Nothing And Everything von -Moonshine- ================================================================================ F o u r ------- Ich weiß noch immer nicht genau, wie ich mich plötzlich in dieser Cocktailbar wiederfand, obwohl ich doch nach diesem reichlich anstrengenden Tag schon beinahe im Bett lag und nur noch schlafen wollte. Aber da saß ich nun, inmitten einer lauten, bunten Bar mit dunklem, schmutzigem Holzfußboden in Park Slope, einem Stadtteil von Brooklyn, und starrte die Cocktailkarte an, die Julie mir vor die Nase gelegt hatte. "Jetzt guck doch nicht so", beschwerte sie sich gutgelaunt und ich wusste nicht ganz, ob sie mich damit meinte oder Kelly, die ebenfalls so aussah, als sei sie hier völlig fehl am Platz. Fakt ist, dass Julie uns zusammengetrommelt hatte, weil sie wieder mal "ausgehen" wollte, um einen "klaren Kopf" von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen zu bekommen. Außerdem hatten wir uns schon lange nicht mehr gesehen, womit sie durchaus Recht hatte, aber ich wäre jetzt trotzdem lieber im Bett. Das "Commonwealth" war eine kleine, gemütliche Collegebar mit Rockmusik, die hauptsächlich von Studenten und anderen, eher jungen Leuten, besucht wurde. Aber das war nicht der Grund, weshalb wir hier waren. Der Grund hatte kurze, blonde Haare, die durch das Wunder "Haargel" interessant vom Kopf abstanden, eine längliche Narbe direkt unter dem Ohr, die er einem unglücklichen Footballspiel in der Highschool zu verdanken hatte und blaue Augen, deren Ausdruck ich nur allzu gut kannte. Er kam grinsend auf uns zugeschlendert und blieb, mit dem Notizblock bewaffnet, an unserem Tisch stehen. "Hey Mädels. Hi Annie. Lang nicht gesehen." Jamie fuhr mir mit den Fingern durch mein Haar und lachte, als ich ihm einen genervten Blick zuwarf, der besagte: "Entweder du lässt es bleiben oder du bist tot!" Das kannte er schon. "Hi Jamie", flötete Julie, die schon seit Jahren total in meinen jüngeren Bruder verschossen war. Nicht ernsthaft verliebt, aber doch verknallt genug, um uns immer wieder hierher schleppen zu müssen, um ihm ein paar Mal im Monat beim Arbeiten zusehen zu können. Jamie arbeitete nämlich hier, aber es war nur ein kleiner Nebenverdienst neben dem College, um wenigstens sein Zimmer im Studentenwohnheim bezahlen zu können. "Ich wusste gar nicht, dass du heute Dienst hast", trieb es Julie weiter auf die Spitze und strahlte ihn an. Er war zwar ein Jahr jünger als sie, aber das schien ihr nichts auszumachen. Und Jamie, so naiv wie eh und jäh, kapierte überhaupt nichts. "Natürlich wusstest du das nicht...", murmelte ich leise und rollte unbemerkt die Augen, woraufhin Julie mich unter dem Tisch ganz gemein ins Schienbein trat. "Wisst ihr schon, was ihr wollt?", fragte Jamie ganz geschäftig. Ich wusste, das war nichts Persönliches, aber die Kellner sollten sich nicht allzu lange mit ihren Gästen aufhalten. Schließlich waren sie ja hier, um zu arbeiten und nicht, um einen Plausch zu halten. "Ich hätte gerne Sex on the Beach", erwiderte Julie wie aus der Pistole geschossen und ohne rot zu werden und sah ihn dabei ganz direkt an. Pflichtbewusst notierte sich Jamie ihren Wunsch, ohne auf ihre Avancen einzugehen. "Für mich eine Cola. Mit extra viel Koffein, wenn's geht", maulte ich. "Ich muss schließlich wach bleiben." Ich warf Julie einen vernichtenden Blick zu, die mich ignorierte. "Alles