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Eine neue Jahreszeit

von

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Kapitel 1

Anmerkung:
 

Hierbei handelt es sich um die ÜBERSETZUNG einer FF aus dem italienischen. Anbei der Link zum Original:

http://digilander.libero.it/la2ladyoscar/Fanfics/Alessandra/Autunno2_1.htm
 

Die Idee zu dieser Erzählung ist beim Lesen der zarten Geschichte „Herbst“ von Laura entstanden, http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/306129/187209/499613/html, die mit ihrem „offenen Ende“ Alexandra dazu gebracht hat, sich eine Fortsetzung vorzustellen. Diese Erzählung ist also die Fortsetzung (von der Autorin von „Herbst“ zugelassen und von ihr inspiriert). Ihr könnt sie also nach „Herbst“ lesen, aber wenn es euch lieber ist, könnt ihr sie auch als eigenständige Erzählung sehen.
 

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Ein Bild. Ein einziges Bild. Sein ausdrucksloses Gesicht, die unbeweglichen Lippen, das leichte Zittern seines Atems vor ihr. Nur einen Lidschlag von ihr entfernt, auf dem Treppenabsatz, vor der offenen Tür. Seine Augen. Seine Augen, die nicht mehr sehen konnte, die sie jetzt zum ersten Mal ansehen konnte. Und in denen sie sich verlor, weil die Trauer dieses ausdruckslosen Blicks in einem Augenblick alles wiederholte, was sie seit jeher zu sich selbst gesagt hatte. Alles über ihn, über sie beide.

Die Erinnerung. Die Erinnerung an André, wie er vorher war, als in seinen Augen noch tausend Klänge und Farben waren und sie diese alle kannte, und in jedem Lächeln von ihm lesen konnte, jede Nuance, jedes Schweigen. Jeden seiner Wünsche, auch die, die immer in seinem Blick waren, vor allem gegen Ende, als er kaum noch sehen konnte. Jeden Wunsch, den sie sich hartnäckig zu erkennen geweigert hatte.

Haben wir zuviel Zeit verloren, André?

Dann die Weigerung in ihrem eigenen Körper auf diese Antwort, und ihr plötzlicher Wille, der die Vernunft besiegte. Die Heftigkeit und der Schmerzenslaut, mit denen sie sich in seine Arme warf, oben auf dem Treppenabsatz, das Gesicht an seine Brust vergrub, und zitterte, gemeinsam mit ihm.

Sein Geruch, der gleiche wie immer. Der gleiche wie damals, als er sie schlafend auf seine Arme genommen und vom Sofa aufgehoben hatte, um sie in ihr Zimmer zu bringen, und vor dem Weggehen ihre Lippen berührt hatte, weil er glaubte, dass sie schlief und es nicht merken würde. Der gleiche wie damals, als er sie geküsst und aufs Bett geworfen hatte, voll verzweifelter Wut. Der gleiche wie damals in der Kutsche, als er bewusstlos war und sie ihn zurück nach Hause brachte, und dabei dachte „mein André”. Es war der gleiche Geruch, unverkennbar.

Der gleiche wie damals, als sie ihm sagte, dass sie heiraten würde, und ihm das Herz brach, und ihn ansah, während er, von ihren Worten erschüttert, vor sich hinstarrte, anstatt die zerbrochenen Stücke seines Herzens einzusammeln.

Dieser Geruch, den sie nicht mehr wahrgenommen hatte, danach, auch wenn er noch da war und sie ansah, wie sie eine verheiratete Frau war.

Haben wir wirklich zuviel Zeit verloren?

Können wir wirklich nichts mehr tun?

Seine Umarmung war unglaublich warm, und sicher. Ohne irgend etwas zu erwarten.

Halt mich fest, brachte sie heraus.

Und er hielt sie fest. Aber er weinte nicht, wie sie.

„Oscar...”

Sie hätte nicht sagen können, ob in dieser Stimme eine Bitte lag, eine Ablehnung, oder ein müdes Verneinen. Oder die Angst, sich in ihr Weinen mit hineinziehen zu lassen. Oder davor, zu ihr zu sagen: „Ich musste bis heute damit leben.”

Und wie er seinen Tränen widerstand. Die er auch damals nicht vergossen hatte, an jenem Tag, als er sie im Brautkleid abreisen sah, und dort stehen geblieben war, vor dem Fenster, die Lippen zusammengepresst, in ihrem Haus, das voll feiernder Gäste war. Sie schweigend ansah, und sie spürte seine Frage in sich, und hatte den Kopf gesenkt: „Warum bringst du mich um? Warum, wenn du nicht einmal glücklich dabei bist?”

Auch dann hatte er nicht geweint. Und auch nicht am nächsten Tag, als er sie wiedersah, wie sie das Bett ihres Ehemannes verlassen hatte und ihr Blick noch der gleiche war wie als sie hineingegangen war. Und er hatte sich die ganze Nacht selbst weh getan bei dem Gedanken an diesen Mann, der die Hände auf sie legte, an sie, die es ihm erlaubte, und an ihr gemeinsames erstes Mal, das es nun nie mehr geben würde.

Auch damals hatte er nicht geweint. Und er weinte jetzt nicht, während sie wieder in seinen Armen lag und weinte. Blind.

Minuten, die auf diese Art vergingen. Die Nacht, oben auf der Treppe. Und wie er dann diese Umarmung löste, sie in seine Wohnung brachte und die Tür schloss. Und wie sie ihn noch einmal umarmte und Küsse auf sein Gesicht hauchte, auf seine Lippen, ganz leicht. Wie sie auf einmal Mut fasste, weil André diesen Kuss nicht zurückwies, und sie weiter in seinen Armen hielt, in einem Schweigen, das wie ein Aufgeben war, aber doch traurig. Wie sie glaubte, diese Traurigkeit verjagen zu können, und ihn zu sich zu lassen, indem sie näher an ihn herantrat, die Arme um seinen Hals legte, die Augen schloss, während sie nach ihm suchte, Lippen und Mund voller Leidenschaft, mit den Gesten, die er so viele Jahre lang beherrscht und in seinen Händen geschlossen gehalten hatte. Wie sie nur einen Augenblick ungekannten Glücks wahrnahm, weil sie ihn erbeben gefühlt hatte, und mit einem Aufstöhnen nachgeben, und darauf wartete, dass er sie jetzt näher an sich drücken würde, und dass sie seinen Körper wiederfinden würde, glühend, wie sie ihn in Erinnerung hatte, auch ohne ihn jemals besessen zu haben.

