Ein ganz besonderer Weihnachtsengel von Laegwen ================================================================================ Kapitel 4: Weihnachten ---------------------- So, endlich ist Weihnachten. Früher hab ich das geliebt, mit der ganzen Familie, wir alle zusammen, aber heutzutage ist das anders. Alles ist anders seit mein Vater vor fünf Jahren von diesem beschissenen Kran gefallen ist. Meine Mutter heult total oft und er schreit sie an. Dass das Haus nicht ordentlich genug ist, der Braten trocken. Und dann ist er wieder so schrecklich still und starrt nur vor sich hin. Habt ihr schon mal ‚The Shining‘ gesehen? Jack Nicholson macht da manchmal genauso ein Gesicht. Ich hab irgendwie Schiss vor meinem Vater, hatte ich früher nicht. Da hab ich den Mistkerl geliebt bis zum geht nicht mehr. Er war mein absoluter Held. Scheiße, das waren doch nur seine Beine! Warum macht das so einen Unterschied, dass er ein völlig Fremder geworden ist? Gibt doch genug Leute, die auch im Rollstuhl noch Menschen sind. Er aber nicht. Die Jungs haben mich die ganzen letzten Tage mit Fragen bestürmt, ob Olga wirklich so `ne heiße Nummer war, wie sie denken. Die wollten alles wissen, ich hab aber nichts gesagt, was hätt ich denn auch schon sagen sollen. Die haben mich ganz komisch angesehen, war mir aber egal. Das sind nicht meine Freunde, waren die noch nie. Das sind nur meine Untertanen, die mögen mich gar nicht wirklich, die wollen sich nur an der Macht aufgeilen und was davon abhaben. Nicht mal Boris. Der ist mein bester Kumpel, seit dem Kindergarten, hab ich glaub ich schon mal gesagt, oder? Ich kann ihm aber nicht sagen, dass ich die Schnalle nicht flachgelegt hab und schon gar nicht, wo ich an diesem Abend tatsächlich gewesen bin. Ich brauch keine blöde Kristallkugel, mit der ich in die Zukunft sehen kann, um zu wissen, wie so ein Gespräch aussehen würde. Soll ich’s euch erzählen? OK, kann losgehen, sperrt die Lauscher auf. So würde sich das anhören, wenn ich versuchen würde Boris klarzumachen, dass ich einen Schwanz im Bett will und keine Muschi. „Hey Alter, alles fit im Schritt?“ Das sagt Boris, ist sein Spruch, schon seit der fünften Klasse, glaub ich. „Jo, gerade erst vor ein paar Tagen so richtig durchgespült. War die heißeste Nummer, die du dir vorstellen kannst, galaktisch geradezu.“ „Du blöder Wichser.“, lacht Boris. „Die Olga ist echt `ne geile Braut, wenn du mit ihr fertig bist, kann ich sie dann auch mal ausprobieren?“ „Mach nur, die geht mir echt am Arsch vorbei.“ „Ich dachte, die Nummer wäre galaktisch gewesen?“ „War sie auch, aber ich hab’s nicht mit Olga getrieben.“ „Ich fass es nicht, du hast schon wieder was neues aufgerissen? Kannst wohl echt nicht genug bekommen, du Sau.“ Ratet mal, wer auf dieser Klassenfahrt die grandiose Idee hatte, dem Schwächling, den ich am liebsten die ganze Zeit angesehen hätte, weil ich ihn so toll fand, mal ordentlich einen auf den Deckel zu geben? Richtig, das war mein Kumpel Boris. Da steht er drauf, ich glaube, ihm geht manchmal sogar einer dabei ab, wenn er auf jemanden eindrischt. Ich hasse ihn dafür. „Ja, ich hab was neues aufgerissen. Aber ich glaube, mich hat’s diesmal echt erwischt.“ Das sage wieder ich. Ist ja schließlich die Wahrheit. Mich hat’s erwischt. Ich bin nicht wieder in dieses bekackte Haus gegangen. Ich mein, Hallo?! Nachdem der mich zweimal wie so einen Deppen hat sitzen lassen? Irgendwo ist dann auch echt mal Schluss. Aber an ihn denken muss ich trotzdem, jede verschissene Sekunde und auch wenn ihr mir das jetzt sowieso nicht glaubt, am meisten muss ich an sein Lächeln denken. Ehrlich. Daran am allermeisten, an das andere natürlich auch. Ich bin ja schließlich auch nur ein Mann! Wenn ich mir einen runterhole, dann denke ich dabei nur noch an Richy. Scheiße, findet ihr nicht auch? Ich bin ein Loser, wie er im Buche steht. „Ohoho.“, macht Boris anzüglich und gibt schmatzende Laute von sich. „Die Fotze muss ja eine richtige Zauberbüchse sein, wenn du deinen Prügel jetzt nur noch darin parken willst.“ „Schnauze!“, brülle ich an diesem Punkt. Mann, das will ich mir nicht anhören. So redet der nicht über Richy, ansonsten wird er gleich herausfinden wie es sich anfühlt, mit gebrochenen Fingern seine Zähne wieder aufzusammeln. „Ich bin schwul, du Depp!“, brülle ich sofort danach. „Ich hab mich in einen Kerl verliebt!