klar. Eine Extraportion Koffein für Schwesterherz." Jamie grinste. "Und du, Kel?" Kelly, die sich bis dato ganz ruhig verhalten hatte, schaute nun endlich auf und schien ganz und gar unentschlossen. "Ich glaube... ich brauch‘ was Härteres." Julie, ich und sogar Jamie rissen überrascht die Augen auf. War das tatsächlich die gute, alte Kelly, die fast nie trank und wenn, dann nur Softgetränke mit wenig Alkoholgehalt? Und die verlangte gerade "etwas Härteres"? Auch Jamie, der meine Freundinnen mindestens ebenso lange kannte, wie ich selbst, blinzelte ein paar Mal irritiert. "Äh, etwas Härteres? So etwas wie... einen doppelten Scotch?", hakte mein Bruder unsicher nach, als hoffte er, Kelly würde erstaunt den Kopf schütteln und etwas in der Art sagen wie: "Nein, ich meinte eigentlich einen Kirsch-Bananen-Saft". Sagte sie natürlich nicht. Sie nickte nur. Nachdem Jamie gegangen war, stützte Julie ihren Kopf in die Hand und starrte Kelly unverwandt an. "Was ist los, Kel?", verlangte sie zu wissen. Kelly war jemand, dem man die innere Unruhe und Sorgen sofort ansehen konnte und deshalb war es für sie unmöglich, etwas vor uns geheim zu halten. Leider ließ sie sich auch viel zu schnell von ihren Problemen runterziehen. "Gar nichts", murmelte sie und vermied es, eine von uns anzusehen. Nach einigen Sekunden des Schweigens seufzte sie schließlich, bemerkte, dass sie uns nichts vormachen konnte. "Max hat Schluss gemacht. Endgültig." Julie und ich sagten nichts. Das kam nicht unerwartet. Nach der wochenlangen "Beziehungspause" war es nur der nächste Schritt, der von einem der beiden getan werden musste. Dass nicht Kelly diejenige sein würde, war von Anfang an klar gewesen. Ich befürchtete, sie würde auf der Stelle in Tränen ausbrechen, aber sie hielt sich tapfer. Wahrscheinlich hatte sie sich schon zu Hause die Augen ausgeweint und konnte nun nicht mehr. Julie legte ihre Hand auf Kelly's Arm und setzte eine sorgenvolle Miene auf. "Das tut mir leid, Kel. Aber... ich meine... hast du es denn nicht kommen sehen?", fragte sie vorsichtig. Kelly, irgendwie nicht richtig anwesend heute, zuckte mit den Schultern. Ob das ein ja, nein oder vielleicht war, konnte ich nicht ganz genau sagen. Aber zu mehr ließ sie sich nicht hinreißen. Sie tat mir leid. Erst der Tod ihres Dads, dann die Krankheit ihrer Mum und nun auch noch ihr Freund, der sie verließ. Konnte man soviel Pech auf einmal haben? "Ähm... meinst du nicht, du solltest deine Mum in ein... äh, Heim geben?" Bei diesem Thema musste man extrem vorsichtig sein, denn Kelly war da sehr empfindlich. Sofort starrte sie mich hellwach und entsetzt an. "Wie kannst du so etwas sagen, Annie?", zischte sie erbost. "Sie ist meine Mutter! Bedeutet dir das denn gar nichts?" Unwohl wand ich mich auf meinem Stuhl. Ich wusste doch, dass ich das Thema nicht hätte ansprechen sollen. Ich konnte jedes Mal nur froh sein, dass ich nicht mit körperlichen Verletzungen davonkam. "Doch, natürlich... ich denke nur... deine Mum hätte so ein Leben für dich doch auch nicht gewollt, oder?" Das würde mein letzter Versuch sein, sie umzustimmen. Kelly konnte zwar nicht viel stärker oder schwerer sein als ich, aber die Kraft einer verzweifelten Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, sollte man nicht unterschätzen. Doch anstatt sich auf mich stürzen, wurde ihr Blick wieder ein wenig weicher und abwesender. "Sie