Und wie er statt dessen auf seine Knie fiel, zu ihren Füßen, und in einem unaufhaltsamen, immer wiederkehrenden Zittern anfing zu weinen, mit einer Heftigkeit und einem Schmerz, die kaum zu ertragen waren.

Allein.

Ohne um etwas zu bitten. Noch nicht einmal um Hilfe.

Wie sie sich über beugte und er nicht reagierte. Wie sie zu ihm „Bitte“ sagte, indem sie eine Hand auf seine Schulter legte. Wie er den Kopf hob. Und aufstand.

Und wie sie sekundenlang Hass fühlte, in den Armen, die sie hielten. Und gleichzeitig Liebe.

Der Kuss, den er ihr gab, fast wild inmitten der Tränen, und sie aufs Bett warf und sie wieder und wieder küsste. Wie sie ihn ließ und seine Küsse sogar erwiderte, weil sie den Grund für diese furchtbare Antwort verstand. Seine unbeholfenen Hände, die versuchten, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Die Wut in jeder seiner Gesten.

Und wie er auf einmal aufhörte, als er ihre nackte Haut unter seinen Händen spürte.

Wie sie in diesem Dunkeln das Profil seines Gesichts mehr ahnte als sah. Und seine Stimme hörte, während er sich wieder aufrichtete, auf dem Bett saß neben ihrem liegenden und halb ausgezogenen Körper. Der unbeteiligte Tonfall, mit dem er es sagte. Als ließe es ihn kalt:

„Ich war noch nie mit einer Frau zusammen, Oscar.”

Und die Bedeutung dieser Worte brach über sie herein.

Ein Leben, das er gegeben hatte, um sie zu lieben, um sich in den Gefühlen für sie zu verzehren, mit jedem Tag, mit jedem Atemzug mehr. Das Augenlicht, das er gegeben hatte, um sie zu retten, um sie wieder in Sicherheit zu bringen. Ein Risiko, das er ohne zu zögern eingegangen wäre, als wäre sein Augenlicht im Vergleich dazu unwichtig.

Das Wissen, sie trotzdem verloren zu haben, gerade als er sie am meisten brauchte. Und ihr nicht sagen zu können, dass er sie brauchte, weil er wusste, dass das nicht ausgereicht hätte.

Der Schmerz darüber, sie trotzdem nicht verlassen zu können, sie verzweifelt weiter anzusehen, solange sein Augenlicht es noch zuließ. Immer weniger, in seltenen Schimmern, die erschöpft ausklangen, gerade während er sie am meisten liebte.

Die Intimität mit ihr, die sein Herz zerrissen hatte.

Sein tiefes, erschöpfendes Verlangen, das seine Tage und Nächte zerquält hatte, seine Sinne als Junge und als Mann in einem aufreibenden Abwarten bis zum Zerreißen angespannt hatte, aufrecht erhalten nur durch eine verrückte Zuversicht. Sein Körper, der wach war, stets wach und ermüdet von dem Verlangen nach ihr, von flüchtigen Berührungen mit ihr, die tagelang seine Träume belebten, von ihrem Duft, dem er widerstehen musste, und davon, herausfinden zu müssen wie.

Die Einsamkeit, weil er sie trotz all dem nicht besessen hatte, dass er trotz all dem noch immer ohne sie war, und dass er sie nicht mehr haben konnte, weil all dieses noch immer zwischen ihnen war.

Keine andere Frau gefunden zu haben, weil die anderen Frauen wie ausgelöscht waren, zuerst von seiner Liebe zu ihr, danach von seiner Verzweiflung wegen ihr. Von einer Dunkelheit, die jetzt vollkommen geworden war, und die nur ein Abbild der Dunkelheit war, die in seinem Herzen lebte.

Kann man so verzweifelt sein, dass man sogar die Verzweiflung aufgibt?

Ich war noch nie mit einer Frau zusammen, Oscar.

Und sie lag neben ihm, ihre Kleidung in Unordnung und ein Gefühl wie kalten Stahl in ihrem Herzen, der Schmerz darüber, ihn nicht verstanden zu haben, schon wieder nicht, geglaubt zu haben, dass es genügen würde, ihm an einem Herbstnachmittag zu begegnen, zu ihm zu gehen, ihn zu küssen und sich auf sein Bett werfen zu lassen und ihm alles auf einmal zu geben, plötzlich, ohne Erklärungen, sich zu betäuben und ihn betäuben mit Lust, um diese tiefe Wunde zu heilen.

Sie hatte es so oft getan, mit ihrem Gatten, ohne etwas dabei zu empfinden, dass sie jetzt dachte, sie würde es einfach mit ihm tun können, noch immer ohne zu verstehen, was es bedeutete.

Zu entdecken, was aus ihr geworden war, entsetzte sie fast genau so wie der Schmerz von André.

„Verzeih mir,“ sagte sie ihm, aber in diesen kaum artikulierten Lauten erkannte sie ihre eigene Stimme nicht wieder.
 

Das alles war gestern geschehen, in seinem Haus.
 

Sie nahm die Papiere auf, auf die sie lange geschaut hatte, ohne wirklich wahrzunehmen, was darauf geschrieben war, hob sie mit einer entschlossenen und traurigen Geste auf, und richtete sie zusammen, indem sie sie kurz auf die Längsseite des Schreibtisches aufschlug. Die Tage wurden kürzer und der Sonnenuntergang färbte die abblätternden Wände der Kaserne rot.

Heute abend würde sie zu ihm zurückkehren. Er hatte ihr gesagt, dass sie zurückkommen konnte.