“ Was glaubt ihr, was er darauf antwortet? „Hey, Pat, du bist trotzdem noch der Coolste und wir alle bewundern dich und wollen so sein wie… äh, nein, ich glaub, das wollen wir doch nicht. Ich will doch nicht auch so eine blöde Tunte sein. Das ist ja abartig.“ Seht ihr? Deswegen wird das Gespräch nie stattfinden. Boris sagt ständig so Sachen. ‚Ey, guckt euch mal die Schwuchtel dahinten an, wollen wir der mal ein bisschen Angst machen‘. Das hat er schon sooft gesagt, oder ‚Bist du schwul, oder was? Das Tor war doch total frei‘. Ich mein, er sagt das auch zu Leuten, die gar nicht so sind. Für ihn ist das ein Wort, mit dem er seine negativen Gefühle ausdrücken kann. Mach ich auch, schon seit Jahren. Komm ich einfach nicht gegen an, macht schließlich jeder so. Meine Jungs, die anderen Coolen von der Schule, mein Vater sagt das auch. Das geht mir die ganze Zeit im Kopf herum, während wir in bedrücktem Schweigen unsere Geschenke austauschen, meine Mutter immer noch mit roten Augen, weil sie gerade wieder geheult hat. Hätte ich den Kleinen wirklich mit hierher bringen sollen? Ganz sicher nicht. Aber ich hätte vielleicht wieder hingehen sollen. Könnte ja schließlich auch einen guten Grund gehabt haben, warum er verschwunden ist. Das muss ich immer wieder denken. Der geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf und ich will ihn ganz dringend wieder anfassen. Das macht mich schon ganz wahnsinnig, weil ich immer diese Bilder in meinem Kopf habe und höre, wie er so verdammt geil meinen Namen stöhnt. Meine Mutter und meine Schwester machen zusammen die Kerzen am Baum aus. Sind eh schon fast runter gebrannt und man hört ja immer wieder, was alles passieren kann, wenn so ein trockener Tannenbaum in Flammen aufgeht. Ist mir doch egal, dann sollen wir eben allesamt abfackeln. Ich fühl mich so beschissen, ich will gar nichts mehr, echt nicht. Ich kann mich nicht mal über den neunen I-Pod freuen und dabei habe ich mir den so sehr gewünscht. Ich bin doch untergegangen, das weiß ich. Ich war nie wirklich oben, egal wie sehr ich mir das eingebildet hab. Ich war nur eine Marionette für die anderen. Eine beschissene Projektionsfläche für die Wünsche andere Leute. Hab ja auch immer alles getan, was man tun muss, damit man anerkannt wird. Warum hab ich das? Wenn ich das nicht hätte, dann hätte ich vielleicht… was weiß ich. Viele Sachen anders gemacht. Würdet ihr denn alles wieder genauso machen, auch wenn ihr die Zeit zurückdrehen könntet und Dinge ändern, die nicht so optimal gelaufen sind? Klar, ich weiß selbst, dass das nicht geht! Hab doch keine Schraube locker. Aber nur mal angenommen, ihr könntet? Was würdet ihr ändern? Ich weiß, was ich anders machen würde. Ich würde nicht zulassen, dass die anderen diesem süßen Typen wehtun, in den ich mich sofort verguckt hatte. Nie im Leben. Ich würde die eher allesamt auseinander nehmen. Und anschließend würde ich ihn nach seinem Namen fragen und ihn nochmal küssen. Nicht so heimlich, nachts aufm Klo. Ich meine, ich würde ihn wirklich küssen, wenn ich noch mal die Chance hätte, und dabei wissen, wie er heißt. Und ich würde Dennis nicht wieder den Arm auf dem Rücken verdrehen und ihm auf die Schulter boxen, weil er mich nicht hat abschreiben lassen. Was glaubt ihr denn, warum ich mich in der Matheklausur neben den Loser gesetzt hab? Weil ich bei ihm abschreiben wollte? Na sicher, als wenn es nicht genug Mädchen gibt, die auch gut genug in Mathe sind und die sich anstellen würden, nur um mir ihr Blatt geben zu dürfen. Dennis gefällt mir. Tut er wirklich. Ich hab keinen Schimmer, warum ausgerechnet diese Sorte Jungs mich am meisten anmacht, aber wenn Dennis im Unterricht manchmal so verträumt aus dem Fenster sieht, Mann, dann kann ich eigentlich nur noch ihn verträumt ansehen. Ich musste ihm also einfach ein paar verpassen, weil, ansonsten hätte vielleicht noch jemand Verdacht geschöpft. Klar, ihr rümpft die Nase. Habt bestimmt in eurem Leben auch noch nie etwas getan, für das ihr euch einfach hinterher geschämt habt, was? Alles ein Haufen Unschuldslämmer, ihr Pharisäer! Ihr wisst nicht, was das ist? Euer Pech, schlagt’s nach und bildet euch. Ich kann den ganzen Kram aber nicht mehr ändern, versteht ihr? Absolut egal, wie sehr ich das auch will und das schlimmste ist, ich weiß