hat sich dieses Leben für sich selber sicher auch nicht gewünscht", sagte sie leise und betrachtete die schmutzige Tischplatte aus dunklem Holz. Da hatte sie allerdings Recht. Kelly hat es sich nicht gewünscht, schon mit 25 eine Halbwaise zu sein, Kelly's Mutter hatte nicht um ihre Krankheit gebeten und ich habe mir nicht gewünscht, für drei kleine Kinder verantwortlich zu sein und jeden Tag meinem Alptraum - also meinem Boss - von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Deshalb wollte ich Kelly im Moment auch nicht treffen. Sie zog mich runter und erinnerte mich daran, dass meine Probleme gar keine Probleme waren. Und daran erinnerte ich mich viel zu ungern, denn ich liebe es, im Selbstmitleid zu versinken, wie es sich für eine Frau gehört. "Na, na." Julie tätschelte mit aufgesetztem Grinsen Kelly's Arm und versuchte, die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern. "Ich bin sicher, es wird sich bald alles ins Gute wenden, du wirst schon sehen", sprach sie ihr Mut zu und erntete dafür ein wenig überzeugtes, aber dankbares Lächeln von Kelly. Nachdem Jamie uns unsere Getränke gebracht und Julie ein paar auffällige und unangebrachte Anzüglichkeiten ein seine Richtung abgelassen hatte, die er entweder nicht verstand oder aber ignorierte, befand sie es an der Zeit, sich einem viel interessanteren und spannenderen Thema zu widmen. "Gibt es etwas Neues?", hakte sie lauernd nach, mich mit ihren Blicken festnagelnd. "Oder jemand Neues?", fügte sie unschuldig grinsend hinzu. Ich verdrehte die Augen. Nicht nur, weil sie mich das jedes Mal fragte, wenn wir uns trafen... nein! Sie benutzte dabei jedes Mal genau denselben Wortlaut! "Ganz bestimmt nicht", versicherte ich ihr knapp. Wo sollte ich denn auch schon jemanden kennenlernen? Während ich die Küche der Coopers schrubbte oder doch vielleicht, wenn ich nachts meine acht Stunden durchschlief? Julie schien enttäuscht. "Nicht mal ein bisschen? Trifft du denn keine Leute da bei diesem reichen Kerl?" Mit dem "reichen Kerl" meinte sie Mr. Cooper. "Na ja." Ich zuckte mit den Schultern. "Heute Abend war seine neue Freundin zum Essen da, aber die Kinder schienen nicht sehr begeistert von ihr zu sein. Und - oh!" Mir fiel ein, dass ich doch jemanden kannengelernt hatte. Obwohl "kennengelernt" etwas übertrieben wäre. Getroffen eben. Und zwar Clementia's Chauffeur, diesen merkwürdigen Italiener. Seltsam, dass das erst vor wenigen Stunden passiert war. Es kam mir vor, als wären schon Tage vergangen, so müde war ich! Julie hatte ein Händchen dafür, Sensationsstories zu wittern. "Was 'oh'?", drängte sie und starrte mich neugierig mit aufgerissenen Augen an. Auch Kelly schien halbwegs interessiert, nachdem sie ihr "hartes" Getränk in einem Zug geleert hatte. Ich zögerte, obwohl das zweifelsohne das war, was die zwei wissen wollten. "Da war dieser... der Chauffeur von Miss Ashworth, Mr. Cooper's neuer Freundin. Der stand vor dem Haus, als ich gegangen bin." Mehr brauchte ich nicht zu sagen, denn der Stein war bereits ins Rollen gekommen. Julie's Augen glitzerten. Als selbsternannte Kupplerin liebte sie jede Art von "Mädchen trifft Junge"-Geschichten. Ich entschied mich dafür, ihr die Vollversion zu erzählen und ein bisschen dicker aufzutragen, damit sie nachts nicht wach liegen und sich Sorgen um mein nicht-existentes Liebesleben zu machen brauchte. "Er heißt Luca, ist