Er hatte es ihr am anderen Morgen gesagt, nachdem sie zusammen auf seinem Bett aufgewacht waren. Nachdem er sie zurück in sein Bett gebracht hatte. Er hatte sie auf seine Arme gehoben, während sie zitterte, war zu ihr gegangen auf die Terrasse. Nachdem sie beschämt aufgesprungen war und versucht hatte, sich wieder anzuziehen, weil sie so nicht mehr vor ihm sein konnte, auch wenn er sie nicht sah. Nachdem sie gesagt hatte „Verzeih mir, bitte“ und die Fenstertür geöffnet und die Herbstluft eingeatmet hatte, um nicht wieder weinen zu müssen, und den Raum verlassen und sich auf die Brüstung gestützt hatte, die diesen kleinen Raum umfasste, der aus dem Dach ausgeschnitten war wie ein Geschenk, und den Kopf gesenkt hatte, unfähig zu sprechen.

Sie hatte ihn hinter sich gespürt, und sie hätte nicht sagen können, wie lange er schon dort stand, weil er sich leise wie im Traum genährt hatte, seine Schritte lautlos. Dann hatte er ihren Namen gesagt und langsam den Arm um ihre Mitte gelegt, hinter ihr, und zu ihr gesagt: „Nicht weinen,“ einfach so. Ganz langsam, aus Angst, ihn zu verletzen, hatte sie den Kopf an seine Brust gelegt und die Tränen fließen lassen, während er sie hielt. Dann hatte sie die Anspannung seiner Muskeln gespürt, während er sie hochstemmte, in einer Geste, die er schon seit so vielen Jahren nicht vollführt hatte, und sie auf seine Arme hob und ohne Unsicherheiten die wenigen Schritte ging, um sie wieder hineinzubringen, sie vorsichtig wieder auf sein Bett legte, in diesem Zimmer, in dem er sich bewegte, als könne er sehen, und sie sich in einer Ecke zusammenrollen und schweigend gegen die Wand gerichtet weinen ließ. Sich dann wieder neben sie legte, seine Hände sie leicht berührten, wie um herauszufinden, wie sie lag, den Arm um sie legte und sie wortlos hielt. Zuerst vorsichtig, dann nach einem Augenblick mit einer festen Umarmung, sein Körper nahe an ihrem, während er abwartete, dass sie sich beruhigte und einschlief.

Früher hatte er sie oft so gehalten. Ihr Körper erinnerte sich an diese Umarmung und gab sich ihr hin, vertrauensvoll und dankbar.

Sie hatten zusammen geschlafen, in seinem Bett, noch gestreichelt von der sanften Herbstluft.
 

Sie würde dahin zurückkehren, heute abend, um wieder bei ihm zu sein.

Sie stand auf, wollte sich zum Gehen vorbereiten. Ihr Büro im Palast des Gardekorps sah genau so aus wie immer. Sie hatte es als Rebellin verlassen, und war dann dorthin zurückgekehrt, weil die Rebellen gewonnen hatten: die Revolution hatte alles geändert und dabei die Mauern und die Namen von vorher übernommen, und jetzt waren sie und ihre Soldaten, die das alles verlassen hatten für einen Bürgerkrieg, wieder dort, und taten, was sie immer getan hatten. Irgendwie war das ganze grotesk.

Trotzdem war sie nicht gegangen, war an ihrem Platz geblieben. Nicht aus tiefinnerster Überzeugung: es gab nur noch wenige Dinge, an die sie glaubte. Aber dieses Leben war das einzige, das sie zu führen wusste, das einzige, woran sie sich festhalten konnte, während um sie herum alles andere zusammenbrach. Es war der ihr bekannte Weg, den sie immer gegangen war, und es gab keinen wie auch immer gearteten Grund, um einen anderen einzuschlagen. Sie war einfach weitergegangen, und niemand hatte ein Problem darin gesehen, außer ihr. Sie hatte nicht einmal mehr Sorge, Victor Bescheid zu sagen, nachdem sie sich getrennt hatten und er fortgegangen war, nach England, und sie zurückgelassen hatte, allein und ohne Bedauern.

Sie war daran gewöhnt, Soldaten zu befehlen, auch wenn es ihr jetzt schwer fiel, als würde sie keinen Sinn mehr darin sehen.

Ohne irgendeine Hoffnung, ohne André, den sie verloren hatte, war im Grunde genommen ein Leben so gut wie das andere.
 

Bis zum vorherigen Tag. Bis zu ihm.
 

Jetzt war es nicht mehr so. Das stärkste Gefühl, das sie beim Aufwachen wahrgenommen hatte, war seine Gegenwart gewesen. Sein gleichmäßiger, ruhiger Atem, sein Arm, mit dem er sie immer noch hielt. Im ersten Morgengrauen, die Augen noch geschlossen, hatte sie sich nicht gerührt, um diese Berührung nicht aufgeben zu müssen, weil sie nicht wollte, dass er auch aufwachte. Dann war sie etwas näher an ihn gerückt, und war wieder eingeschlafen.

Wer sie zwei Stunden später so fand, war Rosalie. Und was sie beide aufweckte, war das herunterfallende Frühstückstablett. Sie war ins Zimmer gekommen, nachdem auf ihr Anklopfen niemand geantwortet hatte: sie tat es jeden Tag, umsichtig, seit André in ihrer Nachbarschaft wohnte. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet: das Bild vor ihr war wie ein Schlag ins Gesicht, diese beiden Körper, die sich umarmten, dieser ruhige und doch fast andächtige Schlaf. Etwas, das den Rest der Welt ausschloss.

Eine Frau bei André, in seinem Bett. Eine Frau mit langen blonden Haaren. Nicht irgendeine Frau, sondern gerade sie. Oscar.

Die Oscar, die sie kannte, die sie immer geliebt hatte. Und doch eine andere. Wo war ihr Ernst, ihre Würde? Diese entrückte und leicht melancholische Ausstrahlung, die sie stets gehabt hatte? In diesem Bett, in Andrés Armen, war keine Spur zu erkennen von der gesetzten Vornehmheit jeder ihrer Gesten, des würdevollen, freundlichen Ausdrucks auf ihren ebenmäßigen Gesichtszügen. Rosalie hatte ein Gefühl, als wäre sie eines Geheimnisses teilhaftig geworden. Als hätte sie an diesem Morgen etwas gesehen, was die Welt von ihr nicht wusste. Etwas, das nur André kannte: das sah man an seiner Umarmung, die so intim, so privat war.

Darum war ihr das Tablett heruntergefallen. Und darum hatte es ihr bei diesem Anblick das Herz zusammengezogen. Sie fühlte einen plötzlichen Schmerz, auch wenn sie ihn nicht hätte erklären können.