nicht mal, ob ich sowas nicht wieder tun würde. Wie kann man nur so erbärmlich sein? Und ich will ein Mann sein? Lachhaft. Kein Wunder, dass mir selbst meine Homies immer mehr auf der Nase rumtanzen und mich bei jeder Gelegenheit herausfordern. Schwäche können die riechen, genauso wie ich. Ich merk das auch immer, wenn einer schwach ist. Ist bei Tieren nicht anders, wer nicht mithalten kann, der wird von den anderen nicht gestützt. Der wird liegen gelassen und ein anderer nimmt seinen Platz ein. Braucht man kein Discovery Chanel für, um das mitzukriegen. Ich will wieder da hin, zu ihm. Hab ich schon gesagt, ich weiß, aber ich will das wirklich. Der blöde Schleimer hat mir mein Herz gestohlen, weil der mich so angelächelt hat. Hat noch niemand vorher gemacht. Richy versteht die Welt, das weiß ich, der würde nie von mir erwarten, dass wir plötzlich händchenhaltend durch die Gegend marschieren. Ich mein, er hat nichts von mir gewollt, nicht ein Mal. Hat nicht gewollt, dass ich irgendwas bestimmtes tue und hat sich irgendwie total gefreut, als ich nett war. Das hat sich so beschissen aufrichtig angefühlt und ich kann nicht begreifen, warum er nicht mehr da war, als ich am Morgen aufgewacht bin. Vielleicht mach ich das wirklich, da hin gehen, mein ich. Er ist bestimmt eh nicht mehr da. Hat ganz sicher Heimweh gekriegt, weil doch Weihnachten ist und so und ist doch wieder zu seinen Eltern abgedüst. Aber es kostet mich ja auch nichts, wenn ich mal nachsehe. Aber nicht heute. An Heiligabend kann ich nirgendwo hin. Da hab ich schön hier zu bleiben. Und morgen fahren wir zu Opa und Oma Biene. Wir fahren deshalb, weil mein Vater mit dem Rollstuhl nicht so weit kommt, eigentlich könnte man fast laufen, die wohnen nur am anderen Ende der Stadt. Opa ist der Vater meiner Mutter und Oma Biene ist seine zweite Frau. An meine richtige Oma kann ich mich kaum erinnern, da war meine Schwester noch nicht mal geboren, als die gestorben ist. Also ist Oma Biene eigentlich meine richtige Oma, sozusagen. Warum erzähl ich euch das eigentlich? Spielt doch gar keine Rolle. Ich wollte damit nur sagen, ich kann frühestens morgen Abend wieder zu dem Haus. Früher geht echt nicht, da kann man nichts machen. Ich hoffe nur, dem Kleinen geht es gut. Das mein ich ganz ehrlich. Bei Opa und Oma Biene ist es immer schön. Selbst mein alter Herr ist heute, naja, fröhlich nicht, lächeln tut der einfach nicht mehr, aber er sagt was. Also, er spricht mit uns, klar? So richtig ganze Sätze eben. Das macht der echt nur noch ganz selten. Oma Biene hat Karpfen gemacht, das liebe ich. Meine Mutter macht das nie, die weiß nicht wie das geht. Ich kann ganz locker so’n ganzen Fisch verputzen und bestimmt ein ganzes Kilo von den Kartoffeln. Kann ich eben. Ich hab ja schon gesagt, dass ich viel Sport mache, oder? Da verbrennt man die Kalorien eben ganz anders und braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, weil man so reinhaut. Oh, jetzt geht das Gejammer wieder los. Hab ich doch gewusst. Ihr müsst also immer auf eure Figur achten? Heult doch. Oder werdet fett und lebt damit. Kratzt mich überhaupt nicht. Wenn’s euch stört, dann bewegt euch eben ein bisschen mehr, dann seid ihr auch nicht mehr so schwabbelig. Wenn einer nicht schlank ist, dann ist er sowieso ein Versager. Aber ich bin das nicht. Da könnt ihr einen drauf lassen. So, ich nehm mir nochmal einen ganzen Haufen Kartoffeln nach und mach so viel Butter drauf, das würdet ihr nie runter kriegen. Ich aber schon. Alles so richtig durchgemanscht und absolut lecker. Meine Mutter lacht, als sie das sieht. Ich seh sie gerne lachen, ehrlich. Ich wünschte nur, sie und Papa, die würden mal wieder zusammen lachen. Und in der Küche tanzen. Geht auch mit Rollstuhl. Es gibt ja sogar Leute, die spielen im Rollstuhl Basketball und sowas. Aber das wird nicht passieren. Nicht heute und nicht in tausend Jahren. Muss ich mich mit abfinden. Wenn wir alle mit Essen fertig sind, dann packen wir die Geschenke aus. Ich bekomme von Opa und Oma Biene ein Lexikon. Ich mein, das hab ich mir gewünscht. Brauch ich immerhin. Ich werde doch studieren, im nächsten Herbst, da braucht man ein Lexikon. Kann man zwar auch alles im Internet nachlesen, aber es ist was anderes, wenn man ein Buch zwischen den Händen hält. Das ist ein anderes Gefühl, als so auf