Italiener und ganz süß", erklärte ich mit fehlendem Enthusiasmus. Mist, daran, mich wie ein verknallter Teenanger aufzuführen, musste ich aber noch arbeiten! Julie machte das allerdings nichts aus - sie brachte genug Begeisterung für uns drei mit. "Seht ihr euch wieder?" Mir schien, als hätte Julie ein paar grundlegende Fragen übersprungen, beispielsweise: "Wie sieht er aus?" oder sogar: "Habt ihr miteinander geredet?" "Äh... möglicherweise", räumte ich vorsichtig ein. Wenn Clementia 'Clemi' Ashworth uns mal wieder mit ihrer glorreichen Anwesenheit beehren würde, dann sicherlich. Julie grinste. "Wunderbar. Siehst du, du musst dich nur ein wenig anstrengen, dann klappt das schon. Wartet... ich muss mal auf die Toilette." Während ich ihr fassungslos hinterher starrte, schlängelte sie sich durch die eng aneinandergereihten Tische und Stühle mit abgewetzten Lehnen, die keineswegs zueinander passten und alle bunt durcheinander gewürfelt waren, und verschwand in der roten Tür zur Damentoilette, gleich neben der alten Jukebox, die hin und wieder von einem übermütigen Studenten benutzt wurde, was allerdings eher selten vorkam. Kelly lächelte entschuldigend. "Hast du dich wirklich mit ihm verabredet?", fragte sie sanft, als wüsste sie bereits, dass Julie mal wieder vom ersten in den fünften Gang geschaltet hatte, ohne nachzudenken. Ich schüttelte den Kopf. "Nö, überhaupt nicht. Er stand nur vor dem Haus und wir haben kurz miteinander geredet, mehr nicht." Sie nickte. "Typisch Jules. Sie ist immer so voreilig und will alles auf der Stelle erledigt haben." Das stimmte. Julie, die als Eventplanerin fungierte, wollte alles oder nichts, und das am liebsten auf einmal. Sie war höchst organisiert, aber übersprang hin und wieder ein paar grundlegende Sachen, die andere möglicherweise nützlich fanden. In Ihrem Job hatte sie damit nie Probleme - außer bei den anderen Angestellten, die ihren Ideen und Taten nicht ganz folgen konnten -, aber privat war es etwas irritierend. Doch nichts, woran man sich nicht gewöhnen konnte. "Tut mir leid", entschlüpfte es mir und ich war selbst ganz überrascht, mich das sagen zu hören. Das hatte ich nicht geplant. "Wegen vorhin. Was ich über deine Mutter gesagt habe..." Ich war nicht der Typ, der sich gerne und oft entschuldigte, also wurde ich ein wenig rot und rutschte verlegen auf meinem Stuhl hin und her. Irgendwie hatte mich plötzlich das Bedürfnis überkommen, mich bei Kelly zu entschuldigen. Sie hatte es schon schwer genug, oder etwa nicht? Kelly lächelte wehmütig. "Schon gut, Annie. Ich weiß ja, dass du Recht hast. Aber ich bringe das einfach nicht über mich." Ich nickte verständnisvoll. Ich hätte wahrscheinlich auch Bedenken dabei, einen meiner Elternteile einfach abzuschieben. "Und", fuhr sie etwas trauriger fort, "jetzt, wo ich mich nicht mehr um Max kümmern muss, hab ich mehr Zeit für sie..." Sie klang allerdings gar nicht so, als würde sie sich darüber freuen, deshalb schwieg ich unbehaglich. "Wollt ihr noch was?" Jamie stand wieder an unsrem Tisch und wippte mit dem Fuß zu der Rockmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte. Wie immer hatte er diesen zufriedenen, ausgeglichenen Gesichtsausdruck, der mich ganz neidisch machte. Wie kam ein einzelner Mensch bloß dazu, so glücklich und befriedigt auszusehen - und wahrscheinlich auch zu sein? Wie schaffte er das? So war es schon seit unserer Kindheit gewesen. Während Sandra - unsere älteste Schwester, mit Leib und Seele Karrierefrau - und ich uns fast die Köpfe einschlugen, war Jamie immer der ruhende Pol gewesen, niemals laut, niemals unglücklich, niemals gestresst. Zumindest kam es mir so vor. "Für mich nichts mehr, danke. Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen", beschwerte sich Kelly und lächelte verlegen, dachte wahrscheinlich an ihren nicht ganz freiwilligen Ausflug ins Scotch-Land, den sie jetzt anscheinend schon bereute. Gut so. Jamie schien erleichtert. Ich schüttelte ebenfalls den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass ich nichts mehr brauchte. "Ich muss dringend ins Bett", gähnte ich. "Aber fahr nicht alleine mit der U-Bahn", riet mein Bruder mir besorgt. "Soll ich dir ein Taxi rufen?" Ich grinste. "Nein danke. Viel zu teuer für mich. Aber Jules und Kel müssen ja auch in die Richtung." Wir wohnten zum Glück alle nicht so weit auseinander. Julie lebte zwar ein wenig außerhalb und musste nicht so lange mit der Bahn fahren, aber Kelly stieg nur eine Haltestelle vor mir aus, weil uns nur wenige Meilen voneinander trennten. Die Mieten in Brownsville waren eben nicht besonders hoch, glücklicherweise. Jamie runzelte die Stirn und nickte uns dann zu. "Okay, passt auf euch auf, Mädels." Ich sah meinem Bruder ein wenig wehmütig hinterher. Was für ein Leben führte er wohl? Ich kannte natürlich die Eckdaten - Student, Nebenjob, Freunde, und so weiter -, aber wie sah sein Alltag aus, worüber redete er mit anderen, worüber lachte er, worüber machte er sich Gedanken und am allerwichtigsten: hatte er es viel einfacher in diesem Leben als ich? Ich kam mir vor wie ein Fisch auf dem Trockenen. Obwohl ich einen Job hatte, fühlte ich mich arbeitslos. Niemand konnte mir vorgaukeln, dass den Haushalt führen und auf Kinder aufpassen eine anständige Arbeit für erwachsene Leute ist! Es war irgendwie... erniedrigend. Wie konnte ich nur in so eine Situation hineingeraten?! Während ich noch in meine Gedanken versunken war und Kelly an meiner Cola nippte - sie wusste, dass sie das durfte -, kehrte Julie zurück und setzte sich wieder zu uns an den Tisch. "Schade, gerade hast du Jamie verpasst", grinste ich sie an und setzte noch einen drauf: "Nur um zwei Sekunden!" Julie schaute bestürzt drein. "Wirklich?" "Ja, und wir gehen jetzt. Es ist spät." Es war 22 Uhr, aber für Leute wie Kelly und mich war 22 Uhr spät genug. Julie schaute noch bestürzter drein. "Was, schon?" Dann warf sie einen heimlichen Blick zu Jamie, der gerade einen anderen Tisch bediente. "Wir haben kaum geredet..." Und Jamie kaum angestarrt, fügte sie wahrscheinlich in Gedanken hinzu. "Es wird andere Tage geben, Jules", sagte ich erbarmungslos. "Ich kann dir ein Foto von Jamie geben, das du anschmachten kannst, wenn du das willst." Kelly konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen und Julie warf mir einen tadelnden Blick zu. Da sie nichts sagte, ergriff ich wieder das Wort. "Ich versteh echt nicht, was du an ihm findest. Warum fragst du ihn nicht einfach, ob er mit dir ausgeht?" Während ich das sagte, erhob ich mich vom Stuhl und schlüpfte in meinen Mantel, den ich über die Stuhllehne gehängt hatte. "Ach was." Sie besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit, rot zu werden wie eine Tomate. "Das ist nichts. Ich meine, er ist ganz süß und