Oscar hatte auf dieses plötzliche Geräusch hin die Augen aufgerissen, und instinktiv die Hand an ihre Seite geführt, wo sonst das Schwert war. Was sie statt dessen fand, war Andrés Hand, die um ihre Mitte lag.

Da war sie ganz aufgewacht, und sofort aufgestanden. „Rosalie...”, hatte sie gesagt, unsicher zwischen der Verlegenheit und der Freude darüber, die Freundin wieder zu sehen, erstaunt und verwirrt, während sie vor dem Bett stand und ihre Kleidung wieder in Ordnung brachte. André war jetzt auch wach, und er war ebenfalls aufgestanden. Er hatte sich ein wenig vor Oscar gestellt, falls als wollte er sie mit seinem Körper schützen, aber er sprach nicht.

„Oh! Entschuldigt, entschuldigt bitte...“ hatte Rosalie beschämt hervorgebracht. „Ich wusste nicht... ich wollte das Frühstück bringen... ich habe das Tablett fallen gelassen.”

„Du hast einen ganz schönen Lärm gemacht...”, hatte André mit einem Lächeln gesagt, um sie in ihrer Verlegenheit zu beruhigen.

„Ja... ja...“ hatte sie geantwortet und angefangen, die Scherben des Geschirrs vom Boden aufzugeben. „Ich bringe gleich alles weg, ich gehe... entschuldigt...”

Sie hatte schnell Ordnung geschaffen und war fortgegangen, um die beiden allein zu lassen.

André hatte dann die Komik der Situation erfasst, und kurz aufgelacht. „Und nun?“ hatte er gefragt und sich am Kopf gekratzt. „Wir sind entdeckt worden... da nützt kein Leugnen.“

„Ja, keiner würde uns glauben...“ hatte sie zugegeben, halb mitscherzend, halb, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Wir sollten lieber gleich gestehen.“ Auf einmal fühlten sie sich wieder wie zwei Teenager, mit der gleichen Fähigkeit zum Scherzen wie früher, wenn sie eine ernste Situation auflockerten. Das war immer so gewesen, Oscar wusste es noch.

André war es auch wieder eingefallen. Da wurde er wieder ernst, und wandte sich zu ihr, kam näher und berührte vorsichtig ihr Gesicht. Und dieses Mal führte er die Bewegung zu Ende, da war nicht mehr die Scheu, die ihn am anderen Tag zurückgehalten hatte: „Lass mich dein Gesicht erkennen...” murmelte er leise als Erklärung, und berührte sanft ihre Augenbrauen, ihre Wangen, ihre Lippen, während sie, seltsam angerührt durch diese ihr unbekannte Geste, die Augen schloss.

Dann hielt er es nicht mehr aus und führte seine Lippen zu den Fingern, die auf ihren Lippen lagen, und hinterließ einen leichten, nicht mehr traurigen Kuss darauf, während sich auch seine Augen schlossen.

Er nahm ihr Gesicht zart in die Hände und legte die Stirn an ihre, mit einem Seufzer.

„Geh jetzt,“ sagte er schließlich, sehr leise, und entfernte sich dann sanft von ihr, weil Oscar sich nicht gerührt hatte.

Und als sie die Augen wieder öffnen und sich rühren musste, um fortzugehen, und nach etwas suchte, das sie sagen könnte, um die unerträgliche Leere auszufüllen, die es bedeutete, ihn nicht mehr in ihrer Nähe zu haben, hatte André wieder gesprochen, mit der gleichen Zärtlichkeit in seinem Tonfall: „Komm wieder, wenn du willst.”

Da hatte sie es geschafft, aus jener Tür zu gehen, und die Straße zu betreten. Nur, um wieder zurückkehren zu können.

Kapitel 2

Draußen vor dem Palast des Gardekorps war die Luft frisch und voller Leben. Oscar trieb das Pferd etwas schneller nach Hause: sie wollte sich vorbereiten, ein Bad nehmen, vielleicht auch die richtige Kleidung aussuchen. Bei dem Gedanken musste sie ein wenig über sich selbst lachen, aber nachsichtig: es stimmte ja, warum es nicht zugeben? Es war so lange her, dass sie an so etwas dachte, daran, sich ihrem Äußeren etwas zu widmen, um jemandem zu gefallen. Und das war nicht immer so gewesen, auch wenn sie von Kindesbeinen an als Soldat aufgezogen worden war. Als André noch bei ihr war, Jahre zuvor, suchte sie sich ihre Garderobe sorgfältig aus. Sie bürstete sich die Haare, wollte nur weiße, leichte Blusen tragen... Es stimmte nicht, dass diese Dinge sie nicht interessierten. Sie konnte sich noch an seinen erstaunten und verwirrten Blick erinnern, an einem Tag, an dem sie sich nach einigen Schwertübungen ans Bachufer gesetzt hatten, und sie hatte das Hemd von ihrer überhitzten Haut gestreift und ein Unterhemd kam zum Vorschein, das aus Seide und nur ganz leicht mit Spitze besetzt war. Bei der Erinnerung begriff sie jetzt so viele Dinge über sich selbst...

Und sie hasste sich selbst bei dem Gedanken, wie grausam ihre Unschuld gewesen war.

Sie wollte ihm gefallen, sich für ihn anziehen. Und es spielte irgendwie keine Rolle, dass er sie jetzt nicht mehr sehen konnte. Überhaupt keine.
 

Als sie an seiner Tür anklopfte, war die Sonne schon im Begriff unterzugehen. Sie zählte die Schritte, die von innen näher kamen. Sie hatte ihm nicht gesagt, um wie viel Uhr sie zu ihm kommen würde. Sie hatte ihm nicht einmal den Tag genannt. Nicht einmal, dass sie überhaupt wiederkommen würde. Zu hören, dass er da war, erleichterte sie, denn auf einmal hatte sie gefürchtet, ihn nicht anzutreffen.

„Oscar.“

Er sagte es ohne Umstände, mit einem Lächeln, bevor sie etwas sagen konnte. Fast wie eine Feststellung. Er schien nicht überrascht, sie zu hier vorzufinden: aber er freute sich, das konnte man erkennen.