der Tastatur rum zu hämmern. Ich mag den Geruch von Büchern. Sag ich nur keinem. Also, außer euch, aber ihr wisst eh schon so viel, da spielt das bisschen keine Rolle mehr. Richy hat wie ein Buch gerochen, also, irgendwie. Der fehlt mir, ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Ich geh da heute Abend hin. Scheiße, es ist Weihnachten, oder? An Weihnachten können doch so Sachen passieren. Dass er wirklich noch da ist und ich ihn wieder anfassen darf und an ihm riechen und seiner Stimme zuhören, wenn er was sagt. Das will ich nämlich auch, mit ihm reden. Echt. Ich will nicht nur über ihn herfallen. Aber ein paar Stunden muss ich noch aushalten, und dann schnapp ich mir zwei Decken und alle Reste aus dem Kühlschrank, die ich finden kann und feier nochmal Weihnachten. Mit ihm. Und mich kriegt er als Geschenk. Wenn er denn da ist. Wenn nicht, dann ist es eh vorbei. Dann werde ich da einfach sitzen bleiben und die können mich gleich mit dem Haus zusammen abreißen. „Patrick, was ist denn los?“, fragt Oma Biene. Die darf mich auch so nennen. Ist ja immerhin meine Oma. Ich liebe sie wirklich, ganz im Ernst. Die ist so sanft und merkt einfach immer, wenn man traurig ist oder niedergeschlagen, oder so. Früher hat sie mich dann auf ihren Schoss gesetzt und mir aus dem fetten Märchenbuch vorgelesen, das da hinten im Schrank steht. Grimms Märchen. Sie sagt, ich wollte soviel vorgelesen haben, sie hatte schon Fusseln am Mund davon. Aber besser gefühlt hab ich mich dabei immer. Geht natürlich heute nicht mehr. Ich mein, wie sieht denn das aus, wenn ein Typ, der schon 20 ist, sich bei seiner Oma auf den Schoss setzt und sich was vorlesen lässt? Auch, wenn ich das im Moment echt gerne möchte. Aber gemerkt hat sie es halt doch, dass ich was hab. Kann ich nur nicht drüber reden, nicht mal mit ihr, versteht ihr? Geht eben nicht. Da muss ich alleine durch. „Die reißen gerade dieses Haus ab, in der Schöpferstraße.“, sage ich deswegen. Wenn ich schon nicht über Richy reden kann, dann wenigstens über das Haus, unser Haus. „Ja, stand auch in der Zeitung. Wird auch wirklich Zeit, hat doch eh keiner mehr haben wollen, nachdem, was da alles passiert ist.“, sagt Oma Biene. Sie ist echt in Ordnung, versteht ihr? Aber eben doch nur eine Frau, deswegen kommt bestimmt auch gleich was albernes, so von wegen Gespenster. Scheiße, ich weiß schließlich, dass das Blödsinn ist. Hab doch zwei Nächte da gepennt und nicht eine komische Sache gesehen. Nur einen Typen, der da untergeschlüpft ist, weil er nirgendwo anders hin kann. Und Richy hat auch nichts von Geistern erzählt. Der ist vielleicht ein Loser, aber er ist auch clever und glaubt so einen Mist auch nicht. Kann ich mir zumindest vorstellen, haben ja nicht drüber geredet, oder so. Aber neugierig hat sie mich schon gemacht. Warum auch nicht? Oma Biene ist keine Spinnerin, nicht so wie die Mutter von Lennart oder Olga. Wenn die sagt, da ist was drin passiert, dann ist das auch so. Braucht ihr gar nicht so komisch das Gesicht zu verziehen. Also frag ich einfach, was genau denn da passiert ist. „Seit wann interessierst du dich denn für die Stadtgeschichte?“, neckt sie mich, aber das ist schon OK, die darf das, weil, ist eben so, klar? Und erzählen tut sie es mir trotzdem und ich hör zu. Wie das Haus 1890 gebaut wurde, von einem, dem hier der halbe Wald gehört hat und weiß der Teufel, was sonst noch. Ratet mal, wie der Knilch hieß? Kommt ihr nie drauf, bin ich auch nicht. Schöpfer, so hieß der. Deswegen heißt auch die Straße so, versteht ihr? Der muss echt `ne große Nummer gewesen sein, wenn die eine Straße nach ihm benannt haben und die auch 120 Jahre später immer noch so heißt. So einer werd ich auch mal. Oma Biene erzählt, dass er da aber nicht lange drin gewohnt hat, weil, der war gerade frisch verheiratet und seine Frau war trächtig, aber die ist bei der Geburt gestorben und das Kind auch und da wollte er dann da nicht mehr drin wohnen. Kann man verstehen, denke ich. Muss man ja immerzu dran denken, wenn man das alles jeden Tag vor der Nase hat. Oma Biene erzählt immer mehr. Nicht, dass ich das wirklich spannend finde, ich interessiere mich nicht für so’n historischen Kram, aber sie kann eben gut erzählen. Sie sagt, die nächsten Besitzer haben da ganz lange drin gewohnt. Sie kann sich an die Familie sogar