so, aber... er ist nicht so mein Typ, wisst ihr." Ich schnaubte. Aha, ganz süß und so, aber nicht ihr Typ. "Du traust dich bloß nicht", feixte ich. So vorlaut und frech sie manchmal sein konnte, so schüchtern wurde sie auch hin und wieder. Solange Jamie sie ignorierte, hatte sie kein Problem damit, ihn anzuflirten, aber ich wette, sollte er einmal darauf angehen, dann würde ihr bald die Luft ausgehen. Und das sogar ziemlich schnell. "Halt die Klappe, Annie", maulte sie trotzig und reckte ihr Kinn vor, "er ist immerhin dein kleiner Bruder. Das kann ich nicht machen. Und er ist jünger als ich", fügte sie hinzu. Ich zuckte mit den Schultern. "Das macht mir nichts aus." Und Kelly kicherte. "Aber Julie schon", fügte sie hinzu. Ich war erstaunt. Nach dem doppelten Scotch hatte sich ihre Laune wirklich gebessert, auch, wenn sie immer noch so todtraurig aussah, als würde sie sich jeden Moment von der Brücke stürzen. Das war zumindest ein Anfang. Schon bald würde es ihr besser gehen, davon war ich überzeugt. Und Max - wer braucht schon einen Kerl, der seine Freundin in einer so schwierigen Situation alleine lässt? Mitten in meine Gedanken hinein knurrte Julie verächtlich und schüttelte fassungslos den Kopf. Als seien wir alle Schwachsinnige, die sie nicht verstehen. Ich ließ meinen Blick zur Theke schweifen und erkannte zwischen den Köpfen einiger Gäste, die sich auf den schwarz-silbernen Barhockern tummelten, meinen Bruder, der gemächlich ein Glas abputze. Er fing meinen Blick auf und winkte mir fröhlich zu, die gelben Leuchter, die von der Decke hingen und einander ebenfalls überhaupt nicht glichen, tauchten ihn in oranges Licht, sodass sein blondes Haar und seine helle Haut irgendwie rötlich wirkten. Einige Gäste drehten sich nach mir um, um zu gucken, wem Jamie da zugewunken hatte und er sagte etwas, wahrscheinlich so was wie „Das ist meine Schwester“, woraufhin sie nickten und sich wieder desinteressiert abwandten. Ich stieß die Tür auf und trat hinaus in die kühle Abendluft, zog meinen Mantel fester um mich. "Wohnt dein Mr. Cooper nicht hier irgendwo?", wollte Julie neugierig wissen und blickte sich interessiert um, als könnte sie ihn hier irgendwo mitten in Park Slope entdecken. Na wohl kaum. "Äh, na ja…" In der Nähe nun nicht unbedingt und was sollte "dein Mr. Cooper" überhaupt bedeuten?! Aber bevor ich das klären konnte, feixte Julie bereits und grinste verschlagen. "Ich würde ihn gerne mal sehen. Ist er wirklich so schrecklich, wie du sagst? Zeig uns doch mal sein Haus. Das ist bestimmt eins dieser neureichen Villen-" "Du spinnst, Julie", stellte Kelly, stets die Vernünftige, kopfschüttelnd klar, während mir noch immer der Mund offen hing. "Sollen wir mitten in der Nacht in Brooklyn‘s reichstem Stadtviertel herumschleichen und nachher von der Polizei aufgegabelt werden? Also echt nicht." "Und außerdem bin ich dann meinen Job los", warf ich noch ein, weil mir diese kleine Tatsache am wichtigsten erschien. "Langweilige Spielverderber", murmelte Jules. "Wir sollten uns beeilen, Mädels. Die Bahn kommt in sechs Minuten", verkündete Kelly nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und beendete somit unser kleines Streitgespräch. Ich musste dringend ins Bett. Der Abend mit Julie war fast noch anstrengender, als elf Stunden am Stück für die Coopers zu arbeiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)