft. Dort atmete ich erst mal richtig durch und wandte mich dann zu meinem Bruder um. Ratlos starrten wir uns an. "Meinst du, ein Küchengerät wäre angebracht?", fragte er mich dann hoffnungsvoll. Ich verdrehte die Augen. "Weißt du noch, was Mum damals mit Dad gemacht hat, als er ihr einen Mixer geschenkt hat?" Jamie grinste. "Oh ja. Sie hat ihn mit dem Mixer durch die ganze Küche gejagt und-" "Mein Gott, sind unsere Eltern bescheuert...", unterbrach ich ihn, da mir ganz plötzlich diese Erkenntnis gekommen war. Hin und wieder überfiel sie mich ohne Vorwarnung und dann konnte ich es einfach nicht fassen, was wir schon alles mit unseren Eltern durchmachen mussten. "Hoffentlich werden wir nicht auch mal so." "Liegt alles in den Genen", klugscheißte mein ach-so-schlauer Bruder, "aber dann kommen noch die Umwelteinflüsse dazu. Was dir vorgelebt wurde, wie du aufgewachsen bist, all so was." Ich stöhnte. "Tolle Aussichten." "So wie ich das sehe", griente mein Bruder schon wieder verschlagen, "hast du sowieso keinen Mann, den du mit einem Mixer jagen kannst, also mach dir mal keine Sorgen darüber." "Sehr charmant", murmelte ich missmutig. "Bist du zu allen Frauen so bezaubernd?" Solche kleinen Kabbelein hatten wir ständig, es war also nichts Besonderes. Aber heute war ich viel zu empfindlich für seine Sticheleien. Das musste er mir angesehen haben, denn er zuckte entschuldigend die Schultern. "War nur Spaß, das weißt du doch." Dann wandte er sich wieder der Frage nach dem Geschenk zu. "Also, auch kein Küchengerät", schlussfolgerte er. "Vielleicht eine CD?" Ich dachte nach. "Und welche?", wollte ich skeptisch wissen. Da unsere Eltern musik- und geschmackstechnisch noch irgendwo in den Siebzigern gefangen waren, war es gar nicht so einfach für uns, ihnen in dieser Hinsicht etwas zu besorgen. Jamie und ich kannten uns kein bisschen in diesem Zeitalter aus. Wer war angesagt gewesen, wer nicht? Und vor allen Dingen: wen davon fanden unsere Eltern gut, und wen nicht? Er zuckte mit den Schultern. "Keinen blassen Schimmer." Eine Weile lang spazierten wir schweigend nebeneinander her, die Straße herunter, und dachten beide angestrengt nach. Nun, zumindest weiß ich, dass ich angestrengt nachdachte, ob oder was Jamie tat, weiß ich nicht. "Das ist schwieriger, als ich dachte", gestand er dann stirnrunzelnd. "Es ist genau so, wie jedes Jahr", erinnerte ich ihn ungeduldig. "Wir laufen ziellos durch die Gegend und finden nichts." "Und dann", ergänzte er der Wahrheit halber, "kaufen wir irgendeinen Mist aus Verzweiflung." Wir grinsten uns einvernehmlich und auch ein bisschen entmutigt an. "Wieso können wir also nicht gleich zu dem Teil mit dem Verzweiflungskauf übergehen?", schlug er vor und ich seufzte. "Ja, warum eigentlich nicht?" "Was hältst du von diesem runden Ding aus dem Antiquariat?" Er konnte einfach nicht locker lassen. "Sieht doch sehr nach Verzweiflung aus, oder nicht?" Ich blieb stehen, drehte mich um und schaute wieder die Straße hinauf. "Oder Blumen und einen Kuchen per Post?" Er riss die Augen auf. "Warum bist du nicht schon früher drauf gekommen?!", verlangte er aufgeregt zu wissen. "Dann hätten wir uns das hier sparen können!" "Entschuldige, dass ich deine kostbare Zeit so in Anspruch genommen habe", erwiderte ich trocken und steuerte die nächste U-Bahn-Station an. "Kriegst du das hin, Blumen und Kuchen per Internet zu bestellen?", hakte ich nach. "Kein Problem!" Jamie streckte einen Daumen in die Luft, aber ich war mir sicher, dass er es vergessen würde. "Ich ruf dich morgen an und erinnere dich daran." "Du traust mir wohl gar nichts zu", schmollte er, so wie schon damals, als er acht war und ich zehn und ich ihm nicht erlauben wollte, an meiner Pyjamaparty teilzunehmen. Wir waren sechs Mädchen gewesen und wir wollten von unseren Lieblingsstars schwärmen und deren Poster anschmachten, während wir Oreos in uns reinstopften, da hätte ein nerviger, kleiner Achtjähriger gerade noch gefehlt. Jedenfalls hat er mir das noch Wochen später vorgehalten, aber skrupellos, wie ich war, hatte ich ihn einfach ignoriert. "Sei nicht blöd, Jamie. Du weißt selbst, dass du immer alles schleifen lässt." "Wie charmant", äffte er mich mit blöder Stimme nach, die meiner nicht mal im Entferntesten ähnlich war, "bist du zu allen Männern so bezaubernd?" "JA!", fauchte ich ihn an. Ich wusste ja, dass er es nicht ernst meinte, aber momentan war ich ein bisschen pikiert, wann immer die Sprache auf mein nicht-existentes Liebesleben fiel. Stattdessen durfte ich mich mit den Liebesleben anderer befassen: Maddy hatte mir gestern noch verkündet, dass Kyle Harrison sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte. Auf meine Frage hin, was sie darauf