noch erinnern. Natürlich nicht an die, die das Haus damals gekauft haben, aber an die Nachkommen. Ich mein, so alt ist Oma Biene noch gar nicht, die ist erst 63. Opa ist ein ganzes Stück älter als sie. Naja, sie sagt, die alte Dame, die da drin gewohnt hat als sie noch ein Kind war, das war die Tochter von dem, der das Haus gekauft hat. Die war ein richtiger Drachen, sagt sie, alle hatten Schiss vor ihr. Die hat sich mit allem und jedem angelegt. Und irgendwann war sie dann tot, aber weil keiner sie leiden konnte, hat man das nicht sofort gemerkt. Geschieht ihr recht, wenn ihr mich fragt. Wenn jemand immer nur scheiße zu allen ist, dann soll er ruhig tot und vergammelt in seiner Wohnung liegen und keinen kratzt’s. Könnte mir auch passieren, sagt ihr? Ach, leckt mich doch. Ist mir egal, dass ihr recht habt. Ich kann auch ganz anders, wenn man mich nur lässt und nicht ständig von mir erwartet, dass ich der Größte bin. Bei Richy kann ich das schließlich auch, oder? „Nachdem die alte Frau Wirz gestorben ist, stand das Haus einige Zeit leer. Bis die Beckers eingezogen sind. An die kann ich mich noch richtig gut erinnern. Das waren ganz sonderbare Leute.“, erzählt Oma Biene jetzt. „Die gehörten irgendeiner komischen religiösen Sekte an, ich weiß nicht mehr welcher, aber der Sohn von denen, der ist zu mir in die Klasse gekommen. Der hat auch in der Schule immer gebetet. Eigentlich tat er mir leid, aber er hat nie so wirklich Anschluss gefunden.“ Natürlich nicht. Ich mein, würdet ihr mit jemandem reden, der sich in der Pause gen Mekka auf den Boden wirft, oder was? Auch wenn es nicht gen Mekka ist sondern gen irgendwas anderes, das Prinzip bleibt doch das gleiche. Sowas macht man einfach nicht. Nicht mal in den Sechzigern, als Oma Biene zur Schule gegangen ist und die das alle noch viel mehr mit Gott hatten, als das heute ist. Ich hätte so einen garantiert aufs Korn genommen, da könnt ihr drauf wetten. Gehört sich nämlich so, wenn man der Leitwolf ist. Such die Schwachen raus und pick so lange auf ihnen rum, bis sie nicht mehr aufstehen. Das macht dich selbst stärker. Ihr habt ein Problem mit meiner Einstellung? Scheiße, ich hab mir die Regeln nicht ausgedacht! Echt nicht. Und wisst ihr was, ich glaub, ich mach da auch nicht mehr mit. Ich hab die Schnauze voll. Wenn ich mal über so jemanden stolper, dann würde ich dafür sorgen, dass die anderen ihn in Ruhe lassen. Hoff ich zumindest. Kann aber für nichts garantieren. „Ja.“, sagt Oma Biene und seufzt. „Der Richard, der war nicht so wie die anderen, der stand immer nur daneben, hat nie mitgemacht. Ich kann verstehen, dass ihm das irgendwann zu viel geworden ist. Mit den Eltern und ganz ohne Freunde. Es tat mir trotzdem leid, als er sich dann umgebracht hat.“ Was glaubt ihr, was hier gerade mit mir passiert? Mir stehen sämtliche Haare zu Berge, das könnt ihr mal glauben. Klar, das ist ein komischer Zufall, aber allein bei dem Namen, Mann, da krieg ich eine Gänsehaut, sowas habt ihr noch nicht gesehen. Keiner kann so eine Gänsehaut kriegen wie ich, wenn er den Namen von dem Typen hört, in den er sich verschossen hat. Ist schon komisch, dass der ehemalige Klassenkamerad von Oma Biene, der mal in dem alten Kasten gewohnt hat, genauso heißt wie dieser absolut unglaublich süße, niedliche, tolle Typ, den ich da kennengelernt hab. Also, mal ehrlich, das ist doch fast wie ein Zeichen, oder? Beinahe wie dieser beschissene Stern, der über dem Stall da in Bethlehem geleuchtet und allen den Weg gezeigt hat. Ich kann es jetzt wirklich kaum noch abwarten, ihn wieder zu sehen. „Das war an Weihnachten. 1965. Ich kann mich ganz genau daran erinnern. Das stand sogar in der Zeitung, weißt du. Er hat sich erhängt, in seinem Zimmer, am 26.12. Seine Mutter ist danach zusammengebrochen und wurde in ein Sanatorium eingeliefert. Und sein Vater, der lief nur noch durch die Stadt und hat allen erzählt, dass das Ende nahe ist und wir alle unsere Sünden büßen müssen. Er ist ein paar Jahre später weggezogen.