„Komm, das Abendessen ist fertig.“

Sie war noch erstaunter. „Bin ich so durchschaubar?,“ fragte sie. Und dann ärgerte sie sich über diesen Satz: das war jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick, um sich zu zieren.

Aber ihn schien es nicht zu stören. Statt dessen lachte er: „Für mich schon.”

Eine Sekunde lang hatte sie den Impuls, sich ihm um den Hals zu werfen. Das Widerstehen fiel ihr schwer.

Der Tisch war gedeckt, eine hellblaue Tischdecke lag darauf. In der Luft schwebte ein angenehmer Geruch.

„Du hast selbst gekocht...” Sie brachte den Satz nicht zu Ende, auf einmal kam er ihr dreist vor.

André bemerkte ihr Zögern: „Man lernt vieles mit der Übung,“ antwortete er ruhig, „und mit Organisation. Aber ich habe mir auch etwas helfen lassen.“

„Rosalie...”

„Ja”, sagte er, und kurz ging ein perplexer Ausdruck wie ein Schatten über sein Gesicht. Oscar dachte an Rosalies Blick an jenem Morgen: sie war ihr fast wütend vorgekommen, nicht nur verwirrt und erstaunt.

„Bitte, General, nehmen Sie Platz...“ mit diesen Worten bot er ihr einen Stuhl an.

„Großer Gott, André, ich bitte dich! Wenn du mich noch einmal so nennst, fange ich an zu heulen!“ Es sollte ein Scherz sein, aber auf einmal waren ihr wirklich ein wenig die Tränen gekommen.

„Nein, bitte nicht, das sollte nur ein Scherz sein,“ antwortete er. Dann wurde er wieder ernst: „Entschuldige,” sagte er.

Bevor sie zu essen anfingen, goss er ihr etwas Rotwein in einen Kelch. „Mein Lieblingswein,“ sagte Oscar. „Du weißt es noch.“

„Ich weiß noch vieles von dir,” antwortete er mit dem Rücken zu ihr, während er das Tablett holte und auf den Tisch stellte.

Sie aßen zusammen zu Abend, fast wie früher, in einer aufkommenden Vertrautheit voller sanfter Wärme. Sie beobachtete seine genauen, ruhigen Gesten, wie er die Teller berührte, wie er einschenkte. Während sie versuchte, sich nützlich zu machen, begriff sie, dass auf diesem Tisch alles seinen Platz hatte, wohin jeder Gegenstand auch stets wieder abgelegt wurde, damit André ihn ohne zu suchen wiederfinden konnte. Und so lernte sie, das gleiche zu tun, und merkte sich die einzelnen Gegenstände. Die ganze Wohnung war so geregelt.

Ihre Hände berührten sich manchmal, und beide zögerten dann kurz, bevor sie sich wieder zurückzogen. Gegen Ende geschah es wieder, und da ergriff André dieses Mal ihre Hand, strich leise über ihren Handrücken, bedeckte ihn mit seinen Fingern und senkte mit einem Lächeln den Kopf. „Gehen wir hinaus?,“ schlug er vor.

Oscar stand auf, und indem sie seine Hand in der ihren hielt, führte sie ihn ohne ein Wort auf die Terrasse.
 

Dort oben gab es keine Lichter, nur das gedämpfte Schimmern, das von unten kam, von der Stadt. Selten kletterten Geräusche bis zu ihnen herauf, in einem gedämpften Echo.

„Möchtest du noch etwas Wein?”, fragte er, nachdem er ihr auf den Kissen einer kleinen Bank, die draußen stand, Platz angeboten hatte. Sie nahm das dargebotene Glas an, um ihm nicht nein sagen zu müssen, und auch, um etwas mehr Mut zu schöpfen.

Sie sprachen wieder miteinander, während sie beieinander saßen, in einer ruhigen, manchmal scherzhaften Stimmung. Es kam zu Erinnerungen und Bemerkungen. Und dazu tranken sie ihren Wein. Oscar kam es vor, als sei sie um Jahre zurückgekehrt, denn diese Atmosphäre vertrauter Nähe hatte sie seit unendlichen Zeiten nicht mehr empfunden, auch schon bevor sie ihn verloren hatte, denn ihre letzte gemeinsame Zeit war durchlitten gewesen, hart zu ertragen, und sie konnten nicht mehr einfach zusammen sein, miteinander sprechen und lächeln, wie in ihrer Jugendzeit. Es schien wie ein Wunder, das die Zeit auslöschte, dieser Abend und Andrés Gesicht, das den gleichen Ausdruck hatte wie früher, als er noch ein junger Mann voll zu schenkender Empfindungen war, als sie und das Leben ihn noch nicht vernichtet hatten durch die Bürde des Schmerzes. Sie spürte seine Reaktion auf den Duft ihres Haars, das leichte Erschauern bei der Berührung ihrer leichten Kleidung, und diese so lebhaften Farben, die auf seinem Gesicht gemalt waren, in seinem kurzen Lächeln, den gesenkten Lidern, nahm sie an wie eine Anerkennung für ihre Vorbereitungen, die von ihrer Sehnsucht nach alten Zeiten angeregt worden waren.

Es war alles wie damals, und doch gleichzeitig leichter. Freier, ohne Zwänge, denn von den früheren unsichtbaren Ketten hatten das Leben, die Ernüchterung sie befreit. Sie war frei davon, jetzt, wo sie ihn wiedergefunden hatte, und in seinem Haus, in seiner Nähe war. Und vielleicht hatten sie auch ihn befreit.

„Wir werden uns noch betrinken,“ sagte er zu ihr, „wenn wir so weitermachen...” Sie lächelte bei der Erinnerung and die vielen Male, wo sie aneinander gestützt nach Hause gekommen waren, mitten in der Nacht.

„Aber bei mir macht es sich schneller bemerkbar,“ antwortete sie ihm. „Du hast Alkohol immer besser vertragen.”

André lächelte: „Jahrelange Übung,” scherzte er. Dann wurde er ernster, und sein Tonfall wurde nur ein wenig von einem bittersüßen Hauch durchzogen: „Aber jetzt bin ich nicht mehr so standhaft. Beim Alkohol... und anderen Dingen kann ich auch nicht widerstehen.“

Er war näher herangekommen. „Welche Dinge meinst du, André...,“ flüsterte sie voller Erregung.