geantwortet hatte, setzte sie eine nachdenkliche Miene auf und verschränkte die Arme vor der Brust, als müsste sie erst einmal angestrengt überlegen. "Ich muss mir das noch durch den Kopf gehen lassen", erwiderte sie und imitierte dabei den Tonfall einer Erwachsenen. "Er hat mir nicht gesagt, was für mich dabei rausspringt." Ich musste nach Luft schnappen. "Für dich rausspringt?!" Dann verwandelte sich die Kleine wieder in die Maddy, die ich kannte. Das achtjährige, kleine, naive Mädchen. "Ich weiß nicht. Nicky hat das gesagt. Was bedeutet das, Annie?" Ich stöhnte. "Das heißt, dass du noch zu jung bist für einen Freund. Warte lieber noch ein paar Jährchen." Sie überlegte wieder und ich konnte fast sehen, wie die Zahnräder hinter ihrer Stirn arbeiteten. Wahrscheinlich versuchte sie das, was Nicky gesagt und die Bedeutung, die ich ihr gerade geliefert hatte, in Einklang miteinander zu bringen. Dann entschied sie sich. "Okay. Ich sag ihm das. Kann ich dann trotzdem mit ihm gehen?" Bei der Erinnerung an dieses Gespräch musste ich grinsen. Das ging mir in letzter Zeit oft so, dass ich, wann immer ich schlecht gelaunt war, an irgendetwas denken mussten, was eines der Kinder gesagt oder getan hatte, und das brachte mich dann wieder zum Lachen oder stimmte mich zumindest etwas fröhlicher. "Gut." Jamie schien ein wenig eingeschüchtert von meiner gegenwärtigen Miesepetrigkeit zu sein und ging ein paar Schritte auf Abstand, als würde ich mich gleich auf ihn stürzen, wenn er sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte. "Ähm..." Ich sah auf und musterte ihn prüfend. Er schien irgendwie nervös zu sein, die ganze Zeit schon, aber mir fiel das jetzt erst auf. "Was?", hakte ich misstrauisch nach. Er sah nicht so aus, als wollte er mir gute Neuigkeiten überbringen. "Tja, äh, nichts eigentlich", winkte er schnell ab und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare, seine Augen wanderten unruhig hin und her. Mich selbst sah er nicht an. Ich verdrehte die Augen. Das war ja schon fast genauso anstrengend, wie mit Mr. Cooper zu sprechen. "Spuck's schon aus. Je früher du's mir beichtest, desto schmerzfreier wird dein Tod, ich versprech's", forderte ich ihn grinsend auf. Jamie lächelte halbherzig, hob dann den Kopf und starrte ein paar Sekunden lang in den Himmel. Ich folgte seinem Blick, aber es war nichts Interessantes dort oben erkennbar. Wolken, Dächer, Reklametafeln. "Jamiiieee", stöhnte ich ungeduldig. "Ich muss los." "Ich hab ein Date mit Julie", platzte es plötzlich aus ihm heraus und sofort duckte er sich und schirmte seinen Kopf mit den Armen ab. Verdattert glotzte ich ihn an. Er schien zu merken, dass ich ihm nicht an die Gurgel springen wollte, also begab er sich wieder in eine halbwegs aufrechte Position. Mein Bruder war echt ein Komiker, tz... "Wie kommt's?", wollte ich dann doch noch wissen. Wenn ich so über Jamie's Ahnungslosigkeit nachdachte und über Julie's Abneigung dagegen, dass er jünger war als sie... seltsam, oder? "Ach, tja... das bleibt unser kleines Geheimnis, Annie", grinste er verschmitzt und ich war mir plötzlich ziemlich sicher, dass ich überhaupt nicht wissen wollte, wie es dazu gekommen war. "Uah. Ist vielleicht auch besser so", erwiderte ich skeptisch und beäugte meinen kleinen Bruder misstrauisch. "Sie hat dich doch nicht dazu gezwungen oder so?" Man konnte bei Julie ja nie wissen... Sein Lächeln wurde breiter. "Na ja, also, kommt drauf an, was-" "Okay, okay, ist gut!", unterbrach ich empört. "Behaltet die schmutzigen Details für euch, kapiert?" Er zuckte amüsiert mit den Schultern. "Klar, wie du willst." "Uff, ist das komisch", murmelte ich, während ich das alles noch verdaute. Mein Bruder mit meiner besten Freundin... das sollte doch schön sein. Ich sollte mich freuen. Warum hatte ich dann das Gefühl, ausgeschlossen zu werden? Ein bisschen neidisch war ich auch. Jeder hatte ein Liebesleben, sogar zwei so komplizierte Personen wie Julie und Jamie, nur ich nicht. Sogar Maddy, die Glückliche! Wo ich gerade an Maddy dachte, erschrak ich und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. "Oh, schon so spät, Jamie. Ich muss los. Die Kids kommen gleich aus der Schule und ich muss das ganze Wochenende über babysitten, weil Mr. Cooper auf Geschäftsreise ist oder so", sprudelte es hastig aus mir heraus. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. "Denk bitte an das Geschenk, ja? Ich ruf dich an, grüß Julie von mir!" Die würde ich wahrscheinlich auch nicht mehr so schnell zu Gesicht bekommen. Jamie öffnete den Mund, um mir zu antworten, aber ich ließ ihn nicht, denn da spurtete ich schon längst zu meiner U-Bahn die Treppe herunter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)