“ OK, ich komm hier gerade nicht mit was klar. Der Typ hieß also Richard und seine Eltern waren religiöse Fanatiker und haben in dem Haus in der Schöpferstraße gewohnt? Halt, das passt nicht. Das sind mir einfach ein paar Zufälle zu viel, oder wie seht ihr das? Ich will sagen, ich glaub nicht an so einen Scheiß, echt nicht, aber was soll ich denn davon jetzt halten? Die Gänsehaut wird immer schlimmer und ich fange schon fast an, mit den Zähnen zu klappern. „Es gab noch ein paar andere Besitzer nach den Beckers, aber keiner ist lange geblieben und ein paar, die haben angefangen komische Geschichten zu erzählen. Und jetzt steht das Haus ja schon so lange leer, ist schon gut, wenn die das abreißen.“ „Wie war er so?“, frage ich und erkenne meine Stimme gar nicht wieder, die ist ganz fiepsig. „Richard?“, fragt Oma Biene überrascht. „Naja, wir haben auch so jemanden in der Klasse, auf dem immer alle rumhacken.“ Das ist natürlich eine absolut dämlich Aussage, weiß ich selbst, aber ich muss das fragen, ansonsten hebt mir einfach meine Schädelplatte ab. „Oh, der war eigentlich ganz sanft. Zu sanft wahrscheinlich. Ich bin mir natürlich nicht sicher, ich habe ihn ja nie gefragt, aber ich glaube, der hat sich aus Frauen nichts gemacht. Das haben die anderen Jungs natürlich auch gemerkt. In den Sechzigern, da hatten homosexuelle Männer das noch viel schwerer als heute. Viele haben sich damals wegen sowas umgebracht, das war wirklich kein Einzelfall.“ Richy hat gesagt, er kann nirgendwo anders hin. Ich hab gedacht, weil er Schiss hat, dass ihm wieder jemand weh tut, aber vielleicht hat er das ja auch ganz anders gemeint? Vielleicht kann er tatsächlich nirgendwo anders hin? Weil er an diesen blöden Kasten gefesselt ist, oder so. Ist mir egal, wenn ihr jetzt lacht, ist mir echt egal. Macht ruhig. Ich möchte gerade sterben, weiter nichts. Seine Klamotten, ich mein, die sind wirklich so verdammt bescheuert gewesen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Und so altmodisch. Aber vielleicht waren die ja irgendwie OK, als er sie sich vor über 40 Jahren angezogen hat? Er hat gesagt, er weiß gar nicht, wie lange er schon da ist, vielleicht schon seit immer. Erinnert ihr euch? Und gerochen hat er wirklich wie ein altes Buch. Und er hat Brillantine in den Haaren gehabt, wer macht sowas heute denn überhaupt noch? Ich fang gleich an zu schreien, verlasst euch drauf, und wenn ich erstmal angefangen habe, dann werde ich nicht mehr aufhören, so lange, bis die Männer mit den weißen Jacken kommen und mich wegbringen. „Hast du ein Foto von ihm?“, röchle ich und Oma Biene sieht mich ganz besorgt an. „Warum willst du denn das sehen?“ „Bitte, ich… hast du? Ich muss das sehen, ich muss einfach.“, flüstere ich, weil, ich hab keine Luft mehr in den Lungen, versteht ihr, da ist nichts mehr mit Power und Bestimmtheit. Sie sagt, sie hat. Also gehen wir auf den Dachboden und sie wühlt in irgendwelchen alten Kisten nach ihren Klassenfotos und ich bin damit beschäftigt, die Welt irgendwie festzuhalten, damit ich nicht einfach rausfalle. Keine Ahnung, ob das geht, aber ich glaube schon. Ich falle einfach raus und dann steh ich daneben und kann nur noch zusehen. So wie ihr die ganze Zeit. Dann bin ich auch so ein gesichtsloses etwas, ohne eigene Stimme. Ich hab jetzt ein Foto in der Hand. So ein echt altes, in schwarz-weiß und ganz körnig. Da sind die alle drauf, mit denen Oma Biene zur Schule gegangen ist. ‚Willkommen Abschlussklasse 1966‘ steht da. Ich kann Oma Biene sehen, sie steht mit ihrer besten Freundin Gertrud ziemlich in der Mitte vom Bild. Gott, sind die da jung. So wie ich jetzt. Das vergisst man manchmal, dass auch alte Leute jung waren. Wollt ihr wissen, was ich da sonst noch sehe? Ich will das eigentlich nicht. Ich will mir das Foto gar nicht ansehen, weil, da ist noch jemand drauf, den ich sofort erkenne. In der vordersten Reihe, aber mit so einer Lücke zwischen sich und den anderen. Ich will ihn da echt nicht sehen. Ich meine, das ist unmöglich, oder nicht? Ich hab mit ihm gesprochen, erst vor ein paar Tagen, ich hab ihn in den Armen gehalten und, Mann, ich hab mit ihm geschlafen, alles klar? Der kann da nicht auf diesem Foto drauf sein, geht nicht. Das würde nämlich bedeuten, dass nichts davon real war. Gar nichts. Wenn er tot ist, und das seit 43 Jahren, wie kann ich ihn dann getröstet haben, als er geweint hat und er mich, als ich das am Abend davor gemacht hab? Kann mir das vielleicht mal jemand erklären? Ich kann das hier nicht mehr aushalten. Das will ich nicht. Das kann ich nicht. Ich will auch mal Glück haben, OK? Ich mein, ich will doch eigentlich gar nicht so