„Dich, zum Beispiel...”

Sie schloss die Augen, spürte, wie er ihre Hände leicht zitternd in seine nahm, seine Lippen und seinen Atem, die ihr Gesicht berührten, dann seine Finger, die hinaufreichten, um ihre Wangen zu liebkosen und sich in ihrem Haar zu verlieren. Es war ein langsamer, zögernder Kuss, dann immer intensiver, leidenschaftlicher, sein Körper immer näher an ihrem, das Herz voller Streicheleinheiten. Sie erwiderte den Kuss und spürte dabei eine Freude, die ihr nie zuvor bekannt gewesen war, in ihrem ganzen Leben noch nicht. Und eine Leidenschaft, ein unbekanntes, süßes Erschauern auf ihrer Haut.

„André...”

Er bewegte kurz sein Gesicht weg und schloss die Augen, als wollte er den Kuss kosten. Dann kam er wieder näher, sein Mund nahm wieder von ihr Besitz, seine Arme hielten sie fester und sie spürte die süße Wärme und Weichheit seiner Lippen und ein tiefes Verlangen darin, wie er sie umfasste und ihren Atem in sich aufnahm, als wollte er sie ganz in sich verschwinden lassen.

Glücklich gab sie dem Gewicht seines Körpers nach, der sie langsam mit dem Rücken auf die Kissen drückte, und erwiderte seine Küsse, wieder und wieder. Seine Hände berührten sie jetzt, glitten mit glühenden Bewegungen über sie, sie spürte, wie sie sich ihren Brüsten näherten, fiebrig aber zurückhaltend, als würde er es nicht wagen, aber trotzdem nicht an sich halten können. Schließlich schlossen sie sich über ihr und die Bewegung hörte fast auf, und er hielt den Atem an, bevor er sie noch einmal küsste.

Sie glitten beide von der Bank, auf den Terrassenboden, der noch warm war von der Sonne, stöhnend. Dann war er über ihr und folgte ihr, während sie ihm zeigte, wo sie berührt werden wollte, unter dem Stoff ihrer leichten Bluse, ihren starken, ungeduldigen Körper, und sie nahm seine Aufregung wahr, sein Verlangen, das sie um den Verstand brachte, und wollte auf einmal nichts mehr, als sich ihm zu geben, in diesem brennenden und gleichzeitig süßen Fieber. Er war erregt, und es erregte sie auch, ihn so zu spüren, die Beine mit seinen verschränkt, und sie formte ihre Bewegungen auf die seines Körpers an, wie eine Materie, die dazu bereit war, jede Form anzunehmen, die er wollte. Mitgerissen von ihren Empfindungen blieben sie auf dem Boden still, einen ewigen Augenblick lang, und atmeten die Nachtluft ein. Fast ohne einen Laut von sich zu geben berührte er sie wieder, glitt mit der Hand ihren Körper hinauf und legte sie schließlich in ihren Schoß.

Da streckte sie ihre eigene Hand aus und berührte ihn. Ihre Hand wagte sich zu ihm und umfasste ihn mit langsamen, verlangenden Bewegungen.

„Oscar...”, hörte sie ihn.

Da spürte sie seine Hand um ihr Handgelenk, wie er die ihre ergriff und zurückhielt, und von sich wegschob, langsam und schmerzvoll.

In seinem Atem war ein brennendes Verlangen. Aber er hatte aufgehört und presste nur ihre Hand, schweigend. Er war lange still, so wie er war, auf dem Fußboden liegend, über ihr. Er schien gegen etwas anzukämpfen, und Oscar spürte, als wäre es in ihr, die dunkle, böse Welle, die über sein Herz hinwegspülte. Dann kam ein Schluchzer, und sein Kopf, der auf ihrer Brust lag, in einem ungeschützten Weinen, zutiefst verletzt. „Verzeih mir, verzeih mir, Oscar...,“ murmelte er wie gedemütigt, mit einer Stimme, die voller Liebe für sie war, aber eine Liebe, die keine Kraft mehr hatte. „Verzeih mir.“

„André...”

„Was ist, André?”

„Habe ich... habe ich etwas falsch gemacht?”

„Was habe ich falsch gemacht, André?”

„Nichts, nichts, Oscar...“ antwortete er sofort, umsichtig wie immer, und atmete schmerzvoll, fast stöhnend. „Es liegt nicht an dir, wirklich nicht, nicht an dir... Es liegt an mir. An mir.“

„André...”

„Verzeih mir,” sagte er wieder, und setzte sich auf, mit den Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in den Händen. Oscar berührte seine Hände leicht und spürte, dass sie feucht waren.

„Ich schaffe es nicht, nicht daran zu denken,” sagte er, fast wütend auf sich selbst. Ein böser Zorn, gegen den er nicht ankämpfen konnte, obwohl er wusste, dass er anmaßend war, ungerecht.

Oscar verstand.

„Verzeih mir, Oscar, bitte, es ist meine Schuld. Ich durfte nicht so weit gehen, ich durfte das nicht tun.“ Er unterbrach sich nach jedem Satz, als müsste er die Tränen zurückhalten. „Ich hab’s gespürt, dass ich es nicht tun sollte,“ sagte er, „aber es war stärker als ich... du bist auf einmal wieder hier, und auf einmal küsst du mich auch, und antwortest mir, du bist nicht mehr fern von mir, so fern wie immer... ich habe meine Empfindungen für dich nicht unter Kontrolle... Ich wollte dich spüren, es war zum Verrücktwerden, ich hatte das Bedürfnis, dich in die Arme zu nehmen, dich zu berühren.“

„Aber das hatte ich auch, ich doch auch, André!”

„Gott, Oscar, aber warum, warum...” Er schien zu versuchen, es ihr zu erklären, die richtigen Worte zu finden, um seine Qual verständlich zu machen. Und es schien keine zu geben. Er hielt immer noch den Kopf in den Händen.

„Schon immer, seit wir einander kennen, habe ich gespürt, dass du mir gehörst. Nur mir, Oscar, was auch immer du getan oder gesagt hast, um vor mir zu fliehen, welches Hindernis auch zwischen uns war, obwohl die ganze Welt, alle Menschen alle Tatsachen mir ins Gesicht sagten, dass es nicht so war. Du weißt es, du erinnerst dich, Oscar?”

„Ja, André. Ich weiß es.“

„Ich glaubte das wirklich, Oscar, ich glaubte an dich. Deswegen habe ich dich immer weiter geliebt, weil es war, als könnte ich dein Herz hören, als würde ich wissen, dass ich dir auch wichtig war, dass du nur Zeit brauchtest, um es zu verstehen, weil du dazu gezwungen warst, ein Leben zu führen, das nicht das deine war, dich an Regeln zu halten, die dich verletzten... Aber wenn du bei mir warst, Oscar, spielte das alles keine Rolle mehr. Du gehörtest zu mir, zu niemandem sonst.“

„Aber das ist doch war, André, es ist so. Es war so und es ist immer noch so...”

„Nein, es ist nicht wahr.“ Sein Tonfall war bitter, Gift kam auf einmal in die Süße seiner Erinnerungen, als wollte es von ihm Besitz ergreifen. „Es ist nicht so, ich hatte mich geirrt. Ich habe mich mein ganzes Leben lang geirrt... und tue es immer noch.” Seine Stimme klang jetzt verzweifelt, wie die eines Menschen, der in einen Abgrund gestürzt ist.

„Nein, André, bitte... Du hast dich nicht geirrt. Es war richtig, was du gespürt hast. Ich gehörte zu dir, von Anfang an...” Sie strich über seine Schulter.

Da sah sie ihn die Hände zu Fäusten ballen, an sein Gesicht pressen. Er bebte vor Zorn, vor Erinnerung an einen grenzenlosen Schmerz.

„Und warum hast du dann Girondelle geheiratet, warum! Warum hast du mich einfach verlassen, ohne ein Wort... Wie konntest du das tun, Oscar? Wie... ich konnte nicht einmal glauben, dass es wahr war. Warum hast du mir das angetan? Du liebtest ihn noch nicht einmal, wolltest nur davonlaufen. Warum hast du irgend jemanden geheiratet, nur um eine Entschuldigung zu haben, um mich zurückzuweisen? War ich dir nicht einmal soviel wert, von einem ersetzt zu werden, den du liebtest? Warum hast du dich von einem anderen berühren lassen, dich von ihm ausziehen lassen, warum durfte dieser Fremde, der nichts von dir wusste, mir meine Freundin fortnehmen, das liebste, das ich hatte...”

Er schrie jetzt fast, ein tiefer Aufschrei, der aus seinem Innersten kam.

„Ich wollte niemanden, den ich geliebt hätte... ich... ich wollte niemanden lieben...”

„Warum, Oscar, warum?”

„Weil du da warst...” antwortete sie, ihre Stimme nur noch ein Hauch.

André blieb einen Augenblick lang still. „Ja, weil ich da war,“ antwortete er schließlich, voller Bitterkeit. „Ich war schließlich immer für dich war, oder?”

Jetzt war sie auch in Tränen ausgebrochen, sie liefern ihr übers Gesicht. Sie konnte nur immer wieder seinen Namen wiederholen, in einem schwachen Klagen. „André, André, bitte hör auf...”

„Und es war richtig, weißt du das? Du hattest recht. Ich habe nicht einmal genug Würde aufgebracht, um zu gehen. Ich bin einfach da geblieben, vernichtet, und habe dir zugesehen, und nichts gesagt, nur um bei dir zu bleiben. Wie viele Nächte habt ihr zusammen verbracht, Oscar, wie oft bist du in sein Bett gegangen, hast dich von seinen Händen berühren lassen, ihn berührt, so wie du heute abend mich berührt hast... wie hast du seine Küsse erwidert, was hast du empfunden, wenn er in dir war... wie hat dir das gefallen, wie? Ich habe jede Nacht damit zugebracht, es mich zu fragen, seit der ersten Nacht. Du weißt nicht, was das bedeutet, Oscar.”

Er schwieg. In der Stille war nur ihr leises Weinen hörbar.

Dann sprach André wieder, und seine Stimme war jetzt noch leiser, klang noch gequälter.

„Und dann habe ich dich völlig verloren, und mein Augenlicht hat mich auch verlassen. Ich war nicht einmal mehr in der Lage, für mich selbst zu sorgen. Ich brauchte dich, Oscar, ich brauchte dich verzweifelt... und du warst nicht da. Wo warst du, Oscar, wo?”

Er fing wieder an, rau zu schluchzen, niedergebrochen vom Schmerz, von seinem hässlichen Ausbruch, während sie am Boden zerstört war, wie vernichtet, und nicht einmal mehr weinen konnte, als wäre ihr Weinen ein zu großer Beweis für ihre bloße Existenz.

Sie blieben lange so, während der Mond langsam aufging. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben wünschte Oscar sich den Tod herbei.

Dann schien André langsam wieder zu sich zu kommen, und er wischte seine Tränen fort. Es tat ihm leid, er war voller Reue. Er legte eine Hand an ihr Gesicht und hielt sie so, an ihrer Wange, und hörte ihrem Schweigen zu.

„Mein Gott, Oscar, jetzt habe ich alles zerstört. Ich habe alles ruiniert, verzeih mir... Ich bin in der Einsamkeit zu einem Ungeheuer geworden. Nicht, bitte.”

Er atmete durch. Es war, als wäre er jetzt, nach diesen schrecklichen Augenblicken, wieder er selbst, der André von vorhin, der, der er immer gewesen war, der sich um sie sorgte. „Ich weiß, du wirst mir das nie verzeihen können, es war schrecklich, was ich gesagt habe, ungerecht. Aber ich habe nie so gedacht, Oscar, ich denke nicht so über dich, das habe ich nie, wirklich nicht. Ich war nur so... wütend...”

Es war so, es war ein Ausbruch von Wut seinerseits gewesen, jenseits aller seiner Absichten. Er hatte nie daran gedacht, sich zu rächen, es ihr heimzuzahlen. André hatte sie immer verstanden, auch wenn ihre Entscheidungen sie von ihm fortbrachten, auch wenn sie sich irrte, oder wenn sie weglief. Aber dieses Mal hatte er sie innerlich verwüstet mit seiner Bitterkeit und seinen Ängsten.