viel, echt nicht. Ich wünsch mir nur eben jemanden, den ich lieb haben kann, und der mich auch mag. Einfach nur mich, Patrick. Jemanden wie Richy eben. Den wünsch ich mir wirklich so verdammt doll, das könnt ihr euch nicht mal ansatzweise vorstellen. Und ihn jetzt auf diesem alten Bild zu sehen, das reißt mein Herz in tausend Stücke. Oma Biene weiß gar nicht, was sie sagen soll, als ich einfach anfange zu heulen und das Bild wie so ein Volltrottel an mich drücke und mir der Rotz über das Gesicht läuft. Sie fragt nur immer wieder, was um alles in der Welt denn los ist, aber das kann ich ihr nicht sagen, echt nicht. Nicht nur, weil ich ein Homo bin, sondern auch, weil mir sowieso keiner glauben würde. Glaubt ihr mir? Wohl kaum. Ihr denkt doch jetzt bestimmt, der Typ ist völlig durchgeknallt, denkt doch tatsächlich, er hätte einen Geist gesehen. Geister gibt es nicht, nicht in Wirklichkeit, höchstens in Filmen. Aber das ändert gar nichts daran, dass das Richy da auf dem Foto ist. Ich hab ja schon erzählt, dass ich schnell laufen kann, aber heute stelle ich glaube ich einen neuen Weltrekord auf. Ist mir egal, dass mein Alter hinterher bestimmt Stress macht, weil ich abgehauen bin und dass Oma Biene total verstört ist, und sich wer weiß was denkt. Es gibt jetzt eben nur einen Ort auf der Welt, wo ich hin muss, ist doch klar, oder? Was hättet ihr denn gemacht? Wärt ihr schön zu Hause sitzen geblieben? Na, ich nicht, ich bin nämlich ein Macher, einer, der was tut und nicht passiv in der Gegend rumsitzt. Wenn ich mit einem Geist zusammen gewesen bin, dann will ich das verdammt nochmal auch wissen. Und ich sag euch noch was, aber nur, weil ihr es seid und ich weiß, dass ihr das nicht rumerzählt. Ich hab gerade so ein Gefühl. Kann ich gar nicht beschreiben, nicht richtig, mein ich. Aber irgendwie, also, vielleicht ist das meine Chance, versteht ihr? Auf die ich schon so lange warte. Die Chance, das wieder gut zu machen, was ich alles verbockt hab. Das mit dem Typen von der Klassenfahrt, mit Dennis, mit allem möglichen. Vielleicht kann ich das, es wieder gut machen. Ich hab den Kleinen angefasst und er mich, ich weiß, dass er wirklich da war. Der hat sich nicht wie ein Geist angefühlt, echt nicht. Der hat sich so real angefühlt, wie einfach noch gar nichts vorher. Also, das muss doch bedeuten, dass er irgendwie richtig da war, was denn sonst. Heute haben wir den 25.12, morgen ist der 26.12. Oma Biene hat gesagt, da hat er sich erhängt. Am 26.12, am zweiten Weihnachtstag. Ist mir doch egal, dass das schon 1965 war. Keine Ahnung, was das hier ist, vielleicht so eine komische Zeitverschiebung. Auf jeden Fall hatte er sich noch nicht umgebracht, als ich ihn das letzte Mal vor fünf Tagen gesehen hab. Und das wird er auch nicht, da könnt ihr einen drauf lassen. Dieses Gefühl ist nämlich einfach zu stark, versteht ihr? Das ist für uns beide die letzte Chance, da bin ich mir ganz sicher. Schon im Januar wir der alte Kasten nicht mehr stehen, dann kann nie wieder jemand kommen und Richy retten, also muss ich das machen. Geht nicht anders. Und dann kann er mich auch retten, weil, ich brauch das. Ich muss gerettet werden, wenn ich nicht zu so einem kalten, toten Mensch wie mein Vater werden will und ich bin mir total sicher, dass der Kleine das kann. Auf alles andere Scheiß ich. Er steht da am Fenster und sieht nach draußen, so klein, ich hab richtig Angst, dass ich ihm weh tun könnte, wenn ich ihn anfasse, aber ich mach’s trotzdem und er sieht mich. Er sieht so entsetzlich traurig aus, ich könnte schon wieder heulen. Mach ich aber nicht. Ich mach was ganz anderes. Erstmal küsse ich ihn natürlich, was denn sonst, und dann sag ich ihm, dass es mir leid tut. Ich weiß ja jetzt, warum er am Morgen immer weg war. Habt ihr bestimmt auch schon kapiert, so gut beisammen, wie ihr seid. Ein Geist ist nur in der Nacht da. Steht doch überall. Oder habt ihr schon mal davon gehört, dass es am Tage gespukt hat? Eben. Und dann sage ich ihm, dass ich mich in ihn verliebt hab und dass mir alles andere egal ist, und das mein ich nämlich genau so, wie ich es sage. Wir halten uns so fest, damit will ich nie wieder aufhören. Aber ich weiß, dass ich muss. Ich will ihn ja retten, und nicht ihn für mich behalten. Das geht nicht, das hab ich auch begriffen. „Ich weiß Bescheid.