Er ergriff ihre Hand. „Du hattest recht damit, mich nicht zu wollen,“ sagte er. „Ich mache dich nur unglücklich. Zuerst sage ich, dass ich dich liebe und dann tue ich dir das an, nachdem du in mein Haus gekommen bis, mit deiner Wärme und deinem Duft... Sage, dass ich dich liebe, kann es aber nicht. Ich konnte es noch nie.“

„Das ist nicht wahr, André.“

Dieses Mal sagte er nichts, senkte nur den Kopf über ihre Hand, schweigend. Dann überließ sie sich ihm und umarmte ihn, drückte sich an seinen Körper, den Kopf an seine Brust gelehnt. Und sie hielten einander fest, mit aller Kraft, um gemeinsam die Nacht zu ertragen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  Saavik1701
2016-08-26T00:27:02+00:00 26.08.2016 02:27
Eine wunderschöne, anrührende FF und eine wirklich gelungene Übersetzung, die die Gefühle und Atmosphäre toll wiedergibt!

Es wäre echt toll, wenn Du die restlichen Kapitel auch übersetzen könntest!
Ich glaube, ich bin nicht allein mit diesem Wunsch... ;)

LG
Von: abgemeldet
2014-04-05T22:32:14+00:00 06.04.2014 00:32
Was bleibt mir zu sagen? Nichts. Ich kann mich meinen Vorrednern nur uneingeschränkt anschließen und bitten, dass du doch endlich weiter schreibst! Die Geschichte ist so gefühlvoll und wunderschön - bitte führe sie zu Ende!
Von:  Yvaine
2009-11-26T20:09:22+00:00 26.11.2009 21:09
Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen!
Seit langem hab nicht mehr eine solch traurige und gleichzeitig wunderschöne FF gelesen, die so sehr zu Tränen rührt, dass mir bei dem Gedanken daran gleich wieder das Herz blutet^^^
Großes Lob an die Autorin und ein dickes Lob an dich für deine Übersetzung!
Bitte schreib weiter! Diese FF ist es auf jeden Fall wert übersetzt zu werden^^

Lg
Von:  LOA
2009-11-19T17:17:06+00:00 19.11.2009 18:17
Oh das war so schön!
Und auch traurig... aber realistisch. Kann André voll verstehen, auch wenn mir Oscar leid tut. Sein Ausbruch war zwar grausam und verletzend, dafür sehr menschlich. Und er ist ja so süß :) Ich leide mit den beiden mit und hoffe, dass sie das im nächsten Kapitel überwinden und ihre Liebe endlich leben können!
Ich habe einen riesen Respekt vor deiner Übersetzungsleistung! Hut ab! Dass du die Gefühle und Worte so wiedergibst, dass es absolut real wirkt, ist beeindruckend. Ich bin jedenfalls begeistert und hoffe, du machst weiter mit der Übersetzung - ich werde die nachfolgenden Kapitel auf jeden Fall lesen, mein Interesse hast du geweckt ;)
Weiter so, es ist wirklich großartig geschrieben und übersetzt! Ich würde mich sehr freuen, wenn es weitergeht :)

lg LOA
Von:  Natasha
2009-11-17T17:54:29+00:00 17.11.2009 18:54
Es war wieder ein traumhaft schönes Kapitel. Ich kann mich den anderen nur anschließen, du hast dir so viel Mühe gemacht und das Ganze übersetzt, was ich mir auch nicht so einfach vorstelle, schließlich müssen die Worte und Empfindungen realistisch wiedergegeben werden. Hut ab vor deiner Leistung. Bitte mach weiter mit deiner Übersetzung, denn eine kleine Fangemeinde hast du ja schon ;)
Grüße
PS: Vielen lieben Dank für deine Mitteilung.
Von:  chrizzly
2009-11-17T11:26:41+00:00 17.11.2009 12:26
auch meinen allergrößten Respekt. es ist wirklich traumhaft gewesen.
die ganzen gefühle, empfindungen und ängste hast du so real rübergebracht. einfach nur wahnsinn.
es wäre wirklich schön wenn es evtl. weiter gehen würde. du machst das echt klasse.
ein riesen lob von mir. mach weiter so :-))))))

Liebste Grüße
Chrizzly
Von:  Heloise
2009-11-16T20:35:08+00:00 16.11.2009 21:35
Wow! Ich habe schon wieder Tränen in den Augen.
Es ist wunderbar das du dir die Mühe machst diese traumhafte ff zu übersetzen.Es ist wirklich fabelhaft wie die einzelnen Worte gewählt werden um Traurigkeit und Hoffnung auszudrücken.Ich bin für meinen Teil beim Lesen absolut sentimental ergriffen und leide richtig mit.
Ich liebe diese ff und hoffe das du die Übersetzungsarbeit nicht aufgeben wirst. :) Du machst das super.


Von:  Natasha
2009-01-19T20:39:54+00:00 19.01.2009 21:39
Mensch, da fehlen mir die Worte...

Eine wirklich wunderschöne FF, bzw. Fortsetzung. Ich habe auch Herbst gelesen und hab mich in die Worte regelrecht verliebt.
Es passiert eigentlich nicht viel und sie sprechen kaum was, aber das müssen sie auch nicht, denn wie du ihre Gefühle, ihre Ängste und den Schmerz beschreibst, ist wunderbar. Ich fühle mit den beiden! Bei der Stelle, als er ihr gestand, dass er noch nie mit einer anderen Frau zusammen war, musste ich hart schlucken.

Hoffentlich müssen wir nicht so lange auf eine Fortsetzung warten. ^-^

Toll, dass du diese FF übersetzt!! Mach bitte weiter so.

Grüße,

Natasha
Von:  Heloise
2008-12-25T14:32:41+00:00 25.12.2008 15:32
Das ist wirklich wunderschön!!!Ich hab Tränen in den Augen.
Es ist wirklich überwältigend wie die beiden Menschen in ihrem Seelenschmerz dargestellt wurden. 'Herbst' fand ich schon grandios.Aber 'Eine neue Jahreszeit' ist dem ebenbürtig.Ich hoffe das es noch weitere Geschichten geben wird?!.

LG,die Heloise
Von:  stefanie22
2008-12-23T16:23:06+00:00 23.12.2008 17:23
also ich kann nur sagen fur denn anfang ist es sehr schon freue mich jetzt schon auf nachste kapittel

lg stefanie22


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