“, sage ich deshalb, der versteht mich schon, tut er eben einfach. Dann reden wir. So lange, bis ich Fusseln am Mund hab. Er sagt mir, dass ich der erste bin, der ihn wirklich gesehen hat, in all den Jahren. Manchmal haben Leute wohl was mitgekriegt, aber sie haben ihn trotzdem nicht richtig gesehen. Er ist sowieso immer nur zehn Tage pro Jahr hier, sagt er mir. Das liegt daran, dass er sich am 16. Dezember 1965 dazu entschlossen hat, dass er nicht mehr leben will und sich aber erst am 26. getraut hat, das auch durchzuziehen. Und es ist immer das gleiche. Für ihn gibt es nur diese zehn Tage, der Rest des Jahres existiert gar nicht. „Ist gar nicht so anders als damals, als ich noch nicht…“, fängt er an und ich weiß was er sagen will. Ist nicht anders als damals, als er noch nicht tot war. Da hat ihn nämlich auch keiner gesehen. Vielleicht ist er deswegen noch hier, denke ich mir so. Weil ihn erst jemand sehen musste und weil er verdammtes Glück hat, dass ich das bin. Obwohl, eigentlich hab ich noch ein bisschen mehr Glück, findet ihr nicht auch? Und als er sagt, dass er gewartet hat und so unglaublich traurig war, als ich nicht wieder gekommen bin, da heulen wir diesmal beide. Kann man ja auch irgendwie verstehen. Ich mein, uns hat’s erwischt, versteht ihr? So richtig, uns alle beide, da gibt es gar kein Zweifel dran, aber es hilft uns trotzdem nicht. Wir werden nicht zusammen sein können. Das ist ganz logisch, weil, er ist ja tot, zumindest noch, und auch wenn ich das ändere, wenn ich zulasse, dass ich ihn so verdammt liebe, dass das ausreicht um die Vergangenheit zu ändern, dann geht das trotzdem nicht. Er ist dann nämlich so alt wie Oma Biene und hat sein Leben gelebt und ich wünsche mir, dass er einen ganz tollen Mann findet, weil er das verdient hat, auch wenn es mich umbringt, dass ich das nicht sein kann. Wir schlafen miteinander, so wunderschön, das werde ich nie wieder vergessen, egal wie lange ich lebe. Diesmal schlafe ich nicht ein. Ich will jede Sekunde mit ihm haben, die ich kriegen kann. Ich weiß, wir haben noch eine Stunde oder so, dann wird es hell. Also muss ich ihm jetzt noch was sagen, ehe es zu spät ist. „Mach es nicht.“, sage ich. „Ich hab es aber schon getan.“, flüstert er. „Nein!“, rufe ich. „Du bist doch hier, gerade jetzt. Du kannst dich noch anders entscheiden.“ Das muss er doch verstehen, oder nicht? So eine Chance bekommt man nie wieder, nie im Leben, das weiß ich einfach. Keiner von uns kann sich das erlauben, hierbei einen Fehler zu machen. Wir haben Weihnachten, da ist einfach alles möglich. Auch, dass sich jemand nochmal umentscheiden darf, einen Fehler wieder gutmachen. Geht doch gar nicht anders. „Versprich es mir!“, fordere ich energisch. Der darf nicht verschwinden, bevor er mir das versprochen hat. Ganz einfach. Darf er eben nicht. Weil, ich überleb das nicht, wenn das passiert und dann spuk ich hier auch irgendwo durch die Gegend. Muss ja nun echt nicht sein. „Gut, ich verspreche es.“, sagt mein Schnuckelchen und ich glaube ihm, hab ja auch keine andere Wahl, oder? Wir küssen uns gerade, als ich die ersten Sonnenstrahlen am Horizont sehen kann. Das geht verdammt noch mal zu schell! Die soll verschwinden! Ich hatte einfach nicht genug Zeit mit ihm, das kann niemals genug gewesen sein, ich mein, drei beschissene Nächte, um eine Liebe zu leben, die eigentlich für ein ganzes Leben bestimmt war? Ich will nicht aufhören, ihn zu küssen. Muss ich aber. Eine Sache gibt es nämlich noch, eine letzte, die müssen wir klären. „Ich werde Silvester hier auf dich warten.“, sage ich. Er verschwindet. Nicht mit so einem Knall, wie in Filmen oder so. Er löst sich auch nicht in Rauch auf oder wird langsam durchsichtig, gar nicht. Die Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster, auf den Boden, auf die Wände, auf mich und eben auch auf ihn und von einer Sekunde auf die andere ist er nicht mehr da. Als wenn er sowieso nie hier gewesen wäre. Ich weiß aber, dass das nicht stimmt und ich hoffe so verdammt, dass wir es geschafft haben. Alle beide. Dass ich ihn hier Silvester sehen werde. Klar, er wird ein alter Knacker sein, wenn er auftaucht, aber trotzdem mein Richy. Da kann gar nichts was dran ändern. Wenn er denn auftaucht. Oh Mann, das wünsche ich mir so sehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)